Читать книгу Das Buch der Wunder - Hanna Lützen - Страница 4

1. Ankunft

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An einem grauen, regenschweren Frühlingstag im Jahre 1154 ist eine weiß gekleidete Gestalt in der zartgrünen Landschaft ums Kloster Esrom zu erkennen. Die Mönche entdecken sie unten im Tal, noch weit vom Haus entfernt. Sie schreitet schnell aus, obwohl sie offensichtlich einige Bündel zu tragen hat. Es ist ein Bruder ihres Ordens. Nur die Zisterzienser tragen ungefärbte Kleidung und sind deshalb auch auf große Entfernung gut zu erkennen. Die Brüder lächeln sich zu; das kann niemand anders als Bruder Franz von Cîteaux sein, der neue Heilkundige, der die Planung und Aufsicht über den Kräutergarten wie auch den Aufbau der zukünftigen Apotheke des Klosters übernehmen soll. Seine Ankunft wurde voller Spannung seit mehr als einem Monat erwartet. Inzwischen ist es fast zu spät für die Aussaat vieler Kräuter, aber Franz’ Ankunft weckt dennoch Optimismus und Freude unter den Pionierbrüdern, die wie die Pferde geackert haben, um einen Rahmen für ihr neues Leben unter den Fremden zu schaffen. Nach diesem ersten Jahr ist es ihnen geglückt, ein Haus zu bauen, dessen sie sich sowohl Gott als auch den Menschen gegenüber nicht zu schämen brauchen. Hier können sie ihre Arbeiten Gott zur Ehre und den Armen, Kranken und Notleidenden zum Nutzen verrichten.

Der Abt William, das kraftvolle Oberhaupt des Klosters, tritt hinaus, um den Neuen am Tor zu empfangen. Er ist ein großer, breitschultriger Mann, dessen stahlgraue Tonsur als Einziges auf sein fortgeschrittenes Alter hinweist. Sein Adlerprofil, die schmalen Lippen und die durchdringenden blauen Augen verleihen ihm einen harten, unerbittlichen Ausdruck, was ihm bereits in vielen Situationen von Nutzen gewesen ist. Aber Abt William wäre in dem Orden nicht weit gekommen, wenn er nicht außerdem die große Beweglichkeit und das Mitgefühl besessen hätte, die das geistige Leben und die Lehre der Zisterzienser auszeichnen.

Eine Gruppe von Mönchen folgt ihrem Abt und stellt sich hinter ihm unter dem Torbogen auf. Der junge Bruder Erland, dessen Geschick bei Ingenieursarbeiten ihn zum Leiter der Konstruktion der Wasserversorgung gemacht hat, steht trippelnd da und späht mit gerunzelter Stirn hinaus. Nach einer Weile, Franz ist nunmehr nicht mehr weit, stößt er seinen Bruder Martin aus Metz an, der Schwierigkeiten hat, die Tusche von seinen Händen zu wischen. Martin ist der geschickte Illuminator und Buchbinder des Klosters, dessen Talent sich nicht so oft entfalten darf, wie er es selbst gerne hätte, denn die praktischen Arbeiten kosten die bis jetzt noch wenigen Mönche immer noch viel Zeit. Aber heute ist es ihm gelungen, ein paar Stunden in der Schreibstube gut zu nutzen. Bruder Erlands Fingerzeig lässt ihn aufblicken.

»Sieh nur, er trägt etwas, es sieht aus wie ein Wickelkind . . .« Bruder Martin blinzelt mit den Augen, die sich nach der Schreibarbeit noch nicht an das helle Licht draußen und auch nicht daran gewöhnt haben, bis zum Horizont hinauszublicken. Er fragt Bruder Severin, den Schlachtermeister und Chorleiter, ob er das Gleiche sehe wie Erland. »Doch, ja, das, was Franz so vorsichtig im Arm trägt, sieht aus wie ein lebendiges Wesen.«

Jetzt sind sich alle sicher, es zu erkennen. Abt William runzelt die Stirn. Er wünscht keine unvorhergesehenen Probleme. Wenn das ein Säugling ist, wie sollen sie sich dann um ihn kümmern? Das Kloster ist noch nicht einmal vollkommen ausgebaut. Die Zähigkeit der Mönche hat sie den Winter überstehen lassen, aber das Wetter ist immer noch feucht und rau. Sie alle spüren, wie die Kälte in ihnen hochkriecht, des Nachts und während der Messe, wenn sie in Gebet und Lobgesahg vertieft dasitzen. Wie soll ein Kind das überstehen! William sieht ebenso deutlich wie seine Brüder, dass Franz wirklich mit einem Säugling zu ihnen kommt.

Das kann nur Probleme bringen! Es gibt keine Frauen im Kloster und von keinem der Brüder ist zu erwarten, dass er weiß, was zu tun ist! Hier nützen guter Wille und fromme Gedanken ohne den praktischen Sinn für Kinderpflege nicht viel! Vielleicht kann Franz selbst . . .

Der Herankommende ist nur noch wenige Meter entfernt und unter Anstrengung hebt er eine Hand zum Gruß. Das Bündel mit seinen Habseligkeiten fällt zu Boden, während er vorsichtig seine lebende Last von einem Arm auf den anderen schiebt. Sie alle hören das leise Weinen, entscheiden sich aber aus Hilflosigkeit, es lieber zu ignorieren. Bruder Franz muss erst einmal berichten.

»Meine Brüder, ich habe mich lange auf diesen Augenblick gefreut. Ich habe von eurer Arbeit gehört und betrachte voll Freude mein neues Heim, das Kloster Esrom!«

Bruder Franz, der es nicht für nötig gehalten hat, seinen Namen zu nennen, sieht lächelnd und voller Erwartung seine neuen Brüder im Dienste Gottes an. Abt William fasst sich und beginnt mit fester Stimme, ohne von dem beharrlichen Schreien des Kinds Notiz zu nehmen: »Willkommen, Bruder Franz. Ich hoffe, deine Reise hierher ist ohne Sorgen und Gefahren verlaufen! Wir erwarten dich bereits seit einiger Zeit und freuen uns, aus deiner Sachkenntnis und deinem Eifer Nutzen ziehen zu können. Abt Occo hat dich mit lobenden Worten beschrieben!«

Aber dennoch kann er es nicht lassen, er muss eine Kopfbewegung zu dem Bündel im Arm des neuen Bruders machen: »Du bringst ein Kind mit?«

Vorsichtig schiebt Bruder Franz das Tuch zur Seite und zeigt das Kind. Sofort hört das Weinen auf. »Es lag neben mir, als ich eine Tagesreise von hier in einer Scheune geruht habe. Ich habe die Leute auf dem Hof gefragt, ob es ihr Kind sei, aber keiner wollte es kennen.«

Er seufzt, aber lächelt daraufhin abgeklärt seine Brüder an: »Ich wusste sofort, dass ich es mit hierher nehmen sollte. Es ist ein Mädchen und etwas ganz Besonderes. Seht nur . . .« Er hält ihnen das Kind hin, und wirklich ist etwas ganz Besonderes an ihm. Die Augen sind fast farblos mit milchiger, durchsichtiger Iris, und die Gesichtshaut, von der sich die streifige Röte vom Weinen jetzt zurückzieht, sieht auch ganz durchsichtig aus. Die wenigen Härchen sind schneeweiß. Ein Albino!

»Ich habe einen Namen für sie ausgesucht. Christa!«

Die Mönche sehen sich an. Der Abt hat sich bisher noch nicht zu dem Kind und dessen Schicksal geäußert. Franz kann doch nicht einfach davon ausgehen, dass . . .

William räuspert sich: »Lasst uns hineingehen. Wir müssen entscheiden, was mit dem Kind geschehen soll, aber zunächst dürfen wir nicht vergessen, unsere Gastfreundschaft zu zeigen. Bruder Franz, zuerst sollst du etwas essen, dann werden dir deine Zelle und deine Arbeitsbereiche gezeigt. Das können wir bis zur Vesper schaffen. Außerdem braucht das Kind Pflege und etwas zu essen . . .«

Er schaut sich ratlos um und lässt dann wieder seinen Blick auf Bruder Franz fallen.

