Читать книгу Mann umständehalber abzugeben - Hanne-Vibeke Holst - Страница 3

Erster Teil

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Erst als wir rechter Hand Riga überfliegen und ich weiß, daß ich auf dem Heimweg bin, spüre ich seine Nähe. Die Sehnsucht überfällt mich wie der völlig überraschende Biß eines Raubtiers – schockierend und ohne Vorwarnung, so daß ich die Augen schließen und dagegen ankämpfen muß.

»Ist Ihnen nicht gut?« Eine Stewardeß beugt sich über mich, und ich versichere ihr, daß ich okay bin, nehme aber doch das Glas Wasser, das mir routinemäßig angeboten wird.

Paul. Ein Sommer und eine Revolution liegen zwischen uns, und ich habe in diesen Wochen, in denen ein Imperium zusammenbrach und eine Demokratie geboren wurde, an ihn weder denken können noch wollen. Oder doch. Manchmal, ganz plötzlich, in kurzen, aufflackernden Momenten, spürte ich ihn – in der Nacht, als die Panzer kamen und ich das erste Mal in meinem Leben bereit war, für eine Sache zu sterben, aber mit ansehen mußte, wie das andere für mich taten. Und als sie das Feliks-Dzieržyński-Denkmal umstürzten, da war es Pauls Hand, nach der ich griff, und erst hinterher, als wir wieder Luft holen konnten, wurde mir bewußt, daß es eine fremde, schwere Hand war, die ich so fest drückte.

Das Ironische dabei ist, daß niemand den ganzen Ereignissen gegenüber mehr Abstand haben könnte als gerade Paul. Paul ist ein Kindskopf, ein frankophiler Liebhaber und ein verdammt guter Fernsehreporter. Er gehört zu der Sorte, der ich inzwischen entwachsen bin, aber nichtsdestotrotz war es sein Bett, in dem ich an dem Morgen aufwachte, als ich losfahren sollte, vor fast einem Jahrhundert. Irgendwo sagte es Klick in dieser Nacht, die erfüllt war mit Flüstern und Rufen, und zum ersten Mal ahnte ich eine Messerspitze Verdruß darüber, daß ich wegfahren mußte. Wegfahren von der Möglichkeit, ihn laut diskutierend in der Kantine oder auf dem Redaktionsflur zu treffen, wie es so oft geschehen war. Wegfahren von einem Sommer, der vielleicht noch etwas anderes als nur Arbeit, Zufälle und die übliche Reise Richtung Süden beinhaltet hätte.

»Kommst du wieder?« fragte er, als ich mich im Morgengrauen verabschiedete.

Ich ließ eine zweideutige Antwort in der Luft hängen und flog nach Moskau. Ich plazierte ihn in die Kategorie der one-night-stands, wohin er nach der üblichen Definition auch gehörte. Dachte ich.

Je näher wir Skandinavien kommen, desto deutlicher zeichnet er sich ab und verdeckt das Gefühl der Souveränität und Euphorie, das ich hatte, als ich es mir in der business class gemütlich machte und mit mir selbst mit Champagner anstieß. I made it. Das waren drei Tage, in denen die Welt und auch ich erschüttert worden waren, aber ich habe es geschafft. Ich bekam meine Reportage fertig, blieb dem Lauf der Dinge immer eine Nasenlänge voraus und arbeitete tagelang, ernährte mich von Kaffee, Zigaretten und Toblerone, um auch nicht eine dieser atemlosen weltgeschichtlichen Sekunden zu verpassen. Und auch wenn ich nicht mit CNN oder BBC konkurrieren kann, so weiß ich doch, daß unter den gegebenen Bedingungen unsere Berichterstattung nicht viel besser hätte ausfallen können.

Ich bestelle einen GinTonic bei der Stewardeß und nehme ihn mit, als ich nach hinten gehe, um zu rauchen und das Phantom zu verjagen. Ich bin müde. Wenn diese romantische Vorstellung von Paul, einem Kollegen, den ich kaum kenne, ein Ausdruck der Erschöpfung ist, so ist das entschuldbar. Jedenfalls flog ich am ersten Juli nach Moskau als Sommervertretung, weil Ferdinand, der feste Korrespondent, zu Hause wegen kombinierter Ferien und Entbindungsurlaub unabkömmlich war. Alle – mich eingeschlossen – glaubten, es würde alles still und friedlich sein, reine Routine. Und dann begann es tatsächlich, obwohl jeder ein gewisses Zittern schon gespürt hatte und meine russische Freundin Swetlana den ganzen Sommer mit einem abgehärmten Gesichtsausdruck herumlief und immer wieder murmelte: »Soon everything will be over! Finish!« Die Botschaften richteten Telefonketten ein und fertigten Evakuierungspläne an, und der kleine bleiche Brite vom Independent, der aussieht wie ein Internatsschüler, aber mit sicherer Autorität schreibt, vertraute mir an, daß »something is rotten in the KGB«. Das war keine wirkliche Neuigkeit, so daß ich sie nicht ernsthaft nachprüfte, sondern mich an die hielt, die der Meinung waren, daß ein eventueller Putsch nicht vor dem Spätsommer stattfinden würde. Oder wenn wieder ein Herbst ins Land zog und die Aussicht auf einen weiteren endlosen Winter ohne alles die Massen so weit aufwiegeln würde, daß die Forderung nach Recht und Ordnung und Lebensmitteln in den Regalen es den Erzkonservativen leichtmachen würde, die Macht zu übernehmen.

Aber so kam er dann doch eher, der Putsch. Swetlana rief mich um zwei Uhr nachts an und bat mich weinend, »to tell the whole world, while there’s still time!«. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Das, was ich sah, hatte ich mir zwar hin und wieder schon mal vorgestellt, aber trotzdem wollte ich nicht glauben, daß es jetzt zur Realität geworden war. Panzer rollten die Sadowaja hinauf. Ich rief zu Hause an und weckte den General, den Nachrichtenchef, der nicht umsonst ein alter Kriegsberichterstatter ist und in weniger als zehn Sekunden bereit war, den gesamten Apparat in Gang zu setzen.

»Wir sind um sechs Uhr dänischer Zeit auf Sendung, okay?« Und das waren wir, und bereits in diesen allerersten Stunden, in denen niemand ahnte, was wirklich geschehen war oder geschehen würde und in der jede Angst begründet erschien, hatte ich das ganz klare, ekstatische Bewußtsein, daß ich niemals etwas Größeres als das hier erleben würde. Während ich also mein Kamerateam mobilisierte und meinen Zigarettenvorrat überprüfte, dankte ich Lenin, Ferdinand und dem General, die dafür gesorgt hatten, daß ich mich dieses Mal zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle befand. Und dann machte ich mich an die Arbeit – oder genauer gesagt, ich begab mich in diesen kollektiven Schwebezustand, in dem die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben keine Bedeutung mehr haben. Die Studenten errichteten Barrikaden, die alten Babuschki gaben den Kindersoldaten Brot, und dann waren noch wir da, die die Geschichte erzählten. Und in den intensivsten Augenblicken hatten wir das Gefühl, daß wir die Geschichte waren. Die Weltgeschichte. Ihr verpflichtet – koste es, was es wolle. Ich nippe an meinem GinTonic und inhaliere tief den Rauch meiner Zigarette. Mehrere Wochen lang hatte ich kein Privatleben mehr. Das gab mir ein Gefühl der Erleichterung, ein Gefühl der Größe allein dadurch, daß ich einfach die üblichen Familienbanalitäten ignorieren konnte, mit denen man sich sonst herumschlagen muß. Aber was ist mit Paul? Was ist mit dieser undefinierbaren Sehnsucht, die mich den ganzen Weg über verfolgt hat und mich manchmal in einem Gefühl tiefer Melancholie hat aufwachen lassen? I don’t know. Vielleicht ist es was Hormonelles. Vielleicht ist es ein Ausdruck sexueller Unterernährung. Vielleicht ist es mein Unterbewußtsein, überlege ich, das versucht, sich durch die feste Porzellanhülle zu bohren ... Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist er wirklich ein guter Liebhaber, und wer kann das nicht gebrauchen, wenn er aus dem Krieg heimkehrt?

Ich schlage die Herald Tribune auf und beginne zu lesen. Und als wir im Anflug auf Kopenhagen-Kastrup sind, bin ich cool, beherrscht, und meine Hände zittern nur noch leicht.

Ich habe außer der Produktionsassistentin keinem erzählt, daß ich mit dieser Maschine komme, deshalb ist auch niemand da, um mich abzuholen. Im Prinzip gefällt mir das – ich war immer froh, daß nicht ich diejenige war, die von einem Empfangskomitee mit Flaggen und Transparenten und dem ganzen rührseligen Drumherum abgeholt wurde. Aber heute abend wäre es dennoch schön gewesen, wenn ein Mensch dagewesen wäre – Birgitte oder Kiki –, um mich zu begrüßen. Und auch wenn es sinnlos und lächerlich ist, kann ich nicht umhin, ich muß nach einem bekannten Gesicht Ausschau halten, als ich an der Glasscheibe vorbei zur Gepäckausgabe gehe.

Aber unter den anonymen, leicht bekleideten, suchend um sich blickenden Sommerdänen ist niemand, den ich kenne – und wenn nicht der redselige, junge Taxifahrer gewesen wäre, der mich nach Østerbro fuhr, dann wäre meine Ankunft ein ziemlich trauriges Erlebnis geworden. Doch er erkennt mich sofort wieder und fragt, ob ich nicht die und die sei, und tröstet mich und schmeichelt mir gleichzeitig und läßt mich generös aufrunden, als ich den Taxischeck ausschreibe. Dafür schleppt er meine Koffer bis zur Haustür, wo ich frech übers Türtelefon meine Nachbarn über mir, die Obertunten Simon und Frank, um Gepäckträgerdienste bitte. Sie eilen die Treppe herunter, beide in schwarzen Radlerhosen und enganliegenden Boxerunterhemden – »Indian Summer, du, ist das nicht toll?« –, so daß auch eine irrelevante Heterofrau den Anblick ihrer olivgoldenen Bizeps und Trizeps genießen kann, als sie unaufhörlich plappernd das Gepäck in den vierten Stock tragen.

