Читать книгу Nächsten Sommer - Jugendbuch - Hanne-Vibeke Holst - Страница 5

Zweites Kapitel

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»Ich hab einfach keinen Bock mehr!« Louise seufzte und ließ sich im Korbsessel zurückfallen.

»Komm schon, wir sind bald fertig.« Anders saß neben ihr am Schreibtisch und schrieb ein Biologieprotokoll. Seit sie aus der Schule gekommen waren, saßen sie schon in Louises Zimmer, aber es schien nichts dabei herauszukommen. Das Fest lag bereits einige Tage zurück und sie waren zum ersten Mal allein zusammen. Und es gab auf der Welt einfach wichtigere Dinge als DNS-Moleküle und Fruchtfliegen.

Den ganzen Nachmittag hatten sie auf ihrem Bett gelegen und geredet und geschmust und ein bisschen geküsst. Als Louises Mutter kam und fragte, ob Anders nicht mitessen wollte, hatten sie noch kein Buch aufgeschlagen.

Das Abendessen war sehr lustig gewesen. Louises Mutter hatte sich mit dem Essen besondere Mühe gegeben, sie hatten Eis mit selbst eingemachten Brombeeren bekommen, mit denen sie sonst sehr knauserte. Louise konnte sehen, dass Anders ihrer Mutter sofort gefiel, und auch er entspannte sich, obwohl er sich Sorgen gemacht hatte, dass er »Umstände machen« könnte. Zum Glück war Louises Vater nicht zu Hause, er konnte ihren Freunden gegenüber so grob werden. Richtig gemein und ätzend. Einige hatte er schon wegekeln können und vielleicht war das auch sein Ziel gewesen.

Ihre kleine Schwester Liz hatte freiwillig den Abwasch übernommen.

»So verknallt, wie du bist, lässt du das Geschirr ja doch bloß fallen«, hatte sie gesagt und Louise aus der Küche geworfen.

Verliebt? War es möglich, sich in einer Nacht zu verlieben? War es möglich, sich in einen Klassenkameraden zu verlieben, den sie seit zwei Jahren jeden Tag gesehen hatte?

Andererseits hatte sie einen dreitägigen Orkan durchgemacht, nur einen halben Joghurt und einen Apfel gegessen und sechzig Zigaretten geraucht. Sie hatte sich nur auf Anders konzentrieren können und war den Anmachen der anderen gegenüber kalt geblieben. In den Stunden starrte sie einfach nur seinen Nacken an, der ihr als das Vollkommenste erschien, was sie je gesehen hatte.

Leider war sie blöd genug gewesen Stine zu erzählen, dass sie Anders für ein göttlich schönes Geschöpf hielt, objektiv gesehen. Stine hatte nur herablassend losgeprustet. Sie fand es sehr komisch, dass Louise litt, weil sie nicht mit Anders gesprochen hatte und einfach nicht wusste, wie er zu ihr stand. Als Louise ihr Gefühllosigkeit vorwarf, sagte Stine, dass es wirklich an der Zeit war, dass Louise einmal vor Ungewissheit stöhnen musste.

»Aber Stine, meinst du denn, ihm geht’s genauso?«, jammerte sie und Stine betrachtete sie nachsichtig.

»Süße, sperr doch mal die Gucklöcher auf! Der ist stoned! Armer Mann, der ist glatt in die Falle gelatscht. Hätte eben mich nehmen sollen.«

Aber Louise war erst überzeugt, als Anders in der Pause zu ihr kam, als sie allein am Kaffeeautomaten stand, und ihr einen zerknüllten Zettel reichte.

»Die Französische Revolution, Einkommenspolitik und ihr Einfluss auf die Zahlungsbilanz, schlaflose Nächte und du, du, du. Wann können wir uns sehen? A.«

Seit gestern hatte sie den Zettel schon tausendmal gelesen, er war inzwischen ganz abgegriffen und durchsichtig. Das war sie auch. Durchsichtig. Sie begriff nicht, was er mit ihr machte, aber schon beim bloßen Gedanken an ihn lief es ihr heiß und kalt über den Rücken. Also war sie vielleicht verliebt?

»Diesmal wird’s eben einfach nichts.« Anders legte den Kugelschreiber beiseite und steckte die Blätter in eine Plastikhülle. »Und jetzt muss ich nach Hause.«

»Du kannst doch hier schlafen?«, schlug Louise vor. Sie stand hinter ihm und hatte die Arme um seinen Hals gelegt.

»Aber ich muss doch um sechs Uhr zum Füttern aufstehen«, erwiderte er.