»Du bist sicher derjenige, der sich am besten um sie kümmern kann . . . Du hattest sie ja schon den ganzen Tag bei dir. Was brauchst du für das Kind?«

»Da der Kräutergarten ja meine Aufgabe sein wird, habe ich Minze, Rosmarin und Baldrian für beruhigende Getränke und stärkende Öle mitgebracht. Außer Samen, die ausgesät werden müssen, und getrockneten Kräutern habe ich nicht viel bei mir; denn ich will ja hier anpflanzen und herstellen, was für Tinkturen und Extrakte benötigt wird. Aber etwas Wasser, sauberes Leinen, warme Milch und ein bisschen Grütze wären ausgezeichnet. Zeigt mir erst meine Zelle und bringt mir diese Dinge, bevor ich mich mit euch an den Tisch setze, meine Brüder!«


William setzte sich nachdenklich an den schweren Eichentisch, der sein Leseplatz war während der seltenen Stunden, die nicht den Stundengebeten oder der Planung praktischer Dinge gewidmet waren. Und von denen gab es in dem neuen Kloster noch viele. Eskils Brief lag vor dem Abt und bereits ein kurzer Blick darauf war beruhigend. Worte aus Clairvaux, wohin der Erzbischof oft reiste, und Grüße vom Gründer des Ordens, Bernhard, dessen emsiges Wirken ein Ideal darstellte, dem alle Brüder nachstrebten. Bernhard von Clairvaux, erhöht durch seine beispielhafte Demut, derentwegen der mächtige Eskil ihrem Orden besonders gewogen war. Vielleicht enthielt dieser seltene Brief, der von einem reisenden Bruder auf dem Weg nach Herrisvad in Schonen mitgebracht worden war, nicht nur die Mitteilung über Eskils baldige Abreise von Clairvaux, sondern außerdem eine diskrete Erinnerung daran, dass nichts zu unbedeutend ist, als dass es nicht die Diener Gottes zu größerer Einsicht und höherer geistiger Bildung leiten könnte. Bernhard war ja die reine Personifizierung eines derartigen Gedankengangs. Vielleicht war Christa, das neugeborene Albinomädchen, dem Kloster aus Gründen geschenkt worden, die noch niemand durchschauen konnte. Weiß war die Farbe der Zisterzienser – das Symbol der Reinheit! Christa . . . Er hatte bereits den Namen akzeptiert . . . Sie musste so bald wie möglich getauft werden. Sie konnten keine Ungetaufte bei sich aufnehmen, Bruder Rus . . .

Allein bei dem Gedanken an den verfluchten Namen durchlief William ein Schauer und er stand schnell auf, um die Taufe mit seinem langjährigen Freund und Mentor zu besprechen, dem alten Mystiker Bruder Sigurd. Das konnte nicht schnell genug geschehen!

In der Zwischenzeit war Franz in den südlichen Flügel geführt worden. Die Brüder hatten alles, worum er gebeten hatte, gebracht und er begann, noch etwas ungeschickt, das Findelkind zu waschen. Er hatte richtig gehandelt, das wusste er ganz genau! In der Nacht, bevor ihm das Kind gebracht worden war, hatte er von einem weißen Lamm geträumt. Von einem weißen Lamm, das von seiner Herde weggelaufen war, um sich selbst einem hungrigen Wanderer als Opfer darzubieten, der es sofort geschlachtet hatte! Der Rauch war gen Himmel gestiegen und Gott hatte dafür seinen Engel auf die Erde gesandt. Und er hatte dem Kind einen Namen gegeben . . . Der Name war im Traum gesagt worden und Franz konnte immer noch Gottes Worte in seinen Ohren nachklingen hören. Er wollte nicht vergessen, William von seinem Traum zu erzählen. Niemand konnte die Bedeutung des Traums anfechten und es gab für ihn keinerlei Zweifel daran, dass Christa zu ihm gekommen war, um bei ihm zu bleiben. Er wickelte sie in das saubere Leinen und nahm die Schale mit der Grütze und der Milch. Erleichtert atmete er auf, als sie ohne Schwierigkeiten trank. Es war Zeit für das Gebet, als das Kind in Schlaf gefallen war und erst einmal auf das schmale Bett des Mönchs gelegt wurde. Franz eilte davon, um seine Brüder nicht warten zu lassen. Seine Gedanken waren vollkommen mit der unerwarteten Verantwortung und den Schwierigkeiten beschäftigt, die die unerfahrenen Brüder in Verbindung mit der Erziehung eines Säuglings erwarteten. Gleich nach dem Gebet wollte er mit William reden.

William, der die gleichen Gedanken wie Franz hatte, ohne von dem Offenbarungstraum zu wissen, warf dem reisemüden und zerzausten Bruder während des Gebets viele verstohlene Blicke zu. Das war also Franz. Der berühmte Wundarzt und Heiler von Cîteaux! Wenn er wirklich so tüchtig war, wie von ihm gesagt wurde, würde er mit Leichtigkeit das Kind auch ohne Hilfe von Frauen am Leben erhalten. Das Kloster war zwar offen für Laienbrüder, sie beherbergten bereits zwei, aber Frauen nahmen am täglichen Klosterleben nicht teil. William hoffte, dass sie bis auf weiteres ohne Hilfe von außen das Kind erziehen konnten. Es würde eine weitere Herausforderung für ihr Wirken bedeuten.

Als die Messe beendet war, eilten der Abt und Bruder Franz eilig aufeinander zu. Sie hatten beide viel auf dem Herzen und begannen gleichzeitig aufeinander einzureden. Abt William hob resigniert die Arme in die Höhe und gab Franz ein Zeichen, ihm zu folgen. Wortlos eilten sie aus der Kapelle und stellten sich in einer Fensternische gegenüber dem Refektorium auf.

»Das Kind muss baldmöglichst getauft werden. Ich werde den Zeitpunkt mit Bruder Sigurd absprechen, er bereitet die Taufe vor.«

»Das freut mich zu hören! Das Kind ist auserwählt, unter uns zu sein. Wir müssen diese Aufgabe auf uns nehmen und seine Erziehung gewissenhaft planen. Vorläufig werde ich für das Kind sorgen. Das ist meine Pflicht. Aber ich brauche Hilfe! Das muss besprochen werden, damit dadurch keine Schwierigkeiten bei den täglichen Pflichten entstehen. Wir alle müssen uns mit allen Kräften um Christa kümmern.«

Franz senkte den Kopf und schwieg einen Augenblick. Es war William bewusst, dass Franz noch mehr sagen wollte, und das hätte einen anderen, sehr viel ernsteren Charakter. Und ganz richtig: Franz räusperte sich und erzählte in allen Details von seinem Traum und seiner sicheren Überzeugung, dass Christa gekommen war, um in das Leben der Mönche ein Zeichen zu setzen. Was das bedeuten würde, konnte man noch nicht sagen. Das konnte nur die Zeit zeigen. Die beiden Mönche wanderten Seite an Seite zurück zu Franz’ Raum im Südflügel, wo das Kind schlief.


Es gab nur zwölf Brüder in dem neuen Kloster. Zwölf Mönche und zwei Laienbrüder, einen Alten, der im Stall aushalf, und einen jungen Mann, dessen verwirrter Sinn den Mönchen immer wieder Sorgen machte. Während der alte Uffe still und friedlich seine Arbeit bei den Tieren versah und mit den Mönchen zur Messe ging, war Jens, der sicher nicht mehr als sechzehn Jahre alt war, auf ruheloser Wanderung im Gelände des Klosters oder er war damit beschäftigt, Beschwörungen aufzusagen gegen die unzähligen Flüche, die ihn seiner Meinung nach getroffen hatten. Die Mönche waren nicht abgeneigt, ihm Recht zu geben. Wenn er so hinter dem Misthaufen saß mit wackelndem Kopf, starren Augen und ständig sich bewegenden Lippen, ohne dass ein Laut von ihnen zu vernehmen war, musste jeder, der ihn sah, ein stilles Gebet für seine Errettung sprechen. Aber er wurde nicht weggeschickt. Niemand außer dem Teufel selbst sollte aus den schützenden Mauern des Klosters verwiesen werden, auch kein Wesen, das eine Quelle ständiger Unruhe bildete. Mit Gottes Hilfe würde er sich schon zurechtfinden.

