Читать книгу Sag jetzt nichts, Liebling - Hanne-Vibeke Holst - Страница 5

Erster Teil

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Zarinas dritter Geburtstag fällt auf einen Sonntag, und sie bekommt die Geburtstagsfeier, die sie sich gewünscht hat. Mit Torte, Kakao und einer Kuchenfrau, die gerade auf der mittleren Schiene des Backofens zu zerfließen droht. Die Gäste kommen in einer halben Stunde, so daß ich wieder einmal feststellen muß, daß Paul recht hat, wenn er sich darüber beschwert, daß mein Sinn für gutes Timing sehr zu wünschen übrig läßt. »Man kann eben nicht den halben Vormittag im Bademantel herumrennen und englische Sonntagszeitungen lesen, wenn man zehn Leute zum Kaffee eingeladen hat!«

Die Gästeliste hat das Geburtstagskind selbst aufgestellt. »Es sollen alle kommen!« hatte sie schon vor langer Zeit mit ihrem hartnäckigen drop-dead-Blick beschlossen, der in auffallendem Kontrast zu ihren Prinzessinnenlocken und den Samtund Seidenkleidchen steht, für die sie eine Vorliebe hat. Und die auch ohne viel Nachdenken von ihrem Vater erstanden werden, der sie verwöhnt, als wäre sie Rhett Butlers vergötterte Tochter – und der sie deshalb selbstverständlich darin unterstützt, daß solide Overalls von H&M nichts für ein Mädchen sind. Er flechtet ihr die Haare, lackiert ihre Zehennägel und läßt sich willig und mit sichtlichem Vergnügen um ihren pummeligen kleinen Finger wickeln.

Ihr Bündnis ist fast unerträglich, aber ich finde mich mit der mir zugewiesenen Rolle der Madame mit verschränkten Armen ab, da mein frauensüchtiger Liebster seinen Drang nach Verführung nunmehr in eine hemmungslose Vaterliebe sublimiert hat. Er ist uns treu, kann gar nicht anders, will gar nicht anders. Das ist ein Versprechen und eine Beteuerung zugleich, die anzuzweifeln ich weder Grund noch Lust habe. Der Schreck über meine Flucht Hals über Kopf nach Læsø vor ein paar Jahren steckt ihm immer noch in den Knochen. Er glaubte – und glaubt heute noch –, daß die Reise übers Meer ein Racheakt und eine Strafmaßnahme war. Daß ich geplant hatte, ihn zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Vielleicht ist das nicht besonders nett von mir, aber ich habe ihn in diesem Glauben gelassen, habe ihm nie erklärt, daß meine Wut über seine Promiskuität nur der Anlaß war, damit ich das tun konnte, was ich mußte: meinen Vater wiederfinden.

Vielleicht habe ich es ihm auch nicht erzählt, weil die Reise in gewisser Weise ein Fiasko war. Wie bei Columbus, der auszog, um den Weg nach Indien zu finden, und statt dessen Amerika entdeckte. Ich zog aus, um den Vater zu finden, den ich verloren hatte, und fand einen Menschen, der zwar mein genetischer Ursprung war, der aber nicht mehr imstande war, das Vakuum auszufüllen. Trotz langer, intensiver Gespräche unter dem Strohdach in den kühlen Zimmern meines Großvaters, trotz des Versuchs, die verlorenen Jahre zu rekonstruieren, trotz eines durch das gleiche Blut erzeugten Einverständnisses zwischen uns, wenn wir am Strand der Insel in der Dämmerung spazierengingen, wurde mir schmerzlich klar, daß ich ihn nicht in meine Kindheit zurück reden konnte. Er war nicht dort gewesen und würde sich – es sei denn durch ein Wunder – auch niemals dorthin versetzen lassen. Ein Familienbild ohne Vater. So war es, und so würde es immer sein und immer bleiben. Punkt. Ende.

Für mich war diese Erkenntnis nur schwer in Worte zu fassen, für ihn war es möglicherweise nur eine Art Kompromiß, mit dem zu leben er schon seit langem gelernt hatte: Er hatte seine Töchter verlassen, als sie noch klein waren, und sie dadurch verloren. Ich weiß nicht, ob das stimmt, denn auch wenn es uns gelang, lange Gespräche zu führen, bevor ich die Fähre nach Frederikshavn nahm, so ließen wir doch die Schlußfolgerungen wie Strandgut in der Brandung zwischen uns schwimmen. Und da schaukeln sie immer noch. Aber ich weiß, und er weiß, daß wir, auch wenn wir einander verbunden sind, nur ein schmales Brett haben, auf dem wir balancieren, wenn wir ab und zu die Schlucht überqueren, um die Welt des anderen zu besuchen. Seltene Besuche auf neutralem Boden, heimliche Treffen an wechselnden Orten, denn mein Alleingang wurde von meiner unversöhnlichen Truppe nicht gutgeheißen. Ich hatte mir ganz naiv vorgestellt, daß ich als Parlamentär auftreten könnte, der die diplomatischen Beziehungen wiederaufnehmen und die Erde für eine fruchtbare Zukunft bereiten würde. »Mir i drusjba!«, Frieden und Freundschaft, wie es immer bei den Toasts in der seligen Sowjetunion geheißen hatte. Aber Kiki, meine kleine Schwester, vergibt nie. Sie wollte ihm nicht vergeben und war kurz davor, auch mich zu verstoßen, als ich als besudelte Verräterin heimkehrte. Meine Mutter, die Primadonna des Nationaltheaters mit einer Vorliebe für tragische Rollen, leidet witzigerweise in ihrem Privatleben an einer panischen Angst vor Dramen, weshalb sie sich ganz einfach in Schweigen geflüchtet hat. Sie schließt die Ohren und redet vom Wetter, wenn ich versuche, sie zu einer Stellungnahme dazu zu bringen, daß ihr Exmann, unser Vater, sich nach fast fünfundzwanzig Jahren im spanischen Exil wieder auf dänischem Boden befindet. Ihre Verbitterung kann ich zur Not noch verstehen, auch wenn die Dimension mir etwas übertrieben erscheint. Still crazy, after all these years ...

Aber Paul ... Warum Paul nicht in der Lage ist, den Großvater seiner Tochter ganz einfach anzunehmen, indem er ihm sein Haus – unser Haus! – öffnet, ist eines der Mysterien, die zeitweise unser Zusammenleben verschleiern. Paul selbst meint, daß er sich da »bombensicher« ist – warum sollte er sich mit einem Mann an einen Tisch setzen, der seiner Geliebten das Leben schwergemacht hat. Und wie könnte er es zulassen, daß seine eigene Tochter vielleicht der gleichen Enttäuschung ausgesetzt wäre. Als mir zum ersten Mal diese Monstertheorie präsentiert wurde, war ich vollkommen sprachlos. Beim zweiten Mal schmiß ich einen Florentinischen Fayenceteller auf die Küchenfliesen, und beim dritten Mal nahm ich die Autoschlüssel und haute ab. Brauste zum Strandvej und manövrierte den Wagen an einen Sandstreifen bei Snekkersten, wo ich auf einem Stein sitzen und auf den Sund starren konnte, während ich eine Zigarette rauchte und wieder zur Ruhe kam. Ich ließ die Asche in den Sand fallen und beschloß, ihn da nicht mit hineinzuziehen. Er würde ja doch nichts verstehen.

Vielleicht mache ich es mir also zu leicht, aber seitdem habe ich seine Weigerung mit Nachsicht zur Kenntnis genommen und meinen Vater nur in Nebensätzen erwähnt. Was ihn irgendwie unruhig macht, denn eine Ahnung ist schlimmer als Gewißheit. Er weiß, daß wir in Kontakt stehen, aber nicht, wo und wann. Natürlich abgesehen von dem einen Mal im Sommer, als ich Zarina ihren Großvater im Zoo treffen ließ. Zur gegenseitigen Faszination und Begeisterung. Zarina, die ansonsten nicht gerade schüchtern ist, klammerte sich lange Zeit an mich, und ich mußte ihr eine lange, geflüsterte Erklärung darüber geben, wer dieser ältere, graumelierte Mann da war. Daß es mein Vater war und daß er früher einmal Großmutters Mann gewesen war, so wie Freddy jetzt. Zarina sah mich stirnrunzelnd an – aber, wenn sie doch Mama und Papa waren, wieso waren sie dann nicht zusammen? Ich ließ mich auf eine gleichzeitig schonende und komplizierte Erklärung über die Wege und Irrwege der Liebe ein, sagte ihr, daß die Liebe manchmal aufhört und daß die Erwachsenen, die einander geliebt haben, dann gezwungen sind, allein zu leben und so weiter und so weiter. Ein ziemlich blumiges Drumherumgerede, das sie aber ganz einfach abschnitt, indem sie fragte: »Papa und du, werdet ihr euch auch mal scheiden lassen?« Ich hatte keine Ahnung, daß sie das Wort »Scheidung« kannte, aber natürlich kannte sie es, denn die Eltern ihrer Freundin aus dem Kindergarten, Marias Mama und Papa, die wollten sich doch scheiden lassen ...

Ich antwortete, daß wir ja nicht einmal verheiratet seien, Paul und ich, und ungefähr bei diesem Stand der Diskussion kam mein Vater mir zu Hilfe, indem er sich einen Skizzenblock auf die Knie legte und anfing, die turnenden Schimpansen auf dem Affenfelsen zu zeichnen. Damit war der Bann gebrochen, und Zarina warf ihm eine gnädige Kußhand zu, als wir uns ein paar Minuten nach Schließung des Zoos trennten.

»Du mußt auch zu meinem Geburtstag kommen!« erklärte sie, und mein Vater lachte und sagte, das würde er schrecklich gern. Zu Hause hängten wir die Zeichnungen über ihr Bett. Glücklicherweise hatte Paul gerade Dienst in Odense, so daß das Erlebnis zu einer Anmerkung geschrumpft war, die neben anderen Ereignissen in ihrem wortreichen Referat Platz fand, mit dem sie ihn immer begeisterte, wenn er nach einer Dienstwoche auf Fünen zurückkam und auf den neuesten Stand der Dinge gebracht werden mußte. Ich kam mit einer fragend gehobenen Augenbraue davon und machte aus dem Ausflug eine Kurzmeldung, die ihn eigentlich nichts anging. Ja, wir hatten einen Nachmittag mit meinem Vater, der aus anderen Gründen gerade in der Stadt war, im Zoologischen Garten verbracht. Paul war nicht gerade begeistert, gab sich jedoch damit zufrieden, auch wenn ich sehen konnte, wie ihm der Protest auf der Zunge brannte. Erst als ich darauf beharrte, daß Zarina ihren »neuen Opa« bei ihrer Geburtstagsfeier dabeihaben wolle, schlug er zurück. No way. Ich verzichtete auf eine Diskussion, aber als Zarina ihre Einladungen verteilte, schickten wir auch eine nach Læsø. Der große Familienskandal wurde verhindert, da er absagte – er wäre sehr, sehr gern gekommen, schrieb er, aber er habe in letzter Zeit ein paar »Zipperlein« und müsse deshalb gerade jetzt zur Untersuchung ins Krankenhaus von Frederikshavn. Er hatte ihr eine Silberkette mit einem Bernsteinherz geschickt: »Der Stein wurde nach einem Sturm in den Algen gefunden und an Großvaters Tisch zurechtgeschliffen.« Er hatte ein kleines »Z« hineingeritzt, so daß es ein ganz besonderes Unikat geworden war, von dem ich mir nur wünschte, ich hätte es einst bekommen.

»Wie aufmerksam!« kommentierte Paul sarkastisch, als er Zarina die Kette um den Hals band. Sie selbst war begeistert. Echter Schmuck!

»Paß auf, daß du sie nicht verlierst!« ermahnte ich sie und erinnerte uns beide daran, daß wir im Krankenhaus anrufen und uns bedanken mußten. Paul schnaufte und lenkte sie damit ab, daß er anbot, ihr beizubringen, mit dem Dreirad, dem Geschenk von uns, zu fahren. Ich überlegte kurz, was »Zipperlein« wohl zu bedeuten hatten. Aber dann war ich auf den Guardian gestoßen und hatte mich von einem Feature über die tschetschenischen Aufstände fesseln lassen. Die Redaktion will mich für eine Reportage nach Grosnyj schicken. Meine Kollegin braucht Entlastung, und die gönne ich ihr von ganzem Herzen. Dennoch muß ich zugeben, daß es nicht gerade mein Traumjob ist. Ich bin nicht so scharf darauf, mit den Jungs zu spielen. Ein 28jähriger deutscher Fotograf vom Stern wurde erst vor kurzem bei einem Granatenangriff getötet. Anna, meine schwedische Kollegin, rief neulich aus Moskau an und erzählte es mir. Sie war tief getroffen, nicht nur, weil er ihr Freund und noch so unglaublich jung gewesen war, sondern auch, weil »alles hier so verroht ist – man kann sich nicht mal mehr in ein Taxi setzen, ohne Angst haben zu müssen, daß einem das Gehirn rausgepustet wird!«

»Anna«, erwiderte ich, »du bist schon zu lange da. Fahr nach Hause!«

»Ja«, seufzte sie. »Es ist nur ... Moskau ist der einzige Ort, an dem es sich für mich zu leben lohnt. Du weißt, was ich meine. Die Weltgeschichte liegt hier auf der Straße. Was soll ich denn in Schweden? Da ist es so schrecklich langweilig!«

Ich weiß sehr gut, was sie meint, und vielleicht verweile ich deshalb etwas zu lange in den tschetschenischen Bunkern der Reportage, so daß ich erst bei der Glasur bin, als die Gäste in einem fröhlichen Haufen eintreffen. Die Küche sieht aus wie ein Bombenkrater, die Kuchenfrau hat eine erschreckende Ähnlichkeit mit einer amputierten Mißgeburt, und ich spüre, wie mir die Hausfrauenpanik den Rücken hinaufkriecht. Hilfe! Die Dunstabzugshaube bläst über mir, und deshalb höre ich Birgitte nicht, als sie herkommt und mich mit beiden Händen in die Taille kneift, so daß ich zusammenzucke und fast den Teller fallen lasse.

»Was machst du da?« fragt sie.

»Meine Mutterrolle ausfüllen!« antworte ich. »Und wie geht’s dir?«

»Zum Teufel! Hast du eine Schürze?« fragt sie, löst mich ab und übernimmt das Projekt »Rettet das Kind«, während ich die Tüten mit den Süßigkeiten mit den Zähnen aufreiße.

»Wieso zum Teufel?«

»Ach, nur so. – Soll sie lange oder kurze Haare kriegen?«

»Lange! Wo sind die Kinder?« frage ich und mache mich daran, die Glasur mit dem Schaber zu verteilen, damit die Katastrophe nicht ganz so offensichtlich ist.

»Maxi läßt sich von deiner Tochter einschüchtern, und die Zwillinge schlafen im Auto. Hoffentlich recht lange. Sie haben sich gegenseitig die ganze Nacht wachgehalten ...«

»Und Jens?« frage ich mit einem schrägen Blick und kenne bereits die Antwort.

»Bei der Arbeit«, sagt sie und zieht die Lakritzfäden gerade. »Hast du eine Schere? Für den Pony?«

Sie streicht sich mit einer Hand den eigenen aus dem Gesicht. Ich richte mich auf und habe nicht übel Lust, einfach auf sie zuzugehen und sie in den Arm zu nehmen. Seit den Zwillingen ist sie fast durchsichtig vor Müdigkeit. Transparent, wie Paul es nennt.

»Wollen wir nicht draußen im Garten sitzen?« schlägt sie vor und weicht instinktiv meinem Blick aus. »Es ist verdammt warm heute. Indian summer.«

»Ja, wenn noch Sonne auf der Terrasse ist«, sage ich und tauche den Schaber wieder in die Glasur.

»Wir können ja immer noch reingehen. Und du? Geht es dir gut?«

»Mir? Und wie!« antworte ich und muß unwillkürlich lächeln. Birgittes unerwartete Schmetterbälle überrumpeln mich jedesmal. »Schließlich bin ich eine glückliche Frau! Wieviel Liter Milch soll ich für den Kakao nehmen?«

Paul hat sich einen neuen hypermodernen Fotoapparat gekauft, als er auf Reportagereise in Hongkong war, um Alexandra Manley zu interviewen, die Zukünftige des dänischen Prinzen und Liebling der Presse. An diesem Nachmittag gelingt es ihm, einen ganzen Film mit 36 Bildern zu verknipsen, bevor die Sonne hinter dem Dach des Nachbarhauses untergeht. Alles ist mit drauf – Mutter hinter der Sonnenbrille mit Marlboro Light, Freddy an ihrer Seite, in den Schatten zurückgezogen, Ernst im Profil mit dem Ausdruck sanfter Melancholie, die nach seiner Scheidung von der Kulturperle aufgetreten ist, Kiki und Spunk mit Birgittes Zwillingen auf dem Schoß, Zarina im Mittelpunkt, Maxi auf dem Weg aus dem Bild hinaus und Birgitte, die Hand allzu fest um eine Kaffeetasse gepreßt und die Absätze fest auf dem Boden, wie immer bereit, einem Kind zu Hilfe zu eilen. Jeder ist in einer typischen Geste festgehalten, die uns später ausrufen lassen wird: »Mein Gott, genau! So sahen wir damals aus! So war es!« So sah das Glück aus: eine Kuchenfrau mit drei Kerzen, ein Kind mit Augen, groß wie Teetassen, in dem konzentrierten Eifer, die Kerzen auszupusten und sich dabei die größte Mühe zu geben, während die Aufmerksamkeit einer ganzen Familie, ihrer Familie, auf sie, das Goldkind, gerichtet ist.

»Lach doch mal, mein Schatz!« ruft Paul und richtet das Objektiv auf mich.

»Hör auf!« erwidere ich und fliehe. »Du weißt doch, daß ich es hasse, fotografiert zu werden!«

»Aber warum?« fragt er und verfolgt mich in die hinterste Ecke des Gartens, genau dorthin, wo nach seiner Vorstellung ein Rhododendronbusch gepflanzt werden soll. »Dabei siehst du so gut aus!«

»Fuck!« erwidere ich und werde gegen den Jägerzaun gepreßt.

»Ja, gern!« antwortet er und knipst trotzdem. »Gestern war Samstag!«

Er senkt den Fotoapparat und küßt mich.

»So kriegen wir nie mehr Kinder!«

»Das kann auch noch warten«, entgegne ich und fange Birgittes Blick über seine Schulter hinweg auf. Sie hält eine Hand schützend über ihre Augen, um uns besser sehen zu können. Ich weiß, sie beneidet mich um die Leidenschaft. Um Pauls Leidenschaft.

»Aber warum denn, Tes?« fragt er und hält mich fest. »Wir haben doch alles! Haus und Garten, festes Einkommen und das richtige Alter. Und Zarina braucht eine kleine Schwester!«

»Eine Schwester?«

»Ich stehe nur auf Mädchen!« erklärt er und küßt mich gierig.

»Das ist ja gut zu wissen«, sage ich und mache mich frei. Mir gefiel es noch nie, mein Liebesleben öffentlich vorzuführen. Und jetzt kommt Zarina angestürmt. Sie zwängt sich empört zwischen unsere Beine.

»He! Hört auf mit der Küsserei!«

Die Gesellschaft lacht, Paul hebt sie hoch und reibt seine Nasenspitze an ihrer.

»Möchtest du nicht auch gern eine kleine Schwester?« fragt er sie.

»Nein!« erklärt sie kategorisch. Da muß ich lachen.

»Hexe!« grinst Paul.

»Kluges Mädchen!« erwidere ich und merke, daß sie kalte Beine hat. »Jetzt aber ab ins Haus und eine Strumpfhose angezogen!« bestimme ich und wende mich zum Gehen.