»Steh einfach früh auf und fahr nach Hause. Ist doch egal, ob du jetzt oder morgen früh fährst?«

»Do-och. Ich würde auch lieber in deinen Armen schlafen«, sagte er und zog sie zu sich herunter.

In diesem Moment hörte Louise, dass das Auto in die Garage gefahren wurde. Also kam ihr Vater nach Hause. Wenn er sich jetzt einmischte, dann würde sie austicken. In der letzten Zeit hatte er sich in alles, was sie machte, eingemischt. Hatte geschimpft und war bei jedem Dreck in die Luft gegangen. Die Mahlzeiten waren zu Schlachten zwischen ihnen geworden, dabei konnte schon »gib mir das Salz« als Kriegserklärung und »bitte sehr, hier ist die Butter« als Antrag auf Waffenstillstand aufgefasst werden. Liz klimperte nervös mit den Wimpern und die Mutter versuchte als diskrete Vermittlerin zu fungieren, wenn sie sich verbissen über alles – vom Preis für ein Pfund Tomaten bis hin zur Rolle der USA in Nicaragua – fetzten.

Früher hatte immer die Mutter auf sie gewartet, wenn sie lange ausgeblieben war. Entweder, um ihr die Leviten zu lesen, weil Louise zu spät nach Hause kam, oder weil sie nicht schlafen konnte und sich vorstellte, dass Louise vergewaltigt und verstümmelt in irgendeinem Wald lag. Aber jetzt war es der Vater, der mit einem Buch auf dem Schoß vor sich hin döste, wenn sie nach Hause kam.

Wenn Louise fragte, warum er in aller Welt noch so spät auf sei, dann sagte er, er müsse noch rasch ein Problem lösen oder dass er nachts so gut seine Gedanken sammeln könne.

Aber das glaubte Louise nicht, denn er fing immer an, sie kreuz und quer auszufragen. Wenn sie sich erkundigte, ob das ein Verhör dritten Grades sein sollte, wurde er wütend und erklärte, er sei nur daran interessiert, was sie mit wem unternahm. Vor allem Letzteres lag ihm sehr am Herzen.

Er ging ihr tierisch auf den Geist. Liz glaubte, die Midlifecrisis sei schuld daran. Louise war es schnurz, was der Grund dafür war, nur sollte er sie sich selbst überlassen.

»Du musst dich darauf vorbereiten, den Architekten zu begrüßen«, sagte Louise, als sie die schweren Schritte ihres Vaters auf der Treppe hörte.

Anders sah sie verwirrt an, aber sie streichelte ihm nur beruhigend über die Haare, als der Vater anklopfte und sie »herein« sagte.

»Hallo, Mutter hat gesagt, du hättest Besuch und da wollte ich nur schnell Guten Tag sagen«, sagte der Vater und hielt Anders, der ihn höflich begrüßte, die Hand hin.

»Na, aber du wolltest wohl gerade gehen«, fuhr der Vater fort. »Louise muss ja früh aufstehen und du selber sicher auch. Du kommst vom Land, nicht wahr?«

Anders’ Blick suchte unsicher Hilfe bei Louise. Sie sammelte all ihren Trotz und ihren Mut und ließ ihren angestauten Aggressionen freien Lauf: »Anders bleibt hier. Er schläft heute Nacht hier.«

»Ach ja? Das ist ja interessant. Ist deine Mutter darüber informiert?«

»Nö, aber er soll ja auch nicht in ihrem Bett schlafen«, antwortete Louise und erschrak selbst über ihre Frechheit.

»Louise, ich möchte gern einen Moment mit dir allein reden.«

Louise nahm diesen Befehl mit einem Schulterzucken entgegen und ging mit ihm auf den Flur. Doch als sie gerade im Begriff war, hinter ihm die Treppe hinunterzulaufen, blieb sie stehen. Sie wollte nicht länger herumkommandiert werden. Er sollte sie zum Teufel noch mal nicht demütigen und schon gar nicht vor Anders.

»Vater, hier gibt’s keine Diskussionen. Er bleibt hier«, sagte sie ruhig zu seinem Rücken, der in der Tweedjacke breiter und breirter wurde, bis er sich dann zu ihr umdrehte und sagte: »Louise, du bestimmst nicht in diesem Haus, auch wenn du dich aufführst, als ob dir hier alles gehört. Aber so lange du hier wohnst, hast du dich an einige wenige Regeln zu halten. Ich bin sehr großzügig, deine Mutter ist sehr großzügig, wir haben dich durchaus frei erzogen. Aber es gibt gewisse Regeln . . .«

Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut. Louise sah ihn trotzig an und hasste ihn verbissener als je zuvor. Sie verachtete ihn. Aufgeblasener fetter Frosch, reaktionärer Chauvi, konnte nicht ertragen, dass er keine Macht mehr über sie hatte. Darum ging es hier doch. Um Macht und Besitzansprüche. Er glaubte, sein Besitzrecht über einen Haufen Steine und einige teure Designermöbel garantiere ihm auch unbeschränkte Gewalt über sie. Aber das stimmte nicht mehr.