»Nun, und wie war es in Moskau? Mein Gott, ist das spannend! Ja, weißt du, wir waren dafür auf einer entzückenden kleinen griechischen Insel, fast keine Touristen, deshalb hatten wir keine Ahnung, als wir nach Athen kamen! Und zuerst haben wir gedacht, sie hätten Gorbi umgebracht. Und was soll ich dir sagen? Da haben wir uns einfach hingesetzt und geheult! Wie die Schloßhunde haben wir um die Wette geheult!«

Wir lachen, die beiden stellen die Koffer vor meiner Tür ab, und ich stecke meinen Schlüssel ins Schloß, schaffe es aber nicht, sie einzuladen. Statt dessen sage ich, daß ich ihnen ein Glas Pfefferwodka in den nächsten Tagen schulde. O ja, der Essensclub muß so bald wie möglich wieder ins Leben gerufen werden.

»Wie wär’s mit griechisch am Donnerstag?« schlägt Simon vor.

»Das klingt gut!« entgegnet Frank und greift ihm an den Po. Ich muß wieder lachen. Simon und Frank garantieren immer Unterhaltung erster Klasse.

»Dann gibt’s russisch am nächsten Donnerstag bei mir!« rufe ich ihnen nach, als sie schon die Treppe hinauflaufen.

»Ja? Und was ist das?« fragt Frank lüstern.

»Rote-Beete-Suppe!« grinse ich und schließe auf.

Ich mache die Tür hinter mir zu und bin allein. Ich gehe durch die Wohnung; sie wirkt verlassen, aber auch vertraut. Ich bin es, die hier wohnt. Das ist mein Territorium. Meine Bilder an der Wand, meine Bücher im Regal, meine Kissen auf dem ausgeblichenen blauen Sofa. Meine Pinwand mit alten Schnappschüssen, Restaurantquittungen, Presse-IDs von erinnerungswürdigen Begebenheiten. Mein Eineinhalbpersonenbett im Schlafzimmer.

Kiki, meine kleine Schwester, ist hiergewesen. Die Topfpflanzen sind ins Badezimmer gebracht und in der Duschwanne plaziert worden, die Post ist heraufgeholt und auf meinen Schreibtisch gelegt worden, auf dem auch ein sonnenvergilbtes Exemplar vom Ekstra Bladet liegt. Als ich es in die Hand nehme, entdecke ich einen kleinen handgemalten Stern und ein »Viel Glück« am Fernsehprogramm. Eine Vorschau handelt von mir. Von meiner Moskau-Berichterstattung. »Thereses Revolution« heißt der Artikel, und meine Ohren werden rot, als ich weiterlese: »Therese Skårup, die Urlaubsvertretung von Kanal 1, hat anscheinend alles. Einen nie enttäuschenden professionellen Überblick, ein wohlfundiertes Wissen und einen offenbar natürlichen Sinn für das Medium. Und es schadet auf keinen Fall, daß sie eine schier unglaubliche Ausstrahlung hinter der seriösen Fassade verbirgt. Wenn ich Nachrichtenchef mit Problemen wäre, würde ich auf Therese setzen, auch nach der Revolution ...«

»Ganz meine Meinung«, murmle ich und muß auf eine Art lächeln, daß ich froh bin, allein zu sein. Meine Erziehung hat mir eine gesunde, natürliche Abneigung gegen die Boulevardpresse eingeimpft, aber manchmal haben sie ja doch recht ... Und jedenfalls kann man, trotz aller gegenseitigen Beteuerungen, sicher sein, daß sie in der Chefetage gelesen wird. Ich blättere die Post durch – Kontoauszüge, Einladungen zu einer Vernissage und zur Versammlung der Baugenossenschaft, ein Brief von Sabine aus Köln und das Angebot eines schnellen Verlags, einen Beitrag zu einem Buch über »Die drei Tage« zu schreiben.

Und ganz unten im Haufen eine Ansichtskarte aus Skagen mit Meeresmotiv.

»Liebe Therese, ich habe gerade den Sonnenuntergang geschwänzt, um dich auf den Barrikaden zu sehen. Bis bald! Paul.«

Poststempel von vor einer Woche, stelle ich fest und lese den Text noch einmal mit stärker klopfendem Herzen. Was soll ich davon halten. Kameradschaftliches, kollegiales Lob oder eine Aufforderung zum Tanz?

Ich lege die Karte hin und ziehe die Jalousien hoch, so daß die Abendsonne durch die streifigen Fensterscheiben einfallen kann. Habe wie immer sofort Blickkontakt mit einer jungen Frau, die im Haus gegenüber wohnt. Gott allein weiß, ob sie den ganzen Sommer über so dagestanden hat, aus dem Fenster schauend, den großen, teigartigen Busen auf den gekreuzten Unterarmen ruhend. Ich sehe als erste weg und ziehe mich ins Zimmer zurück. Dann höre ich sie irgendwas in den Straßenschacht hinunterrufen. Ein Hund bellt ein paarmal, und eine heisere Männerstimme antwortet. Er sagt was von »Halben« und »im Gange sein«.

Dann gehe ich in die Küche und trinke ein Glas Wasser. Ein Korb mit verwelkter Kresse steht auf dem Fensterbrett, und eine dicke Fliege brummt verzweifelt gegen die Fensterscheibe. Ich öffne das Fenster und schmeiße sie raus, atme tief die Luft ein und gehe unruhig wieder ins Wohnzimmer. Lese Sabines Brief. Ob ich mal bei Gelegenheit anrufe?

Ich versuche es sofort, erreiche aber nur ihren Anrufbeantworter: »Hinterlassen Sie bitte einfach eine Nachricht.« Das mache ich, wonach ich sofort meine Mutter anrufe.

»Liebste Therese, ich bin ja so froh, daß du wieder zu Hause bist. Wenn du wüßtest, wie unruhig ich war!« zwitschert sie und klingt aufrichtig froh. Aber wie üblich, wenn sie weiß, daß ihre Nachkommenschaft sicher im Stall ist, verliert sie schnell das Interesse an uns und spricht nur noch von sich selbst und der Rolle, an der sie momentan arbeitet.

»Schatz, in vierzehn Tagen soll ich die Lady Macbeth spielen, und ich sage dir, dieses Mal sterbe ich! Nein, wirklich! Die bringen mich um! Entweder wird Blut fließen, oder sie lassen mich in aller Stille sterben! Und das wäre das schlimmste. Übrigens, herzlichen Glückwunsch, mein Schatz, alle sagen, daß du deine Sache ganz phantastisch gemacht hast!«

Wir verabreden uns zum Brunch am nächsten Vormittag, und ich lege mit einer leichten Irritation und einem Seufzer darüber auf, daß unsere Beziehung niemals intensiver werden wird. Sie ist enger mit ihren Kritikern als mit ihren Kindern verbunden. Aber ich hasse sie dafür nicht mehr.

Ich trinke noch einen Schluck Wasser, nehme ein Bad und gehe ins Schlafzimmer, um CNN einzuschalten. In Kroatien wird gekämpft; unter den sechzehn Toten sind auch Mitarbeiter eines österreichischen Fernsehteams. Während des ersten Werbeblocks – in dem sie erzählen, in welchem Hotel in Luleå ich CNN sehen kann – gehe ich wieder in mein Arbeitszimmer und suche seine Nummer auf meiner Telefonliste, in die ich ihn einmal aus irgendeinem Grund eingetragen habe.

Ich tippe schnell die Ziffern ein, und bevor ich es mir noch anders überlegen kann, höre ich seine Stimme.

»Hier ist Paul.«

Vielleicht ist es die Hitze, die wie eine Wand in dem von Menschen überfüllten Boltens Gård steht. Vielleicht ist es der Kulturschock, sich innerhalb so kurzer Zeit wieder mitten in der westlichen Dekadenz zu befinden. Vielleicht ist es einfach nur Müdigkeit. Jedenfalls löst das Wiedersehen mit ihm eine so starke physische Reaktion aus, daß ich unwillkürlich stehenbleibe und nach Luft schnappe, bevor ich mich die letzten Meter zum Cafétisch durchdrängle.

Dann entdeckt er mich, winkt kurz mit zwei Fingern und steht auf, um mich zu begrüßen. Er ist dunkel, sonnengebräunt und ganz in Weiß gekleidet, weiße Levis, weißes Hanes-Hemd und weiße Converse; irgendwie erinnert er mich an einen französischen Rot-Kreuz-Mitarbeiter – einen jungen, idealistischen Arzt –, und ganz gegen meine Gewohnheit umarme ich ihn unverhältnismäßig innig. Als bräuchte ich Trost, jemanden, der auf die Wunde an meinem Knie pustet.

Ich lasse ihn unvermittelt los und setze mich, bemühe mich angestrengt um einen neutralen Gesichtsausdruck, als ich seinem Blick über den Tisch hinweg begegne.

»Es ist heiß«, sage ich, und in dem Lächeln, von dem ich dachte, ich hätte es vergessen, erkenne ich, daß ich durchschaut worden bin.

»Glühend heiß!« bestätigt er. »Was willst du trinken?«

Normalerweise bestehe ich darauf, selbst zu bestellen und zu bezahlen, aber heute abend schaffe ich es nicht zu zeigen, was ich für ein Kerl bin. Also verhalte ich mich wie ein feminines Wesen. Passiv und empfangend.

»Das gleiche wie du!« sage ich und nicke zu seinem Glas.

»Kir Royal? Wie wär’s mit ‘nem Wodka?«

»Hatte ich zur Genüge!« sage ich nachdrücklich.

»Du siehst ein wenig müde aus«, sagt er, während er versucht, einen Kellner zu erwischen.

»Ja, ich sehe schrecklich aus!« stelle ich fest und fasse mir an meine bleichen Wangen.

»Nein, wunderbar. Sophisticated. Du siehst aus wie Meryl Streep in ›Sophies Entscheidung‹!« Er umfaßt mein Handgelenk, läßt es aber gleich wieder los, als er wunderbarerweise Kontakt zu einem der ungewöhnlich arroganten Kellner bekommt, der offensichtlich seine Bestellung akzeptiert und notiert.

»Werdet ihr eigentlich dafür bezahlt, daß ihr so unverschämt seid?« fragt er den jungen Typen. Ganz freundlich.