»Nein, ich will nicht!« ertönt es hinter mir, während Paul mich gleichzeitig an den Schultern faßt und mich zwingt, mich umzudrehen, so daß ich ihm direkt in die Augen sehe. »Heute abend ist Vollmond.«

»Ja, und?«

»Dann hast du deinen Eisprung.«

»Und?«

»Und Lust. Wie alle Frauen.«

Ich richte mich an der Steilküste des Schlafs ein. Pauls Pobacken leuchten genau wie der Mond durch die Lamellen der Fensterläden, er pustet mir stoßweise ins Ohr, und meine Gedanken flattern irgendwo zwischen Sonntag und Montag herum, zwischen Traum und Wachsein. Zarina schläft in dem Zimmer neben uns, wir schlafen alle drei unter dem Dach, in einem Baugenossenschaftshaus in Østerbro, das ich immer noch nicht als mein rechtmäßiges Eigentum ansehe. Hier ist es fast so still wie auf dem Land, in dem Giebelzimmer bei Tante Mo auf dem Forsthof damals. Deshalb habe ich jede Nacht dieses Gefühl von Kindheit, als würde eine Katze am Fußende schnurren, die Erinnerungen an schwere Federbetten und an Erwachsene, die in ihrem entfernter gelegenen Schlafzimmer husten oder sich gedämpft unterhalten. Ich denke an die Bornholmer Standuhr, die unten in der Stube schlug, und an die knackenden Treppenstufen, auf die mein Onkel immer trat. Das hat herzlich wenig mit Sex zu tun, und vielleicht habe ich deshalb solche Schwierigkeiten, in diesem Haus in Stimmung zu kommen. Oder ich bin ganz einfach zu müde. Zerstreut, abgehetzt. Ehrlich gesagt, bin ich eine überzeugte Gegnerin des symbolträchtigen Hauses, in das ich von Paul gelockt wurde. Er hat es mir an einem perfekten Maitag gezeigt, an dem die Nachbarn in ihren Blumenbeeten gruben und in Vorgärten Kaffee tranken, während die Kinder herumliefen und auf dem gemeinsamen Spielplatz herumtollten.

»Kannst du es nicht vor dir sehen? Das reine Dorfidyll! Und dann so nahe an der Stadt!«

Natürlich konnte ich es sehen, und ich unterschrieb auch freiwillig den Kaufvertrag für das Grundstück. Was hätte ich denn sonst machen sollen? Ich meine, was war die Alternative? In Pauls umgeräumter Junggesellenwohnung zu bleiben, in einem immerwährenden Kampf mit Legosteinen und Kekskrümeln und einem immer stärkeren klaustrophobischen Gefühl von Atemnot? Als ich also das Versprechen für mein eigenes Zimmer in dem neuen Haus bekam, waren meine Einwände nur noch formaler Art. Konnten wir das Finanzielle schaffen? Paul leierte einen langen, beruhigenden Vortrag über Brutto und Netto herunter, die günstigen Kreditzinsen, die Umlage des Wohnungsdarlehens und die guten Möglichkeiten für Staatszuschüsse bei Renovierungen, aber da hatte ich bereits abgeschaltet. Denn in Wirklichkeit waren meine Vorbehalte von so grundlegendem Charakter, daß sie in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant erschienen. Wir hatten die Landzunge passiert, waren bereits seit langer Zeit in der Fahrtrinne, wo man sich nicht mehr fragen kann, ob man überhaupt an der Segelregatta teilnehmen möchte, sondern genug damit zu tun hat, die Segel zu reffen, den Kurs zu halten und Kentern und Schiffbruch zu vermeiden. Ich war mit an Bord und hatte zumindest bis dahin meine Rolle als gehorsamer Gast, der dem Kapitän gehorchte und die ungeschriebenen Gesetze der Seefahrt zu respektieren gelernt hatte, akzeptiert. Es war Pauls Wettfahrt – er stand stolz und verbissen am Ruder, während ich über der Reling hing und nur bei hohem Seegang an Meuterei dachte.

Also bekam er sein Haus, oder genauer gesagt, wir bekamen jeder eine Hälfte. »Wir sind ja leider nicht verheiratet, das hätte alles viel einfacher gemacht«, konnte er sich nicht verkneifen anzumerken. Aber das war der einzige bittere Tropfen in der Maibowle, in der Paul das ganze Frühjahr über badete. Ganz gerührt, auch wenn es die Formen einer kitschigen Reklame annahm, konnte nicht einmal ich mich Pauls hemmungsloser Freude darüber entziehen, Mann im eigenen Haus zu spielen. Den ganzen Sommer über summte und pfiff er, während er, nur in Boxershorts gekleidet, Pinsel in Naturfarbstoffe und Leimfarbe, verrührt mit Ei, tauchte. Unterstützt wurde er dabei von Birgitte, die sich begeistert dem Projekt widmete. Auf jeden Fall haben wir schöne Räume bekommen. In Matisse-Farben, wie die beiden Experten einstimmig versicherten. Perfekte limonengrüne und hibiskusrote Rahmen für das Familienleben, das Pauls offenkundige Vision ist – die ersehnte Trophäe, der Sinn des Ganzen. Ich beneide ihn darum, versuche, ihn seinen Traum weiterträumen zu lassen, solange ich nicht mit einbezogen werde. Und dennoch mußte ich mich einmal einmischen und die Wut des Patriarchen dämpfen, als Zarina in unbewachten zwanzig Minuten die lavendelblauen Wände des Kinderzimmers mit schwarzer Fingerfarbe dekoriert hatte. Er war kurz davor, sie übers Knie zu legen, als er sie auf frischer Tat ertappte, und gewiß war es eine Unartigkeit von ihr, vielleicht sogar eine bewußte Provokation, aber seine Reaktion war unverhältnismäßig, geradezu hysterisch, ans Infantile grenzend. Sie erschrak dermaßen, daß sie in die Hosen pinkelte. Ich nahm sie in den Arm, beschützend und tröstend, während das Blut in der Gebärmutter der Löwin pochte.

»Take it easy, Mr. Perfect!« zischte ich, »wir haben vielleicht auch noch das Recht, hier zu wohnen!«

Er wirbelte herum und starrte mich an, die Augen vor Verwunderung und Wut weit aufgerissen, weil seine Geliebte, von der er angenommen hatte, sie gezähmt und besänftigt zu haben, immer noch diejenige war, die die Vorhänge herunterriß und das nackte Zimmer präsentierte. Zarina hörte schluchzend auf zu weinen, die Erde hörte auf, sich zu drehen, und mein Herz hörte in diesem Bruchteil einer Sekunde auf zu schlagen, als wir beide erkannten, daß wir hier wieder unser Spiel spielten. Daß wir trotz Versöhnung und gemeinsamer Adresse immer noch so weit voneinander entfernt waren, wie wir es immer gewesen waren. Das war so schwindelerregend erschreckend – auch für mich –, daß ich instinktiv einen Arm nach ihm ausstreckte, mich entschuldigte und ihn inständig anflehte, nicht zu gehen, als ich sah, wie der Fluchtinstinkt in ihm aufstieg. Er blieb, ließ sich umarmen, küßte Zarina, bat sie um Entschuldigung und war auch derjenige, der ihr saubere Sachen anzog.

Die Szene war einmalig und hatte unmittelbar keine anderen Konsequenzen, als daß wir uns gegenseitig mit Samthandschuhen anfaßten. Jeder für sich hatte den Tanz auf dem Vulkan erkannt, lebensgefährlich, aber zu spät, um noch abzuspringen. Unsere einzige Möglichkeit bestand darin, im Takt zu bleiben und zu hoffen, daß die Musik uns trug.

Paul brauchte lange, um zu kommen, und ich weiß, warum. Er haßt »Pflichtbumsen«, wird nicht aus »Vaterlandsliebe« oder bei »Zombiesex« scharf. Und so gern ich es möchte, ich kann ihm kein Orgelbrausen mit voll gezogenen Registern bieten. Ich bin zu müde, zu fern, zu wenig Körper und zu viel Kopf. Aber dann ist er schließlich doch der ersehnten Klimax so nahe, daß sein Körper sich spannt, die Adern am Hals hervortreten und die Augen weit aufgerissen sind. Ich bin kurz davor, allein davon geil zu werden. Aber da übertönt das Telefon sein hohles Stöhnen, meine zurückgehaltene Anspannung und die Nachtstille des Hauses.

Es ist das Krankenhaus in Aalborg. Ich war als nächste Angehörige angegeben. Mein Vater hatte einen Blutsturz. Koma, der Zustand ist kritisch.

»Wenn Sie ihn noch einmal sehen wollen, sollten Sie so schnell wie möglich kommen«, sagt die Nachtschwester. Freundlich. Fast schwesterlich. Das muß an der sanften nordjütländischen Art liegen.

»Ja«, sage ich verwirrt und suche nach Papier und Stift. Notiere, lege auf, drehe mich zu Paul um. Meine Stimme klingt wie ein Baß und ist mit Kalk belegt, die Worte sind mir fremd wie Diebesgut.

»Mein Vater liegt im Sterben. Ich muß nach Aalborg.«

Das Vernünftigste wäre gewesen, wenn ich bis zur ersten Morgenmaschine gewartet hätte. Aber ich trotze Pauls Kopfschütteln und starte den Wagen, nachdem ich zunächst Kiki angerufen habe und dann meine Mutter. Beide reagieren mit auffallendem Desinteresse. Kiki bedankt sich schlaftrunken für die Information, kann sich aber unter keinen Umständen auch nur im Traum vorstellen, sich am Sterbebett ihres Vaters einzufinden. Mutter ist in erster Linie mit der Katastrophe beschäftigt, gerade in dem Augenblick geweckt worden zu sein, als sie eingeschlafen war – »ich schlafe in letzter Zeit doch so schlecht« –, und antwortet nur mit einem kurzen Auflachen, als ich sie frage, ob sie mitfahren will. »Liebe, süße Therese, dein Vater ist doch selbst gegangen, ohne sich zu verabschieden! Aber grüße ihn gerne von mir!« Danach bin ich sieben Stunden Einsamkeit überlassen, nachdem ich von einem reichlich irritierten Paul verabschiedet wurde. Er sieht seine Abreise am nächsten Tag für seine Arbeitswoche in Odense gefährdet, wenn ich nicht rechtzeitig wieder zurück bin. Was ich beim besten Willen nicht sein werde. Ich bin nicht in der Lage, eine Diskussion zu führen, noch weniger einen Streit darüber, ob es wohl angemessen ist, seinen verfluchten Dienstplan als derzeit größtes Problem zu betrachten. Also fahre ich einfach mit heruntergekurbeltem Fenster los, während ich ihn noch daran erinnere, daß der Kindergarten einen Ausflug plant und Zarina ihre Gummistiefel mitnehmen muß. Danach sehe ich ihn im Rückspiegel am Gartenzaun stehen, die Arme in einer beschwörenden, aber resignierten Geste erhoben.

»Verflucht noch mal«, schimpfe ich mit lauter Stimme und schlage mit der Hand aufs Lenkrad. Eigentlich hätte ich ganz gut eine tröstende Umarmung brauchen können, einen Gruß mit auf den Weg, eine kameradschaftliche Hand auf der Schulter. Ich stelle das Nachtprogramm im Radio ein und gebe Gas und fahre Richtung Halsskov.

Sieben Stunden bis zur Erkenntnis, sieben Stunden Autofahrt zum Verdauen und Vorbereiten. Sieben unwirkliche Stunden unter dem Herbstmond mit Blick auf verzaubert beleuchtete Landschaften, Hügelketten und Flußläufe, die durch die Autobahn, die ich im großen und ganzen für mich habe, zerschnitten werden. Kurz vor Sonnenaufgang erinnert mich der erste Morgenverkehr nördlich von Århus schmerzlich daran, daß dies im Leben der meisten Menschen nur ein ganz normaler Tag ist. Ich rauche Zigaretten, trinke Cola und höre zur vollen Stunde Nachrichten, während das Auto sich Kilometer um Kilometer durch Jütland frißt und die Angst einzuschlafen hinter jeder neuen Kurve lauert. Die Monotonie wirkt so einschläfernd und beruhigend, daß ich zwischendurch fast vergesse, warum ich hier sitze, wohin ich fahre. Als befände ich mich in dem leichten Schlaf, kurz bevor der Wecker klingelt und ich aufstehen und Zarina wecken muß. Los, die Morgenzeitung holen und Kaffee kochen, los und in den Kindergarten fahren, los zu einem neuen Arbeitstag.

Kurz vor Skørping schrecke ich jäh auf, als plötzlich ein Reh über die Fahrbahn springt, nicht einmal zwanzig Meter vor mir. Während ich in die Bremsen trete und das Steuer scharf nach links reiße, gelingt es mir noch, die Schönheit des Sprungs zu registrieren. Das Reh verschwindet unbeschädigt im Gebüsch, während ich nach Luft schnappend wieder geradeaus fahre und in Gedanken einen anerkennenden Gruß an den Erfinder des ABS schicke. Gleich danach steuere ich einen Rastplatz an.

Ich zünde meine letzte Zigarette an, steige aus und strecke meine Beine aus, die immer noch leicht zittern. Ich laufe ein wenig herum, sauge den würzigen Duft nach Erde, Wald und Vergänglichkeit ein, sehe, wie der Tau von einer Hagebutte perlt und die Sonne ein Spinnennetz zum Glitzern bringt. Zum ersten Mal seit dem Anruf aus dem Krankenhaus wird mir der Inhalt der Nachricht wirklich klar – ein Leben ist dabei zu erlöschen, an einem anderen Ort, und dennoch mitten in allem.

Ich trete die Kippe mit dem Schuh aus und setze mich wieder ins Auto, um das letzte Stück zu fahren. Die 8-Uhr-Nachrichten teilen mit, daß die NATO bei einem Offensivangriff gegen bosnisch-serbische Stellungen Cruise-Missiles eingesetzt hat. Die Wetteraussichten verheißen schwache Winde und Sonne in den meisten Teilen des Landes. Es wird ein schöner Tag. Ein schöner Tag zum Sterben.

In plötzlicher Panik, zu spät zu kommen, weil ich getrödelt habe, weil ich den Alarm nicht ernst genug genommen habe, rase ich das letzte Stück zum Krankenhaus in Aalborg Süd. Ich verfahre mich, fluche, werde von Straßenbauarbeiten und Umleitungen gebremst und muß aussteigen und einen Schuljungen nach dem Weg fragen, bis ich endlich vor dem Krankenhausklotz ankomme. Ich lasse den Wagen auf einem Parkplatz für Behinderte stehen, werfe einen Blick auf die Übersichtstafel in der Eingangshalle, vergleiche die Angaben mit meinen eigenen Notizen und eile zielstrebig zum Fahrstuhl, den ich mit einer pergamentbleichen Frau teilen muß. Sie ist glatzköpfig und steckt in einem Bademantel aus verwaschenem bläulichen Frottee, der wie eine verbeulte Hülle um den abgemagerten Körper hängt. Sie hat eine neue Morgenzeitung unter dem Arm, Berlingske Tidene, und ich muß den spontanen Drang in mir unterdrücken, sie zu fragen, ob ich sie nicht lieber für sie tragen solle. Aber ich begnüge mich damit, mich unter ihrem leeren, allzu wissenden Blick zu krümmen. Ich wundere mich darüber, welches Interesse sie noch an unserer lebenden Welt haben kann, an Banalitäten und marktschreierischen Überschriften. Aber vielleicht weiß sie gar nicht, will gar nicht wissen, daß sie bereits die Grenze überschritten hat. Sie steigt auch in der Onkologie aus, Abteilung DI. Ich lasse sie vorgehen und folge dem Engel des Todes auf dem Weg den Flur entlang. Als sie in ihr Zimmer gleitet, stehe ich plötzlich allein da, unsicher und fremd wie ein unerwünschter Eindringling, dessen einzige Berechtigung, hier einzudringen, in meiner Rolle als Statistin in einem Drama besteht, von dem ich kaum die Umrisse kenne. Kurz vor der Glasluke der diensthabenden Krankenschwestern drehe ich feige ab und suche Zuflucht in einer Toilette, wo es mir gerade noch gelingt, mich über eine Schüssel zu krümmen, bevor ich die Nacht erbreche. Die Colas, die Zigaretten, den Easy-listening-Pop, die Müdigkeit und die Angst vor der Gegenüberstellung, die mich jetzt erwartet. Gefaßt und ruhig möchte ich sein, wenn ich dem Tod begegne. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, überlege, ob ich mein übliches rudimentäres Make-up auflegen soll, um die flackernden Schatten der schlaflosen Nacht zu camouflieren, verwerfe diesen Gedanken jedoch als obszön, gerade hier, wo doch alle quasi nackt sind. Also trinke ich etwas Wasser aus dem Hahn, murmle ein beschwörendes »Come on, honey!« und verlasse den Schutzraum mit dem einzigen Wunsch, daß es noch nicht zu spät sein möge.

»Wie gut, daß Sie kommen! Sind Sie allein?« fragt die Krankenschwester, als ich mich bei ihr melde. Die Nachtwache ist nach Hause gegangen, aber sie hier ist genauso lieb und nordjütländisch fürsorglich.

»Ich bringe Sie zu Herrn Skaarup«, sagt sie und versteht meine unausgesprochene Frage.

»Ich fürchte, wir werden ihn nicht mehr lange unter uns haben. Er ist sehr instabil.«

Ich folge still ihrem Kittelknistern, und dann sind wir da – in einem kleinen Einbettzimmer mit einem hohen Krankenhausbett mitten im Raum. Dort, unter einer weißen Waffeldecke, in die der Krankenhausname blau eingewebt ist, liegt eine unbewegliche Gestalt, die ich auf den ersten Blick gar nicht als meinen Vater wiedererkenne. Das Gesicht ist grau, die Züge sind eingefallen, der Mund schief verzogen und die Nase ragt viel zu scharf hervor. Der einst so dichte Bart ist zu grauen Zotteln geworden, und seine breite Wikingerbrust ist nichts mehr als Knochen, die von stramm sitzender Haut überzogen sind. Das einzige, was ich an ihm wiedererkenne, sind die schwarzen Augenbrauen, zwei breite Tuschestriche mitten in der Farblosigkeit.

Er ähnelt einem Picasso-Gemälde, einem verzerrten Guernica-Pferd, das er mir selbst einmal in einem der seltenen Augenblicke vor Hunderten von Jahren gezeigt hat, an einem ruhigen Sonntag, als wir uns Kunstbücher ansahen. Er versprach, wenn ich größer wäre, mir alle diese Bilder im Original zu zeigen, mich in alle Museen der Welt mitzunehmen, nach Madrid, London, Paris, Florenz, New York. Aber daraus ist auch nichts geworden.

Ich weiß, mein Mund steht offen in stummem Entsetzen, ich sehe mich selbst, wie ich mich schluchzend auf ihn werfe, aber ich kann nur vollkommen starr dastehen. Ein Schrei steckt in mir fest. Er liegt so still da. Er muß schon tot sein. Sie haben es nur noch nicht gemerkt.

Die Krankenschwester streift meinen Arm, als sie sich vorsichtig vorbeischiebt und ihm zwei Finger aufs Handgelenk legt, um seinen Puls zu fühlen.

»Ja«, sagt sie anschließend konstatierend. »Er schläft gut.« In dem Moment huscht ein Ruck über sein Gesicht, und jetzt wird die Stille von einem plötzlichen Nach-Luft-Schnappen durchbrochen.

»Hat er Schmerzen?« frage ich.

Die Krankenschwester schüttelt verneinend den Kopf. »Dann würde er sich mehr winden. Unruhiger sein. Er ist schon so weit, daß er nichts spürt.«

»Haben Sie ihm was gegeben?« frage ich mit einem Blick auf den Schlauch, der an seinem Handrücken befestigt ist und zum Tropfbeutel am Stativ führt.

»Salzwasser und Glucose. Er hat nur einmal letzte Nacht etwas Schmerzstillendes bekommen, danach nicht mehr. Er wollte gern aushalten, bis Sie kommen«, fügt sie hinzu. Ich nicke. Begreife, daß wir die Grauzone berühren, die inoffizielle Sterbehilfe heißt. Eine extra hohe Dosis Morphin, um die Endphase abzukürzen.

»Danke«, flüstere ich. »Ist er ganz weggetreten? Oder kann er uns hören?«

»Sie sollten zumindest davon ausgehen, daß er hören und verstehen kann, was um ihn herum passiert. Sie sollten auf jeden Fall mit ihm reden. Ganz bestimmt erkennt er Ihre Stimme wieder. Die wird ihn trösten. Haben Sie übrigens schon gefrühstückt?«

Ich schüttle den Kopf, wende meinen Blick wieder dem gestürzten Picasso-Pferd zu.

»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen Kaffee und Brote besorge?« fragt sie und streift wieder meine Schulter, als sie an mir vorbeigeht.

»Wenn es möglich wäre«, erwidere ich, »würde ich auch gern mit einem Arzt sprechen.«

Sie nickt freundlich an der Tür.

»Ich werde dem Oberarzt sagen, er soll bei Ihnen hereinschauen.«

Dann bin ich allein. Dann sind wir allein. Ich stelle meine große Tasche hin, ziehe meine alte Jeansjacke aus und setze mich vorsichtig auf die äußerste Bettkante, auf der Seite, wo auch der vollgestellte Nachttisch steht. Mir fällt ein großer Strauß roter Rosen auf, der in einer Krankenhausvase steht. Sonst gibt es keine Blumen, kein Obst, keine Schokolade. Nur zwei kleine Becher mit Medizin. Ein Tuch in einer kleinen Schale mit Wasser. Ein halbvoller Becher mit Deckel.