Louise kniff die Augen zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Dann drehte sie sich um, ließ ihn stehen und ging zu Anders zurück.

»Wir hauen ab«, teilte sie Anders mit, der schon seine Tasche gepackt hatte, an der Tür stand und fluchtbereit wirkte. Louise streifte sich ihren blauen Pullover über den Kopf, stopfte Bücher, etwas Wäsche und ihre Kulturtasche in ihren Rucksack und knipste das Licht aus.

Auf der Treppe begegnete ihnen niemand, der Vater war offenbar in sein Zimmer gegangen. Aber Louise wollte sichergehen, dass ihre Botschaft bei ihm ankam, und deshalb schlug sie die Haustür hart hinter sich zu.

»Was jetzt?«, fragte Anders, als sie draußen auf dem Bürgersteig standen.

»Kannst du mich nicht zu Stine fahren?« Louise war todmüde und wollte am allerliebsten in einem warmen Bett neben einem lieben Menschen einschlafen.

»So spät? Willst du nicht lieber mit zu mir kommen? Dann nehmen wir morgen einfach den Bus?«, fragte er und fasste sie ums Handgelenk.

»Ich weiß nicht so recht . . . Was sagen denn deine Eltern, wenn du mitten in der Nacht eine wildfremde Person anschleppst?«

»Ach, das sind die doch gewohnt! Komm jetzt!« Er nahm ihren Rucksack und ging zum Rekord.

»Du bist ja vielleicht grob!«, sagte Louise, war aber erleichtert, weil er alles so gelassen hinnahm. Ein tröstliches Wangenstreicheln hätte sie in Tränen ausbrechen lassen.

Als sie die schlafende Villenstraße verließen, sah sie, dass ihre Mutter am Mansardenfenster stand und ihr nachschaute.

Das Erste, was Louise registrierte, als sie in Anders’ Bett erwachte, waren gleichzeitig die ungewohnte Ruhe und die fremden Geräusche. Als Zweites ging ihr auf, dass Anders verschwunden war und dass sie allein in einem kleinen Mansardenzimmer mit schrägen Wänden lag. Ein Stückchen blauer Himmel wurde von einem Dachfenster eingerahmt und draußen bewegte sich eine Baumkrone.

Sie erkannte seine abgenutzte Schultasche, die er achtlos auf den schweren, alten Schreibtisch geworfen hatte. Alle Möbel waren alt, der Schrank, der Stuhl und das Bett, in dem sie lag. Aber an der Querwand stand ein Holzregal mit einer Stereoanlage und vielen Büchern. Mit Romanen, Gedichtsammlungen, allem Möglichen. Und im untersten Fach stand unter einer Plastikhaube eine Schreibmaschine.

Wozu er die wohl brauchte? Um Aufsätze und Protokolle zu schreiben? Oder ob er ganz einfach schrieb? Er hatte nie darüber gesprochen, aber es gab sicher sehr viel, was er niemandem erzählt hatte.

Unten ging eine Tür und irgendwer kam pfeifend die Treppe herauf. Es hörte sich an wie Anders, deshalb stellte Louise sich schlafend und versuchte bildschön dabei auszusehen.

»Guten Morgen, Dornröschen!« Kaum hatte er die Tür aufgerissen, da stand er auch schon am Bett. Eine kalte Hand stahl sich unter die Decke und legte sich auf ihren nackten Bauch.

Louise schrie auf.

»Bist du wahnsinnig, Mann!«

»Entschuldigung, ich wollte bloß sehen, ob du wach bist. Ach, was bist du schön warm!« Er legte seinen Kopf an ihren Hals, schnupperte und stieß kleine genießerische Töne aus.

»Du riechst nach Kühen!«, rief sie und hielt ihn von sich weg. Er trug Arbeitskleidung. Grüne Cordhose und kariertes Hemd.

»Mmm. Ich komm ja auch gerade aus dem Stall, das ist also kein Wunder. Was ist das schön, eine Frau im Bett zu haben!«

»Wie spät ist es?«, fragte Louise mit einer leisen Ahnung, dass es schon ganz schön spät war.