»Nein, wir werden überhaupt nicht bezahlt«, zischt der Kellner und entfernt ein paar leere Biergläser von unserem Tisch. Ich suche in meiner Tasche nach Zigaretten, gucke verstohlen nach Brandmarken am Handgelenk, wo die Haut immer noch brodelt. Paul raucht Gitanes und lehnt meine Marlboro Light dankend ab, die ich eingetauscht habe gegen meine früheren Camel in einem Versuch, die Teereinnahme zu reduzieren. Wenn ich schon nicht aufhören kann.

»Warst du in Frankreich?« frage ich mit einem Blick auf die Zollmarke der blau-weißen Zigarettenpackung.

Er nickt.

»Drei Wochen in Nizza. Wir haben ein Appartement gemietet.«

»Und was war mit Skagen?« frage ich, während das Wort ›wir‹ blinkend in mir kreist. Das geht mich nichts an, und außerdem möchte ich gar nicht wissen, wer sie war.

»Arbeit. Ich habe da oben einen Artikel über deren Touristikkonzept geschrieben.«

»War’s gut?« frage ich und bin froh, diesen Ton der Sachlichkeit zwischen uns legen zu können Er ist zu überwältigend, und ich bin zu müde. Ich sollte mich entschuldigen, sagen, daß mir nicht gut ist, und nach Hause gehen. Jetzt sofort. Bevor ich verbrenne.

»Routine. Aber es war in Ordnung, mal in Skagen gewesen zu sein. Auch wenn ich ziemlich viel vorm Fernseher gehangen habe.« Der Kellner kommt mit unseren Kir Royal. Natürlich bezahlt Paul, und ich mische mich nicht ein.

»Es war einfach saugut, was du da zustande gebracht hast. Laß uns darauf anstoßen!« Er stößt sein Glas leicht gegen meines.

»Findest du?«

»Das finden wir alle. Mal abgesehen von Ferdinand. Es heißt, er fühle sich ausgetrickst.«

»Aber das ist doch nun wirklich nicht meine Schuld, daß er Zwillinge gekriegt hat!« protestiere ich. »Und jetzt hat er es ja überstanden!«

»Und der Champagner ist auch schon schal geworden!« Paul lächelt. »Wollen wir nun anstoßen oder nicht? Herzlichen Glückwunsch!«

Ich bedanke mich hocherfreut über seine Anerkennung, und nach seiner Aufforderung – »Wir beschränkten Inlandsjournalisten sind doch süchtig zu hören, was ihr Korrespondenten dort draußen in der großen weiten Welt treibt« – fange ich an zu erzählen. Offenbar habe ich ein ausgeprägtes Bedürfnis gehabt, alles zu erzählen, denn ich rattere wie eine Kalaschnikow, und Paul hört zu, lächelt und bestellt aufs neue. Um alles mitzubekommen, was ich in dem ansteigenden Summen von immer mehr Menschenstimmen an einem Samstag abend in Kopenhagen sage, muß er sich weit über den Tisch beugen. Schließlich, nachdem ich alles losgeworden bin – von den Kakerlaken in der Küche bis zu Jelzin im Panzer, Puschkins Poesie und die beeindruckende Trauerdemonstration auf dem Manegenplatz –, bin ich so heiser, daß ich die Musik aus der angrenzenden Diskothek nicht mehr übertönen kann. Wir sehen die Musiker von hinten durch eine riesige Glasfront, und Paul schlägt vor, hinüberzugehen und ein wenig neue Musik zu hören, »if you can’t beat them, join them«, wie er sagt.

Und das tun wir. Die Band, wie auch das Publikum, ist sehr jung und mir vollkommen unbekannt. »Trains & Boats & Planes« nennen sie sich, und Paul behauptet, es sei mit die originellste Popmusik, die momentan überhaupt gespielt werde. Es gibt keine Sitzplätze mehr, also stehen wir dicht beieinander und wiegen uns sanft zu der melodiösen, melancholischen Musik, die von einem dunklen Cello und einem spröden, charismatischen Leadsänger bestimmt wird. Ich werde langsam betrunken, das ist mir nur zu klar, deshalb geht mir die Musik direkt ins Blut. Aber Paul wirkt kein bißchen überrascht, als ich mich ihm zuwende und ihn küsse. Gierig und lange.

»Soll ich dich jetzt nach Hause bringen?« fragt er nur.

Danke. Das darf er gern.

Ich beiße ihm in die Schulter und bohre meine Nägel in seinen Rücken, während er sich an meinem Hals festsaugt. Wir wimmern und schreien, stöhnen und seufzen, bis plötzlich alles in Rot explodiert ...

»Du bist herrlich«, flüstert er irgendwann in der Stille, die folgt, und legt mir eine Hand auf die Hüfte.

»Mmh«, grunze ich mit geschlossenen Augen und fühle, wie sich die Welle langsam zurückzieht und zu einem berauschenden Prickeln wird.

»Ich habe dich vermißt«, sagt er und legt seinen Kopf zwischen meine Brüste.

»Das brauchst du nicht zu sagen!« Ich öffne meine Augen nur einen Schlitz, so daß ich gerade in seine sehen kann, in denen der Rand der Kontaktlinsen als ein Kreis um die Iris zu erahnen ist. Schweißtropfen hängen in seinen Wimpern, und ich erinnere mich vom letzten Mal daran, daß das sein postkoitales Merkmal ist. Daß er hinterher so unglaublich schwitzt. Als würde er alles ausschütten. Meines besteht in glühenden Wangen und einer Sanftheit, die ich nicht beherrschen kann.

»Aber es ist so!« beharrt er. »Das war eine absolut außergewöhnliche Nacht, als wir letztes Mal ...«

»Das stimmt«, gebe ich zu. »Wirklich außergewöhnlich.«

»Hör auf zu spotten!«

»Ich spotte nicht!« versichere ich ihm und streichle seinen Rücken, bis er eine Gänsehaut bekommt. »Ich habe dich auch vermißt.«

Womit das gesagt und akzeptiert ist. Mit Hilfe des Alkohols, aber ohne Einschränkungen. Ich habe Paul vermißt.

Er stützt sich auf seine Ellbogen und sucht skeptisch die Wahrheit in meinem Gesicht.

»Wirklich?«

Ich nicke, und er rollt neben mich, meine Hand in seiner.

»Tes«, fängt er an und benutzt wie viele Kollegen mein Redaktionskürzel. »Ich habe ja nie geglaubt, daß du wirklich so ein kalter Fisch bist.«

»Vielleicht bin ich es ja morgen«, sage ich gedämpft und lasse meine Augenlider wieder ganz zufallen. Das Bett dreht sich wie ein Karussell, und Paul stopft die Decke um mich fest. Gibt mir einen Gute-Nacht-Kuß und läßt mich einschlafen, mit seiner Hand auf meinem Venusberg.

Wir wachen an einem Sonntagmorgen mit Regen, Donner und einem jähen Temperaturabfall auf. Ich bin wahnsinnig durstig und habe einen schweren Kopf, bin jedoch erleichtert, daß ich keine Reue spüre und es überhaupt nicht als verkehrt empfinde, neben Paul in meinem Bett aufzuwachen. Auch er hat offensichtlich keine unguten Gefühle – gibt mir nur einen lieben Guten-Morgen-Kuß und zieht mich an sich.

Wir bedanken uns gegenseitig für die Nacht. Reden über dies und das, necken uns, kuscheln aneinander. Dann stehen wir träge auf, gehen gemeinsam ins Bad und machen unter der Dusche Schaumliebe – eine Disziplin, die Paul souverän beherrscht. Aber das wußte ich ja schon – er ist wirklich ein guter Liebhaber. Hinterher, als wir endlich etwas angezogen und uns einen Liter Pepsi Light geteilt haben, der glücklicherweise im Küchenschrank übersommert hat, möchte Paul Frühstück und die Morgenzeitung haben.

»Das kannst du hier nicht kriegen«, sage ich, und mir fällt meine Brunch-Verabredung mit meiner Mutter ein. Die Uhr zeigt Viertel vor elf, ich muß los.

»Darf ich mitkommen?« fragt er, und ich stoße nur ein verwundertes »Was?« aus.

»Warum nicht?« fragt er und will mich an sich ziehen.

»Darum!« antworte ich und gestatte mir für einen Augenblick, die Berührung seiner Hände auf meinem Rücken zu genießen. Normalerweise kann ich es nicht ertragen, am Tag danach angefaßt zu werden.

»Weil du kalt bist heute?« ärgert er mich und gibt mir einen Kuß auf den Knutschfleck, mit dem er mich rücksichtslos markiert hat.

»Genau!« erwidere ich, mache mich frei und rufe ein Taxi. Übertriebener Luxus, aber das Fahrrad jetzt aus dem Keller heraufzuholen, das ist mir im Augenblick zu kompliziert, und außerdem gießt es draußen zu sehr, um auch nur trocken zur Bushaltestelle zu kommen. Und schließlich – wenn wir das Taxi zusammen nehmen, können wir auf dem Rücksitz noch Händchen halten ...

Wir verabschieden uns vor seiner Haustür in der Nørre Søgade.

»Wann sehen wir uns wieder?« fragt er und hält meine Hand fest, nachdem er aus dem Wagen gestiegen ist.

»Früher oder später«, antworte ich.

»Dann aber lieber früher! Ich bin den ganzen Tag zu Hause.« Er drückt meine Hand, bevor er die Tür zuwirft, bleibt dann im Regen stehen und winkt mir nach. Immer noch in seiner weißen – sofort durchnäßten – Kleidung. Ich lehne mich im Sitz zurück und schnuppere den geheimnisvollen Duft, der aus meinem Schoß aufsteigt.

»Und jetzt zur Havnegade!« sage ich dem Fahrer im Spiegel und habe Lust, laut loszulachen.

»Mein Gott!« ruft meine Mutter aus, als sie mich umarmt hat. »Ist der russisch?«

»Was?« frage ich desorientiert.

»Der da!« lächelt sie und legt ihren Finger genau dorthin, wo Paul sich letzte Nacht festgesogen hat.

»Ist der russisch?« wiederholt sie, als handle es sich um ein besonderes Schmuckstück in Silberfiligran.

»Das ist ein Vampirbiß!« erwidere ich und hänge meinen Mantel auf.