Wieder ist ein schwaches Stöhnen zu hören, die Lippen kräuseln sich vorsichtig zu einer Seite, das eine Augenlid schiebt sich ein wenig hoch, so daß ich sein braunes Auge sehen kann.

»Vater!« flüstere ich und umfasse vorsichtig seinen völlig abgemagerten Arm. Seine Haut ist klamm und kalt, als würde die Kälte ihn bereits von innen durchdringen. Mich überläuft ein Schauder, aber ich lasse meine Hand federleicht liegen, um ihm nicht weh zu tun.

»Vater«, wiederhole ich und sehe, wie er wieder in Schlaf fällt. »Ich bin es, Therese, ich bin hier. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde die ganze Zeit hierbleiben.«

Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich den gleichen mütterlichen Ton benutze, mit dem ich Zarina nachts nach einem Alptraum beruhige. Zart und sanft, ja, ja, Mama ist da, Mama paßt auf dich auf. Gleichzeitig vollkommen falsch und genau richtig. Vielleicht habe ich erwartet oder gehofft, daß er auf mirakulöse Weise beim Klang meiner Stimme die Augen aufschlagen würde. Erleichtert und froh darüber lächeln würde, daß seine Tochter schließlich doch noch gekommen ist. Von selbst meine Hand ergreifen würde, sie drücken und all das sagen, was er nie gesagt hat. Ich weiß, das ist der letzte Rest von Kindlichkeit, der kindische Wunsch, daß die Dinge ein einziges Mal wie in altmodischen Romanen enden, in denen das Sterbebett die Bühne für Versöhnungen und Erlösung bildet. Aber das Wunder bleibt aus, es gibt nicht einmal ein Zeichen dafür, daß er mich hört, dort, wo er sich jetzt befindet. Vielleicht erinnert er sich nicht einmal mehr an mich. Vielleicht ist er ganz verschwunden in den tiefsten Schichten der eigenen Kindheit, als ein kleiner Junge mit nackten Beinen, der hinter den Hühnern herläuft und sich im Brombeergestrüpp hinter dem gekalkten Stall versteckt, wenn Großvater ihn bestrafen will.

»Vater«, sage ich wieder, beuge mich noch weiter über ihn, damit er mich besser hören kann. »Ich bin die ganze Nacht quer durch Jütland gefahren. Der Vollmond schien auf die Felder. Das letzte Getreide ist abgeerntet. Die Stoppeln sind jetzt abgebrannt, an einigen Stellen konnte man es noch riechen. Erika blühte in der Heide. Alles war in Mondschein gebadet. Ich habe sogar eine Schafherde gesehen, die lagerte und schlief. Und ganz früh am Morgen beim Rold Skov sprang mir ein Reh vors Auto. Der Sprung war unglaublich schön, als hinge es in der Luft. Zum Glück habe ich es nicht angefahren. Jetzt scheint die Sonne. Der Himmel ist hoch und extrem blau.«

Ich halte abrupt inne. Normalerweise rede ich nicht so, in poetischem Telegrammstil. Aber jetzt kommt die Reaktion. Seine Finger krümmen sich ganz schwach unter meiner Hand, seine Augenbrauen zucken, und er stößt eine Art Brummen mit mehreren Silben aus, als versuchte er etwas zu sagen. Aber ich bin mir dessen nicht so sicher, suche beunruhigt Zeichen von Schmerzen.

»Tut es weh?« frage ich hilflos. »Soll ich lieber nicht weiterreden?«

Er brummt wieder, immer noch, ohne die Augen zu öffnen, und wieder mit dieser leichten Krümmung der Fingergelenke wie das Kitzeln eines Insekts auf meiner Handfläche.

»Er versucht Ihnen zu antworten. Reden Sie nur weiter!«

Da ist die Krankenschwester wieder, an der Tür. Sie lächelt und schiebt einen Teewagen herein mit einer Thermoskanne, einer Kaffeetasse und mit einigen belegten Broten.

»Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie mehr Kaffee möchten. Und klingeln Sie, wenn sonst etwas ist. Dr. Holmstrup wird gleich vorbeikommen«, sagt sie, stellt den Wagen neben mich und ist im nächsten Moment schon wieder draußen.

Ich schiele zum Frühstück hinüber. Der Kaffeeduft steigt mir in die Nase, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich bin ich hungrig wie ein Wolf, werde aber vom ehrfürchtigen Respekt vor einem der heiligen Augenblicke des Lebens zurückgehalten. Ist es nicht unpassend, sich gerade jetzt einfach zum Frühstück hinzusetzen?

Aber da erklingt lautes Lachen vom Flur. Türen schlagen. Ein Radio dringt leise durch die Wand. Die Sirene eines Krankenwagens wird draußen angestellt. Aus dem Nachbarzimmer ist eine WC-Spülung zu hören. Die Geräusche des Fahrstuhls klingen wie dumpfes Dröhnen. Die Welt hält nicht die Luft an. Die Welt ist ein einziger großer Organismus, der ißt und trinkt, scheißt und schläft, liebt und streitet. Immer. Und mein Vater ist wieder in sich versunken. Seine Hand ist schlaff unter meiner, sein Gesicht ist zur Ruhe gekommen. Der Puls pocht schnell unter der dünnen Haut seines Halses. Seine Atemzüge sind leicht und regelmäßig. Ich mache vorsichtig meine Hand frei, stehe auf, schenke mir Kaffee ein, setze mich in den Besucherstuhl und mümmle alle drei Scheiben mit Käse und Marmelade in mich hinein. Schwarzbrot und Weißbrot und noch mehr Kaffee. Ich denke über das Bizarre der Situation nach und werde noch mit vollem Mund erwischt, als ein Mann mittleren Alters in weißem Kittel eintritt. Oberarzt Niels Holmstrup kann ich auf seinem Schild lesen, bevor er sich selbst vorstellt, während ich verwirrt aufstehe und seine ausgestreckte Hand ergreife.

»Sie sind also Skaarups älteste Tochter?« fragt er, und ich nicke und breite entschuldigend die Arme aus, weil ich immer noch nicht hinuntergeschluckt habe.

»Therese, nicht wahr? Sie sind doch die aus dem Fernsehen, oder?«

»Entschuldigung«, ich nicke in Richtung des leeren Tellers. »Ich bin die ganze Nacht gefahren.«

»Keine Ursache«, sagt er freundlich. »Schließlich nützt es nichts, wenn Sie vor Hunger sterben, oder? Ihrem Vater geht es ja nicht so gut«, erklärt er dann und wendet sich dem Bett zu. Er umfaßt sanft den Fuß des Patienten; es wirkt wie ein aufmunterndes Streicheln. »Nun, ich weiß ja nicht, wie genau Sie vorher über die Krankheit Ihres Vaters im Bilde waren.«

»Nicht sehr gut«, muß ich zugeben. »Er hat mir vor kurzem geschrieben, er hätte einige ›Zipperlein‹...«

Der Oberarzt lächelt verschmitzt.

»Typisch Skaarup«, sagt er. »Ja, wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen. Ins Gymnasium von Frederikshavn. Bis er alles hingeschmissen hat und nach Kopenhagen abgehauen ist. Er war Læsøs Enfant terrible. Er war es, der uns anderen den Dadaismus, den New Orleans Jazz, Karl Marx und französischen Rotwein nahegebracht hat. Ganz unglaublich, wenn man dabei seinen Hintergrund in Betracht zieht. Ich habe ihn grenzenlos bewundert. Ohne Skaarup wäre ich selbst nie rausgekommen.«

Ich betrachte eingehend sein Profil. Ein gutaussehender Mann Ende Fünfzig, der gut auf sich aufgepaßt hat. Schlank, graue Schläfen, ein gesunder Teint – wahrscheinlich vom Golfplatz. Gute Karriere, schöne Frau, nette Kinder. Der richtige Cholesterinwert und geschmackvolles Design. Er ist für mich in jeder Beziehung eine massive Provokation, mit all dieser Schönheit, die ich seit meiner rebellischen Jugend verachte. Aber jetzt möchte ich nur soviel Information wie möglich von seinen Augen ablesen, seine Erinnerungen abzapfen, ihm all sein Wissen über diesen fremden Mann herauslocken, der hier liegt und der mein Vater ist. Niels Holmstrup steht in Gedanken versunken da, findet aber schnell wieder den sachlichen Ton.

»Ihr Vater hat seit längerer Zeit an Magenkrebs gelitten, der allzu lange unbehandelt in seinem Körper wüten durfte. So konnte er nicht mehr gestoppt werden, als Ihr Vater endlich zum Arzt ging. In Frederikshavn haben sie ihn aufgeschnitten, konnten aber nichts mehr für ihn tun, und als dann noch dieser Blutsturz dazu kam, ist er hier eingeliefert worden. Das habe ich selbst veranlaßt – nicht, weil ich viel hätte ausrichten können. Aber nachdem er zurückgekommen ist, haben Ihr Vater und ich uns ab und zu mal wieder getroffen ...«

»Haben Sie zusammen Schach gespielt?« werfe ich ein, denn plötzlich erinnere ich mich an den Namen Niels Holmstrup, höre den Namen, wie Vater ihn ausgesprochen hat, wie ein Wort aus seiner fernen Welt, wie Læsø, wie Klippfisch, wie wehender Sand, wie Innere Mission.

»Ja! Das stimmt!« Er strahlt. »Und das ist wohl das einzige, von dem ich behaupten kann, daß ich es ihn gelehrt habe! Schachspielen! Und er wurde natürlich in Windeseile ein souveräner Schachspieler. Die einzige Möglichkeit, gegen ihn zu gewinnen, war sein Temperament. Er regte sich immer viel zu schnell auf und war ein schlechter Verlierer!« Holmstrup schüttelt den Kopf und umfaßt wieder den Fuß unter der Decke.

»Du hattest immer gegen dein Temperament zu kämpfen, Skaarup, damals jedenfalls. Du warst ein reichlich wilder Bursche. Sie können sich sicher nicht mehr daran erinnern«, sagt er dann zu mir gewandt, »aber da war dieses Feuer, das immer in ihm brodelte und flackerte. Immer am Rande des Vulkans.« Ich nicke. Doch, daran kann ich mich noch gut erinnern. Schwere Schritte die Treppe hinunter, der plötzlich aufflammende Wutausbruch, die zurückgeschobenen Stühle, die lautstarken Streitereien mit Mutter und ihre ebenso lautstarken Versöhnungen anschließend im Schlafzimmer, während Kiki und ich im Wohnzimmer saßen, die Finger in den Ohren.

»Aber«, sagt Holmstrup und drückt den Fuß leicht, »so ist es in letzter Zeit ja nicht mehr gewesen. The Lion has lost his force.« Er seufzt, traurig, wie ich sehe. Eher als Freund denn als Arzt. Es rührt mich, daß er einen Freund gehabt hat. Daß es wenigstens noch einen Menschen gibt, dem er nicht gleichgültig ist. Daß es noch einen gibt, der ihn ohne Verdruß gekannt hat. »Gibt es eine Chance, daß er noch einmal die Augen aufmacht?« frage ich, nachdem ich mir fest auf die Lippen gebissen habe, um die Tränen zurückzuhalten.

Holmstrup tut das gleiche wie die Krankenschwester, er prüft den Puls. Als wolle er die Antwort etwas hinauszögern, wie ich annehme.

»Man soll nie nie sagen. Aber ich denke, Sie sollten sich darauf gefaßt machen, daß Ihr Vater bereits in die Phase eingetreten ist, in der er immer weiter von uns weggleitet.«

Ich sehe das Schiff vom Kai ablegen und mich, die ich am Ufer stehe, außerstande, es zu erreichen, außerstande, zu verhindern, daß der Abstand zwischen uns immer größer wird, bis es zum Schluß nur noch ein schwarzer Punkt auf dem offenen Meer ist. Genau, ein Meer. Kein Fluß.

»Wie lange wird es dauern?« frage ich, versinke in mir und höre selbst, wie dünn meine Stimme wird.

»Das ist schwer zu sagen. Einige Stunden, denke ich. Sind noch andere Angehörige auf dem Weg? Ihre Schwester? Oder Ihr Mann?«

Ich schüttle den Kopf. Außerstande, etwas zu erklären oder zu entschuldigen.

»Dann sind Sie ganz allein?« fragt er und versteht vielleicht mehr, als ich geglaubt hatte. Und da ist auch noch so ein Unterton von Besorgnis in seiner Stimme, als wäre das hier nichts, was man allein durchstehen sollte.

»Ja, ich bin ganz allein«, antworte ich und nehme mich zusammen. Großes Mädchen. Merkwürdigerweise ist es genau wie damals, als ich am Kreißsaal ankam, mir die gleiche Frage gestellt wurde und ich die gleiche toughe Antwort geben mußte.

»Also«, sagt er, als sein Piepser sich in seiner Kitteltasche meldet, »ich muß jetzt zu einer Konferenz, aber ich komme anschließend wieder ...«

Der Vormittag vergeht ohne Veränderungen. Holmstrup schaut ein paarmal herein, die Krankenschwester kommt mit Saft und meint, ich könnte gern zum Kiosk hinuntergehen. Sie würde dann solange bei ihm sitzen bleiben. Das soll wohl heißen, daß er nicht im nächsten Moment sterben wird. Ich vertraue ihrer Kompetenz, beeile mich aber trotzdem und habe das Gefühl, der Fahrstuhl sei viel zu langsam, als ich mit den Tageszeitungen, Zigaretten und ein paar blankpolierten Äpfeln wieder hochfahre. Als ich an einem Münztelefon vorbeikomme, überlege ich, ob ich zu Hause anrufen soll, lasse es dann aber doch. Das Risiko, einen beleidigten Paul am Telefon zu haben, ist zu groß. Dafür fällt mir ein, daß ich ja an meinem Arbeitsplatz anrufen muß. Ich habe zwar keinen Dienst, hatte aber versprochen, an einer Konferenz für die Konzeptentwicklung eines neuen Auslandsmagazins teilzunehmen, dessen Studioleiterin ich vielleicht werden soll. Das ist zwar noch nicht offiziell, aber mir ist von Big Mama, unserem weiblichen Programmchef, ins Ohr geflüstert worden, daß das ihr heimlicher Plan ist. »Mehr Frauen in die große Politik!« wie sie sagt. Nach außen hin setzt sie auf mehrere Pferde, damit die old boys in der Redaktion nicht anfangen zu mauern. Mehrere von ihnen haben auf ihre alten Tage angefangen, an einer Art Walter-Cronkite-Syndrom zu leiden: Jetzt, wo sie zu alt sind, um in den Krieg zu ziehen, möchten sie gern zurückgelehnt im Studio sitzen und die Weltsituation in Gesellschaft gelehrter Gäste mit einem Glas Selters vor sich analysieren. Das findet Big Mama, die sie kennt, seit sie noch jung waren und bei der Roskilde avis ihre Ausbildung gemacht haben, ziemlich pathetisch. Deshalb hat sie mir die Rolle des chancenreichen Außenseiters zugeteilt. Und außerdem meint sie, ich müsse mich nach der verhältnismäßig unspektakulären Baby- und Kleinkindzeit mal wieder stärker profilieren.

Und darin muß ich ihr recht geben – ich habe meine Arbeit zwar brav und ordentlich gemacht, aber irgendwie fehlte meiner Karriere in letzter Zeit der rechte Schwung. Seit Zarinas Geburt mußte ich notgedrungen erkennen, daß es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt, zwischen Müttern und Vätern, zwischen Paul und mir. Auch nach dem Erziehungsurlaub, aus dem ich mit voller Kraft wieder zurückkehren wollte, gelang es mir einfach nicht, meinen Platz auf der Führungsebene auszufüllen, ganz einfach, weil meine Kondition nicht gut genug war. Ich war vom Mangel an Schlaf, richtigem Essen und allgemeiner Fürsorge physisch derart geschwächt, daß ich nur eine passable, routinemäßige Leistung erbringen konnte. Beim Sender versuchten sie sogar, Nachsicht zu üben, und gaben mir trotzdem ein paar der eigentlich ziemlich begehrten Reportagereisen, aber das eine Mal bekam ich am Abend vor dem Abflug ins Baltikum eine Grippe, das andere Mal waren wir gerade eineinhalb Tage in Prag, als Zarina in einem unbeaufsichtigten Augenblick zu Hause vom Küchentisch fiel, sich das Schlüsselbein brach und mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Am Telefon versuchte Paul das Ganze herunterzuspielen und forderte mich auf, meine Arbeit in Ruhe zu beenden, aber sobald wir das geplante Interview mit Präsident Havel im Kasten hatten, nahm ich den ersten Flug nach Hause. Voller Angst, Unruhe und Empörung über Pauls Nachlässigkeit. Wenn er nur besser aufgepaßt hätte, statt dazusitzen, in der Nase zu bohren und CNN zu gucken, dann wäre das nie geschehen. Doch als ich ins Krankenhaus gerannt kam, um mein geliebtes Kind zu retten, saß dieses natürlich fertig angezogen auf dem Boden des Spielzimmers in der Kinderabteilung, lachte, trank Cola mit einem Strohhalm und war ganz und gar nicht damit einverstanden, daß ich sie mit nach Hause nehmen wollte. Mitten in meiner Erleichterung wurde ich so stinkwütend auf Paul, der neben ihr saß und mit dem Brio-Zug dampfte, daß ich zuerst einen hysterischen Anfall bekam und dann neben den beiden auf dem Boden zusammenbrach. Dabei gelang es mir nicht, ohnmächtige Weinkrämpfe zurückzuhalten, von denen ich bisher gedacht hatte, sie wären neurotischen Frauen in spanischen Filmen vorbehalten. Ich hatte in den letzten drei Jahren bereits mehrere davon, und jedesmal lösten sie eine Kettenreaktion aus: zuerst Zarinas erschrockenes Schreien und danach irgendeine gezischte Gemeinheit von Paul, der sich daraufhin meistens auf dem Absatz umdrehte und den Ort des Geschehens verließ. Sein Reaktionsmuster ähnelt dermaßen einem bedingten Reflex, daß ich schon darüber nachgedacht habe, ob seine eigene Mutter sich vielleicht früher auch so aufgeführt hat? Zumindest empfinde ich in diesen Momenten fast eine gewisse Form von Sympathie für diese eiskalte Person, von der man ansonsten positiv nur vermerken kann, daß sie die Großmutter meiner Tochter ist. Aber ich schäme mich für die Anfälle, die mich in einer absoluten postepileptischen Erschöpfung zurücklassen. Zum Glück ist es mir bisher im großen und ganzen gelungen, sie auf den Privatbereich zu begrenzen. Nur ein einziges Mal spürte ich quasi in der Öffentlichkeit einen derartigen Anfall aufsteigen: Als ich in eine lächerliche fachliche Diskussion mit einem wichtigtuerischen, frischgeschlüpften Reporterküken über die formale Beziehung der Duma zum Präsidenten verwickelt wurde. Sein Wissen hatte Schlagzeilenniveau, ich wußte, daß ich recht hatte, aber ich hatte nicht die Kraft, mich mit ihm zu messen, und zum Schluß war ich soweit, daß ich fast schluchzend auf den Boden trampelte. Ich wurde im letzten Moment von Kirsten, der Produktionsassistentin, gerettet, die trotz ihres jugendlichen Alters und ihrer begrenzten Lebenserfahrung eine Art emphatischen Instinkt besitzt, genau im richtigen Augenblick zu erscheinen. Sie schickte den Jungen mit dem Hinweis raus, er solle auf der Autobahn weiterspielen, was er ihr sicher nie verziehen hat. Dafür konnte er später damit angeben, daß er statt meiner nach Prag geschickt wurde. Und während seine Karriereleiter steil nach oben führte, zeigt meine so sehr in die Waagerechte, daß ich zwischendurch bereits fürchte, den Auftrieb ganz und gar verloren zu haben.

Eigentlich habe ich erst im letzten Halbjahr das Gefühl, meine wahre Person wiedergefunden zu haben. Wie immer diese auch sein mag. Aber wenn ich mich der Einfachheit halber damit begnüge, es bei einer rein physischen Definition zu belassen, dann kann ich zumindest sagen, daß ich so langsam wieder auf dem Damm bin und derjenigen ähnele, die ich früher einmal war. Damals. Damals, als ich allein war und nicht im Traum daran dachte oder mir wünschte, daß aus eins zwei und aus zwei drei werden sollte. Damals war ich unbesiegbar, geschlechtslos und sehr, sehr dumm. Damals, als es noch keinen Mann in meinem Leben gab. Damals, als Paul für mich noch nicht existierte.