Die beiden Laienbrüder lebten im Kloster, seit es gegründet worden war. Aus der Entfernung hatten sie die Bauarbeiten verfolgt, die schnell ein beeindruckendes Backsteingebäude auf den Resten des alten Benediktinerhofs zum Vorschein kommen ließen. Eskils Leute hatten Arbeitskräfte unter den Bauern geworben und die Brüder selbst waren sich auch für die schwere Arbeit nicht zu schade. Sie waren aus dem sicheren Stammhaus in Clairvaux hergekommen, aber sie dachten nicht daran, sich von den harten Herausforderungen brechen zu lassen. Bernhard hatte sie vor ihrer Abreise gesegnet und sie alle wussten, dass die Reise nach Dänemark ihre Lebensaufgabe war. Hier würden sie bleiben und in der Fremde die Erde bestellen für die Zukunft des Ordens und erst zurückkehren, wenn sie so alt waren, dass sie nach Clairvaux heimgerufen wurden. Hier würden sie arbeiten und die aufnehmen, die Zuflucht vor der Welt suchten, und sie würden mit aller Macht versuchen, die eigenen Vorurteile gegen das Land und seine Bewohner abzulegen.

Eskil hatte dafür gesorgt, dass die großen Weideflächen und saftigen Felder dem Kloster zugesprochen wurden. Sein Wohlwollen für die Zisterzienser war ein Wunder, das vielleicht, vielleicht aber auch nicht Bernhard zu verdanken war. Jedenfalls gab es keinen Zweifel, dass Bernhards Größe und wohl bekannte Frömmigkeit Eskils Neugier geweckt hatte. Der mächtige Erzbischof hatte Bernhard in Clairvaux aufgesucht und sich von dessen geistiger Kraft und dem Glanz, der den alten Mönch umgab, verzaubern lassen. Seither waren die Zisterzienser Eskils besondere Schützlinge. Bernhard war bereits zu Lebzeiten eine Sagengestalt geworden, die ihre Stärke auf die Mitglieder der Zisterziensergemeinschaft übertragen konnte – als bescheidenes Vorbild für die Lebensweise der Zisterzienser. Bernhard war Eskils Nächster geworden! Vielleicht waren die Harmonie dieser Verbindung und die gegenseitige Achtung gerade ein Resultat des Gegensatzes zwischen Bernhards weltfremder Frömmigkeit und Eskils erdnahem politischen Geschick, das seine Amtsführung auszeichnete. Vielleicht konnte Eskils raue Natur nur von etwas absolut Reinem und Fehlerfreiem besänftigt werden. Aber wie dem auch war, die gezielte Vorgehensweise und die praktischen Fähigkeiten des Erzbischofs kamen den Zisterziensern zu Gute – ja, sie bildeten sogar hier im Norden deren Existenzgrundlage. Ohne Eskil wären die Mönche nicht so weit gekommen. Jedes Hindernis wurde durch Eskils Tatkraft und seinen Einfluss aus dem Weg geräumt. Weder lokale Streitereien über die Flurgrenzen noch königliche Habsucht konnten den Zisterziensern auch nur eine Hand voll Erde entreißen. Und Eskil sorgte dafür, dass das, was einmal ihres geworden war, auch ihres blieb. Eine Ausdehnung ihres Eigentums war die einzige Veränderung, die er zuließ oder sogar förderte, mit dem üblich gewordenen Tauschhandel von Gold, Land oder Tieren gegen das Angebot der Kirche, die ewige Seligkeit zu erlangen.

Die Mönche konnten also in Ruhe die Welt ihren Gang gehen lassen, während sie ihren Aufgaben nachkamen. Sie waren von frühmorgens bis spätabends beschäftigt. Jeder Bruder hatte tief in seinem Inneren die Gewissheit, dass seine Fähigkeiten und sein Fleiß etwas schufen, das Gott ehrte. Nichts war dafür zu gering, nichts zu groß. Von der einfachsten handwerklichen Tätigkeit bis zu den weitreichendsten Ingenieursarbeiten, von der schönsten Handschrift bis zu den schmutzigsten Arbeiten. Alles wurde gründlich und mit Sorgfalt ausgeführt. Alles war ein offensichtliches Bekenntnis ihres Glaubens, genau wie das Gebet das innere Bekenntnis ihrer vollen Hingabe war.

Bruder Franz war als Letzter hinzugekommen und mit seinen Kenntnissen von heilenden Kräutern und seinen Rezepten war der Fächer der Fachleute im Kloster Esrom vollständig. Es gab geübte Baumeister, tüchtige Schreiber, verlässliche Stallarbeiter, einen Koch und jetzt auch noch einen Heilkundigen, der es außerdem verstand, einen Kräutergarten anzulegen, der sie mit Kräutern versorgen konnte und mit Pflanzen für heilende Tropfen und andere Medizin. Gott war dem gnädig, der sich selbst zu helfen wusste. Abt William war mit seiner Schar zufrieden. Weitere Brüder waren willkommen, aber wie es im Augenblick aussah, gab es reichlich Sachkunde im Haus. Und obendrein ein Kind!

Der alte Bruder Sigurd hatte alle notwendigen Vorbereitungen für die Taufe getroffen. Er hatte ein langes Gespräch mit Abt William geführt, der ihm seinen Beschluss mitgeteilt hatte, das Kind im Kloster zu behalten, auch wenn damit ganz offensichtlich praktische Probleme verbunden waren. William sah müde aus. Er lehnte sich auf seinem unbequemen Holzstuhl zurück und seufzte tief – etwas, das er sich selten gegenüber anderen gestattete. Sigurd hatte schon oft stundenlange Gespräche mit dem Bruder geführt und wusste sofort, dass ihn etwas quälte.

»Bruder Franz hat mir von einem Traum erzählt, den er, unmittelbar bevor er das Kind fand, geträumt hat.«

William schwieg einen Augenblick und Sigurd nickte ihm aufmunternd zu.

Dann fuhr er fort: »Ein weißes Lamm läuft von seiner Herde davon und opfert sich einem hungrigen Wanderer. Dafür schickt Gott einen Engel zur Erde! Franz sieht nur das Geschenk des Himmels, aber ich sehe auch eine verlorene Seele, die geopfert werden muss! Das macht mir Kummer . . . Ist das Kind dieses Lamm oder ist es der Engel? Ich glaube, Ersteres. Anderes anzunehmen wäre zu vermessen. Selbst Franz neigt inzwischen zu der Meinung, dass es das Lamm ist, das unserem Orden geschenkt wurde, damit wir Gottes Wort durch das Kind weitergeben können! Aber was ist mit dem hungrigen Wanderer – die Zisterzienser sind keine gierigen Seelenhändler. Wir heißen die Suchenden willkommen, aber die Verbreitung von Gottes Wort mit Seelenhunger zu vergleichen, das ist nicht richtig. Ich glaube, dieser Teil des Traums hat eine andere, viel finsterere Bedeutung!«

William richtete seinen Blick auf Sigurd, dessen Gesicht im Schatten seiner Kapuze lag. Niemand sagte etwas und es war offensichtlich, dass der alte Mystiker in tiefe Gedanken versunken war. William wartete. Er wusste, dass Sigurd seine Worte sorgfältig abwog, bevor er antwortete: »Bruder Rus kann der hungrige Wanderer sein!«, sagte der Alte schließlich, seine Stimme erklang leise, aber entschlossen. William nickte nur.

»Bruder Rus ist eine Satansbrut und niemand hat ihn mehr gesehen, seit die Benediktiner ihn weggejagt haben!«

Sigurd holte tief Luft, bevor er hinzufügte: »Keiner außer uns beiden – aber wir haben ihn ja wieder verbannen können!«

Ein eiskalter Windzug vom Fenster her ließ die beiden Männer erschauern und unruhige Blicke austauschen.