»Ja, ja, die sind wild, die Russen!« Mutter kichert und überprüft automatisch ihr Aussehen, als sie am Garderobenspiegel vorbeikommt, um in die Küche zu gehen. Sie ist im Morgenmantel, aber ihr Make-up ist sorgfältig aufgetragen. Wie ein Zahnloser, der als erstes morgens nach seinem Gebiß greift, sucht sie ihre Kosmetiktasche. Seit ich von daheim ausgezogen bin, habe ich sie nie ohne Rouge und Wimperntusche gesehen. In der Küche ist hübsch für vier gedeckt, und es duftet verführerisch nach Kaffee. Vermutlich hat sie bereits einen halben Eimer getrunken.

»Kiki kommt auch – mit ihrem neuen Macker. Wie hieß er noch? Morten oder Martin oder so«, erzählt sie, während sie die Marmelade auf den Tisch stellt.

»Und was ist mit deinem Macker?« frage ich und schenke mir eine Tasse Kaffee ein.

»Der gute alte Freddy?« fragt sie und verzieht das Gesicht. »Er ist auf dem Land. Er hat mir feierlich erklärt, daß er sich NIEMALS wieder vor einer Premiere in meiner Nähe aufhalten wird. Er behauptet, ich wäre dann unausstehlich.«

»Das bist du doch auch!« Ich lasse mich mit der Tasse in der Hand auf einen Stuhl fallen. Ich habe das Gefühl, mich während eines Erdbebens in einem schwankenden Hochhaus zu befinden.

»Ich bin nur so verdammt nervös! Diesmal müssen sie mich auf die Bühne zerren!« Mutter zupft an ihrem Mundwinkel, ein Zeichen dafür, daß sie wieder Herpes bekommt. Ihre Premierennervosität zeigt sich immer in Herpesbläschen. »Sie werden mich umbringen!«

»Das sagst du jedesmal!« Ich nippe an dem Kaffee, er schmeckt scheußlich, bringt mich aber näher an die physische Realität heran.

»Ja, aber diesmal ist es ernst!« Mutter braust auf. »Wenn ich einen König hätte, der mit einem spielt und nicht gegen einen, dann ginge es ja noch ... Wenn nicht der süße Viktor dabei wäre, hätte ich schon lange einen Nervenzusammenbruch gehabt!«

Mutter greift nach ihren Zigaretten auf dem Dunstabzug, zündet eine an und inhaliert nervös.

»Viktor ist genial. Er macht etwas mit mir. Er holt etwas in mir hervor, von dem ich selbst nicht gedacht habe, daß ich es kann ...«

»Ist er jetzt wieder dein Liebhaber?« falle ich ihr schroff ins Wort und rutsche auf meinen alten Platz an der Wand. Mutter hat ihr festes Repertoire an Liebhabern, die sie in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder aufnimmt. Regisseure, die immer unmittelbar Zugang zu ihr haben, Schauspieler oder Back-stage-Leute, obwohl letzteres nun schon ein paar Jahre zurückliegt. Dafür, denke ich, hat sich jetzt wohl ein Theaterdirektor eingeschlichen, von dem sie letztlich auch mehr hat.

»Also, Therese, du klingst wie Freddy!« Mutter verdreht die Augen. »Er ist so unglaublich eifersüchtig. Er versteht einfach nicht, was es heißt, eine künstlerische Symbiose mit einem anderen Menschen einzugehen!«

»Nun mal ehrlich, Mutter, was kann man denn von einem Zahnarzt erwarten!«

»Ein bißchen Verständnis! Großzügigkeit!« Mutter streift die Asche von ihrer Zigarette ab, und ich kann ihr nur noch einen Blick zuwerfen, bevor wir Kikis drei kurze Klingelzeichen hören.

»Ich mache auf!« sage ich, und Mutter nickt.

Kiki ist auch keine Schauspielerin geworden. Sie hat zwei, drei angefangene Ausbildungen hinter sich und arbeitet jetzt als Croupier in einem der großen Hotels. Aber auch wenn ihr Mutters elektrische Nervosität fehlt, ist sie ansonsten diejenige von uns beiden, die Mutter am meisten ähnelt. Sowohl vom Aussehen – rotblond, mit Sommersprossen und Kurven, während ich dunkel und knochig bin wie Vater – wie vom Gemüt her. Genau wie Mutter hat Kiki eine Art ewiger Kindlichkeit, eine unzensierte Unmittelbarkeit, die sie immer gesund, aufbrausend und direkt reagieren läßt.

Als Kinder hatten wir Probleme miteinander, weil der Altersunterschied zwischen uns nur gering ist, wir uns viel zu oft selbst überlassen wurden, aber so unterschiedlich waren, daß wir kaum etwas miteinander anfangen konnten. Ich war die Ältere und die Klügere, während sie die Stärkere und Robustere war, und deshalb gewann fast immer sie.

Ich habe es mir nie eingestanden, aber ich glaube, eigentlich fürchtete ich mich vor ihr. Sie machte mir angst. Kiki wütete und fluchte, warf sich hysterisch schreiend auf den Boden, fiel von Bäumen und brach sich Arme und Beine, steckte ihr Zimmer in Brand oder lief davon, während ich mich still und erhaben durch meine Kindheit bewegt habe, nur das einzige Ziel vor Augen: groß zu werden, um Anerkennung von meinem abwesenden Vater zu erlangen.

»Hallo, Superstar!« Kiki drückt mich begeistert an sich. »Spitze, dich wiederzusehen!«

Sie sieht aus, als meine sie das wirklich, und es erfüllt mich wie immer mit einer sonderbaren Form von guter Laune, daß ich von ihr akzeptiert werde. Und einer gewissen Erleichterung, denn sie hat sich nie, auch nicht, seit wir erwachsen sind, mit ihrer Kritik zurückgehalten.

»Das ist Marvin«, sagt sie und zieht den langhaarigen Typen nach vorn.

»Marvin?« Ich gebe ihm die Hand, und er beantwortet meine unausgesprochene Frage.

»Meine Mutter war Marvin Gaye-Fan. Nenn mich einfach Spunk.«

»Wie die Lakritzpastillen!« wirft Kiki ein und legt dabei einen Finger auf meinen Hals. »Nana?«

»Vampirbiß«, sage ich kurz.

Kiki grinst.

»Heißt er Paul? Und schickt Postkarten aus Skagen?«

»Du bist schrecklich, du Rotzgöre!« Ich schubse sie leicht, und Kiki legt ihren Kopf nach hinten und schüttelt grinsend die Regentropfen aus ihrem lockigen Haar. »Ja, aber ich habe doch recht, oder?«

Kiki und Spunk waren am Abend zuvor auf einem Fest, sind davon noch angeschlagen und knabbern an ihren Brotscheiben, die sie selbst mitgebracht haben. Und ich habe es mir aus praktischen Gründen in Moskau fast abgewöhnt zu essen – die humanste Lösung für einen Korrespondenten ohne Korrespondentenfrau –, und eine Nacht mit Paul ist, nach normalen Kriterien zu urteilen, auch nicht gerade appetitfördernd. Das einzige, wozu ich Lust habe, ist, zu rauchen und zu trinken. Und als Mutter und Kiki sich Blicke zuwerfen und zu einem Verhör ansetzen wollen, komme ich ihnen zuvor. Ich schlage vor, daß Mutter die Flasche armenischen Cognac öffnen soll, die ich ihr mitgebracht habe.

»So früh am Morgen?« fragt Mutter rhetorisch, während sie schon kleine Gläser aus dem Schrank holt.

»Wir schaffen es locker bis zum Mittag«, erklärt Kiki. »Übrigens habe ich einen Brief von ihm gekriegt«, fügt sie ohne Übergang hinzu.

»Wie geht es ihm?« fragt Mutter neutral, aber mit einer Stimme, die ein paar Oktaven höher liegt als sonst.

Spunk schaut verwirrt von einer zur anderen.

»Keine Ahnung. Als ich sah, daß er von ihm ist, habe ich ihn zerrissen, ins Klo geschmissen, mich hingesetzt und drauf geschissen!«

Wir starren sie alle drei wie gelähmt an.

Mutter steht der Mund offen, und ich schließe meinen erst, als Spunk seine Neugier nicht mehr länger bremsen kann. Oder seine Eifersucht.

»Wovon zum Teufel redest du, Weib!«

»Von meinem Vater«, lächelt sie beruhigend. »Oder genauer gesagt, von meinem verstorbenen Vater.«

»Kiki!« protestiert Mutter. »Mußt du so hart sein?«

»Yes, mam!« erwidert Kiki. »Wollen wir anstoßen?«

Warum nicht? Es gibt sowieso nichts anderes zu greifen, und nach ein paar Gläsern hat das Gespenst sich aufgelöst. Jedenfalls fast. Denn ich spüre, daß mich ein kalter Wind durchfährt und die Türen aufspringen, die ich sonst sorgsam geschlossen halte. ›Warum schreibst du ihr und nicht mir?‹ hallt das Echo nach, aber es dreht sich nicht um. Und dann ist es fort.

»Hallo! Träumst du von deinem Traumprinzen?« Kiki knipst mich zurück in die Küche, wo die Stimmung inzwischen ziemlich angeheitert ist. Und auch wenn Mutter die ganze Zeit mit ihrem Rollenheft wedelt und erklärt, daß sie jetzt unbedingt ihre Rolle lernen muß, ist sie andererseits doch froh, eine Entschuldigung zu haben, nicht damit anfangen zu müssen. Sie erscheint mir angespannter als normal, darum halte ich sie nicht zurück, als sie nach der Flasche greift, auch wenn ich weiß, daß sie manchmal etwas zuviel trinkt. Anscheinend hat sie Entspannung dringend nötig. Vielleicht ist es ja doch keine Lüge, daß sie diesmal nervöser ist als sonst. Vielleicht ist es das Alter, das früher oder später auch zu der bestkonservierten Diva kommt, sich über Nacht bei ihr einschleicht und sich als Leberflecken auf den Handrücken niederläßt.

»Theresekind, erzähl uns doch von Moskau!« fordert Mutter mich auf, als sie meinen prüfenden Blick bemerkt. »Hattest du nicht schreckliche Angst?«

Das ist lieb von ihr, und ich belohne sie mit einem Lächeln. Einem echten.

»Ich wäre fast vor Angst gestorben!« lüge ich und präsentiere eine Auswahl an spektakulären Details und Anekdoten von der Front, während ich mich selbst darüber wundere, warum die bewegendsten Begebenheiten in Rußland seit 1917 sich wie ein Märchen mit Helden, Schurken und einem glücklichen Ende anhören, wenn man sicher in einer dänischen Küche sitzt vor einem Publikum, das es gewohnt ist, alles im Fernsehen präsentiert zu bekommen.