Ausgerechnet Paul, der jetzt so intensiv existiert, daß ich ihn mit mindestens einer Million Dänen teilen muß, wenn diese die TV2-Nachrichten einschalten. Dort hat er – nicht gerade überraschend – den Thron von The Real Mr. News bestiegen, direkt vor der Nase von Kollegen und Konkurrenz. Was unsere Einkaufstouren und Teilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen zu einer Art Hürdenlauf zwischen Autogrammjägern, Gaffern und denjenigen macht, die ihr Desinteresse offensichtlich zur Schau stellen. Wobei letztere fast die Schlimmsten sind, weil Paul mangelnde Popularität nicht ertragen kann. Ein sonderbarer Charakterzug, der seit seiner Premiere im Fernsehen zutage tritt und um so merkwürdiger erscheint, als Paul ansonsten nicht gerade als servil oder konfliktscheu gilt. Das hat wohl etwas mit der großen Masse, dem Volk zu tun, vor dem sie eine Heidenangst haben, all die Kamerageilen.

»You can’t win them all!« erklärte ich ihm einmal, als er in einer Kioskschlange zuließ, daß jemand sich vordrängelte, und statt über die offensichtliche Unhöflichkeit verärgert zu sein, seinen ganzen Charme entfaltete, nur um dem armen Schlucker hinterm Tresen ein Lächeln zu entlocken. Vergeblich übrigens, was den Versuch noch peinlicher wirken ließ.

»Verdammt noch mal, ich muß das tun!« erklärte er und machte ein verkniffenes Gesicht, als wir auf dem Bürgersteig standen. »Von denen lebe ich schließlich!«

»Aber deshalb mußt du dich doch nicht anbiedern!« erwiderte ich, und schließlich landeten wir in dieser sich immer wiederholenden Diskussion über TV2 contra öffentlich-rechtliches Fernsehen, über den Unterschied, auf der Basis harter kommerzieller Kalkulationen zu arbeiten oder ein behütetes Berufsleben in einem finanzierten Sandkasten zu führen. Wir verteidigen jedesmal mit gleicher Verbissenheit unsere Arbeitsplätze, und manchmal wird mir klar, daß das eigentlich zu weit geht. Es ist gar kein Paartherapeut mit langer Warteliste nötig, um zu durchschauen, daß es unser eigener privater Machtkampf ist, der hier auf die übertriebene Arbeitsplatz-Identifikation projiziert wird. Paul ist nicht immer himmelhoch begeistert von den Zuständen am Kvaegtorvet, und mein Sender hat weiß Gott einen Teil seines Charmes verloren, seit die Panik über schlechte Quoten und schwindende Zuschauerzahlen die Leitung dazu gebracht hat, Rationalisierungsfachleuten Tür und Tor zu öffnen. Vielleicht überreagieren wir, wie die Leitung behauptet, aber es ist nicht so leicht, eine Paranoia zu vermeiden, wenn man fast noch Schrittmesser angeschnallt bekommt, um zu messen, in welcher Zeit der Abstand vom Schreibtischstuhl zur Toilette zurückgelegt worden ist. Und dann die angekündigte Bepunktung, die Angst, trotz aller guten Prognosen eines Tages das Sausen der Guillotine zu hören und zu seiner Verwunderung festzustellen, daß es der eigene Kopf ist, der da fallen soll.

Und warum nicht meiner? Eine unsichere Frau im gebärfähigen Alter, die jederzeit vom Fortpflanzungstrieb oder dem ersten Krankheitstag ihres Kindes aus der Bahn geworfen werden kann. Ich habe, vor allem in den letzten Monaten, meine Mutterschaft in einem Ausmaß heruntergespielt, daß man glauben könnte, ich hätte gar kein Kind. Das ist die einzig erfolgversprechende tragbare Strategie auf dem von Männern beherrschten Arbeitsmarkt. Ich selbst habe das Gefühl, daß ich wieder in Schwung gekommen bin, aber erst die Pläne, die Big Mama mir ins Ohr geflüstert hat, haben mich dazu gebracht, etwas von der Anspannung abzubauen. Inzwischen gehe ich davon aus, nun doch nicht auf der Liquidierungsliste zu stehen. Nicht einmal Paul kennt meine heimliche Beunruhigung und meine Furcht, nicht bestehen zu können. Ich habe meine geheimen Kämmerchen, genau wie er seine. Ich rufe den Sender von einer Zelle in der Eingangshalle aus an, räuspere mich und lege mir ein paar neutrale Sätze zurecht.

»Na, was ist, hast du inzwischen gelernt, einen Schlips zu binden?« fragt Big Mama, als ich endlich zur Redaktion durchgekommen bin. Ich teile ihr meine Absage mit, und sie kann gerade noch verärgert mit der Frage reagieren: »Da ist doch nicht schon wieder was zu Hause passiert?«, bevor ich sie über die Lage informiere und sie darauf mitfühlendes Verständnis zeigt.

»Hattet ihr ein enges Verhältnis, dein Vater und du?« fragt sie.

»Nun ja«, antworte ich. »Wir haben uns nicht besonders oft gesehen.«

»Deshalb kann es trotzdem eng sein. Ich habe erst gemerkt, was für eine enge Beziehung ich zu meinem Vater hatte, als er tot war. Ich habe danach ein ganzes Jahr nicht ruhig geschlafen! Achte darauf, daß du dich richtig verabschieden kannst! Und wer hält deine Hand?«

»Das tue ich selbst«, erwidere ich und stecke meinen letzten Zehner in den Schlitz.

»Aber Tes! Das geht doch nicht!« protestiert sie.

»Ich habe zwei Hände«, erkläre ich und beende das Gespräch. Sonst endet es noch damit, daß sie selbst hier angestiefelt kommt – Aalborg hin oder her. Man nennt sie schließlich nicht umsonst Big Mama.

Die Krankenschwester steht über meinen Vater gebeugt und tupft seine Stirn mit einem Tuch ab.

»Er hat ein bißchen kalten Schweiß«, sagt sie und wischt ihm auch die Mundwinkel ab, in denen etwas Spucke zu sehen war. Das ist etwas Neues gegenüber vorhin, denke ich. Ich finde auch, daß er viel blasser geworden ist, ganz fahl, aber vielleicht ist es auch nur der Kontrast zu ihrer gesunden Sommerfarbe, der plötzlich so kraß auffällt.

»Wir haben ihn gestern rasiert«, sagt sie und legt das Tuch hin. »Aber ich denke, heute lassen wir ihn in Ruhe, nicht wahr?«

Ich nicke. Mir fällt ein Bild ein: Ein kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt, ist im Nachthemd von zu Hause weggelaufen. Ich will zum Tivoli, komme aber nur bis zum Milchgeschäft an der Ecke, wo Frau Iversen mich einfängt und mich heulend nach Hause schleppt. Auf dem Treppenabsatz vor unserer Tür steht er, in Pyjamahose und Unterhemd, mit blitzenden gelben Wolfsaugen und einer Maske aus weißem Rasierschaum. Die Zähne sind wie zu einem wütenden Biß entblößt. Mein Schreien, das jäh zerschnitten wird, die Hitze im Unterleib und die rinnende Wärme, als ich mir in die Hosen pinkle. Seine bärenstarken Gorillaarme, die mich hochheben und ins Bett stecken. Der parfümierte Duft nach Rasierschaum, wie eine Scherbe in der Nase, das phlegmatische Schweigen meiner Mutter und mein Weinen, das unter der Decke hinter der geschlossenen Tür wieder hervorbricht. Niemand tröstete mich, bis Mutter und Vater gegangen waren, Tante Mo endlich kam und ich mich schließlich schluchzend an ihrem frisch gebügelten Hemdblusenbusen ausweinen durfte. Erst als er spätabends heimkam, aufgemuntert von einer Vernissage und mit einem Dunst von Rotwein um sich, als er einen Apfel aus der Manteltasche zog und ihn auf meinen Nachttisch legte, da glaubte ich, daß ich doch nicht für alle Zeiten verstoßen war.

»Klingeln Sie nur, wenn etwas ist«, sagt die Krankenschwester auf ihrem Weg hinaus. Ich nicke und setze mich auf den Stuhl, falte die Zeitung auseinander und überfliege die Nachrichten. Ich habe mich bereits so weit auf meinen eventuellen Job eingestellt, daß ich nach relevanten Blickwinkeln suche, nach Hintergründen und Zusammenhängen in der Flut der Nachrichten, die vielleicht später bearbeitet und zu interessanten Magazinbeiträgen werden können. Deshalb habe ich entgegen meinen Gewohnheiten damit begonnen, schon gleich nach dem Lesen auszuschneiden und zu sortieren, so daß ich mein ganz privates Archiv habe. Natürlich weiß ich genau, daß unsere Ressourcen nicht die Tagesordnung bestimmen können, wir werden in hohem Grad vom Markt definiert – was bieten die großen Networks, welches Team ist schon wo gewesen, was können wir billig kriegen und dennoch so herausputzen, daß es aussieht wie eine Eigenproduktion? Ich habe keine Schere, hole jedoch einen Kugelschreiber zum Markieren heraus und blättere zu den Auslandsseiten. Sie werden vom NATO-Angriff auf die bosnisch-serbischen Stellungen dominiert, und auch wenn es sicher primitiv oder oberflächlich ist, so teile ich allmählich das verbreitete »go-get-them«-Gefühl. Weder die Moslems noch die Kroaten sind reine Unschuldslämmer, aber meine reisenden Kollegen in Sachen Krieg sind mit wenigen Ausnahmen alle der Meinung, daß die Serben zweifellos die größten Aggressoren sind, die bestialischsten Barbaren und die größten und skrupellosesten Lügner.

»Die müssen zum Frieden gebombt werden«, wie mein desillusionierter Kollege in der Redaktion es ausdrückt. Er ist jetzt drei bis vier Jahre lang zwischen dem Sender und der jeweils spektakulärsten exjugoslawischen Front hin und her gependelt und nach eigener Aussage »fed up«. Seine Partnerschaft ist zerbrochen, sein Zigarettenverbrauch hat sich verdoppelt, und seine Scherze sind immer zynischer geworden, dennoch kommt er nie ohne Paß und kugelsichere Weste zur Arbeit. Allzeit bereit.

»Was willst du tun, wenn der Krieg zu Ende ist?« habe ich ihn eines Tages gefragt, als er sich wieder einmal auf eine Abreise vorbereitete. »Dann finde ich einen anderen Krieg«, erwiderte er finster. »Du endest noch wie Jan Stage«, kommentierte die Produktionsassistentin. »Ja? Das ist mein größtes Ziel!« grinste er und schlug sich den Kragen seiner Lederjacke bis zu den Ohren hoch.

Ich weiß nicht, wie viele er schon hat sterben sehen. Ich weiß nicht, über wie viele Leichen er bereits geschrieben hat. Über wie viele Perversionen er sich erbrochen hat oder sie mit dem Whisky der Hotelbar hinuntergespült hat. Aber ich weiß, daß der Tod plötzlich nicht mehr der abstrakte Begriff in einem Zeitungsartikel, in der Bezifferung des Tages-, Wochen- oder Monatsverlusts ist, sondern einem sehr nahe kommt, wenn man ganz dicht bei ihm auf einem Stuhl in einem Einzelzimmer sitzt. Ich ertrage die nüchterne Beschreibung der Strategie der NATO und ihrer wahrscheinlichen Bombenziele nicht. Ich ertrage das grobkörnige Foto von beladenen Jagdbombern nicht, die vielleicht genau in diesem Augenblick dabei sind, serbische Stellungen zu bombardieren. Ich ertrage das plötzlich mir vor Augen tretende Bild von rotem, pulsierendem Blut auf lehmiger Bergerde nicht, das des unrasierten Soldaten, der mit einer Kippe zwischen den Lippen getroffen wurde, das des Hemds, das hochgerutscht ist, und die glatte Haut, die im Fallen bloßgelegt wurde. Apocalypse now. O Scheiße ...

Ich zucke zusammen, als sich eine Fliege plötzlich von ihrem Stützpunkt hinter der dottergelben Gardine erhebt, schwer und metallisch blinkend, surrt sie gegen die Scheibe.

»O Scheiße!« wiederhole ich laut, falte die Zeitung zusammen und gebe dieser ohnmächtigen Wut nach, die plötzlich in mir wächst, als ich mich auf die Fliege stürze. Sie weicht aus, ich schlage von neuem zu. Sie weicht aus, ich schlage wieder zu. Fest, hartnäckig und vergeblich, bis ich sie in eine Ecke gedrängt habe und endlich zerquetschen kann. Ich drehe mich um, mit heißen Wangen und dem kribbelnden Gefühl, daß mein sterbender Vater die Augen geöffnet hat und mich jetzt vorwurfsvoll ansieht. Weil ich ihn geweckt habe. Aber er liegt noch genauso still und unbeweglich da wie zuvor, und ich lasse mich auf den Stuhl fallen, wo ich von dem unbändigen Drang nach Schlaf übermannt werde. Also werfe ich ihm noch einen Blick zu und erlaube mir selbst dann zwei Minuten mit geschlossenen Augen. Nur zwei Minuten. Er wird mir doch nicht in den nächsten zwei Minuten wegsterben. Ich erwache mit einem Ruck, als eine Pflegerin mit dem Essenswagen hereinschaut.

»Möchten Sie das Essen haben?« fragt sie. »Sie können ja seine Portion kriegen.«

Ich schüttle den Kopf und richte mich auf. Mittagessen! Die Uhr zeigt Viertel nach elf. Ich habe fast zwei Stunden geschlafen. »Lassen Sie es einfach stehen, wenn Sie nichts essen möchten«, fährt sie unbeeindruckt von meinem Schweigen fort und stellt ein Tablett mit einem abgedeckten Metallteller und einem Glas Saft ab. Dann ist sie schon wieder draußen, und ich stehe wie gerädert auf und erschrecke von neuem, als ich meinen Vater anschaue. Als müßte ich das erste Mal dazu Stellung nehmen, als würde ich erst jetzt sehen, daß er es ist, der da liegt und sterben wird. Er holt immer noch leicht wie ein Vogeljunges Atem, aber seine Hand ist kälter geworden, und Schweiß liegt wie Glycerintropfen auf seiner Stirn und an der Nasenwurzel. Wieder hat sich etwas Speichel in den Mundwinkeln gesammelt. Auch wenn es mir eigentlich albern erscheint, ist mir vollkommen klar, daß ich das Tuch nehmen und ihn behutsam abtupfen muß, wie Frauen es seit Tausenden von Jahren getan haben.

»Schschsch«, mache ich beruhigend wie bei einem fieberkranken Kind, als ich vorsichtig mit einem Zipfel des Tuchs seine Mundwinkel abtupfe. »Ich bin’s, Therese«, murmle ich und beuge mich über sein Gesicht, ziehe mich aber unwillkürlich wieder zurück, als ich von dem faden Dunst der Verwesung aus seinem halboffenen Mund getroffen werde. Der Zusammenbruch ist in Gang, die Auflösung beginnt von innen. Einen Augenblick lang packt mich die Übelkeit, und mir kommt plötzlich in einem Erinnerungsfetzen der Gestank des Todes in den Sinn, der über Nagorni-Karabach hing, der von einem Erdbeben heimgesuchten Enklave in Armenien, aus der zu berichten ich mich als frisch gebackene Journalistin ganz eifrig gemeldet hatte. Damals liefen wir mit einem Tuch vor dem Mund herum wegen der Fliegen, der ansteckenden Krankheiten und auch um das Gefühl zu vermeiden, den Tod einzuatmen. Ein Hardship-Erlebnis erster Klasse, aber mehr auch nicht, denn damals hatten wir den professionellen Abstand und so viele logistische Probleme und Aufgaben, daß wir abstrahieren konnten und uns selbst und unsere Kollegen einfach mit Eau de toilette überschütteten. Aber hier handelt es sich nicht um die Opfer in einem Katastrophengebiet, das hier ist Alltag mitten in der Zivilisation, und sogar hier stinkt der Tod, wie er es immer getan hat. Ich atme tief ein und beuge mich wieder über ihn. Tupfe den Schweiß Perle für Perle ab. Den Nasenrücken, die Augenbrauen, die Stirn, den Hals und schließlich den Teil der Brust, der aus dem Krankenhaushemd herausschaut und der sich unter dem spärlichen Wuchs grauen Haars schnell hebt und senkt.

Ich kann nicht wissen, ob er irgendein Gefühl der Linderung spürt, da er nicht reagiert. Er ist weit entfernt, und ich bleibe einfach so stehen, über ihn gebeugt, präge mir seine Züge einen nach dem anderen aus nächster Nähe ein. Noch nie war ich ihm so nah, noch nie durfte ich ihn so ungestört betrachten, mich selbst in ihm suchen, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der gleichen Art und Weise entdecken, wie man es bei seinem neugeborenen Kind tut, und mich über den genetischen Abdruck wundern, der in den Windungen einer Ohrmuschel, besonders hervorstehenden Rippen oder einem Leberfleck an gleicher Stelle sonderbarerweise sichtbar wird. Einen solchen Leberfleck finde ich bei ihm, direkt unter dem Schlüsselbein, wo er sich auch bei mir befindet. Entstellend im Sommer, wie ich finde, aber unendlich oft von Paul geküßt.

»Alles in Ordnung?« Die Krankenschwester ist wieder da.

»Unverändert«, antworte ich und lege das Tuch weg. Sie stellt sich auf die andere Seite des Betts. Überprüft den Tropf, der noch dreiviertel voll ist. Wirft ihm einen prüfenden Blick zu.

»Dann warten wir noch mit weiteren schmerzstillenden Mitteln. Aber seine Lippen sind ein wenig trocken, nicht wahr? Ich bringe gleich mal ein bißchen Vaseline!« Ein schnelles Lächeln, und weg ist sie. So schnell, daß sie gegen den Nachttisch stößt, so daß ich ganz automatisch nach der Vase mit den ein wenig schlaffen Rosen greife. Es ist der einzige Blumenstrauß im Zimmer, was mich nicht sonderlich wundert, denn ich glaube nicht, daß der Freundeskreis meines Vaters in Dänemark besonders groß ist. Soweit ich seinen Alltag auf Læsø kannte, hat er im großen und ganzen ziemlich zurückgezogen gelebt. Mal ein paar Worte mit dem Briefträger gewechselt, dem Nachbarn, dem Bienenzüchter zugenickt und seinen Kontakt zu den anderen Kunden in den Läden auf der Ebene der Allgemeinplätze gehalten. Man kann also sagen, daß der verlorene Sohn in einer sehr viel scheueren und zurückhaltenderen Ausgabe heimgekehrt ist als das dröhnende Enfant terrible, das der Insel vor dreißig, vierzig Jahren den Stinkefinger zeigte. Das auffallendste an dem Blumenstrauß ist deshalb, daß er überhaupt hier ist. Daß ihm jemand einen Strauß geschickt hat. Es steckt keine Karte drin. Vielleicht ist er ja von seinem alten Freund, dem Oberarzt. Oder hat etwa das Personal in seiner allumfassenden Fürsorge einen Strauß, der übrig war, hier hineingestellt? Das Erbe eines Verstorbenen. Aber Rosen? Eigentlich ziemlich unpassend. Und außerdem stinken sie, süß und aufdringlich. Ich hätte nicht übel Lust, sie wegzuwerfen, doch anstandshalber muß man sie wohl stehen lassen. Also schiebe ich die Vase nur sicherheitshalber ein wenig weiter auf den schmalen Beistelltisch, der ansonsten von einem Stapel Zeitschriften, Zeitungen und Büchern bedeckt ist. Ich zögere einen Moment, erlaube mir dann jedoch, den Stapel durchzublättern. Die Zeitung Politiken, ein eine Woche altes und bereits vergilbtes Exemplar der spanischen Zeitung El Pais, Dostojewskis Schuld und Sühne und der mittlerweile zerschlissene und mit Klebeband umwickelte Band mit Gedichten von Paul Verlaine, den mein Vater immer bei sich hat. Das war eins der wenigen Dinge, die er mir über seine überstürzte Flucht von zu Hause und seine jahrelange Irrfahrt danach anvertraute, als ich damals in unseren gemeinsamen Tagen auf Læsø versuchte, ihn dazu zu bringen, mir seine Geschichte zu erzählen. Daß Paul Verlaine immer dabei war. In der Brusttasche. Und der Skizzenblock natürlich, sowie ein alter Parker-Füller, den er wunderbarerweise sein ganzes Leben lang behalten hatte. Diese drei Dinge, Verlaine, der Skizzenblock und der Füller, bildeten, soweit ich verstanden habe, seine Lebensleitlinie. Sie waren wichtiger als alles andere. Wichtiger als wir, wichtiger als ich. Und natürlich liegt der Skizzenblock auch hier, an zweiter Stelle im Stapel. Er muß Hunderte davon haben, vollgemalt und immer wieder ausgetauscht gegen einen neuen mit Spirale und leeren Seiten für Notizen, Skizzen und schnell zu Papier gebrachten Gedanken. Denn auch wenn er eigentlich bildender Künstler war, weiß ich, daß er immer vom Wort fasziniert war. Besonders in der Periode der Røde Mor, als »Arbeiter vereinigt euch « und andere revolutionäre Aufrufe und Parolen als Plakatgrafiken bombastisch in Schwarz und Rot ausgeschnitten wurden. Aber ich habe auch ein Bild von ihm in Erinnerung, wo er am Tisch in der Havnegade sitzt, spät in der Nacht, wenn ich, während die anderen schliefen, aufstand, um etwas zu trinken. Er spielte leise seine zerkratzten Jazzplatten und saß mit einem Rotwein im Senfglas, einer glühenden Zigarre in der einen Hand und dem Füller in der anderen da und schrieb, sicher beschwipst, aber ruhiger und mehr in sich selbst ruhend, als ich ihn jemals zuvor gesehen hatte. Manchmal stand ich nur still da und beobachtete ihn, bis ich unentdeckt wieder schlafen ging. Andere Male näherte ich mich ihm vorsichtig und aufmerksam, bis er mich bemerkte und aufsah, mit fernem, verhangenem Blick. Ein einziges Mal nur fragte ich, was er da schreibe. »Gedanken«, antwortete er nur und beugte sich wieder über den Block. Vaters Block war immer unantastbar, selbst Mutter mußte lernen, ihre Neugier zu zähmen. Und sogar bevor er in die Wehrlosigkeit des Komas glitt, hat er dafür gesorgt, eine verschämte Chinakladde und obenauf den Parker-Füller genau auf der Mitte des Notizblocks anzubringen. Wie ein Cherub liegt er dort und hält Unbefugte von dem Heiligen Gral fern. Also schaue ich nicht nach, auch wenn es mir in den Fingern juckt. Ein kleines Buch voll mit Gedanken! Ich weiß ja so wenig.