»Viertel vor acht. Der Bus ist weg. Aber ich musste meinem Vater bei einer kalbenden Kuh helfen.«

»Und jetzt? Wie sollen wir jetzt zur Schule kommen?«

»Wir können den nächsten Bus nehmen oder Mutter kann uns fahren. Wir können auch ganz einfach wegbleiben.« Er setzte sich auf und legte eine Hand auf ihre Brust.

»Schwänzen? Ich dachte, du tust so was nicht?« Louise hatte schon oft geschwänzt, während Anders immer in der Schule war.

»Ich tu’s auch nur im äußersten Notfall.«

»Und der liegt heute vor?« Louise lächelte ihn an.

»Aber sicher. Bist du vielleicht nicht untergetaucht und habe ich es nicht auf mich genommen, dich vor deinem irrsinnigen Vater zu beschützen?« Anders breitete dramatisch die Arme aus und Louise hätte ihn küssen mögen, wenn sie sich die Zähne geputzt hätte.

»Hast du deinen Eltern gesagt, dass ich hier bin?«, fragte Louise nachdenklich.

»Sie sind über den tiefen Ernst der Angelegenheit im Bilde, ja!«, antwortete er mit tiefer Stimme. »Mutter backt auch schon Weißbrot und Kringel und was weiß ich, nur deinetwegen. Also mach, dass du aus dem Bett kommst!«

Als Louise mit Anders die Küche betrat, schien es dort von Menschen nur so zu wimmeln. Am Küchentisch saßen der Postbote, ein jüngerer Bursche und ein grauhaariger Mann in einem abgenutzten khakifarbenen Schlosseranzug, der Anders’ Vater sein musste. Sie tranken Kaffee und daneben stand seine Mutter am Herd und nahm eine Brotform aus dem Backofen. Sie stellte sie schnell auf dem Herd ab, wischte sich die Hände an der Schürze und kam mit ausgestreckter Hand auf Louise zu.

»Willkommen bei uns«, sagte sie und lächelte freundlich. Louise sagte Guten Tag und mochte die kleine, rundliche Frau, die sich ein Kopftuch um die Haare gebunden hatte, sofort.

»Ihr wollt doch sicher Frühstück? Setzt euch einfach hin.« Sie nickte einladend zum Esstisch in der Ecke hinüber. Anders setzte sich auf die Bank vor der Wand, wo auch für Louise Platz war. Der Vater und der Postbote nickten ihnen zu, während der junge Typ verlegen seinen Teller anstarrte und mit den Fingerspitzen Krümel zusammenschob.

»Na, dann muss ich wohl mal wieder«, sagte der Postbote und drückte seine Zigarette aus.

»Ja und wir auch«, erwiderte der Vater und griff nach seiner Schirmmütze, die neben der des Postboten auf der Heizung lag.

Sie schoben ihre Stühle lärmend zurück und bedankten sich für den Kaffee.

»Wir sehen uns sicher später«, sagte der Vater zu Louise und Anders, dann steckte er sich die Pfeife in die Brusttasche und ging hinaus.

»Da haben wir doch ein bisschen Ruhe«, sagte Anders’ Mutter und deckte für sie den Tisch. Sie servierte wirklich ein Luxusfrühstück, mit warmen Scheiben Weißbrot, selbst gebackenem Roggenbrot, Marmelade, Käse, drei Sorten Aufschnitt. Schließlich setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee ans Tischende und sorgte dafür, dass sie auch ja genug zu essen hatten. Louise aß drei Scheiben Weißbrot, Anders sogar fünf, deshalb brauchte sie sich nicht zu schämen.

»Wie ist es denn so in der 3 g?«, fragte die Mutter. »Ihr seid ja bald fertig.«

»Wir müssen uns schwer ranhalten. Das erzählen sie uns wenigstens die ganze Zeit«, antwortete Louise, nachdem sie ihren Bissen hinuntergeschluckt hatte.

»Ja, das sage ich auch immer wieder zu Gunnar. Wir dürfen uns einfach nicht einbilden, dass Anders weiter hier zu Hause so viel helfen kann wie bisher. Wir wollen ja schließlich, dass er ein Examen macht, mit dem er etwas anfangen kann, nicht wahr, Anders?«

»Ja, aber jetzt habt ihr ja Søren als Hilfe.« Anders sprach Dialekt, als er sich an seine Mutter wandte. Er kam Louise ganz fremd vor, sie hatte ihn immer nur Standarddänisch sprechen hören. Nur selten benutzte jemand von den Landleuten Dialekt in der Schule. Und wenn es jemand wagte, dann verstand der Lehrer in der Regel nur Bahnhof und es musste doch übersetzt werden.