»Wollen wir nicht auch dorthin!« ruft Spunk aufgeregt und stößt Kiki einen Ellbogen in die Seite, als ich von den Schlangen vor McDonald’s und PizzaHut erzähle.

»Was zum Teufel sollen wir da?« Kiki bricht eine Ecke von einem Kopenhagener ab.

»Ein Fast-food-Restaurant eröffnen natürlich! Schließlich bin ich Koch«, erklärt er mir. »Hier gibt es kaum was für mich zu tun. Aber dort – in Rußland! Das ist doch fast wie Amerika neunzehnhundertzehn!«

Spunk ist hellauf begeistert und entwirft bereits eine Speisekarte mit Pastagerichten, Frikadellen und warmen Sandwiches.

»Siehst du es nicht vor dir?« fragt er mich, weil Kiki es einfach nicht will, und ich nicke und schlucke langweilige, wichtige Informationen hinunter, die seiner Begeisterung einen ziemlichen Dämpfer versetzen würden.

»Wir könnten steinreich werden!« Das ist ein Argument, das für einen Augenblick sticht, bis Kiki auch das locker pulverisiert hat.

»Und was sollen wir mit den vielen Rubeln machen?«

Ich grinse und unterstütze Spunk, indem ich erkläre, daß irgendwann auch der Rubel konvertierbar werden wird.

»Okay!« Kiki gibt ihm einen Kuß auf die Wange. »Aber dann will ich mein eigenes Kasino haben!«

Spät am Nachmittag, als Kikis und Mutters Fragen immer aufdringlicher werden, breche ich auf. Ich verweigere jede Antwort, aber Kiki bringt mich dennoch unter lautem, siegreichem Gejohle zum Erröten, als sie mit ihrer exakten Beschreibung den Nagel auf den Kopf trifft.

»Ist es der Windbeutel aus den Nachrichten? Dieser feuchte Dunkelhaarige?«

Als ich schließlich heimkomme, duftet mein Bettzeug immer noch nach ihm, dem Feuchten. Ich ziehe mich aus und gehe mit einem Stapel Zeitungen und einer Tasse Beuteltee in die Federn. Es regnet ununterbrochen, ich bin leicht beschwipst und müde und stöpsle das Telefon aus, bevor vielleicht jemand auf die Idee kommen könnte, mich anzurufen. Bevor er vielleicht auf die Idee kommen könnte ... Morgens hatte ich den Anrufbeantworter nicht mehr einschalten können, also weiß ich nicht einmal, ob er es nicht schon versucht hat. Ich schlafe über einem Auszug aus Raissas Autobiographie ein, die in der Sunday Times veröffentlicht ist – entweder sie ist vollkommen vernarrt in Michail, oder sie ist einfach gut erzogen –, und wache plötzlich ganz verwirrt von dem eindringlichen Summen der Türklingel auf. Einen Augenblick glaube ich, ich bin immer noch in Moskau und habe eine wichtige Deadline verschlafen ...

Natürlich ist er es. Ich bin nicht einmal richtig überrascht. Lasse ihn nur herein und versuche aufzuwachen.

Die Kälte aus dem Hausflur zieht meine nackten Beine hinauf; ich lasse die Tür offenstehen und krieche wieder ins Bett.

»Ist das eine Einladung?« fragt er in der Türöffnung, die er mit nassem Staubmantel und breitkrempigem Borsalino ausfüllt. Er sieht aus wie Humphrey Bogart, und das ist wohl auch der Sinn der Sache.

»Play it again, Sam!« sage ich mit tiefer Ingrid-Bergman-Stimme, und bevor ich die Konsequenzen abwägen kann, hat er den Hut abgenommen, sich aus dem Mantel geschält und landet mitten in den Zeitungen.

»Sunday Times? Bist du immer so seriös?« Er fegt die Seiten zu Boden, von denen mich ein junger Gorbi mit einem sensiblen Mund anguckt, während ich Paul aus seinen Klamotten schäle, um an seine warme, büschelweise behaarte Brust zu kommen.

»Scharf«, murmelt er hinterher wie ein erschöpfter Boxer. »Scharf ...«

»Und gefährlich«, füge ich hinzu, ohne sicher zu sein, daß er mich versteht.

Er nickt nachdenklich. Läßt eine Locke meines Haars durch seine Finger laufen.

»Lebensgefährlich.«

Später, als es dunkel geworden ist und wir mit einem leicht genierten Kichern Simons und Franks lautem Sonntagsbumsen zuhören mußten – wie sie es vorher bei uns mußten –, bestellen wir Pizza, die wir im Bett essen, während wir CNN leise laufen lassen. Der Montag wirft bereits seine Schatten, und wir möchten beide gern ordentlich angezogen antreten und die Situation wenigstens einigermaßen im Griff haben. Deshalb halten wir uns mit dem Alkoholkonsum zurück und verkorken bereits nach einem Glas den Chianti wieder.

»Kaffee?« frage ich.

»Aber du hast doch gar keinen, oder?«

»Nescafé?«

Paul schüttelt den Kopf.

»Nein, danke. Ich denke, ich sollte mich schleunigst auf den Nachhauseweg machen.«

Dann steigt er aus dem Bett, während ich liegenbleibe und die Verwandlung beobachte, die ich auch schon bei anderen Männern gesehen habe. Die Verwandlung von dem süßen, albernen Liebhaber zum seriösen, fernen Reporter. Vom Jungen zum Mann. Zum Glück muß er keinen Schlips umbinden. Ich fände es unerträglich, ihm dabei zuzusehen, wie er sich mit flinken, routinierten Fingern den Knoten bindet, beinahe ohne jede Ähnlichkeit mit dem, der vor kurzem noch mit meinem Körper gespielt hat. Ich sag’s doch immer: Sex macht mich übersensibel. Erst als er vollständig angezogen ist, kommt er zu mir, setzt sich auf die Bettkante und nimmt meine Hand in seine.

»Ich bin froh, daß du wieder zurück bist.«

»Ich auch«, sage ich und lege einen Moment lang meine Wange an seine, wo der Zwei-Tage-Bart pikst. Dann lasse ich ihn gehen. »Hallo!« rufe ich ihm nach, als er schon an der Tür ist. »Den hier hast du vergessen!«

Ich werfe den Borsalino wie eine Frisbeescheibe durch das Zimmer. Er schnappt ihn im Flug und setzt ihn auf. Verzieht seinen Mund wie Bogart und ist fort.

»Ja«, sage ich zu mir selbst mit einem Seufzer wie eine alte Frau. »Jaja, soso, jaja ...«

Dann stehe ich auf und wasche ab. Packe meinen Koffer aus. Es regnet immer noch.

Ich habe mich am Montag morgen nach der Morgenkonferenz gerade beim Tagesdienst gemeldet, als der General mich schon zu sich ruft. Kirsten, die Producerassistentin, reckt den Daumen aufmunternd in die Luft.

»Keine Angst. He loves you!«

Es heißt, er ist gut zu Kindern und Tieren, aber ansonsten ist Freundlichkeit nicht gerade das, wofür unser Chef bekannt ist. Er ist eine harte Nuß, und es ist nicht ungewöhnlich, daß selbst sturmerprobte Kollegen schluchzend sein Büro verlassen. Deshalb schiebe ich die halboffene Tür mit einem gewissen Beben auf, obwohl ich ein absolut reines Gewissen habe.

»Therese Skårup!« ruft er laut und erhebt sich zu seiner ganzen imposanten Größe. Zwei Meter groß und hundertzwanzig Kilo schwer – und mit einem Ego versehen, das genauso überdimensioniert ist wie sein Körper. Wirklich ein Mann mit Stärke.

Er kommt mir mit ausgebreiteten Armen entgegen, um mich zu umarmen; bei seiner Flügelspannweite und überhaupt ist es unmöglich, die Umarmung zu parieren.

»Herzlichen Glückwunsch, ich bin stolz auf dich! Das hast du wirklich gut gemacht! Hast du das schon gesehen?« fragt er und fischt eine Fotokopie des Fernsehkommentars aus den Stapeln auf seinem Schreibtisch.

Ich lächle ironisch und antworte, daß ich es gesehen habe, aber bekanntermaßen haben diese Boulevardblätter ja Probleme mit der Wahrheit.

»Ganz deiner Meinung«, nickt er, schließlich ist er Lieblingsopfer der Seite zwei der Zeitung. »Aber die anderen Zeitungen sind auch auf dich aufmerksam geworden – positiv –, und hier im Haus sind wir sehr zufrieden!«

Und als wenn das nicht schon genug wäre, bekomme ich den wahren Ritterschlag, als er mir eine seiner starken griechischen Zigaretten anbietet. Ich bedanke mich, und er selbst schafft es, während der Audienz, die wie immer schnell vom General selbst handelt, zwei, drei Stück zu rauchen. Er erzählt von seiner Zeit als Kriegskorrespondent in Nahost und Südostasien. Nam, natürlich, das war sein Krieg, und »irgendwann muß ich doch mal ein Buch darüber schreiben, denn bislang hat es ja noch niemand beschrieben, wie es wirklich war!«.

Ich unterdrücke hinter dem dunklen Rauch ein Lächeln, als mir Paul in den Sinn kommt; er ist berühmt für seine Fähigkeit, den General bis ins Detail parodieren zu können, mit wortwörtlichen Zitaten.

Moskau kennt er natürlich auch in- und auswendig, der General – o ja! –, deshalb können meine Augenzeugenschilderungen und Analysen des Putsches ihn nicht wirklich vom Stuhl reißen. Sie dienen höchstens als Stichworte für seine eigene wortreiche Interpretation der Geschehnisse, die er als »Dilettantencoup« beschreibt.

Der Monolog wird schließlich von seiner Sekretärin unterbrochen, die ihn an eine Besprechung mit dem Fernsehdirektor um zehn Uhr dreißig erinnert. Der General sieht resigniert auf seine Uhr.