»Wir dürfen uns nicht davor scheuen, das in Betracht zu ziehen!«, sagte Sigurd mit fester Stimme. »Lieber vorbereitet und auf der Hut sein als sich in ängstlicher Erwartung ducken!« Er richtete sich auf dem Stuhl auf und fuhr fort: »Ich weiß, dass Bruder Rus gierig ist und dass sein Hunger nach unschuldigem Fleisch ihn immer wieder ins Licht treibt, das er doch hasst.«

Ermutigt von der gefassten Miene des Alten, zögerte William nicht länger. »Du hast meine Gedanken erraten! Auch ich habe das Gefühl, dass Rus erwachen will und schon bald hier in Esrom sein Unwesen treiben wird. Wir haben ein Opferlamm unter unserem Dach, aber auch wir brauchen Schutz. Gottes Engel ist unsere eigene Stärke und unser Glauben. Der Engel lebt in uns und wir wollen das Böse nicht fürchten!«

Der kalte Wind ließ die beiden Männer nicht länger schaudern. Beide hatten sich daran erinnert, wie sie entdeckt hatten, was der Keller unter der Küche barg: William war nach dem Ende der Bauarbeiten nach Esrom gekommen. Er sollte den Platz von Abt Folmer einnehmen, der im ersten Jahr einer Krankheit erlegen war. Bei seiner ersten Inspektionsrunde war sein Blick auf eines der kleinen Lukenlöcher aus dem Kellergelass unter der Küche gefallen. Es war ein eiskalter Wintertag gewesen und niemand, der seine sieben Sinne beisammen hatte, würde sich in dem eisigen, nassen Keller aufhalten, der als einziger Raum von der Klosteranlage der Benediktiner noch geblieben war und zu nichts anderem als zur Aufbewahrung von Getreide und von Vorrat gedient hatte. Dennoch hatte sich für einen Moment ein Gesicht gezeigt. Ein weißes Gesicht mit schwarzen, ausdruckslosen Höhlen für Augen, Nase und Mund. Der Schädel war vorschriftsmäßig rasiert gewesen – mit einer Tonsur. Es war der Kopf eines Mönchs gewesen, der dort unten aufgetaucht war. William hatte mehrmals erschrocken geblinzelt und die Erscheinung war verschwunden. Erst später hatte er von der Legende von Rus erfahren. Sie lief wie ein Alpdruck zwischen den Brüdern hin und her und niemand wollte von der Geißel der Benediktiner berichten. Erst als Bruder Sigurd, der auch nach Esrom gekommen war, die ganze Geschichte erzählt hatte, war William sich seiner Sache sicher gewesen. Er hatte Rus’ hässliche Fratze aus dem dunklen Kellerloch hervorstarren sehen. Aber warum? Es hieß doch, Rus wäre schon vor langer Zeit verjagt worden. Warum war er jetzt zurückgekommen, nachdem ein neues Haus errichtet und ein neuer Abt eingeführt worden war? William sah sich selbst nicht als schwach an, ganz im Gegenteil, durch seine unerschütterliche Ruhe und seine Sicherheit bei der Beschlussfassung hatte er viel Respekt gewonnen. Und da Spekulationen eine entschiedene Vorgehensweise nur verhinderten, hatte William deshalb resolut dafür gesorgt, dass in der Küche über dem Kellerraum ein Exorzismus stattfand. Niemand wagte sich dort direkt hinunter und deshalb beschloss man, dass die Seance mit ein wenig Glück direkt über Rus’ Nest abgehalten werden konnte. Aber mittlerweile deutete einiges darauf hin, dass die Kraft der Austreibung durch die Bodenbretter abgeschwächt worden sein musste – Rus war nur in den Schlaf verbannt. Jetzt wachte er wieder auf, wenn sie Franz’ Traum richtig deuteten!

Sigurd nickte mit geschlossenen Augen, tief in seine Kapuze zurückgezogen. Er hatte Williams Gedanken erraten und er konnte sich an sein eigenes Entsetzen erinnern, als er eines Morgens ganz früh wegen einer unaufschiebbaren Besorgung über den Hofplatz gegangen war: Quer über den Platz hatte er einen Ruf gehört, der aus der Küchentür zu kommen schien. Etwas beunruhigt über den leidenden Tonfall in der Stimme, war er stehen geblieben, um zu sehen, wer das sein konnte. War vielleicht jemand zu Schaden gekommen? Niemand war zu sehen. Die Küchentür war verschlossen und alles lag still und verlassen in dem grauen Morgennebel. Dann hatte die Stimme wieder gerufen und diesmal war es Sigurd gelungen, ihre Herkunft zu lokalisieren. Das Lukenloch unter dem Küchentrakt! Am ganzen Körper hatte er eine Gänsehaut bekommen und wäre am allerliebsten in Windeseile davongelaufen, ohne noch einmal zurückzuschauen, aber irgendetwas hatte ihn wie festgenagelt stehen bleiben lassen. Sein Blick richtete sich auf das schwarze Loch und da sah er das, was er mehr als alles andere fürchtete: Rus’ Gesicht, das gleiche, das ihn seit Wochen in seinen Träumen verfolgte. Und die Stimme sprach zu ihm, auch wenn das Gesicht dort unten unbeweglich blieb. Unbeschreibliche Flüche und blasphemisches Schimpfen hatten Sigurd mit entsetzlicher Deutlichkeit klargemacht, dass das Kloster Esrom auf unsicherem Grund stand. Das sichere Glaubensfundament war nur eine Illusion, denn Rus war wieder unterwegs – und diesmal würde er sich wohl nicht mit leeren Händen davonjagen lassen!

Sigurd sah auf und begegnete Williams Blick. Beide kannten die Legende von Rus: Die Geißel der Benediktiner war der leibhaftige Teufel, der in Gestalt eines jungen Mannes nach Esrom gekommen war, um einen Platz zwischen den Brüdern zu erbitten. Er erwies sich als ein hervorragender Koch und der Benediktiner-Abt genoss die erlesenen Gerichte, die er hervorzuzaubern verstand, auch wenn dabei die Verschwendung mit der Zeit überhand nahm. Der junge Rus war von den Brüdern gern gesehen. Aber neben seiner Arbeit in der Küche begann er einen gottlosen Verkehr von Frauen zu organisieren, die bald im Kloster ein und aus gingen. Er verstand es, sich unersetzlich zu machen, und erst als die Brüder einsahen, dass sie von Rus’ vielfältigen Diensten abhängig geworden waren, wurde ihnen die Wahrheit bewusst. Da zeigte der Teufel sein wahres, hässliches Gesicht und verhöhnte sie, weil sie so bereitwillig das Verderben der Welt akzeptiert hatten. Die Mönche jagten ihn zum Tor hinaus, durch den Grib-Wald und weiter bis zum Dorf Nødebo, wo Rus behände in einen Brunnen hinter der Kirche schlüpfte. Seitdem war er nicht mehr gesehen worden. Bis das Kloster Esrom wieder aufgebaut und bereit war, den neuen Orden aufzunehmen!

Sie hatten geglaubt, er wäre verbannt worden, aber Rus war noch in der Küche. Welches Teufelswerk würde er sich für sie wohl diesmal ausdenken?

»Zwei Neuankömmlinge haben sich unserer Gruppe angeschlossen – außer Bruder Franz, meine ich«, sagte William. »Rus und Christa, das Lamm, das in Franz’ Traum erschienen ist. Eigentlich ist es ganz passend, dass sie gerade jetzt hierher gebracht wurde. Das Weiße war immer das Kennzeichen der Zisterzienser, aber wird das Weiße auch das aufwiegen können, was sich aus der Zeit der Benediktiner in den schwarzen Kellergewölben versteckt? Wird Rus sie verschlingen und uns anspeien oder wird sie ein Instrument Gottes zur Erlösung des Ordens sein?«

Sein alter Freund nickte langsam, während er sagte: »Das wird die Zeit zeigen, William. Uns steht eine schwere Probe bevor, der wir nicht vorgreifen können, indem wir übereilt handeln. Die Zeit wird uns das Ergebnis zeigen, denn in diesem Fall können wir uns nicht selbst helfen. Wir sind nur hilflose Akteure in einem Spiel mächtiger Kräfte. Gott wird die Hand über uns halten!«

»Lass uns zur Komplet gehen!« William erhob sich und half Sigurd auf die Beine. Der kalte, feuchte Frühling hatte die Gelenke des Alten steif und schmerzhaft gemacht.