»So!« Die Krankenschwester ist wieder da, mit einer kleinen Tube in der Hand. »Hier ist Vaseline! Wollen Sie ihn selbst einreiben?« Ich zögere, während ich versuche herauszukriegen, ob sie irgend so ein therapeutisches »Lerne-den-Sterbenden-zu-lieben«-Projekt vorhat, aber eigentlich erscheint sie nur freundlich aufmerksam. Es sieht so aus, als wolle sie mir nicht das Pflegeprivileg der Angehörigen entziehen. Deshalb nehme ich die Tube, sie gibt mir ein paar kurze Anweisungen und entschuldigt sich, daß sie etwas in Eile ist. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich so aufbrause, es ist ganz unnötig, und ich bereue es schon in dem Moment, als ich meine eigene scharfe Stimme höre: »Ja, es ist aber auch einfach zu stressig mit all den Sterbenden!« Sie bleibt abrupt stehen, dreht sich direkt zu mir, überlegt und antwortet schließlich ungekünstelt spontan.

»Das ist es wirklich! Denn jedesmal tut es weh. Besonders, wenn es eigentlich noch zu früh ist«, erklärt sie und läßt ihren Blick einen Augenblick auf dem Bett ruhen, bevor sie wieder ganz professionell wird und zum Essenstablett hinüber nickt. »Haben Sie etwas gegessen?«

Ich schüttle den Kopf. Ich kann nicht. Die Übelkeit kommt wieder hoch.

»Das ist kaltes Essen. Wir können es einfach stehen lassen. Es ist gut, etwas zu essen, auch wenn man meint, man kriegt nichts runter. Und draußen auf dem Flur steht frischer Kaffee. Sie können sich jederzeit welchen holen.« Dann lächelt sie, gleichzeitig entschuldigend und geniert. Ich seufze, als sie draußen ist. Armes Mädchen. What a job! Und dann für den Lohn.

Lange und gründlich wasche ich mir die Hände am Waschbecken im Zimmer, zuerst mit Seife und dann mit Desinfektionsmittel. Ich betrachte mein Spiegelbild mit seinem nebulösen Profil als Hintergrundprojektion. Er ist nicht alt, ich bin nicht jung. Nicht mehr. Jetzt kann ich es deutlich sehen – das gleiche ist mit Birgitte passiert, nachdem sie Maxi bekam. Wir verblassen. Sie saugen uns die Jugend aus, die Kinder. Die Freiheit, die Sorglosigkeit und die ungeahnten Möglichkeiten. Wir bekommen eine andere Schwere, Schatten unter den Augen, hervorstehende Wangenknochen. Die Frische verschwindet. Vielleicht war es das, was er nicht ertragen konnte. Bereits das Alter im Spiegel zu erahnen. Sich selbst als alt zu sehen, wenn er uns sah. Uns, die Forderungen nach Pflege, Kindheit und Jugend stellten. Er, der die Pflicht hatte, zur Seite zu treten und uns Platz zu machen. Zweiunddreißig bin ich. Zweiunddreißig war er, als er wütend mit den Türen schlug und nach einem weiteren Streit mit dieser Frau, die sich nie ganz für ihn entschieden hatte, davonging. Ein dramatischer Abgang, der in der Wiederholung so trivial wirkte und retrospektiv gesehen um so effektvoller war. Denn er kam nie zurück. Ich weiß nicht, wohin er von dort aus gegangen ist. Mutter hat die Geschichte immer dahingehend weitergesponnen, daß er sich sternhagelvoll getrunken hat, in der Stadt herumgeirrt ist, bis er schließlich auf irgendeinem Frachter im Hafen von Tuborg gelandet ist, wo er als blinder Passagier im Frachtraum unterkam, um schließlich nach einer ganzen Zeit mit Kater und schlechtem Gewissen auf offener See aufzuwachen, zu sehr auf die eigene Ehre bedacht oder zu wahnsinnig, um seine Dummheit einzugestehen und darum zu bitten, bei der nächsten Gelegenheit an Land gesetzt zu werden. Deshalb musterte er erst in Rotterdam ab, um sofort wieder auf einem größeren Frachter anzuheuern, der bis nach Suez fahren sollte. Angeblich hat sie die Geschichte vom dänischen Ingenieur des Frachters, der sie nach beendeter Fahrt aufsuchte, weil er als ordentlicher Mann der Meinung war, daß sie über das Schicksal ihres Mannes Bescheid wissen sollte. Auf Læsø konnte ich Vater schließlich auch dazu bringen, die Geschichte in groben Zügen zu bestätigen, mit dem Zusatz, »aber es gab ja sowieso keinen Weg mehr für mich zurück«. Den hätte es wohl schon gegeben, wenn er ihn hätte finden wollen, aber »danach verging halt ein Jahr nach dem anderen«. So gesehen in ihrer grundlegenden Ungeheuerlichkeit eine plausible Geschichte, mit der ich mich genau wie meine Mutter insgesamt zufriedengeben konnte. Aber inzwischen weiß ich ja, daß sie sozusagen nicht wasserdicht ist. Ich brauche mich nur umzudrehen und auf den Nachttisch zu sehen, um mich daran zu erinnern, daß das alles eine einzige große Lüge war. Der Streit mit Mutter war nur ein Vorwand. Eine einstudierte Szene. Vaters Flucht war geplant. Denn wie er mir selbst erzählt hat – Verlaine, der Block und der Füller lagen in seiner Tasche. Und im Verlaine-Buch lag der Paß.

»Son of a bitch!« zische ich in plötzlich aufflammender Wut, nehme meine Handtasche und eile schnell auf den Flur. Soll er doch sterben oder nicht. Ich muß einen Platz finden, wo ich rauchen kann. Mein Zigarettenkonsum hat im Vergleich zu früher heute ein zivilisiertes Niveau erreicht, und ich gestatte mir nur noch in absoluten Notsituationen zu rauchen, wofür diese jedoch sehr großzügig definiert werden. Eine solche liegt zweifellos vor. Meine töchterlichen Gefühle für den Sterbenden sind im Augenblick in ein kühles Nichts verpufft, in ein Vakuum ohne Resonanz, eine ungerichtete Sehnsucht, die flach über dem Boden herumsaust wie ein schnell abbrennender Knaller.

Ich habe keine Ahnung, wie weit ich laufe, um eine Zone mit Raucherlaubnis zu finden. Schließlich bleibt mir nur der Aufenthaltsraum der Abteilung, wo die Krebsfrau von heute morgen mit einer Kippe zwischen ihren Vogelkrallen sitzt und in die Luft starrt. Ein grotesker und erschreckender Anblick, aber dennoch schiebe ich die Tür auf und gehe unerschrocken hinein. Ich setze mich so weit von ihr entfernt hin, wie der enge Platz es zuläßt, und gebe einer Camel endlich das ersehnte Feuer. Ziehe dann zu kräftig daran, so daß ich husten muß, worauf die Frau sich zu mir umdreht, als würde sie erst jetzt meine Anwesenheit bemerken.

»Sie sind keine Patientin hier«, stellt sie schroff und langsam fest, aber mit einer ausgebildeten Stimme, die keine Spur nordjütländischen Dialekts verrät. Ganz im Gegenteil, sie muß Kopenhagenerin sein.

»Angehörige«, bringe ich nach einem Hustenanfall heraus.

»Du bist seine Tochter, nicht wahr? Zimmer fünf?« fragt sie, und als ich zögere, fügt sie noch eine zusätzliche Erklärung dran. »Vom Maler. Skaarup. Ich kannte ihn früher mal. Deine Mutter auch. Damals, als wir alle noch lebten!« Sie entblößt die Zähne zu einem Lächeln, das verblüffend strahlend erscheint. Als hätte es immer noch die Kraft, den Tod wegzuküssen. Dann reicht sie mir ihre Klaue.

»Hannah Rubin, Schauspielerin am Aalborg Theater.«

Ich nicke und stelle mich vor. Jetzt erkenne ich sie wieder. Mein Gott! Daß der Tod so unbarmherzig sein kann. Vor gar nicht langer Zeit war sie eine der schönsten Frauen Dänemarks. Aufrichtig beneidet von meiner Mutter, als sie aus Kopenhagen verschwand und ihrem Intendanten- und Direktorenmann nach Aalborg folgte. Und dort blieb sie, auch nachdem er tragischerweise vor ein paar Jahren bei einem Autounfall bei Glatteis umgekommen war. Mutter war auf der Beerdigung, wie mir jetzt einfällt, und erzählte mit Tränen in der Stimme von »der großen Trauer der armen Hannah«. Damals hat sie sogar einmal ihr theatralisches Pathos zu Recht benutzt. Wenn es die Trauer war, die Hannah Rubin verzehrt hat, dann muß sie sehr groß gewesen sein.

»Du siehst ihm ähnlich, nein, wirklich«, sagt sie nachdenklich. »Ja, es ist wirklich schade«, fährt sie dann ohne Übergang fort. »Eigentlich hätten wir uns doch gut miteinander amüsieren können. Hier, meine ich. Die Leute sind zwar wirklich reizend, aber es gibt nicht so viele von unserer Sorte. Wir haben ihn sogar einmal in Spanien besucht. Er hat uns ein Aquarell von der Mühle geschenkt, ich habe es noch zu Hause. Leider ist es inzwischen von der Sonne etwas verblichen. Denn eigentlich war er doch wirklich ein ausgezeichneter Maler. Er hätte nur selbst mehr dran glauben müssen. Es ist schwer, ohne Glauben Kunst zu schaffen. Unmöglich, würde ich sogar behaupten. Aber das verstehen nur wenige. Wir hatten einen herrlichen Nachmittag dort unten auf dem Berg, wir vier. Henrik und ich haben oft darüber geredet. Und daß wir noch einmal dorthin fahren wollten. Man konnte das Meer sehen, und sie hatten überall Olivenbäume da. Oder heißt es Büsche? Olivenbüsche?«

Plötzlich dreht sie den Kopf und sieht mich mit abwartendem Blick intensiv an, oder besser gesagt, sie sieht durch mich hindurch, und ich rutsche unangenehm berührt auf meinem Platz hin und her, streife die Asche von meiner Zigarette und denke, daß sie eindeutig auf einem Trip sein muß. Morphin oder Peditin oder Methadon oder was man heutzutage im Vorhof des Todes so verabreicht.

»Bäume«, sage ich, um aus der Klemme zu kommen. »Olivenbäume.«

»Bäume«, wiederholt sie und wendet ihren Blick ab, als täte es weh, das Wort nur auszusprechen. »Weißt du«, sagt sie dann, »es gibt so viel, wovon man Abschied nehmen muß. Zum Beispiel von Bäumen. Liebst du jemanden?«

»Wie bitte?« frage ich überrumpelt, während sie ihre Zigarette im Aschenbecher zerkrümelt.

»Liebst du jemanden? Ich glaube, ich würde das hier nicht aushalten, wenn ich nicht geliebt hätte. Darf ich eine von deinen?« fragt sie daraufhin und zeigt auf meine Camel. »Eigentlich bin ich ja zu light gewechselt, aber jetzt ist es auch schon egal.« Ein dahinhuschendes Lächeln.

Ich schiebe ihr ein wenig zu schwungvoll die Packung zu. »Du kannst sie alle haben. Ich habe noch eine Packung«, lüge ich, und das durchschaut sie sicher, fängt aber die Packung auf und läßt sie in dem Moment in der Tasche ihres Bademantels verschwinden, als die Tür aufgeht, die Krankenschwester mich entdeckt und mir mitteilt, daß jemand für mich am Telefon ist.

»Ihr Mann!« sagt sie, und ich nicke, erleichtert darüber, daß ich Hannah Rubin und ihrer morbiden Klarsicht entkomme. Ich werfe ihr ein entschuldigendes Lächeln zu, das Leben muß ja trotz allem weitergehen, und ich bin schon fast an der Tür, als mich ihr Pfeil mit zitternder Präzision trifft: »Dein Mann? Dann liebst du also jemanden?«

Zwei Fragen, die ich lieber überhöre, während ich den Flur zum Schwesternzimmer hinuntereile und dort den Hörer nehme. »Warum hast du nicht angerufen?« fragt Paul als erstes.

»Weil ich am verdammten Sterbebett meines Vaters sitze! Gibt es sonst noch was?« frage ich wütend und starre die Pinnwand vor mir an, an der der Dienstplan der Krankenschwestern hängt. Am liebsten würde ich losheulen. Es fällt mir schwer, es nicht zu tun, während mir plötzlich ein Schlager-Refrain einfällt: »Nimm meine Hand, mein Freund ...«

»Tes, o Scheiße! Ich konnte nur nicht begreifen ... Du bist so schnell abgehauen ... Wie sieht es aus?«

»Er stirbt«, sage ich lakonisch und lese die Namen auf dem Dienstplan der Reihe nach. Anita, Trine, Susan und Vertretung. Montag, Dienstag, Mittwoch. Tagdienst, Abenddienst, Nachtdienst. EU – das muß Erziehungsurlaub bedeuten.

»Wann kommst du zurück?« fragt er.

»Du meinst, du willst wissen, wann du nach Odense fahren kannst?«

»Tes, nun sei doch vernünftig! Du weißt doch, wie es ist!«

»Er wird bald sterben«, antworte ich. »In der Tiefkühltruhe sind Fischstäbchen. Gib Zarina einen Kuß von mir und denke dran, sie auf Läuse anzugucken. Ich werde versuchen, heute abend anzurufen«, sage ich und lege auf, ohne mich zu verabschieden. Albern. »Nimm meine Hand, mein Freund ...«

Im Laufe des Nachmittags kommt die Sonne richtig durch, und die Hitze vermischt sich mit den Ausdünstungen von Schweiß und Tod, sowohl von mir als auch von meinem Vater. Ich habe die butterblumengelbe Gardine vorgezogen, aber das Fenster einen Spalt weit offenstehen lassen, um ein bißchen Bewegung in die im Zimmer stehende Luft zu bringen. Außerdem haben die fernen Geräusche der Rush-hour in der Provinz etwas Beruhigendes an sich, wie sie in regelmäßigen Schüben zu mir heraufdringen, in festen Kadenzen, festgelegt von den Ampelphasen. Menschen sind auf dem Heimweg von der Arbeit. Andere holen die Kinder ab, kaufen ein, gehen zum Postamt. Wieder andere eilen an der Silhouette des Krankenhauses vorbei, ohne ihm einen einzigen Gedanken zu widmen. Sie sind von ihrem Alltag und ihren Plänen für den kommenden Abend so in Anspruch genommen, daß sie ihre eigene Sterblichkeit nur wie einen leichten Schauder registrieren, einen Schatten auf der Windschutzscheibe, wenn sie da unten bei Rot halten müssen und dadurch ganz zufällig ihr Blick in diese Richtung schweift. Vielleicht haben einige selbst schon hier gesessen. Im selben Zimmer, am selben Bett, mit dem gleichen, unvermeidlichen Abschied vor sich. Einem Abschied, der immer näher kommt, während der Nachmittag vergeht und ich das Wasser in der Schale wechsle, das Tuch darin eintauche, es auswringe und immer wieder den kalten Schweiß vom Gesicht des Mannes abtupfe, von dem ich so schrecklich wenig weiß. Zum Beispiel habe ich nie von der Mühle gehört, den Olivenbäumen und dem Blick aufs Meer. Was für ein Leben hat er dort gelebt? Wo hat er eingekauft, wo hat er gegessen, was hat er getrunken? Was hat er gedacht, wenn die späte Nachmittagssonne schräg auf die Mauer aus Findlingen fiel und selbst die geschlossenen Fensterläden die Hitze nicht mehr abhalten konnten? Saß er einfach nur auf einem Stuhl im Schatten, rauchte und trank billigen Wein, eine Flasche nach der anderen, die Nächte hindurch, sein Leben lang? Zeichnete er, schrieb er, malte er? Taumelte er peinlicherweise herum? Machte er Lärm? Erinnerte er sich, hatte er alles vergessen? Weinte er oder lachte er, wenn die Hunde, aufgestachelt von ihrem eigenen Echo, zwischen den Bergen anfingen zu kläffen? Liebte er? Wen liebte er?

»Vater!« rufe ich in einem impulsiven Versuch, Kontakt aufzunehmen. Verzweifelt und vergeblich. Ich kaue auf meiner Lippe, aber da setzt seine Atmung aus, während seine Augenlider langsam hochrutschen und der Blick seiner dunklen Augen für den Bruchteil einer Sekunde oder eine Ewigkeit auf mir ruht oder durch mich hindurchsieht, aus einer anderen, fernen Welt, bevor sie wieder zufallen und die Atmung mit einem Seufzer erneut einsetzt.

»Vater!« rufe ich verzweifelt, zerre an seinem Hemd, um ihn dazu zu bringen, hier zu bleiben, nur für einen Augenblick, damit ich sicher sein kann, daß er mich gesehen und wiedererkannt hat, nur ein einziges Mal, nur ein allerletztes Mal.

»Ist er tot?« Die Stimme klingt kindlich und verlassen, nüchtern und voller Angst, und ich habe sie das letzte Mal so gehört, als sie elf oder zwölf und noch ein kleines Mädchen war, das sich bemühte, sich selbst etwas vorzumachen.

»Kiki!« rufe ich ungläubig aus und traue meinen eigenen Augen nicht.

»Ist er tot?« wiederholt sie mit dem brutalen Mut, den Realitäten ins Auge zu sehen, den ich immer an ihr bewundert habe.

»Nein«, antworte ich und umarme sie, erleichtert und froh darüber, daß sie hier steht und meine Schwester ist, seine jüngste Tochter und die einzige auf der ganzen Welt, mit der ich das hier teilen kann.

»Ich habe mit Paul geredet. Er hat gesagt, es wäre kurz davor. Sie haben für mich ein Flugzeug fünf Minuten aufgehalten. Ich mußte einfach kommen«, sagt sie und bricht plötzlich in Tränen aus, schluchzend, das Gesicht an meiner Schulter.