»All diese verfluchten Besprechungen. Tes, es macht viel mehr Spaß, Indianer zu spielen, als Häuptling zu sein!«

Ich habe große Lust zu fragen, ob ich ihn mit dieser Bemerkung zitieren darf, aber so sicher sitze ich nun auch nicht im Sattel. Er ist launisch und leicht zu provozieren, und ich habe keine Lust, einer der Mitarbeiter zu werden, die demonstrativ aufs tote Gleis geschoben wurden, weil sie den Gott geärgert haben. Als ich deshalb lieber untertänig lächle, statt garstig zu sein, bringt er mich noch bis zur Tür. »Nun ja, also willkommen im Club, Tes! Schön, ein Mädchen dabeizuhaben, das Haare auf der Brust hat!«

»Die Eier nicht zu vergessen!« pariere ich über die Schulter hinweg.

Er bricht in krächzendes Tabaksgelächter aus, das in Husten umschlägt.

»Eier! Hast du die auch noch? Das muß ich bei Gelegenheit mal überprüfen!«

Fast der ganze Vormittag vergeht damit, daß ich die Post durchsehe, mich aufs laufende bringe und mit den anderen rede. Ich liebe meine Arbeit, es ist schön, wieder in meinem Handtuch-großen Büro zu sitzen, und auch schön, die Kollegen wiederzusehen.

Aber meine Seele hängt immer noch irgendwo zwischen den Zwiebeltürmen des Kremls und dem Weißen Haus, und ich weiß aus Erfahrung, daß es ein paar Tage dauern wird, bis ich den unerträglichen Gesichtsausdruck abgelegt habe, mit dem wir Auslandskorrespondenten nach Hause zu kommen pflegen. Das hassen sie im Inland, wo sie sowieso der Meinung sind, wir wären alle nur eingebildete Angeber. Deshalb sind gemischte Ehen auch nicht so üblich ...

»Hallo! Willkommen daheim!« Lea, eine etwas ältere Kollegin, kommt, um mich zu begrüßen. Sie ist gerade mit einem Rot-Kreuz-Flugzeug aus dem Sudan zurückgekommen. Offensichtlich hat sie den Drang zu reden, denn sie schiebt den Papierstapel vom Besucherstuhl und läßt sich darauf nieder.

»Skelette!« sagt sie nur. »Und wenn sie nicht verhungern, dann werden sie im Bürgerkrieg umgebracht. Merkwürdig«, sie schüttelt langsam den Kopf und steckt sich geistesabwesend ein Stück Nikotinkaugummi in den Mund. »Ich bin jetzt so oft in der Dritten Welt gewesen und habe alles schon gesehen. Normalerweise kann ich das wegstecken ... auch die ausgetrockneten Säuglinge und die Fliegen. Aber diesmal ...«

Lea kaut und sinkt in sich zusammen, während ich die Gelegenheit nutze, einen verstohlenen Blick auf den laufenden Fernseher zu werfen, der neben dem Gästestuhl steht. CNN sendet direkt aus dem Parlament, und auch wenn es jetzt Ferdinand ist, der den Laden dort drüben schmeißt, muß ich mit Bildern und Nachrichten auf dem laufenden sein und bereit, etwas zusammenzufassen oder zu kommentieren.

»Das ist so, seit ich Matthias bekommen habe«, fährt Lea grübelnd fort. »Seitdem geht es mir so nahe.«

Ich nicke verständnisvoll, während ich nebenbei registriere, daß Jelzin einen beunruhigten, scheißwichtigen Gesichtsausdruck aufgesetzt hat, und gleichzeitig überlege, warum Paul wohl nicht auf der Morgenkonferenz war.

Lea durchschaut mich und steht mit leicht geschürztem Mund auf.

»Na ja, das verstehst du erst, wenn du selbst Kinder hast.«

Ich verdrehe die Augen und greife nach dem Telefon. Lea ist ein abschreckendes Beispiel dafür, was aus einem eigentlich vernünftigen Menschen werden kann, der plötzlich darauf besteht, Mutter werden zu wollen – mit vierzig! Und dann noch alleinerziehende Mutter. Sie, die der tough Cookie der Redaktion war, bekannt für ihr Engagement und ihre Furchtlosigkeit, interessiert sich jetzt vor allem für Matthias’ letztes Bäuerchen, ist ewig und drei Tage krank geschrieben und fährt nur noch auf Befehl fort, und auch dann möglichst nur in ›sichere‹ Gebiete. Und sie war einmal mein Vorbild.

Paul ist in die Kantine gegangen, erklärt mir die Sekretärin vom Inland, ich lege auf und beschließe blitzschnell, daß ja eigentlich Mittagspause ist.

Zu behaupten, ich hätte den ganzen Sommer über gehungert, ist übertrieben, aber sicher bin ich etwas unterernährt – ich habe vier Kilo abgenommen und spüre, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft, als mir der vertraute Geruch von Soße und Kartoffeln aus der Großküche entgegenschlägt. Deshalb kann ich es trotz des beunruhigenden Fahrstuhlgefühls im Zwerchfell nicht lassen. Ich muß Schweinebraten mit Rotkohl haben! »Das ist gut! Du brauchst ein bißchen Fleisch auf den Knochen«, murmelt er plötzlich hinter mir, als ich in der Kassenschlange stehe. »Und danke für den gestrigen Tag!«

Er pustet mir in den Nacken, und ich kann mich nur kurz nach ihm umwenden, bevor ich das Essen bezahlen muß, von dem ich mit einem Mal ganz sicher bin, daß ich es nicht hinunterbekommen werde.

Paul hat bereits gegessen – er ist nur hier, um Kaffee zu holen. Zwei Tassen. Ich gehe auf die Tische zu, die wie immer um diese Zeit von den Nachrichtenleuten besetzt sind. Sie erlösen mich, indem sie schnell und aufmerksam Platz für mich und mein Tablett machen und mich anschließend mit interessierten, freundlichen Fragen überschütten. Paul hat sich auf seinen Platz gesetzt, schräg gegenüber von Henriette, einer flinken Parlaments-Reporterin mit hochgestecktem Haar und einem Blitzen in den Augen. Sie ist es also, für die er Kaffee geholt hat, und sie nimmt ihn so entspannt und zurückgelehnt entgegen, daß kein Zweifel möglich ist.

Es gelingt mir, ihn vollkommen zu übersehen, während ich Fragen beantworte, Geschichten erzähle und den General preisgebe – das mit dem Häuptling und den Indianern ruft ungeteilte Begeisterung hervor –, und mit einer teuflischen Schadenfreude bemerke ich, daß sie diejenige von uns ist, die am meisten reingelegt wurde. Nicht der Schatten eines Mißtrauens ist in ihrem aufmerksamen Zuhören zu bemerken.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung und einem fast unberührten Teller breche ich noch vor Paul auf und stelle mein Tablett auf das Stativ, ohne daß jemand von meinem Rücken irgend etwas ablesen könnte. Und da Paul – obwohl doch alle wissen, daß er der größte Herzensbrecher des Senders ist – diskret mit seinen Eroberungen umgeht, muß ich auch nicht befürchten, öffentlich vorgeführt zu werden.

Auf dem Weg zurück durch die labyrinthartigen Flure bis zum Ausland versuche ich mir selbst einzureden, daß ich überreagiere. Er hat mich weder angelogen, noch hat er mir etwas versprochen, und ich habe weder gefragt noch etwas gefordert. Dennoch sitzt eine eisige Enttäuschung in meinen Eingeweiden, was mich wiederum wütend macht.

Den ganzen Sommer über bis zu diesem Augenblick habe ich – ob eingestanden oder nicht – von ihm geträumt. Davon, zu ihm zurückzukommen. Aber Paul ist kein junger Prinz, der durch die Dornenhecke bricht und Dornröschen aus der Verzauberung befreit. Ich habe mich geirrt. Paul Weber ist Paul Weber – ein Mann, vor dem jede Mutter ihre Tochter warnen sollte. Schade, denn sie konnte ihn wirklich gut leiden. Den Auserwählten. Den Einzigen. Den Mann.

Sonst bin ich nicht so. Ich bin nicht so eine, die sich gleich nach dem ersten Kuß im Lilly-Modell-Hochzeitskleid sieht. Ganz im Gegenteil, ich habe noch nie so weit gedacht. Doch, einmal habe ich das. Aber da war ich so jung und wurde so enttäuscht, daß das Psychoanalyse für Doofe ist, warum ich seitdem ein gebranntes Kind bin. Das muß mir keine Quacksalberseele erklären, und ich denke, ich habe gelernt, mit der Wunde zu leben. Zumindest habe ich gelernt, mich soweit zu schützen, daß nur äußerst selten Salz in die Wunde gelangen kann.

Als ich aber schließlich im Auslandsflur angekommen bin, brennt sie so stark, daß ich schnurstracks in mein Büro trample und die Tür hinter mir schließe. Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und stütze die Ellbogen auf die ausgediente IBM-Schreibmaschine, während ich auf die roten Vogelbeerbäume im Hinterhof schaue. Dann versuche ich die Situation kalt und ruhig zu analysieren, wie ich es immer tue. Und das einzige, was dabei herauskommt, nachdem ich den Baum nur noch wie durch einen Nebel sehe, ist, daß ich mich selbst nicht mehr wiedererkenne. Ich habe mich verändert.

Dem Putsch die Schuld zu geben, wäre zu pathetisch, obwohl jeder, der so einen Umsturz miterlebt hat, sich einbildet, nie wieder der gleiche zu sein. Nein, wenn ich ehrlich sein soll, kann ich alles nicht beantworten, weder warum, seit wann noch wie. Widerstrebend muß ich erkennen, daß ich irgendwo in mir einen vagen Traum von – believe it or not – Liebe hege. Was ich damit anfangen soll, weiß ich nicht. Noch weniger, was ich mit Paul anfangen soll. Abgesehen von dem Nächstliegenden – ihn zu exekutieren.

Als es an die Tür klopft, zucke ich zusammen und sage mit klopfendem Herzen »Ja?«

»Störe ich?« Es ist Ras, der Auslandsredakteur, der seinen kahlen Kopf hereinsteckt.

»Nein, nein!« versichere ich hektisch, als wäre ich auf frischer Tat ertappt worden, obwohl ich bezweifle, daß seine Sensibilität weit genug entwickelt ist, um zu begreifen, in was für einem Sturm ich mich gerade befinde. Wäre sie es, hätte er sicher nicht drei Exfrauen, sieben Wochenendkinder und katastrophale Finanzen. »Setz dich!«

»Wie geht’s?« fragt er mit einem Blick auf meinen sonderbar leeren Schreibtisch.

»Gut. Ich akklimatisiere mich«, lächle ich beruhigend.

»Bist du müde?« fragt er.