In den kommenden Wochen schlug das Wetter um. Der Frühling wurde zum Sommer und die Sonne schien warm auf eine Landschaft, die sich nach der langen Regenzeit grün und fruchtbar ausbreitete. Bruder Franz lag nicht auf der faulen Haut und schon nach kurzer Zeit hatte er im Klostergarten quadratische und rechteckige Beete ausgestochen, besät und beschnitten. Die Brüder hatten viel Freude an seinem großen Wissen über die Eigenschaften der unterschiedlichen Kräuter und die umständliche Verarbeitung von Pflanzenextrakten zu wirkungsvoller Medizin. Franz hielt mit seinem Wissen nicht hinter dem Berg. Viele Jahre lang hatte er diese besondere Form der Gartenarbeit und die nachfolgende Nutzung der Ernte erlernt. Er kannte auch den alten Griechen, Galen, dessen Rezepte für Säfte und Infusionen universell anerkannt waren, und daneben konnte er sich des Wohlwollens verschiedener Lehrmeister glücklich preisen. Jetzt erfüllte es ihn mit Stolz und Freude, dass er wiederum sein Wissen weitergeben konnte. Er war in Salerno gewesen, wo der Domherr von Roskilde, Henrik Harpestræng, an der berühmten Arztschule studiert hatte. Er hatte von den Vorbereitungen zum ersten abendländischen Pharmakopoe gehört, einem Arzneibuch, in dem alles Wissen niedergeschrieben und die gesamten Aussagen der Heilwissenschaften über heilende Stoffe gesammelt werden sollten. In Cîteaux, wo er die letzten Jahre gedient hatte, hatten die Brüder ihm neben den vielen Samen und getrockneten Kräutern ein paar Pergamentrollen geschenkt, auf denen die Schreiber die wichtigsten Merkregeln der Botaniker niedergelegt und mit schönen, sehr genauen Zeichnungen der Kräuter in den verschiedenen Wachstumsphasen versehen hatten. Zusätzlich hatten sie ihm eine kleine Holzpresse verehrt, sodass er sein eigenes Herbarium aufbauen konnte.


Christa war schon vor langer Zeit getauft worden und die Brüder kümmerten sich mit der Zeit ganz selbstverständlich um das Kleinkind. Mit Franz’ Hilfe war es ihnen gelungen, die meisten Probleme zu bewältigen, vom Ausschlag bis zu Krampfschmerzen. Denn Franz hatte ihnen gezeigt, dass es für fast alles eine Kur gab. Immergrün oder Vinca minor konnte die Darmkrämpfe des Kinds lindern, Weißer Andorn war geeignet, um juckreizstillende Salben herzustellen. Baldrian in warmer Milch ließ das Kind umgehend einschlafen, ein Hausmittel, das die Brüder als einen Segen Gottes ansahen, und Pestwurz war fiebersenkend und half gegen Infektionen. Alle kleineren Unpässlichkeiten ließen sich offensichtlich mit Franz’ wunderbaren Mitteln kurieren. Aber was wäre, wenn ernstere Krankheiten sich unter ihnen ausbreiten würden? Niemand zweifelte daran, dass die Zwiesprache mit Gott der einzige Weg von irdischem Frieden zu himmlischer Erlösung war. Denn Gottes Willen gegenüber waren sie alle machtlos und deshalb würden sie sich auch allem unterwerfen, was ihnen an Widerwärtigkeiten und Leiden zugedacht war. Franz war kein Wunderheiler und auch sein großartiges Wissen durfte sie nicht zu Eitelkeit und übertriebenem Interesse an ihrem vergänglichen Fleisch verleiten!

Als Bruder Martin eines Tages Christa ganz apathisch und mit gelblicher Haut auf dem Bett liegend fand, schlug er Alarm. Abt William, der die ganze Zeit auf das Schlimmste gefasst war, kam herbeigeeilt und bekreuzigte sich, als er sah, dass selbst die milchige Iris des Kinds eine unangenehme gelbliche Farbe angenommen hatte. Das war das Ende von allem. Der Fluch war über sie gekommen! Es war ihnen nicht gelungen, die Verantwortung für dieses Kind zu tragen!

Endlich kam Franz herbeigelaufen. Er warf einen kurzen Blick auf das reglose Wesen, griff sich einen kleinen Lederbeutel von seinem Regal und verschwand in der Küche. Nach einer Weile kam er mit einer Flasche Saft zurück. »Scharbockskraut mit Honig und Essig«, erklärte er. »Sie hat Gelbsucht, das habe ich schon früher gesehen, das kann geheilt werden!« Er träufelte dem Mädchen den Saft in den Mund und achtete darauf, dass nichts danebenlief.

»Auch wenn es schlimm aussieht, darf man nicht zögern, andere, praktischere Dinge als Gebete und Beschwörungen anzuwenden!«, bemerkte er und wendete sich mit lächelndem Gesicht den besorgten Mönchen zu.

»Es gibt gute Chancen für eine Genesung, auch wenn man ihren Zustand nicht zu leicht nehmen darf! Lassen wir die Zeit für uns arbeiten. Morgen können wir bereits eine Besserung erwarten, wenn Gott es will!«

Er stellte die Flasche neben sich auf einen Schemel und erklärte: »Ich werde ihr diesen Saft im Laufe des Tages jede zweite Stunde geben. Danach, wenn sich ihr Zustand gebessert hat, kann ein anderer die Pflege übernehmen. Bruder Martin?«

Er schaute seinen Bruder fragend an, der eifrig nickte. Er würde wachen, damit Franz seinen Schlaf bekäme und die Stundengebete nicht versäumte.

Wie Franz vorhergesagt hatte, erholte Christa sich schnell und die Brüder atmeten erleichtert auf. Aber kaum war diese Sorge vorbei, da erreichte eine traurige Kunde Esrom. Bernhard war tot! Und sonderbarerweise hatte der Abt einige Wochen zuvor die Nachricht erhalten, dass Eskil auf dem Weg nach Esrom war. Der Erzbischof, der einige Wochen in Deutschland zugebracht hatte, konnte also von Bernhards Tod noch gar nichts wissen, was auch aus einem Brief hervorging, der teilweise an Eskil gerichtet war. William machte sich bereit, den Wohltäter des Klosters mit der traurigen Nachricht zu empfangen. ›Bernhard, unser Bruder und Freund, schläft‹, hatte der Clairvaux-Mönch Geoffrey geschrieben, ›aber ein Teil von ihm schläft nicht. Seine Seele wacht über uns.‹ Danach hatte Geoffrey mit seiner Feder einen persönlichen Gruß an Eskil hinzugefügt, dessen tiefe Freundschaft zu Bernhard allen bekannt war. Es war William bewusst, dass Bernhards Tod mehr als der Verlust eines Bruders war; mehrfach hatte Eskil die lange, gefährliche Reise nach Clairvaux um Bernhards willen unternommen und hatte für diese Zeit den Bischofssitz in Lund seinem Stellvertreter überlassen – eine riskante Handlung, die möglichen Feinden freie Hand im Spiel um die Macht geben konnte, auch wenn Eskil sehr geschickt darin war, sich während seiner Abwesenheit mächtiger Verbündeter zu versichern. All das für Bernhard! Diese echte Freundschaft, das selbstlose Handeln für einen Bruder des Ordens, war ein Beispiel, das die Gemeinschaft der Brüder stärken musste. Bernhard war es wirklich gelungen, dem stolzen, harten Erzbischof nahe zu kommen.