»Ja«, nicke ich und streichle ihr über ihre sommerlich hellen Haarstoppeln. »Du mußtest kommen. Ich hätte dich noch mal anrufen sollen.«

So stehen wir eine ganze Weile da, dicht beieinander, wir Schwestern, bis sie sich frei macht, ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche ihrer engen Jeans zieht und sich die Nase putzt. Noch ein einzelner Schluchzer, das Kinn trotzig vorgeschoben, dann wendet sie sich dem Bett zu und läßt das Bild auf sich wirken wie etwas, das sie bisher verleugnet hat – das Bild des noch existierenden Vaters. Ich habe keine Ahnung, was in ihr vorgeht, während sie unbeweglich vor der Gestalt steht, von der sie nur noch eine schwache Erinnerung haben kann, weil sie ja noch so klein war, als er aus ihrer Kindheit verschwand und den Keim zu der Schroffheit gelegt hat, die sie noch in den letzten Jahren stur an der Behauptung festhalten ließ, daß ihr Vater schon lange tot sei. Zumindest auf symbolischer Ebene. In den ersten Jahren nach seinem Verschwinden suchte sie Zuflucht in irgendwelchen spektakulären Pippi-Langstrumpf-Geschichten, erzählte, er sei Seemann, würde über die sieben Meere fahren und eines Tages mit einer Kiste voll mit Goldmünzen und einem Affen auf der Schulter heimkehren. Später, als die Lebenszeichen und Ansichtskarten ausblieben und ein Weihnachtsfest nach dem anderen verging, ohne daß er als Weihnachtsmann ins Zimmer trat, hatte er ihren Schilderungen nach in der Biskaya Schiffbruch erlitten, war von Kannibalen auf einer Südseeinsel aufgefressen oder bei einer Messerstecherei in Alexandria umgebracht worden. Die Anregungen dazu bekam sie aus den klassischen Jungenbüchern, die sie auf dem Dachboden der Forstmeisterei gefunden hatte, und während Onkel Erik sich damit amüsierte, ihren Geschichten immer weitere phantastische Details hinzuzufügen, zerrissen sie Tante Mo das Herz. Und das um so mehr, als sie sie nach einer feurigen Prügelei auf dem Schulhof verbinden und mit Jod bepinseln mußte, wo Kiki in regelmäßigen Abständen Amok lief, wenn sie wegen der Märchen über ihren Vater geärgert und verhöhnt wurde. Wobei ich ihr nur selten zu Hilfe kam, im Gegenteil, wenn das Gerücht die Runde machte, daß Kiki mal wieder verprügelt wurde, versteckte ich mich lieber auf dem Klo. Dafür versuchte ich sie anzuflehen, zu zwingen oder zu bestechen, damit sie endlich ihren hoffnungslosen Traum aufgebe, aber sie hielt hartnäckig an ihm fest, bis sie in die Klauen so eines frisch ausgebildeten Schulpsychologen kam, der wollte, daß sie malte und erzählte. Da klappte Kiki zu, sprach nie wieder von Schiffbruch oder Negerkannibalen, ließ die Provokationen der anderen Kinder an sich abprallen und hatte offensichtlich mit sich selbst abgemacht, ihren Vater nunmehr für tot zu erklären. Und damit basta.

Wie und wie oft das Gespenst dennoch in ihr herumgegeistert ist, kann ich nicht sagen, aber als ihre Lippen trotz ihrer erzwungenen Samuraikontrolle erneut zu zittern beginnen, weiß ich, daß der Eisblock, in dem es eingekapselt war, nicht mehr durch und durch gefroren ist.

»Kann er was hören?« fragt sie. »Ich meine, kann er uns hören?«

»Vielleicht. Der Hörsinn ist das letzte, was verschwindet«, erkläre ich. »Du kannst gern mit ihm sprechen.«

Sie nickt stumm und bleibt unverwandt stehen. Die Hände auf das Fußende des Bettes gestützt.

»Arschloch«, sagt sie dann. Laut und deutlich, direkt an den Sterbenden gewandt. »Du verfluchtes, stinkiges Arschloch!« Ich unterdrücke einen erschrockenen Ausruf, und mir scheint, als würde sein Atem in einem jähen Seufzer stocken, bevor er angestrengt wieder einsetzt.

»Das stimmt doch, das ist er doch!« sagt sie und wendet sich entrüstet mir zu, während sie sich wieder die Tränen mit einem knabenhaften Handrücken wegwischt.

»Mußtest du ihm das ausgerechnet jetzt sagen?« frage ich leise.

»Ja, entschuldige bitte, wann denn dann?« Sie sieht mich trotzig an. »Bald ist es zu spät, und er soll es verdammt noch mal wissen!«

»Warum eigentlich? Er weiß es doch!« erwidere ich und werfe einen schnellen Blick aufs Bett. Wieder dieses Stocken im Atemrhythmus.

»Wirklich?« fragt sie rhetorisch. »Hat er sich entschuldigt? Hat er dich um Verzeihung gebeten? Hat er überhaupt einmal eingesehen, was er gemacht hat?«

»Was hat er denn gemacht?« frage ich, plötzlich an der Schwere des Verbrechens zweifelnd. Wenn es denn überhaupt stattgefunden hat.

»O Scheiße, Therese! Du bist doch immer die Kluge? Warum redest du dann jetzt so einen Mist? Ist es etwa in Ordnung, seine Kinder in der Art und Weise im Stich zu lassen? Einfach die Tür hinter sich zuzuschmeißen, ohne sich umzusehen? Na?«

»Wer sagt denn, daß er nicht zurückgeguckt hat?« sage ich jetzt, in meiner Rolle der Verteidigerin in Fahrt gekommen.

»Das hat er verflucht noch mal nicht! Wir haben jahrelang nichts von ihm gehört!«

»Aber das bedeutet doch nicht, daß er uns vergessen hat, Kiki! Er hat uns auch vermißt! Er hat die ganze Zeit an uns gedacht. Die ganzen Jahre lang!«

»Woher weißt du das?« fragt sie. »Hat er das gesagt

»Nein«, erwidere ich ausweichend und spüre, wie sich die heiße Welle von der Herzregion aus, wo der Schuß eingedrungen ist, im ganzen Körper ausbreitet. Er hat es nicht gesagt. Nicht so. Nicht direkt.

»Und woher weißt du es dann?« Kiki läßt nicht locker, und diesmal bin ausnahmsweise ich die Kleine, während sie die Große darstellt.

»Seine Kinder kann man nie verlassen«, behaupte ich, ausnutzend, daß ich eine Erfahrung habe, auf die ich mich berufen kann, die sie nicht hat. »Vielleicht kann man sie physisch verlassen. Aber sie folgen einem überall hin.«

»So ein Scheiß!« faucht sie. »Männer können das. Sie konnten es immer schon.«

Dann dreht sie sich um und verläßt das Zimmer, während ich mit einer ganz neuen Meinung von meiner Schwester zurückbleibe. Sie ist nicht mehr klein. Kiki ist erwachsen geworden. Und beinahe ohne daß ich es mitbekommen habe.

»Kiki!« rufe ich und möchte am liebsten hinter ihr herlaufen, um sie in den Arm zu nehmen. Sie darf nicht wieder gehen, nicht jetzt schon. Ich schaffe es nicht länger, hier allein zu bleiben, aber ich traue mich nicht, das Zimmer zu verlassen, und klingle statt dessen nach der Schwester, um irgendeine Form von Hilfe zu bekommen.

»Ja?« fragt die Krankenschwester, als sie herbeigeeilt kommt. »Ist was nicht in Ordnung? Hat er Schmerzen?«

»Nein«, sage ich. »Aber irgendwas ist mit der Atmung. Sie wird immer angestrengter. Der Rhythmus ist anders geworden.«

Sie nickt ernst.

»Ja, das ist so. Die Pausen werden immer länger werden und schließlich ...«

Sie breitet die Arme in einer kleinen, unbestimmten Bewegung aus. Es ist unnötig, den Satz zu beenden.

»Dann ist es bald soweit?« frage ich.

Die Krankenschwester nickt traurig. »Es wird nicht mehr lange dauern. Nur noch wenige Stunden.«

»Aber es sieht doch nicht aus, als müßte er leiden, oder?« Nein, es sieht nicht so aus, als müßte er leiden. In keiner Weise. Vielleicht hatte Kiki doch recht. Vielleicht liegt er selbst jetzt nur da und ist in keiner Weise von den Sünden der Vergangenheit belastet.

Die Krankenschwester wirft einen schnellen Blick auf ihre Uhr. »Der Spätdienst ist schon gekommen, also ... Ja, ich weiß selbst sehr gut, daß es für den Angehörigen irritierend ist, wenn wir mitten im Sterbeprozeß das Personal wechseln. Aber ... der Kindergarten schließt. Deshalb ...«

Sie drückt zuerst seinen Arm leicht, danach streift sie auch meinen Arm, und dann ist sie mit einem leichten »Machen Sie es gut!« draußen. Aus irgendeinem Grund ist ihr Abschied mit diesen Gesten kaum erträglich, und als Kiki Gott sei Dank kurz darauf wieder hereinkommt, bin ich es diesmal, die schluchzend dasteht.

»Entschuldige«, murmelt sie und wirft ein paar Zeitschriften und Tüten mit Süßigkeiten auf den Tisch. Sie muß beim Kiosk gewesen sein. So war das immer mit ihr. Junkfood jeder Art, doch nie die echten Drogen, das war schon früher ihre Nervenmedizin.

»Ist schon in Ordnung«, sage ich. »Hauptsache, du bleibst hier.«

Sie nickt und setzt sich auf den Stuhl. »Selbstverständlich.«

»Es wird nicht mehr lange dauern. Nur noch wenige Stunden, sagen sie.«

Sie nickt wieder, schlägt eine Zeitschrift auf und reißt mit den Zähnen eine Tüte Weingummis auf, während ich zur Wasserschale zurückkehre, das Tuch auswringe und meine Pflege des Sterbenden wiederaufnehme. Und so widmen wir uns wie zwei Schwestern in einem Tschechow-Drama unserer jeweiligen Beschäftigung, während die Stunden verrinnen oder die Zeit still steht und der Tag unmerklich in die Dämmerung und den frühen Abend hinübergleitet. Ab und zu lösen wir einander wortlos ab, sie steht auf vom Stuhl, setzt sich an den Bettrand und nimmt das Tuch, die Vaseline oder wechselt das Wasser, während ich auf dem Stuhl sitze und zerstreut die Herbsthochzeiten des Jet-set Revue passieren lasse, die großen Roben des Königshauses und den letzten Klatsch von der Fernsehfront. Paul ist natürlich auch dabei – in einem Bericht darüber, wie bekannte Leute ihre Sommerferien verbracht haben. Auf dem Foto hat er Zarina an der Hand, und die beiden essen jeder ein Riesensofteis – die Kulisse bildet ganz offensichtlich Tivoli mit dem chinesischen Turm im Hintergrund. Beide sind braun von der Sonne, lächeln leicht und strotzen vor Selbstzufriedenheit. Ganz offensichtlich genießen sie einen Tag ohne Mutter, die ja auch nur sauer wäre und nie akzeptiert hätte, daß die Familie ihr Privatleben zur Schau stellt, indem sie für den Fotografen posiert. Das Foto ist groß zwischen den anderen einspaltigen und zweispaltigen Berichten plaziert, und das kann ich gut verstehen, denn sowohl Vater als auch Tochter haben genau das, was die modernen Stars ausmacht: den Siegerlook, dieses unwiderstehliche Charisma, das Kameralinsen und Popularitätsbarometer zum Schmelzen bringt. Manchmal beunruhigt es mich, daß meine Tochter so offensichtlich von innen heraus strahlend geboren wurde, aber im Augenblick werde ich selbst von dem Bild eingefangen und spüre diesen Sog, der von ihr ausgeht, die Sehnsucht nach ihren klebrigen Fingern, dem runden Körper und den pummeligen Füßen in den bunten Sandalen. Adorable, wie sie es in Hollywood nennen würden. Ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, wie meine Mutter, die Diva, es nennt.

Wir reden nicht viel, Kiki und ich. Warten nur, fallen in uns selbst zurück, sehen ihn an und horchen auf das beschwerliche Zischen seiner Atemzüge. Halten selbst die Luft an und zählen, wenn wir lange auf den Seufzer warten müssen, der uns sagt, daß er noch einmal wieder aufgetaucht ist wie ein Wal aus der Tiefe, um mehr Sauerstoff für den nächsten Tauchgang zu holen.

»Von wem sind denn die Blumen?« fragt Kiki irgendwann. Und ich antworte, daß sie vielleicht jemand vom Personal reingestellt hat. Aus einem anderen Zimmer.

»Kann man die nicht wegtun?« fragt sie und steht übelgelaunt auf. »Die stinken doch. Das ganze Zimmer stinkt!«

Aber sie läßt sie stehen. Weiß genau wie ich, daß der Gestank nicht von ihnen kommt. Nicht dieser Gestank.

Die Abendschwester kommt herein, wechselt den Tropf und fühlt den Puls. Sehr still und zurückhaltender als ihre Kollegin. Der Oberarzt, Niels Holmstrup, taucht in Zivil auf, in langer Lederhose und einem eleganten Sweatshirt mit Polokragen. Er stellt sich Kiki vor, ist kurz davor, schon im voraus zu kondolieren, steht eine Weile da und lauscht und legt schließlich seine Hand auf die seines Jugendfreunds.

»Tja«, sagt er. »Alter Kumpel ...«

Dann sammelt er sich und bestätigt das, was wir bereits wissen. Daß es bald vorbei sein wird. Leider hat er jetzt einen Termin, aber er gibt uns einen Zettel mit seiner Handy-Nummer und hinterläßt ein »Ruft auf jeden Fall an« ...

Wir sind wieder uns selbst und diesem aussichtslosen Warten überlassen, bei dem nur kleine Zeichen das langsame Fortschreiten der Zeit signalisieren. Die glühende Scheibe der Sonne hinter der zugezogenen Gardine. Das laute Singen der Vögel in der einsetzenden Abendstille. Das Schlagen einer Autotür auf dem Parkplatz. Ab und zu sehe ich auf die Uhr. Zarinas Bettzeit. Die Nachrichten. Zarinas Schlafenszeit. Das Fernsehjournal. Wieder Nachrichten. Und dann die letzten Abendstunden, in denen ich sonst immer die Wäsche zusammenlege, eine neue Maschine anstelle, Birgitte anrufe. Schließlich die kostbare Stunde, in der ich eigentlich schon im Bett liegen sollte, aber manchmal, vor allem, wenn Paul in Odense ist, mir noch eine Stunde auf dem Sofa stehle, mit einem Cognac, einem Stapel internationaler Zeitschriften und zwei Wochen alter Sonntagszeitungen oder ein paar Videobändern, die ich zum Durchsehen mit nach Hause genommen habe. Wenn ich allein zu Hause bin, kommt es vor, daß ich dort auf dem Sofa einschlafe, um erst mitten in der Nacht verwirrt und gerädert wieder aufzuwachen. Wenn Paul zu Hause ist, schläft er oft auf dem Sofa ein, und ich bin es, die sich ins Bett schleicht, ohne ihn aufzuwecken. Aber ich decke ihn immer mit Tante Mos alter Wolldecke zu – eines der wenigen Dinge mit Gefühlswert, die ich in unser genau geplantes Heim mit eingebracht habe. Er macht mir jedesmal Vorwürfe, daß ich ihn dort habe schlafen lassen. Er will bei mir liegen, sagt er dann anklagend. Er braucht es, mich zu fühlen. Seine Frau zu fühlen. Ich weiß das. Aber ich bin zu müde. Bekomme von der Nähe klaustrophobische Gefühle. Mir genügt es, ich selbst zu sein, in Ruhe gelassen zu werden, meine eigenen Konturen nach einem Tag voller Anforderungen an mich zu fühlen. Deshalb ist es für mich eine Erleichterung, wenn er eingeschlafen ist und wir damit den Konflikt vermeiden. Ausgesprochen oder unausgesprochen. Und deshalb legt er sich manchmal zu Zarina, wenn er nachts aufgewacht ist. Dann darf ich morgens allein aufwachen und gehe ins Kinderzimmer, um Vater und Tochter in einer verschlungenen Symbiose vorzufinden, als hätten sie sich extra so drapiert, um mich zu strafen.

Als ich darüber nachdenke, kommt mir plötzlich in den Sinn, daß ich wohl nie bei meinem Vater geschlafen habe. Vielleicht machte er sich nichts aus der Nähe. Oder er wollte keine Kinder im Bett haben. Das war ja vor der Zeit der neuen Väter. Vielleicht interessiert es ihn nicht einmal, daß wir jetzt hier sitzen. Jeder auf einer Seite des Betts, seine Hände in unseren. Das Licht ist inzwischen verschwunden und die Dunkelheit hat den weißen Koloß umhüllt. Wir haben nur die Nachttischlampe eingeschaltet und den Schirm nach hinten geschoben. Er hat eine weitere Grenze überschritten, wir wissen es beide, auch daß er jetzt auf dem Weg in die allerletzte Phase ist. Die Pausen zwischen den Atemzügen werden immer länger. Wir zählen, inzwischen laut, miteinander. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ... Seine Augenlider rutschen immer häufiger hoch, so daß die milchigen Augäpfel zu sehen sind. Der Halspuls pocht wie der eines Vogeljungen unter der dünnen Haut. Die Temperatur fällt und die Blässe wird tiefer. Er hat angefangen, leise zu röcheln, und unruhige Wellen huschen über sein Gesicht.

»Meinst du, daß er Angst hat?« flüstert Kiki.

Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht hat er Angst. Vielleicht hat er deshalb noch nicht losgelassen. Ich stehe auf. Vielleicht müssen wir ihn auf den Weg schicken. Müssen wir ihm beim Abschied helfen.

»Vater«, sage ich und räuspere mich. Ich beuge mich über sein Ohr, ohne seine Hand loszulassen.

»Vater, du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind bei dir, Kiki und ich. Du kannst jetzt ruhig loslassen. Du mußt nicht länger hierbleiben. Wir kommen schon zurecht.«

Meine Stimme wird belegt, ich lehne meine Stirn an seine Schläfe, warte, um den Mut aufzubringen, das zu sagen, was ich sagen will. Kiki anzusehen traue ich mich nicht, aber ich spüre ihre Konzentration wie ein elektrisches Zittern im Zimmer. Jetzt ist es soweit. Nun soll es sein.

»Vater«, fahre ich schließlich fort. »Wir lieben dich. Und wir verzeihen dir. Alles. Laß ruhig los!«

Ich bleibe stehen, meinen Kopf gegen seinen gelehnt. Kiki ist ganz still. Vielleicht habe ich mein Mandat überschritten. Schließlich hat sie ihm nicht verziehen. Aber dann steht sie auch auf, stellt sich an sein linkes Ohr und fängt an zu singen, fast wie ein rezitierendes Flüstern.

»Die Sonne ist so rot, Vater, und der Wald wird so schwarz verhangen. Jetzt ist die Sonne tot, Vater, und der Tag ist vergangen ...«

Das ganze alte Kinderlied, alle Strophen, singt sie, während ich die Tränen fließen lasse über die allzu späte Erlösung meiner kleinen Schwester, die allzu frühe Abreise meines Vaters und den endgültigen Abschied, in dem wir uns befinden. Es gibt keinen Aufschub mehr, nichts mehr, was verändert werden könnte. Keine andere Hoffnung als die, einander jetzt in der allerletzten Stunde noch erreichen zu können.

Kikis Gesang klingt aus, und ich muß ein Schluchzen unterdrücken, während sie ihn mit einem vorsichtigen, unsicheren Lächeln am Ohrläppchen zupft.

»Okay, das war’s dann. Aber wehe, du schickst uns keine Postkarte, du Schlitzohr!«

Ich muß kichern, und vielleicht ist es wirklich ein Lächeln, das in seinen Mundwinkeln zu sehen ist, bevor er wieder untertaucht. Diesmal bleibt er lange fort. Es gelingt uns, bis zehn zu zählen, bevor er prustend wieder hochkommt. Und noch einmal. Und ein weiteres Mal. Aber ich habe gesehen, daß der Puls jedesmal zwischen den einzelnen Tauchzeiten schwächer wird. Und beim vierten Mal bleibt er unten.

»Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-neun-zehn-elfzwölf – NUN KOMM SCHON!« schreit Kiki plötzlich verzweifelt, während ich eine Fingerspitze auf den Puls lege und spüre, wie das Leben sachte ausklingt. Zum Schluß ist kein Puls mehr zu fühlen.

»Es ist vorbei«, sage ich halb erstickt in einem schalldichten Vakuum von Unwirklichkeit und drücke ihm vorsichtig die Augenlider ganz zu, während Kiki verzweifelt meinen Blick mit einem sich weigernden Kopfschütteln sucht. Dann begreift sie und wirft sich schluchzend über seinen Brustkasten, als könnte sie sein Herz damit zwingen, wieder zu schlagen.

»Vater, verflucht noch mal!« weint sie, das Gesicht in seinem Hemd, und ich lasse sie weinen, bis ich doch zur anderen Seite des Betts gehe und sie unter den Achseln hochziehe.

»Du Arschloch, Scheißkerl, dummes Schwein!« schluchzt sie und hört gar nicht damit auf, während ich sie tröste, streichle und fest an mich drücke, bis sie endlich zur Ruhe kommt und wir uns eng nebeneinander setzen und ihn ansehen.