Ich zucke mit den Achseln.

»Vielleicht eine Spur.«

»Wie wäre es mit Urlaub? Hast du noch welchen zu kriegen?« Er lehnt sich im Stuhl zurück, stopft seine Pfeife. Signalisiert ›viel Zeit‹.

»Noch zwei Wochen, aber der General hat mich gebeten, sie noch aufzusparen, bis die Situation sich stabilisiert hat.«

»Ja«, nickt Ras. »Er setzt große Stücke auf dich. Aber paß trotzdem auf, daß du nicht aufgerieben wirst.«

Unsere Blicke treffen sich bei der gleichen Gedankenassoziation, und wir lächeln beide verständnisvoll.

»Und zwar in jeder Beziehung!« Ras lächelt und zeigt dann auf den Bildschirm, der immer noch die CNN-Übertragung aus dem Parlament zeigt. »Darum kümmert sich Ferdinand, wenn du dich um die Republiken kümmern könntest. Visnews will gegen fünf neue Bilder aus Georgien und dem Baltikum haben.«

»Okay«, nicke ich und greife nach einem Kugelschreiber.

»Bist du inzwischen mit deiner Akklimatisation fertig«, fragt Ras, »oder soll ich die Tür wieder schließen?«

»Nein, laß sie nur offen!« sage ich und greife nach einem Stapel Tickermeldungen.

Wie immer am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub oder einer Reise geht alles langsamer. Ich brauche viel Energie für Routinearbeiten, die normalerweise eben nur Routinearbeiten sind, für die ich mich jetzt jedoch richtig anstrengen muß. Aber alle sind nett und hilfsbereit, und ob ich nun ins Bänderarchiv, zur Graphik oder zu den Textern komme, die mal wieder einen russischkundigen Übersetzer brauchen, überall scheine ich mit neuem Respekt betrachtet zu werden. Und alle wollen Originaläußerungen direkt von der Quelle haben. Bis ich endlich wieder zurück in meinem Stall bin und bereit, einen Artikel zu schreiben, ist es schon spätnachmittags, und der Redaktionsschluß rückt mit rasender Geschwindigkeit näher.

Irgend jemand hat einen braunen Umschlag auf meinen Schreibtisch gelegt, und wenn ich schlau wäre, würde ich ihn dort liegenlassen. Aber ich reiße ihn auf, als würde mein gesamtes künftiges Schicksal von dem Inhalt abhängen. »Tes, ein spätes Essen heute abend? P.«

»No way!« murmle ich und knülle den Zettel zu einer Kugel zusammen, die ich in den Papierkorb schmeiße. Dann malträtiere ich die Schreibmaschinentastatur, vertippe mich und rege mich darüber auf, daß mein Computer immer noch nicht on line ist, rufe unten an und bestelle Aufnahmezeit in zwanzig Minuten.

Zum Glück ist es Søren, mit dem ich meinen Beitrag redigieren soll. Ein alter Hippie mit Lederweste und Pferdeschwanz, humorvoll und geduldig. Außerdem kann er einfach einen Kommentar gestalten. Was gerade heute Gold wert ist, denn mein eigener Überblick ist, gelinde gesagt, etwas verschleiert. Es ist schon nach sieben, als er mich ins Tonstudio schickt, aber er bleibt gelassen, nichts kann ihn aus der Ruhe bringen, weder die Ermahnungen der Redaktionssekretärin noch meine wiederholten Huster und Versprecher.

»Noch einmal«, sagt er nur. »Wir haben genug Zeit.« Die Nachrichten sind bereits auf Sendung, als wir unseren Beitrag endlich abliefern, ins Sekretariat gehen und ihn uns noch einmal ansehen. Ich kann nicht anders, ich muß mich einfach im Raum umschauen, nach ihm Ausschau halten. Aber er ist nicht da. Dafür jedoch Lea, die den Kopf wegdreht, als ihr Beitrag über den Sudan dran ist.

»Ist das nicht entsetzlich«, murmelt sie und beißt sich auf die Finger.

»Starke Geschichte«, nickt Søren mit soviel sozialer Entrüstung, wie er sympathischerweise noch besitzt.

Mein Beitrag geht unbemerkt durch – falls er kritisiert wird, wird das erst morgen früh bei der Redaktionskonferenz geschehen –, und gleich danach stehe ich auf und packe meine Sachen zusammen.

Als ich in unsere Abteilung komme, sitzt Ras immer noch in seinem Büro. Er telefoniert, beeilt sich jedoch, das ziemlich privat klingende Gespräch zu beenden, und winkt mich zu sich, als ich vorbeigehe.

»Zwei Dinge«, sagt er, als er aufgelegt hat. »Punkt eins: Ich gebe dir morgen unabhängig vom Dienstplan frei. Ich habe genug Leute, und falls etwas passiert, rufe ich dich einfach an. Punkt zwei: Soll ich dich in die Stadt mitnehmen?«

»In die Stadt? Wohnst du nicht in Farum?«

»Ich habe eine Verabredung!« grinst er und schiebt seine Pfeife zwischen die Zähne.

»Na, so was!« kommentiere ich mit einem vielsagenden Blick zum Telefon. Wenn es mir doch auch so ginge.

Obwohl Ras nur zehn Jahre älter ist als ich, hat er mich immer leicht väterlich behandelt. Und als wir in seiner alten Rostlaube, einem alten Postauto und beliebten Thema in den Spottliedern bei der Weihnachtsfeier, in die Stadt fahren, zeigt es sich schnell, daß er auch diesmal ein paar väterliche Worte auf Lager hat. ›Sich nicht aufreiben lassen‹, ›sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen‹ und mehr in der Art. Vielleicht ist es in Wirklichkeit auch eine Art andersartigen Lobs, auf jeden Fall ist es freundschaftlich gemeint. Und als das erst einmal überstanden ist und ich entsprechend andächtig gelauscht habe, wird es eine angenehme Fahrt mit genau der richtigen Mischung aus Klatsch und Sachlichkeit. Ich necke ihn ein wenig mit seiner Mätresse und muß mir auf die Zunge beißen, um nichts zu der amourösen Verbindung zwischen Paul und seiner Christiansborg-Schnalle beizusteuern, als Ras irritierenderweise selbst auf sie zu sprechen kommt und sie als ein ›wahres Naturtalent‹ beschreibt.

»Sie ist mit dem Paul aus dem Inland zusammen«, erklärt er und fragt mich, wo ich aussteigen möchte. »Weber!« fügt er hinzu. Vollkommen überflüssigerweise.

»Ach, laß mich einfach hier raus! Ich kann den Bus im Jagtvej nehmen!« versichere ich, als ich am Åboulevard aussteige.

»Du mußt entschuldigen. Ich würde dich natürlich gern nach Hause fahren, aber ...« Ras sieht mich verzweifelt an. Für eine mittlere Führungskraft kann er nicht besonders gut unangenehme Beschlüsse fassen.

»Das ist schon in Ordnung!« lächle ich und bedanke mich fürs Mitnehmen.

Am nächstgelegenen Kiosk hole ich mir einen Hot dog mit gerösteten Zwiebeln. Ein Fettwanst mit tätowierten Händen rülpst laut und vernehmlich neben mir. Es ist mir ganz gleich. Ich stopfe nur in mich hinein. Versuche nicht an ihn zu denken, mir nicht vorzustellen, wie nah von hier er wohnt. Ich könnte in zehn Minuten bei ihm sein.

Der Fette rülpst erneut.

»Mahlzeit!« sage ich und gönne ihm einen Blick aus Schlafzimmeraugen. Er grinst träge, ich gehe zur Bushaltestelle.

Der Anrufbeantworter blinkt rot, als ich heimkomme. Drei Nachrichten. Die erste von dem Verlagslektor, der möchte, daß ich etwas schreibe. Die zweite ist ein wortloses Stöhnen, was alles von einem Psychopath bis zu Tante Mo aus der Provence sein kann – sie kommt mit Anrufbeantwortern nicht zurecht. Die dritte ist von Paul.

»Hallo, ich bin’s. Es ist jetzt fünf nach acht. Rufst du mich mal an?«

Um das nicht zu tun, tippe ich blitzschnell Birgittes Nummer ein. Ich habe schon mehrere Male versucht sie anzurufen, gestern und heute, aber immer ohne Erfolg. Und auch diesmal dauert es so lange, bis sie ans Telefon kommt, daß ich fühle, wie sehr ich sie vermisse. Aber endlich ist sie da – ganz außer Atem.

»Hallo, Therese! Bist du endlich wieder zurück?« plappert sie los und klingt so froh, daß ich ganz gerührt werde. Dennoch zögert sie, als ich sie zum Tee einlade.

»Ach, Therese, ich würde ja schrecklich gern, aber ...«

»Was, aber?« Ich wickle mir die Telefonschnur um einen Finger, wie er sich mein Haar um seinen gewickelt hat ...

»Weißt du, ich bin so schrecklich schwanger inzwischen ...«

»Mein Gott, das hatte ich ja ganz vergessen!« sage ich und ziehe den Finger heraus. Reiße statt dessen einen Fensterbriefumschlag auf. Die Elektrizitätswerke. Eine Mahnung.

»Wirklich? Na, das kann ich mir denken!« Birgitte lacht trocken. »Aber ich nicht. Du solltest mich sehen! Elefant in oversize!«

»Das muß ich auf jeden Fall!« kichere ich.

»Ich kann mich kaum noch von der Stelle bewegen. Ich war schon im Bett. Und Jens ist am Storebælt, er hat den Wagen ...«

»Ich sag’ dir was, Birgitte, diese Ausreden lasse ich nicht gelten. Du nimmst dir jetzt ein Taxi auf meine Kosten, wenn es nicht anders geht!« beharre ich.

»Okay«, stimmt sie zu, nachdem sie sich den Vorschlag überlegt hat. »Ich komme. Aber du mußt mir versprechen, nicht zu lachen!«

Hinterher hole ich tief Luft. Beginne bei dem Anblick einer Gitane-Kippe im Aschenbecher zu träumen. Warum habe ich den nicht gestern saubergemacht? Lese unkonzentriert eine Lokalzeitung – die Polizei will die Hausbesetzer um die Ecke rausschmeißen, kann aber nichts tun, solange keine Anzeige vorliegt. Ich gehe in die Küche und setze Wasser auf, bleibe wieder träumend mit der Teekanne in der Hand stehen, als das Telefon klingelt.