»Aber Vater klagt ja darüber, dass er nicht so schrecklich gute Arbeit leistet.« Auch die Mutter verfiel jetzt in den Dialekt.

»Vater muss sich einfach an ihn gewöhnen. Er will eben immer, dass alles nach seiner Mütze geht.«

»Ja und du hast das auch von keinem Fremden«, antwortete seine Mutter scherzhaft und trank den letzten Schluck Kaffee.

»Jetzt muss ich aber machen, dass ich rauskomme und ein paar Kartoffeln ausmache. Aber bleibt doch einfach sitzen«, sagte sie abwehrend, als Louise anfing Tassen und Teller abzuräumen. Louise war eigentlich nicht sonderlich häuslich, aber sie wollte gern einen guten Eindruck auf Anders’ Mutter machen.

»In fünf Minuten haben sie Biologie«, sagte Louise und überlegte sich, dass sie das Protokoll gestern gar nicht hätten schreiben müssen.

»Arme Würstchen. Für die wäre so eine Feldwanderung auch netter«, sagte Anders und legte den Deckel auf die Butterschale.

»Aber zum Glück kommen sie nicht mit. Sollen wir spülen?«, fragte Louise mehr aus Pflichtgefühl als aus Lust.

»Nein, das überlassen wir meiner Mutter!«

»Chauvi!«

»Sie würde in Ohnmacht fallen, wenn ich damit anfinge. Ich habe es versucht und ich musste ihr versprechen, dass ich es nie mehr wieder tue. Krieg ich einen Kuss?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete Louise und lehnte sich nachgiebig an ihn. Erst als Anders’ Mutter mit einem Eimer voller Kartoffeln zurückkam, konnten sie sich verwirrt losreißen. Aber die Mutter ließ sich nichts anmerken und plauderte über das gute Wetter, das sie sich entgehen ließen.

»Na, dann werd ich mal das Gut vorführen«, sagte Anders und erhob sich.

Louise lieh sich von Anders einen alten Pullover und ein Paar Gummistiefel, damit sie mit in den Stall gehen konnte ohne sich restlos einzudecken.

»Puha!« Louise hielt sich die Nase zu, als sie den halbdunklen Stall betraten. Sie war vor vielen Jahren zuletzt auf dem Land gewesen, sie hatte den scharfen Gestank von Kuhmist und voll gesogenem Stroh total vergessen.

»Hast du eine feine Nase!«, lachte Anders. »Daran gewöhnt man sich. Du kannst mir glauben, es ist wunderbar, an einem eiskalten Wintermorgen hier reinzukommen. Es ist so warm und heimelig hier mit all den kauenden Viechern.«

»Wo sind denn die ganzen Kühe?«, fragte Louise, während sie den leeren Stall durchquerten.

»Die sind auf der Weide. Aber jetzt schau her.« Anders nahm ihre Hand und führte sie zu einer großen Box am Stallende, wo die Kuh, die am Morgen gekalbt hatte, zusammen mit dem schlafenden, frisch geborenen Kalb lag, das sich an ihren schweren, müden Körper schmiegte.

»Nein, das ist ja vielleicht süß!« Louise beugte sich weit über die Boxenwand. Die Kuh sah sie aus zwei halb geschlossenen, feuchten braunen Augen an.

»Das ist kein das, das ist ein kleiner Stier. Und es war gar nicht leicht, ihn rauszuziehen. Wir hätten fast den Traktor nehmen müssen.«

»Den Traktor!«, wiederholte Louise entsetzt, sie hatte sich immer eingebildet, dass bei Tieren Geburten leicht und unkompliziert verliefen.

»Geburten sind etwas Gewaltiges. Es geht so oft schief. Du solltest bloß wissen, wie viele hellrote Ferkelchen ich gegen den Zementboden gehauen habe, weil sie zu schwach zum Überleben waren.«

»Aber Anders!«, protestierte Louise.

»Entschuldigung, aber so ist das! Man gewöhnt sich an alles, auch daran, Tiere zum Schlachthof zu schicken, denen man selber die Flasche gegeben oder die man zwischen den Hörnern gekrault hat.«

»Es ist so ein entsetzlicher Gedanke, dass so ein kleines, weiches Kalb mit langen Augenwimpern geschlachtet werden soll«, meinte Louise und fand diesen Gedanken wirklich unerträglich.