»Ich dachte, er würde zum Schluß noch mal aufwachen«, schnieft sie. »Das machen sie im Film immer.«

Aber das hier ist nicht Paramount Pictures, sondern ein dänisches Provinzkrankenhaus, wo die Abläufe routiniert und effektiv vierundzwanzig Stunden am Tag abschnurren. Nachdem wir also geklingelt haben, gehört er ihnen. Und wir überlassen ihn dem Personal in einer Art konfusem Schwindelgefühl, während wir mit neuem Kaffee im Aufenthaltsraum plaziert werden, solange »er fertiggemacht wird« und ein Arzt kommt und die Sache abschließt. Mit sehr viel Aufmerksamkeit und Rücksicht, wenn man es genau betrachtet, aber das ändert ja nichts an der konkreten Tatsache, daß Verstorbene für sie bereits Vergangenheit und Routine sind. Ein potentielles Forschungsobjekt, was uns klar wird, als der Arzt nach einigen ausweichenden Floskeln zu der Frage kommt, ob wir eine Obduktion erlauben.

»No way!« kommt es kategorisch von Kiki. »Er soll nicht aufgeschnibbelt werden!«

Der Gedanke an das Geräusch einer Knochensäge, die durch Mark und Bein geht, läßt auch in mir alle Eingeweide in Bewegung kommen. Aber dennoch lege ich eine beruhigende Hand auf ihren Arm und frage, ob es denn besondere Gründe für eine Obduktion in diesem Fall geben würde.

»Also«, nimmt der Arzt sich räuspernd Anlauf. »Das Besondere an dem Fall ist eigentlich, daß die Krankheit Ihres Vaters vermutlich lebensstilbedingt ist.«

»Lebensstilbedingt!« keift Kiki. »Er hat gequalmt und gesoffen! Das meinen Sie doch damit, oder? Ist das was, worüber Sie Ihre Doktorarbeit schreiben können?«

Der Arzt rutscht auf seinem Stuhl hin und her, während ich sie beschwichtige. Ihre Stimme ist kurz vorm Überschlagen, jeden Augenblick kann sie wieder in Tränen ausbrechen, deshalb klammere ich mich lieber an die Sachlichkeit und sage dem Arzt, daß wir darüber gern noch einmal allein nachdenken möchten.

»Aber natürlich«, sagt er und überläßt uns resigniert uns selbst. Er weiß sicher genauso gut wie ich, daß die Entscheidung bereits getroffen ist. Ich persönlich bin dafür, daß die Wissenschaft Zugang zu dem entseelten Körper bekommt, aber ich bringe es nicht übers Herz, Kiki zu überreden. Wenn dieser Abend an seinem Sterbelager das einzige intensive Bild in ihrer Erinnerung ist, das sie von ihrem Vater behalten wird, dann soll es nicht von der Vision eines aufragenden großen Zehs auf einer kalten Metallpritsche zerstört werden.

Und als wir wieder ins Zimmer gerufen werden, wo er gewaschen, rasiert und gekämmt in einem sauberen Krankenhaushemd mit einer Halsbinde unter einem weißen Laken liegt, bin auch ich darüber erleichtert, daß wir ihm seine Ruhe lassen. So, als Schlafender definiert, können wir ihn gut aus unseren Gedanken entlassen.

»Fühl mal! Er ist noch warm!« flüstert Kiki und legt ihre Hand um seine. Das stimmt, der letzte Rest an Körperwärme liegt immer noch wie ein Gruß unter der Haut.

»Mein Gott, wie ähnlich du ihm siehst«, sagt sie dann mit einem kleinen Seufzer und fährt mit einem Finger seine Augenbrauen entlang. »Jetzt fast noch mehr als vorher. Da gibt es jedenfalls keinen Zweifel.«

»Was meinst du damit?« frage ich und ahne erneut dieses kindische Gefühl von Ungerechtigkeit. Sie schüttelt den Kopf. Wendet sich zornig von mir ab, während sie ihre innerste, geheimste Angst ins Zimmer schleudert.

»Na, ich bin nicht seine Tochter! Du ja, aber ich nicht!«

Ich starre sie sprachlos an.

»Natürlich bist du seine Tochter! Wessen Tochter solltest du denn sonst sein?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Du kennst doch Mutter. Sie hat sich immer rumgetrieben. Das kann sonstwer gewesen sein. Von Jørgen Reenberg bis zu irgendeinem Bühnenarbeiter!«

»Jørgen Reenberg? Also, Kiki, nun mal ehrlich ...«

»Ich sehe jedenfalls Jørgen Reenberg ähnlicher als ihm da!« beharrt sie mit einem Nicken zu dem Verstorbenen hin. »Guck ihn dir doch an! Ich ähnele ihm ganz und gar nicht!«

»Doch, das tust du!« widerspreche ich ihr und unterdrücke den spontanen Drang, laut aufzulachen. Das ist doch einfach zu grotesk, diese Situation. Aber für Kiki ist es tödlicher Ernst.

»Und wo?« fragt sie verbissen insistierend.

Ich stöhne auf und mache mich daran, ihn vom Scheitel bis zur Sohle gründlich zu begutachten. Und wieder zurück. Sie ist ihm nicht gerade aus dem Gesicht geschnitten, was nur verständlich ist, da sie unserer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Und das will ich gerade anführen, als ich glücklicherweise eine Entdeckung mache.

»Sieh mal!« sage ich triumphierend. »Ihr habt die gleichen Hände! Die gleichen langen Finger, die gleichen ovalen Nägel! Deine sind eine genaue Kopie von seinen!«

Ich umfasse ihre Hand und lege sie zum Vergleich neben seine wachsbleichen Hände.

»Kiki«, erkläre ich entschlossen, als sie ihre Hand ausgestreckt hat und zögernd die Ähnlichkeit zugeben muß. »Das hier ist ebenso gut wie eine Blutprobe oder ein DNA-Test! Sind wir uns also einig darin, daß dieser Mann dein Vater ist? Ganz und gar?«

»Okay«, murmelt sie schleppend, während die Tränen wieder zu laufen beginnen »Aber ein Arschloch ist er trotzdem!«

Darauf sage ich nichts. Und eine Weile stehen wir nur still da und nehmen beide auf unsere Art Abschied, bevor wir uns aus der andächtigen Stimmung losreißen und das tun, was von verantwortungsbewußten Angehörigen erwartet wird: Schränke und Schubladen leeren und die Besitztümer einsammeln, die er mitgebracht hat, als er hier eingewiesen wurde. Mit Ausnahme des Bargelds, der Wertgegenstände und eventueller Sparbücher, die das Krankenhaus pflichtschuldigst dem Nachlaßgericht übergeben muß. Für den Fall, daß es noch andere erbberechtigte Personen gibt.

»Aber die gibt es doch gar nicht!« sagt Kiki der Krankenschwester, die uns über die Formalitäten informiert. »Es gibt nur uns beide!« Die Krankenschwester zuckt mit den Schultern.

»So sind die Bestimmungen.«

»Das ist ja wohl die Höhe.« Kiki bleibt hartnäckig und nähert sich erneut dieser kindlichen Hysterie, die die Krankenschwester dazu bringt, mich leise zu fragen, ob wir ein Beruhigungsmittel brauchen. Und ich, die ich mit einem Mal nicht mehr in der Lage bin, noch einen drohenden Zusammenbruch zu überstehen, und plötzlich von einer pappigen Müdigkeit überfallen werde und nur noch ein Bett haben möchte, um mich darin schlafen zu legen, ignoriere Kikis Proteste und nicke zustimmend. Ich will jetzt weg hier, raus aus dem Krankenhaus und zurück ins Leben, also mache ich mich schnell und mechanisch daran, die Kleidung zusammenzulegen – Khakihose, kurzärmeliges Hemd, olivfarbene Lederschuhe und eine blankgescheuerte braune Wildlederjacke, die er sein ganzes Leben lang getragen hat. Danach packe ich die Sachen vom Nachttisch ein, den Verlaine, den Parkerfüller, den Skizzenblock und die Chinakladde, in die zu gucken ich trotz meiner Neugier nicht schaffe. Jedenfalls nicht jetzt. Das paßt alles in die alte Adidas-Tasche, die er selbst mitgebracht hatte.

»Okay«, sage ich dann zu Kiki, als ich den Reißverschluß der Tasche zugezogen habe. »Wollen wir los?«

Sie nickt, und wir stellen uns noch einmal ans Fußende, beide die Hände wie zum Gebet gefaltet. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht, aber ihre Tränen laufen unaufhörlich wie aus einem Wasserhahn, während ich nicht in der Lage bin, den kleinsten Tropfen hervorzubringen. Ich habe ihm auch nichts mehr mitzuteilen, entweder gibt es zu viele Fragen oder zu wenige Antworten oder der Kontakt ist ganz einfach abgebrochen. Deshalb verliere ich mich in Gedanken, wie ich damals auch nach der Geburt in Gedanken versank. So unfaßbar ... Kiki küßt ihn auf die hohe Stirn, taumelt dann wie betrunken aus dem Zimmer, während ich mich mit einem kameradschaftlichen »Adios!« begnüge, um ihn danach ins Nichts, die Verbannung und das weitere Procedere abzuschieben.

Denn ab jetzt ist der Tod ja in hohem Grad eine praktische Angelegenheit, die Kiki offensichtlich mir zu überlassen gedacht hat. Eigentlich ist sie die bessere Organisatorin von uns, aber ich bin die Ältere. Vielleicht ist das eine Art unbewußter Rache dafür, daß sie mit dem niedrigeren Status der Kleinen aufwachsen mußte, die sie plötzlich in diese hilflose Kleine-Schwester-Attitüde fallen läßt, indem sie ganz einfach keinerlei Initiative ergreift und zu nichts Stellung nimmt. Ich bin es, die vom Schwesternbüro aus anruft und ein Hotelzimmer in der Nähe besorgt. Ich bin es, die sie zum Auto führt und uns eincheckt, als wir gegen halb zwei im Hotel Hvide Hus ankommen. Ich bin es auch, die zwei Zahnbürsten und vier Starkbier beim Nachtportier kauft und Kiki anschließend zwingt, wenigstens eine halbe Schlaftablette zu nehmen.

»Dann nimmst du aber die andere Hälfte!« fordert sie, worauf ich erwidere, daß man nach vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf keine Schlaftablette braucht.

»Saustark!« murmelt sie, schluckt eine ganze Tablette und ruft von ihrem Handy aus Spunk an, ihren ulkigen Lover, der, wenn überhaupt etwas, die unverdorbene Lebenskraft symbolisiert. Das Gespräch und sein fürsorgliches Pusten aufs Knie lassen sie erneut in lautes Weinen ausbrechen, so daß ich schließlich den Hörer nehmen und ihm versichern muß, daß Kiki okay ist.

»Aber sie ist ja vollkommen außer sich!« widerspricht er erschrocken. »Soll ich nicht kommen? Ich kann sofort losfahren!«

Ich überzeuge ihn davon, daß sie einfach nur aufgewühlt ist und schlafen muß. Versichere, daß ich ihn wieder anrufen werde, falls sie im Laufe der Nacht nicht zur Ruhe kommt. Was sie aber tut – innerhalb weniger als einer halben Stunde schläft sie tief und fest. Erst da habe ich die Möglichkeit, Paul anzurufen. »Hallo!« meldet er sich schlaftrunken und fern und klingt in keiner Weise alarmiert wie jemand, der dagesessen und auf schlechte Nachrichten gewartet hat.

»Ja, hallo!« antworte ich. »Ich wollte nur sagen, daß es vorbei ist.«

»Ja? Ach so! Entschuldige, Tes, ich bin nicht so richtig wach ... Wie spät ist es denn?«

»Viertel nach zwei«, erkläre ich spröde, während dieser banale Schlagerrefrain sich wieder wie geschmolzene Butter in meinem Kopf ausbreitet. Nimm meine Hand, mein Freund ... »Mein Vater ist vor ein paar Stunden gestorben. Das ist alles, was ich dir sagen wollte. Entschuldige bitte, daß ich dich geweckt habe!« Er könnte alles Mögliche sagen, alles, außer ausgerechnet: »Mein herzliches Beileid.«

Der Leichenbestatter auf Læsø kondoliert auch, als ich ihn am nächsten Morgen anrufe. Aber das ist etwas anderes. Eine einfache Formalität, durch die wir durch müssen, bevor er anfangen kann, sich Notizen zu machen. Erdbestattung oder Einäscherung? Pfarrer? Kirche? Leichenkleider? Schmuck? Sarg? Urne? Wo, wann, wie?

Bei jeder Frage werfe ich Kiki, die mit einer Tasse in der Hand apathisch auf dem Hotelbett sitzt, einen schnellen Blick zu. Ich hatte ihr vorgeschlagen, lieber nach Hause zu fahren und die praktischen Dinge mir zu überlassen, aber sie besteht darauf, zu bleiben und mir zu helfen. Wie erwartet, ist sie nicht gerade eine große Hilfe. Entweder reagiert sie aggressiv und mürrisch, oder sie versinkt in Schweigen und Tränen. Als Dr. Holmstrup im Hotel auftaucht und uns seine Hilfe anbietet, ist deshalb das erste, worum ich ihn bitte, ein Rezept für weitere Schlaftabletten. Das er auch sofort ausschreibt und uns darüber hinaus anbietet, uns nach Læsø zu fahren.

»Das ist nett, vielen Dank. Aber ich bin selbst mit dem Auto da«, sage ich, aufrichtig gerührt über seine Fürsorge. Das wäre nicht nötig gewesen, aber genau wie Kiki offensichtlich den einen oder anderen Faden in die Vergangenheit zurückverfolgen muß, hat er vielleicht auch das Bedürfnis, die Spur erneut dort zu kreuzen, wo Vater damals der Knotenpunkt war. Oder ein Knoten.

Ich bin es, die entscheidet, daß Vater auf Læsø begraben werden soll. Nicht verbrannt, denn das würde Kiki nicht ertragen. Ich glaube, sie würde ihn am liebsten einbalsamieren, in einen Glassarg legen und auf den Tag warten, an dem er plötzlich die Augen wieder aufschlägt. Ihre Reaktion erschreckt mich wegen ihrer Fremdheit, und ich traue mich nicht einmal, Spunk zu erzählen, wie krampfhaft tief in sich versunken sie erscheint. Dagegen leugne ich nicht, daß der Todesfall sie überraschend hart getroffen hat, als er am Abend besorgt nachfragt, nachdem sie und ich uns in Großvaters Haus eingerichtet haben. Dort wollen wir bleiben, bis die Beerdigung überstanden ist, und nein, Spunk muß noch nicht herkommen. Es ist besser, wenn er mit Paul und Mutter kommt, die sonderbarerweise ihre Teilnahme an der Beerdigung auch angekündigt hat. Genau betrachtet finde ich ein offizielles Begräbnisarrangement reichlich pathetisch, wenn man alles in Betracht zieht. Jedenfalls war es mein fester Beschluß, daß der Mann ohne jede kirchliche Feierlichkeit in die sandige Erde der Insel gebettet werden sollte. Ich meine, wenn es etwas gibt, vor dem er ganz offensichtlich geflohen ist und gegen das er opponiert hat, dann war das Großvaters strafender Jahwe und der mittelalterlich finstere Glaube. Aber dann sucht uns der Pfarrer kurz nach unserer Ankunft auf, als wir gerade Wasser für Kaffee auf einem altmodischen Gaskocher aufgesetzt haben. Der Pfarrer entpuppt sich als Frau mit Kurzhaarfrisur, sonnengebräuntem Teint und einem festen Händedruck, als sie sich vorstellt und ihre Anteilnahme ausdrückt. Eva heißt sie und bewegt sich offensichtlich vertraut in den kleinen Zimmern unter dem tiefgezogenen Strohdach. So ist sie es auch, die weiß, wo die Kaffeetassen stehen, als Kiki sie sucht.

»Ihr Vater war ein tief gläubiger Mensch«, sagt sie, als wir an dem alten Holztisch sitzen.

»Gläubig?« wiederholt Kiki und bekommt fast den Kaffee in den falschen Hals. »Woran hat er denn geglaubt? An Fidel Castro? Oder an den Geist aus der Flasche?«

Die Pfarrerin lächelt entwaffnend.

»Ich weiß, daß das seltsam klingt. Vielleicht sollte man lieber sagen suchend. Er war äußerst bibelkundig – überhaupt sehr belesen. Bewandert in Philosophie wie in Literatur. Ich habe Dostojewski noch nie so gut interpretiert gehört. Skaarup war gleichzeitig mein kritischster wie auch mein inspirierendster Zuhörer. Er ist fast jeden Sonntag in die Kirche gekommen. Und nach dem Gottesdienst sind wir zu mir gegangen. Oder wir haben hier gesessen. Haben geredet und geredet. Das war ungemein stimulierend«, sagt sie und hebt die abgeschlagene Tasse an die Lippen. Die sind schön, voll und rosa. Es kommt mir in den Sinn, daß er sie geküßt haben mag. Mitten in all der Theologie.

»Er selbst hat die Kirchenlieder ausgesucht«, erklärt sie und stellt die Tasse sanft wieder ab. »Und wir haben auch die Predigt diskutiert. Er wollte gern, daß ich über den barmherzigen Samariter rede.«

Herr, sei mir gnädig. Wie wenig kann man wissen und sich trotzdem noch einbilden, man würde einen Menschen kennen? Das Rätsel wird immer größer in den Tagen vor dem Begräbnis, während uns eine wahre Flut von Statisten aus dem Leben unseres Vaters präsentiert wird. Wobei jeder einzelne wieder neue Seiten von ihm offenbart. Der Briefträger, der zu uns kommt und ein ganzes Bündel Briefe abliefert – darunter mehrere mit spanischen Briefmarken – und uns erzählt, daß unser Vater eine umfangreiche Korrespondenz führte. Die Nachbarsfrau, die mit einem Kanarienvogel im Bauer kommt und fragt, ob wir nicht so lieb sein könnten und den Vogel wieder nehmen? Sie hat auf ihn aufgepaßt, solange Skaarup im Krankenhaus war, aber sie hat Angst, daß ihre Katze ihn eines Tages fressen wird. Und die drei Schuljungen, die auf ihren Rädern heranbrausen und wissen wollen, ob es wirklich stimmt, daß der Maler tot ist. Also, richtig tot? Denn er hat ihnen immer Limonade gegeben, und außerdem konnte er richtig gut Geschichten malen. Sie brauchten ihm nur eine zu erzählen, schon hat er die Bilder dazu gemalt. Der Kioskbesitzer, der fragt, ob er das täglich einzige Exemplar von El Pais abbestellen soll, das er unter großen Mühen organisiert hat. Der leicht angesäuselte Lokalredakteur, der plötzlich von seiner eigenen Rührung gebeutelt wird und ein Taschentuch hervorholen muß, als er uns erzählen will, um wieviel reicher die Insel geworden ist, als Skaarup zurückkam, und um wieviel ärmer sie jetzt wieder wird. Was offensichtlich auch wörtlich zu verstehen ist, da sich herausstellt, daß der Lokalredakteur sich Geld von ihm geliehen hat. Zehntausend. Schließlich war er nach dem Tod des Alten ein wohlhabender Mann. Aber nicht deshalb haben die Leute soviel von Skaarup gehalten. Also, das dürfen wir auf keinen Fall glauben. Und natürlich wird er alles zurückzahlen. So bald wie möglich.

Unser Vater war ein wohlhabender Mann. Das wurde er, als Großvater starb und eine halbe Million in bar hinterließ, unter die Matratze gestopft und im Brennholz versteckt. Und auch wenn er ein Badezimmer hat einbauen lassen und sich offensichtlich ein paar gute Flaschen täglich gegönnt hat, so hat er es doch keineswegs geschafft, das ganze Vermögen auszugeben. Ganz im Gegenteil, der lokale Bankdirektor kann uns anvertrauen, daß »Skaarup auf jeden Fall genügend Geld hinterläßt, um seine eigene Beerdigung zu bezahlen«. Eine nordjütländische Untertreibung, die umschreibt, daß ungefähr 300.000 Kronen auf dem Konto sind.

»150.000 für jeden!« ruft Kiki aus und erstrahlt in einem Augenblick, in dem sie plötzlich ganz anwesend ist, was bei dem Bankdirektor ein väterliches Lächeln hervorruft, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich.

»So sieht es wohl aus«, sagt er.

»Dann bitte in großen Scheinen«, sagt Kiki. Doch der Bankmensch zeigt noch einmal seine Parodontose und erklärt, daß wir damit leider bis zur Testamentseröffnung warten müssen.