Es waren unruhige Zeiten für die Zisterzienser. Sie hatten sich in einem Land angesiedelt, in dem die Vergangenheit die noch unsicheren Meilensteine des Christentums bedrohte. Gegenüber dem Klosterleben herrschte ein weit verbreitetes Misstrauen, auch wenn der König und der Adel sich dreingefügt hatten und damit begannen, den Klöstern für ihr künftiges Wohl beträchtliche Schenkungen zu machen. Und auch unter dem gemeinen Volk war ein Meinungswandel zu erkennen: Die Legende vom Priester Poppo erzählte man sich mittlerweile in jeder Stadt und sie überzeugte bei weitem mehr Dänen, als es die Messen und die fromme Lebensweise der Mönche vermochten. Die dramatische Erzählung von der Feuerprobe, die zur Bekehrung des Wikingerkönigs Harald Blauzahn geführt hatte, bekam ihr glückliches Ende bei Jelling in Stein gemeißelt: Der König bezeugte vor aller Welt seine Bekehrung zum Christentum, indem er ein Monument zu Ehren des Ereignisses errichtete. Dass Poppos bei der Feuerprobe in die Flammen gehaltene Hand unverletzt geblieben war, bot einen Mythenstoff, der lange Zeit als überzeugender Beweis für das Christentum angeführt wurde. Dieses Motiv wurde bei der Ausschmückung von Kirchenwänden, Altartafeln und anderen Dingen, die mit gravierten, gemalten oder gezeichneten Bildern versehen werden konnten, besonders häufig verwendet. Poppos Hand und das Feuer, das ihn nicht besiegen konnte! Das war ein Wunder, und Wunder waren es, die benötigt wurden. Das hatte Eskil bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingeräumt. Er wusste, dass starke Argumente notwendig waren, um die herrschenden Männer von der Notwendigkeit zu überzeugen, der Kirche zu spenden, soviel sie konnten, an geistiger Treue wie auch mit klingender Münze. Besonders ein umfangreiches Vermögen war für die weitere Ausbreitung und Blüte der Klosterbewegung von großer Bedeutung. Dass man seiner Kirche etwas gab, war für die christianisierten Dänen nur natürlich. Es war für jeden Einzelnen in der Gemeinde ein Anliegen. Aber den Klöstern! Wer wollte schon von seinen geringen Schätzen den abseits gelegenen und sich sichtlich gut selbst versorgenden Klöstern spenden! Die Mönche konnten sich doch wohl von den Früchten ihrer eigenen Arbeit ernähren! Eskil kannte diese Einwände und sagte sehr deutlich, dass die kleinen Gemeinden in der unmittelbaren Nähe der Klöster nicht die einzige Quelle zur Mehrung der Besitztümer der Klöster sein dürften. Er wollte den Orden der Zisterzienser sich ausdehnen sehen, aber ohne bedeutenden Landbesitz würde kein Kloster in der Lage sein, die notwendige Selbstständigkeit zu erreichen, damit die Ordensbrüder ungestört wirken konnten. Bernhard von Clairvaux hatte sich um weltliche Güter und ökonomische Fragen des Ordens wenig gekümmert. Eskil respektierte Bernhard, doch er sah die Dinge aus einer anderen, praktischeren Sicht. Wenn es dem Orden, seinem auserwählten Orden gelingen sollte, Mittel für einen gewissen Wohlstand zu erlangen, dann musste er dafür sorgen. Die Zisterzienser sollten sich in Skandinavien niederlassen und er war der Mann, der diese Entwicklung so beeinflussen konnte, dass sie nach seinen Wünschen verlief. Und dafür war Geld nötig, viel Geld und viel Land!

Wunder, die vornehmsten Aktivposten der Klöster und Eskils bevorzugte Handelsware, standen hoch im Kurs. Wunder waren der Beweis. Wunder offenbarten Gottes Macht. Aber wie konnte man wissen, ob ein Ereignis, phantastisch oder einfach nur bemerkenswert, ein Wunder war? Wie konnte man sicher sein, dass Gottes Hand eingegriffen hatte? Auch auf diese Frage wusste Eskil eine Antwort! Ein Wunder musste natürlich durch die höchste Instanz der Kirche validiert werden. Der Bericht von einem Wunder musste in gebührender Form verbreitet, weitergeleitet und dem Papst vorgetragen werden, der schließlich mit seinem Siegel die unverfälschte und göttliche Wahrheit des Wunders schriftlich bezeugte. Mit dieser versiegelten Erklärung in den Händen konnte Eskil oder sein Sendbote dann zurück in den Norden reisen und das Wunder als das verkünden, was es war. Bewiesen und gutgeheißen, um dem gottesfürchtigen Adel und dem Königshaus bedeutende Mengen irdischen Guts zu entlocken.


Wegen Eskils erwarteter Ankunft hatten die Esrombrüder seit einiger Zeit ihre Arbeit an den größeren Projekten verstärkt. Sie wollten gern etwas vorzuweisen haben, wenn der Erzbischof ihnen seinen Besuch abstattete. Schließlich hatte er mehrere Monate in Clairvaux verbracht und würde zweifellos Vergleiche zwischen dem Stammhaus und dem neuen Aussiedlerkloster ziehen. Und durch die Arbeit hier in Esrom sollte außerdem die Erinnerung an Bernhard, den toten Gründer des Klosters Clairvaux, lebendig gehalten werden.

Erland war gerade damit beschäftigt, das neue Wasserreservoir zu inspizieren, das hinter dem Kräutergarten des Klosters ausgehoben wurde. Da sich das Kloster in einer Talsenke befand und ein See in der Nähe lag, bot es sich geradezu an, Grundwasser und Regenwasser zu sammeln. Bruder Erland hatte außerdem Pläne, das Wasser von der Zisterne hinaus zu dem nächstgelegenen Feld zu leiten. Wenn das Projekt glückte, wollte er weiter an der Entwicklung des Systems arbeiten. Er war sehr stolz auf sein Projekt, das sich mit der Zeit als äußerst hilfreich erweisen könnte, um den Feldertrag bei großer Trockenheit zu retten. Vorläufig betrachtete er zufrieden den ersten Schritt. Er hatte sich außerdem viel Mühe gegeben, seine vier Assistenten, Mogens, Peder, Jakob und Niels, anzulernen. Alle vier waren junge Novizen, die Erlands Visionen interessiert lauschten. Mit der Zeit waren sie ganz fähige Handwerker geworden und keiner von ihnen schien das Skriptorium oder den Küchendienst zu vermissen. So sah es also aus, als würde die kleine Mannschaft sich zu Meistern ihres Fachs entwickeln. Jakob, der jüngste Bruder, hatte sogar vorgeschlagen, über die geplante Wasserrinne aufs Feld hinaus zu versuchen, das Wasser direkt in die Küche zu leiten. Das war ja nur eine ziemlich kurze Distanz und es würde die Hausarbeit beträchtlich erleichtern! Aber hier hatte Erland seinen enthusiastischen Bruder gebremst. Es musste Grenzen für den Erfindungsreichtum und die Bequemlichkeit geben. Wasser für den Haushalt konnte von der Zisterne geholt werden und damit Schluss. Die Idee, Zeit und Kräfte darauf zu verwenden, das Wasser direkt in die Küche zu leiten, war direkt verachtenswert. Was würde das Nächste sein? Wenn die Gedanken der Brüder nur um die Erleichterung ihrer Arbeit kreisten, stand der Sinn ihres Mönchslebens auf dem Spiel. Die Zisterzienser arbeiteten und mühten sich, weil es Gottes Wille war, und Erfindungen, die einer unvertretbaren Bequemlichkeit dienten, waren der direkte Weg ins Verderben! Jakob senkte beschämt seinen Kopf und begab sich mit der Ermahnung, auf bessere Gedanken zu kommen, zum Gebet in die Kapelle!

In dem Skriptorium hatte Martin sich in seine Illumination von Bruder Rus’ Vertreibung aus Esrom vertieft. Abt William hatte ihm die Aufgabe zugeteilt und das Motiv hatte Martin sofort fasziniert. Er hatte zwar keine Ahnung, wie dieser Rus ausgesehen hatte, aber es gab keinen Zweifel, dass er den Brüdern anfangs ein angenehmes, sympathisches Antlitz gezeigt hatte. Martin beschloss nach einigen Überlegungen, einen kleinen Bilderfries zu machen, der das einschmeichelnde, verlockende Spiel des Teufels mit den nichts ahnenden Mönchen zeigen sollte, den Fall der schwachen Seelen und schließlich die Entdeckung und Austreibung. Bruder Franz hatte ihm mit den Farben geholfen. Er hatte Martin auf eine lange Wanderung mitgenommen, bei der sie an verschiedenen Punkten die Erde aufgegraben und Wurzeln, Pflanzenstiele und sogar Ton gefunden hatten, was alles zu kräftigen, haltbaren Farben verarbeitet werden konnte, die für das Illuminieren von Bildern gut geeignet waren. Martin war zunächst skeptisch gewesen. Pflanzenfarben waren zwar bekannt, aber die Art, wie Franz sie herstellte, glich der Methode, mit der Textilfarben vorbereitet wurden. Außerdem benutzte man üblicherweise Materialien, die aus Pflanzen aus fernen, südlichen Regionen gewonnen wurden. Er selbst verwendete Tinte und Farben, die aus fremden Substanzen hergestellt waren. Er hatte sich nie um die komplizierten Verarbeitungsprozesse gekümmert, aber jetzt, wo er sich so weit entfernt von allen Handelswegen befand, hatte er sich dankbar auf Franz verlassen. Es konnte trotz allem nicht schaden, einmal neue Farben auszuprobieren. Wenn sie verblassten, konnte er das Motiv immer noch mit den ›richtigen‹ Farben illuminieren, die ein Bruder aus Clairvaux früher oder später herbringen würde. Vorläufig schien es aber ganz so, als wären Franz’ Farben mindestens so gut wie die alten, erprobten Farben.