»Red keinen Quatsch, du kleine Heuchlerin! Dein Schnitzel willst du doch trotzdem haben, was? Stadtleute sind ja so romantisch und mitfühlend, sie haben bloß so schrecklich wenig Grund dazu«, sagte Anders und trat ein paar Schritte von der Box zurück.

»Von jetzt an bin ich Vegetarierin«, sagte Louise und zupfte ihn am Hemd, um ihn zum Umdrehen zu bewegen. Er wirkte ein bisschen genervt. Louise hatte Angst, er wäre böse auf sie, aber er lächelte entgegenkommend und legte den Arm um sie.

Rasch gingen sie durch den Schweinestall, wo der Geruch noch schärfer war als im Kuhstall. Louise fand die quiekenden, schmatzenden, grunzenden, hellroten, trägen Schweine unerträglich, die sich in ihrem Dreck wälzten, während gierige Ferkel überall herumkrabbelten. Und überall mästeten sich fette Fliegen. »Aber jetzt zeig ich dir etwas ganz Niedliches«, sagte Anders und kletterte eine schmale Hühnerleiter in der Scheune hoch.

»Du willst mich doch bloß ins Heu locken«, sagte Louise.

»Das könnte dir so passen«, sagte er über seine Schulter und Louise kniff ihn in den Knöchel, ehe er den Fuß wegziehen konnte. Aber hinter einem Sparren auf dem halbdunklen Heuboden, wo es süß nach Sommer roch, zeigte Anders ihr vier winzig kleine Katzenkinder, die sich in einer Vertiefung im Heu aneinander schmiegten.

»Ach«, seufzte Louise und hob eins davon hoch. »Die haben die Augen ja noch gar nicht auf.«

Das Kätzchen piepste hysterisch, beruhigte sich aber, als Louise ihm den Rücken streichelte und es an ihrem Pullover nuckeln ließ, den das Kleine für die Brust seiner Mutter hielt.

»Möchtest du es haben?«, fragte Anders, der neben ihr hockte und sie ansah.

»Ja! Ich hab mir immer schon eine Katze gewünscht. Aber wo soll ich sie lassen? Mein Vater will keine Tiere im Haus haben und ich weiß ja auch nicht, wo ich nach dem Abi wohnen werde.«

»Du kannst es ja erst mal hier draußen in Pension lassen. Die dürfen ihrer Mutter doch erst in einigen Wochen weggenommen werden.«

Die Katzenmutter kam durch das Heu angewandert und leckte ihre fiependen Kätzchen ab, die sofort nach ihren Zitzen suchten. Louise legte das kleine schwarzweiß gefleckte Kätzchen neben sie und streichelte noch einmal sanft das weiche Fell.

»Mich auch«, flüsterte Anders lockend in ihr Ohr und rollte sich durchs Heu von den Katzen weg.

Seit dem Fest waren sie sich körperlich nicht so nah gewesen. Bei ihr zu Hause waren sie nicht allein im Haus gewesen und in der Nacht auf seinem Zimmer waren sie zu müde. Eigentlich hatte sie auch nicht so sehr daran gedacht, sondern an ihn. Aber dass seine Finger ihren Hals streiften, reichte aus, um zwischen ihnen den Funken springen zu lassen und hier war es ruhig und dunkel. Hier konnten sie ihre Körper einander begegnen lassen.

Sie erkannte den reinen Duft seiner Haut wieder. Wasser und Seife und im Wind getrocknete Wäsche. Sie erkannte auch seine Silhouette, die Linien von Schultern, Rücken und Hüften wieder. Es war so schön, ihn zu berühren, dass sie einen winzig kleinen Freudenbiss in seine Schulter setzen musste.

Alle hielten sie für sehr erfahren. Aber abgesehen von den beiden Jungen, mit denen sie fest zusammen gewesen war, hatte es in Wirklichkeit nicht mehr als ein oder zwei Erlebnisse von der Art gegeben, die Stine »One-Night-Shots« nannte. Solche Typen, die sie im Café oder nachts um drei in der Disko aufgelesen hatte und mit denen sie im Suff oder vor Langeweile nach Hause gegangen war. Wenn sie dann erst im Bett lagen, fand sie es peinlich, es nicht zu tun, und deshalb hatte sie die Zähne zusammengebissen und versucht die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen.

Mit Anders war es überhaupt nicht so. Schon beim ersten Mal hatte er sie dazu gebracht, sich zu entspannen, sicher, weil er selber entspannt war und es absolut nicht eilig hatte. Er liebte sie so natürlich, dass ihre Nacktheit ihr nicht peinlich war und dass sie sich ihrer Lust nicht schämte.