Wenn nicht alle Geld von ihm geliehen haben und uns deshalb die ganze Zeit nett zunicken und anlächeln, dann ist diese Freundlichkeit der Bewohner von Læsø ein Beweis dafür, daß die Insel ihren verlorenen Sohn wieder aufgenommen hat. Deshalb ist es natürlich ausgeschlossen, ihn nicht »anständig« zu begraben, was zu allem Überfluß auch noch eine Begräbniskaffeetafel im Vesterø Hotel einschließt. Wo er übrigens, wie uns berichtet wird, oft verkehrte, bei einem kleinen Vormittagsbier die Zeitung las, mittags gebratene Heringe aß oder am Nachmittag eine Tasse Kaffee trank. Deshalb ist die Wirtin der Meinung, wir sollten die Anzahl der Beerdigungsgäste nicht unterschätzen. Sie werde jedenfalls für gut zwanzig Leute decken und außerdem dafür sorgen, daß ausreichend Kaffee und Kuchen bereitsteht. Rosinenwecken und Brezel. So will es die Tradition. Sowie Bier und Mineralwasser zum Abschluß.

»Das wäre auch in Skaarups Sinn«, erklärt sie. Ich weiß nicht, ob sie damit das Bier oder das Mineralwasser meint, lasse sie aber schließlich schalten und walten, Gringo, der ich in diesem fremden Land bin, wo alle Augen uns folgen und zweifellos hinter all der Freundlichkeit reichlich über uns getratscht wird. »O Scheiße, wie die glotzen!« knirscht Kiki mit den Zähnen, als wir aus dem Blumenladen kommen, wo wir am Tag vor dem Begräbnis endlich Kränze und Gestecke bestellt haben. Rote Rosen. »Ein Meer roter Rosen«, wie es mir in den Sinn kommt, offensichtlich von dieser ganzen Ritualisierung angesteckt. Ein Meer roter Rosen auf einem weißen Sarg! Ich muß weg hier. Wieder zu mir selbst kommen. Zurück in die Welt mit ihren Kriegen und Katastrophen, ihrer Nachrichtenflut und Deadlines. Zurück zu Zarina mit ihren pummeligen Ellbogen, den nassen Küssen und ihrer hemmungslosen Forderung nach Fürsorge und Aufmerksamkeit. Aber als ich abends zu Hause anrufe, um ihr gute Nacht zu sagen und mich über die Ereignisse des Tages mit Paul auszutauschen, der lobenswerterweise die Konsequenz gezogen und für die ganze Woche seinen Dienst getauscht hat, fällt es mir trotzdem schwer, mich zu konzentrieren. »Hörst du mir überhaupt zu?« fragt er fast jedesmal, mit jedem Tag mit wachsender Irritation. »Natürlich!« versichere ich ihm und gebe mir Mühe, die Fremdheit zu überwinden, die ich selbst spüre. Nicht nur zwischen ihm und mir, sondern zwischen der Normalwelt und dieser Seifenblase, in der wir eingeschlossen sind. Ich versuche gar nicht erst, ihm das zu erklären. Er würde doch nicht verstehen, wie schwierig es ist, sich zurechtzufinden in einem Haus, das einerseits aussieht wie immer, mit Großvaters puritanischer Einrichtung, das andererseits aber auch nach Vater riecht mit all seinen Kleidern, seinen spanischen Zigaretten, den leeren Weinflaschen, den mundgeblasenen Gläsern und den vielen kleinen Skizzen, Aquarellen, Büchern, Briefen und persönlichen Papieren, die überall in überraschend ordentlichen Stapeln liegen. Im Gartenhaus hatte er sich ein provisorisches Atelier eingerichtet, dort ist eine Staffelei mit einer vollkommen weißen Leinwand aufgestellt. Nicht einen einzigen Kohlestrich hat er auf ihr mehr zeichnen können. Aber die Palette und die Tuben liegen bereit. Vorwiegend rot und schwarz.

Kikis spontane Begeisterung bei der Aussicht auf ein Erbe währt nach einem Anruf bei Spunk nicht mehr lange. Die beiden sind dabei, die Möglichkeiten zu sondieren, Franchise-Partner bei der amerikanischen Drugstore-Kette Seven Eleven zu werden, welche offenbar plant, alle Straßenecken in Kopenhagen bis zum Jahrtausendwechsel in ihren Besitz zu bringen. Das Geld von Vater würde den Kredit und damit das Risiko verringern. Und das war’s dann. Ich nehme an, daß sie das mißmutig macht – und mich auch. Deshalb erwähne ich dieses Thema Paul gegenüber gar nicht erst und halte mich zurück, zu planen und eine Milchmädchenrechnung aufzustellen. Ich ertrage diese blasphemische Roheit nicht, daß des einen Tod des andern Brot sein soll. Als würde man die Goldzähne aus der Asche der Gaskammern ausgraben. Ich weiß selbst, daß das ein hysterischer Vergleich ist. Aber ich habe sowieso Probleme, mich dem Erbe gegenüber zu verhalten. Dem, was er uns hinterlassen hat. Dem Geld, dem Haus, dem Hausrat, allen Gegenständen gegenüber. Alles, was seins war, ist jetzt unsres. Wir reden nicht darüber, Kiki und ich. Aber keine von uns verspürt den Drang, zu schnüffeln oder herumzuwühlen. Wir haben nicht einmal die Tasche aus dem Krankenhaus geöffnet und geleert. Vielleicht haben wir beide das unbestimmte Gefühl, daß wir für unsere Neugier bestraft werden würden. Daß die Insel, das Haus, ja sogar der singende Kanarienvogel, den wir ins Wohnzimmer gestellt haben, mehr über unseren Vater weiß, als wir überhaupt wissen wollen. Deshalb lächeln sie alle so. Sie wissen, daß wir nichts wissen.

»Wir verkaufen das Haus, oder?« fragt Kiki plötzlich, als wir in dem durchgelegenen Doppelbett liegen und am Abend vor der Beerdigung versuchen einzuschlafen. »Das ist doch verdammt noch mal viel zu spooky. Du verstehst, was ich meine?«

Ich verstehe voll und ganz, was sie meint. Aber als ich am nächsten Morgen früh aufwache und mich leise davonstehle, um Kiki nicht zu wecken, die leise schnarcht, wie sie es schon immer getan hat, ist jede Andeutung von Twin Peaks verschwunden. Der Himmel ist genau so knallblau wie auf den Prospekten der Touristikunternehmen, und als ich über den Hügel ans Meer komme, liegt es wie ein glitzernder Teppich dort. Die Geräuschkulisse ist genauso idyllisch – leise glucksende Wellen, Möwenschreie und das ferne Tuten der Fischkutter. Weit entfernt geht jemand und stochert mit einem Stock in dem angespülten Tang herum. Ein alter Fischer auf der Suche nach Bernstein. Ich hocke mich auch hin und sammle ein paar Steine ein, beiße darauf und werfe sie wieder weg. Vater war gut im Suchen nach den goldfarbenen Versteinerungen – wir konnten lange nebeneinander hergehen, uns unterhalten, und plötzlich beugte er sich hinunter und schlug wie ein fischender Vogel zu. Er fand so viel, daß er nur die besonderen Steine behielt – die großen Klumpen oder die mit eingeschlossenen Insekten oder Blättern darin. Den Rest warf er wieder in den Seetang – damit auch etwas für die Alten übrigblieb, die wahrscheinlich ein sichereres Einkommen hatten, wenn sie leere Flaschen sammelten. »Wer will heutzutage noch Bernstein kaufen?« wie mein Vater trocken bemerkte. Und dann sagte er etwas über den billigen baltischen Bernstein, der einst Teil des sowjetischen Kunsthandwerks war, und wir sprachen weiter über die Palekh-Lackarbeiten und dann über Ikonen und weiter über Malewitsch und Strawinsky und Chagall in Paris – alles Dinge, über die er sehr viel mehr wußte als ich. Ich konnte nur neben ihm herlaufen, lauschen, mal etwas einfügen und mich wundern, woher zum Teufel er all das Wissen hatte. Und dann redeten wir weiter. Worüber? Jetzt, während ich den gleichen Weg gehe, mit den Schuhspitzen im Tang herumstochere und mich genau wie damals an dem frühen Frühlingsmorgen vor ein paar Jahren in der Kälte schüttle, versuche ich das Band zurückzuspulen, um mich zu erinnern, was er eigentlich von sich selbst erzählt hat. Da wird mir schlagartig bewußt, daß er irgendwie die ganze Zeit den Ball in meine Hälfte zurückgespielt hat. Es waren mein Leben, meine Arbeit, meine Stichworte, die als Sprungbrett für Gespräche und Assoziationen benutzt wurden. Weil er sein enormes Wissen über eigentlich alles locker dazu benutzen konnte, das Gespräch zu steuern und von sich selbst abzulenken. Ich war immer noch zurückhaltend mit meinen Fragen und wollte ihn nicht aushorchen aus Respekt – oder Angst –, die Unberührbarkeitsgrenze zu überschreiten, die er ganz deutlich aufrechterhalten wollte. Was weiß ich also eigentlich von dem Geist in der Flasche? Von Fidel Castro? Von dem singenden Kanarienvogel? Von Spanien? Von der Farbe Rot und der Farbe Schwarz?

Ich trete gegen einen an Land gespülten Saftkarton. Wäre es besser gewesen, wenn er nie zurückgekommen wäre? Wenn er der Mythos vom verschwundenen Vater geblieben wäre? Ein Archetyp, dem gegenüber man sich verhalten kann. Auf den man wütend sein oder dem man nachtrauern kann. Und wer ist er jetzt? Nicht meiner, nicht unser, nicht ihrer. Ein Rätsel. Ein Mysterium. Eine brennende Sehnsucht. Ich sehe die Jolle, aber nicht die Leine. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal gefallen bin, aber jetzt tue ich es. Padabum, wie ein Kind mit ausgestreckten Händen. Die Luft wird aus dem Brustkasten gepreßt, zerbrochene Muschelschalen und schleimige Algen drücken sich in die Handflächen, und ich kriege Sand auf die Zunge, als ich mir das Blut von der Lippe lecke. Ich bleibe unbeweglich liegen. Die Kälte zieht von den Lenden herauf, die Wellen erreichen mich fast, ich kann den Schaum in meinem Gehörgang knacken hören. Aber ich habe keine Kraft, aufzustehen. Will einfach nur hier auf gleicher Linie mit dem Horizont liegen, der sich wie ein dunkler Streifen am Ende meines Gesichtsfelds zeigt. Ich könnte einschlafen. Verschwinden. Mich auflösen oder wie eine Fliege im getrockneten Harz versteinern.

»Ist Ihnen was passiert? Haben Sie sich weh getan?«

Gelbe Gummistiefelspitzen direkt vor meiner Nase. Eine besorgte Frauenstimme, eine Hand auf meiner Schulter.

Fuck! Die Pfarrerin. Morgenfrisch und vom Wind zerzaust. Dann war sie es also, die nach Bernstein gesucht hat. Wer ihr das wohl beigebracht hat? Ich reiße mich zusammen, hebe den Kopf, lächle betont munter, ergreife ihre Hand und komme auf die Beine.

»Ich bin nur hingefallen. Ich war ein paar Sekunden abwesend. Jetzt ist alles wieder okay.«

»Sind Sie sich da auch ganz sicher?« fragt sie und sieht mich skeptisch an.

»Ganz sicher«, bestätige ich und klopfe mir den Sand von der Hose. »Haben Sie Bernstein gefunden?«

»Was?« fragt sie überrumpelt. Dann begreift sie und lächelt. »Nein, ich finde nie etwas. Aber es ist trotzdem ein schöner Weg.«

»It sure is«, sage ich und spucke aus.

Wir als die nächsten Hinterbliebenen sitzen auf den Stühlen oben in der Sakristei nahe dem Sarg, der wirklich von einem Meer von Rosen bedeckt ist. Die Kirche ist bereits eine Viertelstunde vor der angesetzten Zeit voll, alle Reihen sind von unbekannten Fremden gefüllt. Ein paar der Gesichter erkenne ich als Kioskbesitzer, Nachbarn, Briefträger, Bankmensch wieder. Und Vaters alter Freund, der Oberarzt, taucht auch noch als einer der letzten mit einer hübschen, gut gekleideten Frau an seiner Seite auf. Vermutlich seine Ehefrau. Sonst sind es nur Gesichter ohne Identität, der Chor, der Abschied von dem Solisten nimmt. Die Glocken läuten, jemand räuspert sich, sonst ist nur Kikis anhaltendes Schluchzen in dem stillen Kirchenraum zu hören. Sie sitzt an meiner linken Seite, den Kopf an Spunks Schulter gelehnt. Rechts von mir sitzt Paul und kann gar nicht vermeiden, mit einem Armani-Model verglichen zu werden, in seinen schwarzen Jeans, dem schwarzen T-Shirt und der schwarzen Leinenjacke. Er hat nichts anderes gemacht, als sich korrekt anzuziehen, eben ganz in Schwarz. Aber es irritiert mich total, daß er da sitzt und alle Blicke auf sich zieht. Mr. News auf Læsø. Auch dem Lokalredakteur und seinem mitgebrachten Fotograf wurde draußen vor der Kirche ganz überraschend klar, daß Paul Weber zu den Trauergästen gehörte. Ganz zu schweigen von der Berühmtheit vom Königlichen Theater, Skaarups Exfrau, meiner Mutter, hinter Batwoman-Sonnenbrille und mit passender Trauermiene. Warum zum Teufel ist sie überhaupt gekommen? Und warum duldet Freddy, ihr gutmütiger Liebhaber, es, wie ein Schoßhund von ihr mitgeschleppt zu werden? Hat der Mann nichts in der Hose?

Und hat Skaarups älteste Tochter kein Herz, denken sie vielleicht da unten, denn so gern ich auch das Gewünschte abliefern würde, es ist mir nicht möglich, etwas anderes als eine unwirkliche Fremdheit während der kirchlichen Zeremonie zu fühlen. Vielleicht möchte Paul irgendeine Form von Gefühl aktivieren, als er mir seine Hand auf den Oberschenkel legt, aber ich schiebe ihn weg und höre aufmerksam der Predigt der Pfarrerin zu. Ich merke, daß sie ihn gekannt hat, aber ich merke auch, daß sie ihn nicht gekannt hat, nicht so gut, wie sie selbst glaubt. Irgendwie ist es ihm gelungen, sie anzuschmieren, genau wie es ihm gelungen ist, mich anzuschmieren. Deshalb irritiert sie mich mit ihrem Versuch, den Toten zum Idol zu erhöhen. Das Orgelbrausen und die Kirchenlieder schaffen es fast, mich mitzureißen, besonders, als wir zu »Die letzte Nachtwache« kommen, bei der mir die Szene im Krankenhaus wieder ins Gedächtnis kommt. Aber da ist Kiki so aufgelöst, daß ich mich darauf konzentrieren muß, sie zu trösten und zu beruhigen. Sie hat Spunk losgelassen und sich mir zugewandt. Diese Nachtwache gehört uns. Niemand, weder Spunk noch Paul, wird jemals diese durchwachte Nacht mit uns teilen können.

Als die Priesterin den Segen über uns gesprochen hat und die Zeremonie damit vorbei ist, nickt sie mir zu. Wir haben verabredet, daß ich vor den Sarg treten, ein paar Worte sprechen und zum Begräbniskaffee im Hotel einladen soll. Ich erwidere ihr Nicken. Meine Bestätigung, daß ich es schon schaffen werde. Dann stehe ich auf, stelle mich vor den Sarg und versuche mich zu sammeln. Die ganze Gemeinde starrt mich an. Erwartungsvoll. Fordernd. Sie gehen davon aus, daß ich etwas Wichtiges sagen werde. Der Kirchenraum weitet sich und zieht sich wieder zusammen. Ich spüre, wie mein Herz voller Panik in der Brust zu rasen beginnt, während alle Fluchtinstinkte aktiviert werden. Ich schaue nach oben, um mich von den Gesichtern zu befreien, erblicke ein Schiff unter der Kuppel, das leicht in den Aufhängeschnüren schaukelt. Ich trete einen Schritt zurück, strecke die Hand aus und stütze mich auf den Sarg. So bleibe ich stehen. Mit der Hand auf dem Sarg und dem Blick auf dem Schiff. Und so spüre ich ihn doch noch.

»Lieber Vater«, setze ich an und befeuchte meine Lippen. Meine Stimme zittert etwas, aber ich rede die Nervosität weg. »Ich weiß nicht sehr viel von dir. Aber ich weiß, daß dein Leben voller Meer und Schiffe war, seit du ein kleiner Junge hier auf Læsø gewesen bist. Ich weiß auch, daß du schon damals den Begriff ›Horizont‹ kennengelernt hast und daß du dich vielleicht mehr als die meisten anderen danach gesehnt hast, ihn zu überqueren ...« Ich spreche weiter, flüssig und ohne Stocken, über weitere Schiffe, weitere Horizonte, über Fernweh und Ruhelosigkeit und über Unzufriedenheit. Ich habe keine Ahnung, woher die Worte kommen. Oder wohin der nächste Satz mich führen wird. Aber schließlich bin ich am Ende der Rede angekommen.

»Vater, ich weiß nicht, wovor du geflohen bist. Oder was du erreichen wolltest. Aber du bist zurückgekommen und warst ein anderer als der feurige Rebell, der einst der ganzen Insel den Rücken gekehrt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dich wirklich irgendwann in Ruhe gelassen hat, die Dämonenmeute, die dich dein ganzes Leben lang gejagt hat. Aber ich weiß, daß du dir gewünscht hast, sie abschütteln zu können, den Kreis zu schließen und damit Frieden zu machen. Mit der Vergangenheit und mit uns, die du verlassen mußtest. Es ist uns gelungen, dich zurückzubekommen. Danke dafür. Ruhe in Frieden, wo immer du auch sein magst.«

Der Lokalredakteur macht sich wie ein Verrückter Notizen, als ich aufblicke. Mehrere in den Bankreihen putzen sich die Nase. Einige blicken zu Boden. Der Oberarzt nickt mir anerkennend zu. Andere erscheinen nur wie gelähmt.

Dann drehe ich mich um und gehe zurück zu den anderen. Sie sehen mich alle an, als hätten sie mich noch nie gesehen. Mutter ist jetzt in Tränen zerflossen und ergreift meine Hand.

»Wie schön das war!« ruft sie aus und drückt meine Hand, während Freddy mit zusammengepreßten Lippen zustimmend nickt. Spunk hebt diskret einen Daumen in die Luft. Kiki hat dagegen aufgehört zu weinen und sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl, wobei sie es vermeidet, meinem Blick zu begegnen.

»Gut gelaufen!« flüstert Paul mir ins Ohr. »Dämonenmeute! Genial!«

Nimm meine Hand, mein Freund ...

Wenn er doch nur mal die Schnauze halten könnte.

Paul, Spunk, der Oberarzt, der Leichenbestatter, der Lokalredakteur und der Kioskbesitzer sind die Sargträger. Der Schweiß tritt ihnen auf die Oberlippe, als sie den schweren Eichenholzsarg durch den Friedhof zum Familiengrab tragen. Der Himmel ist immer noch hoch und funkelnd blau, und trotz einer leichten kühlen Brise in der Luft brennt die Sonne. Das ist, wie sich auch die Leute vor der Kirche gegenseitig bestätigen, ein ungewöhnlich heißer Tag für diese Jahreszeit. Ich vermeide es möglichst, mit jemandem zu sprechen, ziehe mich zurück auf diese Scholle der Unwirklichkeit. Nur Kikis plötzliche Feindseligkeit registriere ich. Mutter versucht mich unterzuhaken, aber ich weiche ihr aus. Ich möchte lieber allein gehen. Nicht berührt werden. Nicht getröstet werden. Mir geht es gut. Nachdem ich die Kirche überstanden habe, werde ich das hier auch überstehen.

Wir kommen am Grab an. Grauenerregend tief und schwarz. Die Priesterin schlägt ein weiteres Kirchenlied vor, »Immer unbesorgt« und beginnt zu singen, gefolgt von den Stimmen der Trauergemeinde, die der Wind fortträgt. Ich kann nicht singen, starre den aufgeworfenen Erdwall an mit seinen hellen Sandspuren in dem dunklen Mutterboden. Ein Wurm schlängelt sich glänzend durch einen porösen Klumpen. Der Anblick macht mich schwindlig, es saust in meinen Ohren, meine Beine beginnen zu zittern. Da passiert es. Die Priesterin gibt dem Leichenbestatter ein Zeichen, der wiederum nickt den Sargträgern zu. Sie greifen wieder zu den Seilen, bugsieren den Sarg über das Loch, senken ihn in die Tiefe und lassen los.

Platsch !

Ich stürze mit ihm, breite die Arme aus, werde von ich weiß nicht wem festgehalten. Vielleicht von Paul. Oder von meiner Mutter. Deshalb habe ich keine Hand frei, um sie mir vor den Mund zu halten, kann die Hyperventilation nicht steuern und nicht den schrillen Schrei, der sich ganz tief in mir löst und freisprengt.

Sag jetzt nichts, Liebling

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