Er war dabei, das letzte Bild des Frieses fertig zu stellen. Es zeigte den leibhaftigen Teufel mit Hörnern und blutrotem, nacktem Körper, der in den Brunnen sprang, während die weiß gewandeten Brüder ihm ihre goldenen Kruzifixe als Schutz und Waffe entgegenhielten. Martin freute sich besonders über die neue rote Farbe. Sie hatte einen sehr lebendigen, strahlenden Schein und nach jeder Schicht, die er dem Körper des Teufels auflegte, schien die Figur noch deutlicher hervorzutreten. Fast als wäre sie aus Fleisch und Blut. Die goldene Ockerfarbe war auch nicht schlecht. Die hochgereckten Kreuze strahlten, als würden sich die Strahlen der Sonne im Gold spiegeln. Martin hatte überlegt, ob er sie mit Blattgold belegen sollte, aber nachdem er gesehen hatte, wie die Farbschichten wirkten, war er zu dem Entschluss gekommen, das kostbare Material lieber für eine andere Gelegenheit aufzusparen. Die Arbeit war wirklich geglückt, so wie sie jetzt erschien! Er lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück und dachte, dass nur noch eine einzige Farbschicht fehlte, dann konnte er das Ergebnis William präsentieren – und Eskil natürlich auch! Er war ziemlich stolz auf seine Arbeit. Und Rus’ wahres Gesicht würde nunmehr allen zur Warnung und zum Schrecken dienen können. Es läutete zum Gebet und Martin stand auf, wobei er sich die Hände an einem Lappen abwischte, der über der Stuhllehne gehangen hatte. Als er das Zimmer verließ, warf die Sonne ihre letzten, roten Strahlen auf seine Arbeit und es sah aus, als würde die Haut des Teufels von einer inneren Glut erhellt. Konnten Franz’ meisterlich hergestellte Farben wirklich solch einen Effekt hervorrufen!


Im Stall stand der alte Uffe und rüttelte Jens, der anscheinend hinter dem Futtertrog in Trance gefallen war. In den letzten Tagen hatten die beiden sich mit dem neuen Lehmboden abgemüht, der gleichmäßig gestampft werden musste. Außerdem hatten sie den Stall bis auf den Boden ausgemistet, was nur jedes halbe Jahr gemacht wurde, wenn die Tiere bereits einen halben Meter über dem Boden standen. Das tägliche Ausmisten bestand nur aus einem oberflächlichen Einsammeln des Dungs, der auf den Misthaufen gefahren oder für den Garten benutzt wurde. Was liegen blieb, hielt die Wärme im Stall und die frische Streu sorgte dafür, dass die Tiere es immer angenehm trocken hatten. Jens hatte seinen Teil der Arbeit gemacht und Uffe hatte sich über dessen relativ lange Periode von Stabilität und offensichtlicher geistiger Ausgeglichenheit gefreut. Aber damit war es jetzt leider vorbei. Zitternd stand Jens da und machte abwehrende, beschwörende Handbewegungen. Als Uffe näher trat und ihn fragte, was denn los sei, bekam er keine klare Antwort. Er konnte nicht einmal sagen, wieweit Jens sich selbst über seinen Zustand im Klaren war. Es schien, als würde er nichts anderes als eine unsichtbare Bedrohung sehen oder hören, gegen die er sich zu verteidigen versuchte. Uffe trat dicht an ihn heran und packte den jungen Mann fest bei den Schultern. Bei der Berührung erstarrte Jens, ließ sich dann aber ohne Gegenwehr zur Kapelle führen. Dort war es Zeit für die Gebete und vielleicht konnten ihn die Gesänge beruhigen. Das taten sie eigentlich immer.

Die Tiere standen ruhig da und kauten das frisch eingeschüttete Heu, aber in der Ecke hinter dem Futtertrog polterte es. Vielleicht war es ja nur eine Ratte, das etwas schrille Piepsen des Tiers erinnerte allerdings an das Weinen eines Kinds. Aber davon ließen sich die Kühe nicht stören.


Christas erste Zeit in Esrom war ganz gut verlaufen. Bis auf einige leichtere Erkrankungen und kleinere Probleme hatten die Brüder keinen Grund zur Sorge gehabt. Sie hatten gelernt, mit einem Kleinkind zu leben, und alle wollten an ihrer Erziehung teilhaben. Selbst Jens, der an sich schüchtern und sehr zurückhaltend war, zeigte ein wachsendes Interesse an der neuen Mitbewohnerin. Und jetzt, vor Eskils Ankunft, schien sein Interesse für das Kind noch deutlich größer zu werden. Wahrscheinlich war ein gewisser Beschützerdrang über ihn gekommen. Auch wenn die Mönche ihm nie die Verantwortung für sie überließen, war er oft in ihrer Nähe. Wenn die Brüder ihr Bett hinausgestellt hatten, damit sie die frische Luft genießen konnte, war auch Jens draußen. Er hielt sich in der Nähe auf und kontrollierte sorgfältig, dass der Sonnenschutz, den Franz hatte herstellen lassen, weil Albinos direkte Sonnenstrahlen nicht vertragen können, auch seinen Dienst erfüllte. Aber er kam ihr nie wirklich nahe. Dafür trieb er einen großen Aufwand mit seinen beschützenden Beschwörungen, wenn er um sie herumschlich. Anfangs hatte es einige der Brüder irritiert, vor allem William, der den blinden Glauben des jungen Mannes an alle möglichen Talismane als ungesund und an der Grenze zur Ketzerei angesehen hatte. Aber er ging nicht näher darauf ein, da diese Aktivitäten offensichtlich das Einzige waren, das den verwirrten Menschen beruhigen konnte. Und Christa schien seine sonderbaren Beschwörungen und Bewegungen lustig zu finden. Jedenfalls verfolgten ihre Augen intensiv Jens, sobald er in ihr Blickfeld kam.

Am Tag vor Eskils erwartetem Kommen waren alle mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Jede Ecke wurde mit Besen und Wischlappen gesäubert. Alles sollte strahlend sauber sein. In der Kapelle glänzten Gold und Silber frisch geputzt und poliert und in den Kerzenhaltern steckten neue Altarkerzen. Franz hatte frische Blumen in die Vasen gestellt, eine Sitte, die er von seinen Reisen in den Süden mitgebracht hatte. Es herrschte strahlender Sonnenschein, und William, der alles mehrere Male inspiziert hatte, ohne etwas bemängeln zu können, hatte vor Nervosität und vibrierendem Tatendrang die vier jungen Novizen angestellt, den Hofplatz zu fegen. Als sie vor lauter Ausgelassenheit anfingen, sich gegenseitig mit den Besen zu necken, war er herausgestürmt und hatte sie streng ermahnt, sich würdig zu verhalten. Wie konnten sie nur derartige Possen treiben – und das am Tag vor der Ankunft des Erzbischofs! Aber im Stillen war er dankbar für ihre unbekümmerte Freude. Solange sie ihr nachgaben, würde keine Angst die Oberhand gewinnen können. Jens’ Verhalten in letzter Zeit hatte William nämlich stärker bekümmert, als er sich hatte anmerken lassen: Es passte nur allzu gut zu seinem eigenen, immer stärker gewordenen Alptraum. Wie Jens’ Unruhe mit Christa und ihrem weiteren Wohlbefinden verknüpft zu sein schien, so waren auch seine eigenen Träume auf das überwältigende Verlangen gerichtet, das Kind vor dem Bösen zu beschützen. Warum? Weil, versuchte er sich selbst zu erklären, das eine Aufgabe war, die ihre Kräfte gegenüber dem lauernden Feind auf die Probe stellen würde. Aber die Träume von dem dunklen Schatten, der konstant über dem Findelkind lag, erschienen mit der Zeit immer dringlicher und deutlicher. Sie waren verknüpft mit dem Keller unter der Küche und er hatte ›gesehen‹, dass der Schatten langsam den dünnen Sonnenstrahl schluckte, der sich durch das kleine Fenster hineinzwängte. William schüttelte resigniert den Kopf. Das waren nur Träume – keine Warnungen. Wenn Eskil da war, würde er dafür sorgen, dass das Kind Eskils Segen bekam. Das würde ihm vielleicht zu einem weiteren Schutz verhelfen.