»Hast du das schon mal gemacht?«, fragte sie, als er danach mit geschlossenen Augen neben ihr lag.

»Lieben? Ja . . .«, murmelte er.

»Nein! Das merk ich doch, dass du das schon gemacht hast. Auch hier

»Im Heu? Ja, natürlich«, antwortete er. Louise spürte, dass er an ihrer Schulter lächelte.

»Mit wem?«

»Ach, das fällt mir gerade nicht ein. Mit zwei verschiedenen. Die sind jetzt wohl verheiratet. Die eine hat sogar zwei Kinder, sie arbeitet oben im Supermarkt.«

»Hast du viele Frauen gehabt?«, fragte Louise und sie versuchte nüchtern zu klingen, während die Eifersucht in ihr brannte.

»Na, vielleicht sechs oder sieben.« Er küsste ihr Ohrläppchen.

»So viele! Und wir haben dich für so ehrbar gehalten. Warum hast du es nie bei einer von uns versucht?«

»Hab ich doch. Letztes Jahr beim Frühlingsfest hab ich mir alle Mühe mit dir gegeben, aber du wolltest absolut nichts mit mir zu tun haben.« Anders ließ sich neben sie ins Heu gleiten und Louise machte es sich in seinem Arm gemütlich.

Beim Frühlingsfest! Louise erinnerte sich noch gut, dass sie mit Anders getanzt hatte. Ziemlich eng sogar. Aber sie und Stine waren auf die Musiker scharf gewesen, mit denen sie in der Pause Bier getrunken hatten, und deshalb hatte sie sich nicht besonders für ihn interessiert. Das mit den Musikern war dann aber nichts geworden, weil die nach dem Fest nach Århus zurückmussten. Außerdem gab es ein paar geistesschwache Tussis aus der 1 g, die sie wie die Fliegen umschwärmten und sich wie blöde Groupies aufführten. Und sie hatten keinen Bock, mit denen zu konkurrieren.

Das Heu piekste und als Anders erzählte, dass es hier oben massenhaft Mäuse gab, kam Louise der Heuboden absolut nicht mehr so romantisch vor. Sie zogen sich an und bürsteten sich gegenseitig das Heu ab, ehe sie auf den Hof zurückgingen.

»Man kann es dir ansehen«, murmelte Anders diskret aus dem Mundwinkel, als sie über die Pflastersteine gingen und seiner Mutter zuwinkten, die sie lächelnd vom Küchenfenster aus beobachtete.

»Und du hast Heu in den Haaren«, sagte Louise und wurde aber doch rot, als sie am Fenster vorbeigingen.

»Ich kann dir sagen, da hat sie was, worüber sie sich Gedanken machen kann«, sagte Anders und legte Louise den Arm um die Schultern. Aber erst, als sie außer Sichtweite gekommen waren.

»Was sagen sie eigentlich dazu, dass ich so einfach hier hereingeschneit komme?«

»Das finden sie toll. Da besteht doch die Hoffnung, dass ich normal bin und kein Schwuler oder Sonderling. Sie können einfach nicht begreifen, warum ich nicht schon längst eine Freundin habe und verlobt bin wie der Sohn der Nachbarn. Meine Mutter hätte gern eine Schwiegertochter, mit der sie quatschen könnte. Tagsüber sind wir ja nicht so viel im Haus und auch wenn sie zum Nähkränzchen geht und so, ist sie doch viel allein.«

»Wie heißt sie mit Vornamen?«, fragte Louise. Sie wollte Anders’ Mutter gern kennen lernen, weil sie eben Anders’ Mutter war und weil sie so lieb und echt wirkte.

»Åse. Und mein Vater heißt Gunnar. Dann habe ich noch einen großen Bruder und eine große Schwester und beide arbeiten in einer Bank. Sie heißen Niels-Peter und Grethe. Möchtest du sonst noch etwas wissen?«

»Im Moment nicht. Darf ich deine Mutter mit Vornamen anreden?«

»Ja, sicher. Oder willst du sie etwa Frau Søndergaard nennen?«

Anders zeigte ihr den ganzen Hof. Und Åses Gemüsegarten, wo die Porreespitzen aus der Erde lugten und wo es ein ganzes Beet mit Kräutern gab. Sie füllten sich die Taschen mit roten, saftigen Pflaumen aus dem großen Garten, wo auch Äpfel und Birnen bald reif sein würden. Im Hühnerstall fanden sie ein Ei, das Anders in einen Korb legte. Und draußen auf einem der Felder begegnete ihnen Gunnar, der mit der Pfeife im Mund auf seinem Traktor saß. Er hatte einen krummen Rücken und ein wettergegerbtes Gesicht, aber Louise konnte die hohen Wangenknochen und die ruhigen blauen Augen erkennen, die sie bei Anders schon so sehr liebte.