Er wurde in seinen Gedanken von Bruder Severin gestört, der mit blutbespritzter Schürze über den Hof herankam, wobei ihm der Schweiß übers Gesicht lief. Er hatte gerade ein Schwein geschlachtet und den Rest der schweren Arbeit mit dem Brühen und dem groben Tranchieren einigen der Brüder überlassen, die in der Küche arbeiteten. Er wollte später zurückkommen und das endgültige Zerteilen übernehmen. Gerade hatte er William entdeckt und war der Meinung, dass der Augenblick günstig wäre, diesem eine dringende Sache vorzutragen. William nickte ihm zu und machte eine einladende Geste, die sofort Severins Zunge in Bewegung setzte. Der kleine, stämmige Mann wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab und verneigte sich leicht vor dem Abt: »Wir wollten eigentlich heute zwei Schweine schlachten. Aber gestern ist eins verschwunden. Wir haben angenommen, dass Jens vergessen hatte, den Koben zu verschließen, aber er behauptet steif und fest, in keiner Weise etwas versäumt zu haben.«

Severin seufzte und fuhr fort: »Das Schwein war weg, aber heute Morgen, als ich in die Küche kam, habe ich zu meiner großen Verwunderung entdeckt, dass in der Vorratskammer eine lange Reihe Würste, ein Vorderviertel und zwei Eisbeine hängen. Außerdem lag ein Schweinekopf mit einem Apfel im Maul auf dem Tisch!«

Der kleine Mann verdrehte die Augen und schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Es sieht so aus, als wäre das Schwein geschlachtet worden, aber wer hat das gemacht? Keiner in der Küche hat eine Ahnung davon!«

Ein geschlachtetes Schwein, dachte William, während er verwundert den kleinen Schlachter ansah, dessen Tonsur trotz des sehr kurzen Schnitts ihm wild zu Berge stand. Ist denn jetzt hier alles vollkommen durcheinander gekommen! Er seufzte und überlegte, was er dem Mann sagen sollte. Severin war nicht einer der klügsten Brüder, aber er versah seine praktische Arbeit trotz seines etwas verwirrten Charakters sehr genau und außerdem konnte auf seine Chorstimme kaum verzichtet werden. Aber wie konnte er hier einfach behaupten, jemand hätte die Arbeit für ihn gemacht!

»Du willst damit sagen, dass jemand ungesehen und ungehört hier im Kloster ein Schwein geschlachtet hat, Bruder Severin?«

Der Mönch nickte eifrig, besann sich dann aber.

»Vielleicht ist das Schwein ja wirklich nur davongelaufen, denn wer kann in einer einzigen Nacht Würste machen? Und außerdem war ein Vorderviertel auch noch geräuchert! Also, wenn ich es mir recht überlege, dann kann es nicht unser Schwein gewesen sein. Aber von wem ist dann dieses Geschenk?«

William nickte. Das Schwein musste einfach weggelaufen sein. Es war ausgezeichnet, dass Severin selbst darauf gekommen war, aber es blieb die Frage nach den Esswaren in der Vorratskammer. Vielleicht hatten Gönner des Klosters das Fleisch im Morgengrauen hineingelegt. Es gab trotz allem einige Bauern in Nødebo, die regelmäßig in Esrom vorbeikamen, um sich einige Heilkräuter einzutauschen oder dem Messgesang zu lauschen. Und die hatten ja schon gehört, dass der Erzbischof Eskil aus Lund erwartet wurde. Selbst die einfachen Leute kannten die höchste Autorität der Kirche in den nordischen Ländern.

»Versuche herauszufinden, ob jemand aus Nødebo hier gewesen ist, Severin. Ich denke, dass es sich um ein Geschenk handelt. Wir dürfen nicht vergessen, unserem Gönner zu danken, wenn er sich zu erkennen gibt.«

Nachdem er die letzten Worte gesagt hatte, durchfuhr ihn plötzlich ein Schauder. Wenn er sich zu erkennen gibt, erklang das Echo in seinem Gehirn. Wenn er sich zu erkennen gibt!


Als Eskil in Esrom ankam und die Nachricht von Bernhards Tod überbracht bekam, nickte er nur und bat darum, dass eine seiner Reisetaschen gebracht wurde. Die Mitteilung hatte seine Züge verdüstert, aber William wunderte sich darüber, dass kein Zeichen der Überraschung im Gesicht des Erzbischofs zu entdecken war. Eskil saß nachdenklich nickend da, als hätte er erwartet, vom Tod seines alten Freundes zu erfahren. Als er kurz darauf seine Reisetasche in den Händen hielt, zog er ein kleines Päckchen heraus. Es enthielt ein Stück Brot, das Bernhard ihm bei seiner Abreise gegeben hatte. Das war jetzt bereits Monate her und seht: Das Brot war immer noch frisch. Eskil überreichte es William, der es verwundert in den Händen hin und her drehte. Ein Wunder? Vielleicht, aber das Brot musste noch eine ganze Weile aufbewahrt und beobachtet werden, bevor man wirklich an ein wahres Wunder glauben durfte! William sah ein, dass es eine große Bedeutung für sein Haus hier in Esrom haben könnte. Wenn er dafür sorgte, dass diese Gabe mindestens ein Jahr lang bewacht wurde und das Brot dann immer noch so frisch war wie jetzt, konnte Eskil oder sein Bote in den Süden ziehen, um das Wunder anerkennen zu lassen, damit die Welt, und nicht nur die Ordensbrüder, daran glauben konnten. Das Kloster hatte ja bereits einen gewissen Respekt unter den umwohnenden Bauern erlangt und William zögerte nicht damit, Eskil zu erzählen, dass die Speisen, die sie ihm servierten, ihnen von einem in der Nähe wohnenden jungen Bauern geschenkt worden waren, der vor kurzem den Hof seines Vaters übernommen hatte. Es war Severin selbst, der die Sache mit dem Geschenk eines Unbekannten aufklärte. Schon am Nachmittag nach Severins Bericht bei William war ein junger Mann auf den Hof gefahren und hatte sich als Rupert vorgestellt. Er hatte bisher keinen Kontakt mit den Brüdern gehabt, wollte jedoch eine gute Nachbarschaft mit einem Geschenk für das Kloster einleiten. Severin hatte ihm gedankt, konnte sich aber nicht auf ein längeres Gespräch einlassen, weil Eskils Gefolge bereits auf dem Hügel zu sehen war. Der Mann war wieder fortgefahren, hatte jedoch versprochen zurückzukommen. William war dankbar für die schnelle Klärung der Sache. Ihn hatten die schlimmsten Gedanken geplagt. Aber im Augenblick waren sie von der Freude verdrängt, den Erzbischof zu Gast zu haben.

Als Eskil nach der anstrengenden Reise geruht hatte, ließ er sich wieder bei William melden, der ihn in die Kapelle geleiten wollte. Er freute sich auf die Mette um Mitternacht, in der Severin seinen Chor einige neue Psalmen singen lassen würde, die zu dieser Gelegenheit geschrieben worden waren. Und morgen würde er Näheres über das Albinomädchen erfahren, das ins Kloster gekommen war. William hatte ihm in kurzen Zügen von Christa berichtet . . . Welch sonderbare Geschichte.

Das Buch der Wunder

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