Der Hund Boss, ein Golden Retriever, der völlig außer sich vor Freude war, dass Anders zu Hause war, wuselte bellend um ihre Beine herum, während sie einen Hügel hinaufgingen.

»Jetzt zeig ich dir die schönste Aussicht auf der Welt«, sagte Anders und zerrte Louise die letzten Meter zum Gipfel des Hügels hinauf.

Atemlos ließ sie sich auf eine kleine Bank fallen, die unter einem Baum stand, und betrachtete die flache Landschaft mit den grünen, braunen und gelben Feldern. Von hier aus konnte man Höfe, Windmühlen und windschiefe Bäume zählen. Weit in der Ferne lag das Meer wie ein tiefblauer Streifen zwischen Himmel und Erde.

»Hierher gehe ich, wenn ich nachdenken will. Oder träumen«, sagte Anders und setzte sich neben sie.

»Träumst du viel?«, fragte Louise vorsichtig, um ihn nicht zu stören und zum Verstummen zu bringen.

»Das tun wohl alle«, antwortete er ausweichend. »Aber wenn man jung ist, träumt man wohl am meisten. Wir haben ja ein ganzes Leben, von dem wir träumen können.«

»Eine ganze Zukunft?« Louises Hand stahl sich in seine. Er sah sie nicht an, sondern zupfte nachdenklich an einem Grashalm.

»Ja. Ich hab bloß die Zukunft so satt. Die ganze Zeit wird uns eingebläut, dass wir vernünftig sein und an die Zukunft denken sollen. Alle wollen uns erzählen, wie wir zu einer Ausbildung kommen, mit der wir später etwas ›anfangen‹ können. Aber niemand erzählt uns, dass wir im Himalaja klettern sollen, weil das spannend ist, oder dass wir Maultrommelspielen lernen sollen, weil das Spaß macht. Entschuldigung, ich fasele hier so rum. Aber das kommt davon, dass ich immer mit mir oder mit Boss über so was rede, wenn ich hier oben sitze.« Verlegen versetzte Anders ein paar Kieselsteinen einen Tritt.

»Macht doch nichts«, antwortete Louise. »Und du faselst überhaupt nicht.«

Sie hätte nie gedacht, dass er so viel reden würde, und sie fühlte sich unglaublich geschmeichelt von seiner Vertraulichkeit.

»Was ist mit dem Hof? Willst du den übernehmen?«, fragte sie.

»Frag meinen Vater. Wir reden nicht mehr darüber«, antwortete Anders trocken. »Wir haben uns deshalb so oft gefetzt, dass es keinen Sinn mehr hat. Weder meine Schwester noch mein Bruder wollen Bauern sein und da bleibe nur noch ich, um den Erbhof weiterzuführen. Und er kann nicht verstehen, dass ich das nicht will.«

»Ich dachte, du wärst gern Bauer?«

»Bin ich auch. Aber es gibt doch noch andere Beschäftigungsmöglichkeiten, außer dass man immer weiter in derselben Pflugfurche herumlatscht. Ich möchte gern reisen und etwas erleben, Bücher lesen und klüger werden. Die Welt wird einfach so klein, wenn man meint, der Horizont läge draußen am Markstein.«

Louise sah ihn hingerissen an. Er war klug. Neben ihm kam sie sich vor wie eine Idiotin. Er hatte viel mehr nachgedacht als sie selber. Auch wenn sie für den Schülerrat haufenweise Resolutionen verfasst hatte.

»Schreibst du Gedichte?«, fragte Louise, einer plötzlichen Eingebung folgend.

»Warum fragst du? Hast du nachgeguckt?« Anders biss sich auf die Lippen und errötete leicht.

»Weil du ein Träumer bist.« Louise küsste ihn sanft auf die Wange und Boss kam auf sie zugestürzt, nachdem er auf dem Hügel auf Entdeckungsreise gegangen war.

»Komm, wir müssen machen, dass wir nach Hause kommen. Meine Mutter hat das Essen bestimmt schon fertig, wir essen ja immer um Punkt zwölf«, sagte er und sprang auf.

Sie wäre gern noch mit ihm hier sitzen geblieben, aber sie nickte und sah ein, dass der Rest warten musste.

Sie hatten Gegenwind, als sie zum Hof zurückliefen. Anders’ sonnengebleichte Haare sträubten sich und Louise fühlte sich leicht wie ein weißer Schmetterling.

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