»Entbindungsstation!« sage ich frech, fest davon überzeugt, daß es Birgitte ist.

»Wie bitte?« fragt Paul konsterniert.

»Ach, nichts. Ein interner Joke«, erkläre ich obenhin, während ich mich an der Tischkante festhalte, um nicht umzufallen. Und wieder habe ich den Finger um die Schnur, wie mein Bein sich um seines wickelte ...

Paul hat den falschen Einstieg ins Gespräch bekommen, und das ist mir nur recht. So kann ich leichter die Oberhand behalten. Freundlich, aber bestimmt.

»Hast du meinen Brief bekommen?« fragt er unsicher.

»Ja«, antworte ich kurz, während ich den wilden Drang unterdrücke, jetzt gleich mit ihm Telefonsex zu machen. Hier. Sofort.

»Aber du hast nicht geantwortet?«

»Ich hatte keine Zeit«, sage ich und kreuze die Beine. Dann setze ich mich hin und male Kringel auf den Rand der Zeitung.

»Therese, ich weiß nicht, was passiert ist, aber es kommt mir so vor, als wärst du seit gestern ziemlich abgekühlt. Ist der Eindruck richtig?«

»Nun ja«, murmle ich undeutlich. Ich kann es nicht lassen – schließe die Augen und sehe ihn vor mir. Heute kam er in Denimblau. Verwaschenes Hemd, das frau aufknöpfen kann, Knopf für Knopf. Seine Telefonstimme ist eine Spur heiser. Ist seine Fernsehstimme auch so? Wieso habe ich das bisher noch nie bemerkt?

»Und willst du trotzdem mit mir essen? Wenn du rüberkommst, könnte ich was in der Küche zaubern. Oder wir gehen in ›Kates Joint‹, falls sie nicht in Indien ist.«

»Ich kann leider nicht. Ich erwarte Besuch«, erkläre ich förmlich, während meine Phantasie mir mit weichgezeichneten Bildern von Paul und mir in den Rücken fällt, wir beide, wie wir Tandoori-Hähnchen essen ...

»Mann oder Frau, wenn man fragen darf?«

»Das darfst du gern, aber du bekommst keine Antwort.«

Paul seufzt.

»Tes, verflucht noch mal! Ich vermisse dich! Sag mir, was ich falsch gemacht habe, damit ich mich bessern kann!«

Ein Taxi fährt vor dem Haus vor, und ich spreize die Lamellen der Jalousie. Birgitte steigt aus. Sie hat nicht besonders übertrieben. Sie ist wirklich gewaltig.

»Okay«, sage ich und hole tief Luft. Zögere.

»Ja?«

»Ich konnte es noch nie vertragen, die zweite zu sein.«

Paul seufzt erneut. Und das sei ihm hoch angerechnet, daß er mir keine direkte Lüge auftischt.

»Okay. Laß uns drüber reden. Wenn du jetzt also ...«

Wie ein gewünschter dramatischer Effekt ertönt aufs Stichwort die Türklingel.

»Grüß schön!« sagt er sauer, als ich das Gespräch mit einer vieldeutigen Entschuldigung beende. Als ich aufgelegt habe, entdecke ich, daß ich auf den Zeitungsrand lauter kindliche Herzchen gemalt habe.

»Du hast versprochen, nicht zu lachen!« ermahnt mich Birgitte, als sie hereinkommt und sich den Mantel auszieht.

Aber das läßt sich gar nicht vermeiden. Sie hat etwas so grotesk Komisches und gleichzeitig tief Rührendes an sich, wie sie in ihrem Overall dasteht, mit ihrem riesigen Bauch und den weichen, fast zerfließenden Gesichtszügen einem Mumintroll ähnelt.

»Das ist überhaupt nicht witzig!« sagt sie scharf. »Ich weiß sehr gut, wie ich aussehe! Ich bin einfach verdammt schwanger! Ha, ha!«

Plötzlich ist sie kurz vorm Weinen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, und ich nehme sie spontan in die Arme. Sie schluchzt einmal auf, aber dann macht sie sich mit einer abwehrenden Bewegung frei, räuspert sich und wischt sich mit einem Finger über die Augen.

»Liegt es an Jens?« frage ich, ohne zu mitleidig oder vorwurfsvoll zu klingen. Auch wenn Birgitte genau weiß, daß ich nie die große Offenbarung in dem sauertöpfischen Zeichendreieck von einem Ingenieur gesehen habe. Dafür ist er überzeugt davon, daß ich einen schlechten Einfluß auf seine Frau ausübe. Was ich als Kompliment betrachte.

»Nicht direkt. Man wird in diesem Zustand nur etwas labil. Aber schön, dich wiederzusehen«, sagt sie und hält meine Hand für einen Moment. »Wie ist es dir ergangen?«

Das berichte ich ihr, während wir in der Küche stehen, georgischen Tee kochen und Brote schmieren. Birgitte hat mich in Moskau besucht, als ich für ein paar Jahre im Kollegium des Ministerrats gewohnt habe, frierend und hungrig, und eine Salmonellenvergiftung von einer verdorbenen Wurst hatte, aber dennoch nur widerstrebend zugeben wollte, daß der idealisierte Sowjetkommunismus, den ich von meinem Vater und der dänischen KP kannte, nichts anderes als eine dicke Lüge und aufgeblasene Propaganda war.

Wir nehmen das Tablett mit ins Wohnzimmer und setzen uns jede in eine Ecke des Sofas, die Beine untergeschlagen – soweit sich das für Birgitte noch machen läßt –, wie wir es schon hundertmal zuvor gemacht haben. Und das ist entspannend, vertraut und dennoch anders als sonst. Birgitte ist anders. Sie, die immer überall dabei war und normalerweise diejenige ist, die mich über das Kulturleben auf dem laufenden hält, mit dem ich nur sporadisch Kontakt pflege, redet nur von Vorsorgeuntersuchungen, Atemübungen und erzählt voller Stolz, daß das Kind inzwischen circa dreitausend Gramm wiegt und sich bereits gedreht hat. Und auch wenn sie scheinbar meinen Putschschilderungen lauscht und vertiefende Fragen an den relevanten Punkten stellt, erscheint sie dennoch abwesend und in sich gekehrt und weicht jedesmal ab, wenn sie spürt, wie das Kind sich bewegt.

»Jetzt! Fühl mal!« ruft sie aus, eine Hand auf dem Bauch, als ich gerade dabei bin, eine ziemlich interessante Theorie über Gorbatschows Zukunft zu entwickeln. Seine Stellung wird immer schwächer werden, sein Spielraum immer kleiner ...

Ich gehorche, lege eine Hand auf den Ballon, und es ist wirklich sonderbar, eine Ferse oder ein Knie zu fühlen, aber ehrlich gesagt hätte ich lieber Birgitte bei mir gefühlt. Sie wird erst richtig aufmerksam, als ich ihr beschreibe, wie die Frauen in sowjetischen Krankenhäusern ihre Kinder kriegen. Sie schüttelt sich, als ich ihr von der hohen Säuglingssterblichkeit erzähle, von Gebärenden, die in Reih und Glied liegen, von der fehlenden Anästhesie, sturzbetrunkenen Ärzten, korrupten Krankenschwestern und der wochenlangen Isolation von der Umwelt, in der frischgebackene Mütter gehalten werden.

»Soll das heißen, daß sie allein gebären? Ist der Vater nicht dabei?« fragt sie.

»Er darf unten auf der Straße stehen und warten, daß sich Mutter und Kind einen Tag später am Fenster zeigen. So war es jedenfalls. Vielleicht wird sich das jetzt auch ändern. Zumindest für die Reichen. Früher oder später wird es sicher eine kapitalistische, kooperative Geburtsklinik geben.«

Birgitte starrt in ihre Teetasse.

»Ich glaube ja ehrlich gesagt auch, daß Jens am liebsten drum herumkommen würde. Nicht dabeisein möchte, meine ich. Aber das traut er sich doch nicht direkt zu sagen, und er muß dabeisein. Schon um mir die Hand zu halten. Ich habe eine Scheißangst vor der Geburt!«

Birgitte lächelt unsicher und greift nach der Teekanne. Ich stehe auf, lege eine Platte auf und vermeide es, zum hundertsiebenundzwanzigsten Mal, unsere Freundschaft mit der Frage aufs Spiel zu setzen, was zum Teufel sie eigentlich mit diesem Mann will.

»Ich kann doch mitkommen!« biete ich ihr statt dessen an, als ich mich wieder gesetzt habe und die scharfe Leningrad-Band »Kinder der Zukunft«, sehr trendy, durch den Raum dröhnt.

»Du?« Birgitte lacht laut auf. »Und was ist, wenn es mitten in einem neuen Putsch passiert? Oder du gerade auf einer Reportagereise in Transkaukasien bist?«

Da hat sie natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen, und das bringt mich dazu, von der Audienz beim General zu erzählen. Birgitte nickt aufmerksam, aber ich merke deutlich, daß ihr Interesse für meine Karriere ungefähr so groß ist wie mein Interesse für ihre Geburtsvorbereitungen.

»Und das da?« fragt sie plötzlich und deutet auf den beeindruckenden Knutschfleck, den ich den ganzen Tag erfolgreich mit Hilfe von Make-up und einem großen russischen Kopftuch versteckt hatte.

»Gar nichts«, weiche ich aus, wobei ich jedoch verräterischerweise bis zum Hals erröte.

»Nein, natürlich nicht, das sehe ich!« Birgitte triumphiert. »So einen roten Kopf habe ich bei dir seit Jahren nicht gesehen! Nicht mehr seit ...«

»Piep!« unterbreche ich sie.

»Genau! Nicht mehr seit piep!« grinst sie. »Nun erzähl schon!«

»Er heißt Paul, ist Umwelt- und Arbeitsmarktreporter im Inland und ein gefundenes Fressen für zu viele Damen. That’s it!« lüge ich und verstecke mich hinter meinem Teebecher.

»Abgesehen davon, daß du ganz scharf auf ihn bist.«

»Bin ich nicht!« widerspreche ich und erröte wieder. Das auch noch.

»Doch, bist du! Und wenn er auch so scharf auf dich ist, dann bin ich der Meinung, daß du ihn dir schnappen solltest!« beschließt sie kategorisch, als würden wir über ein Paar neue Schuhe reden.

»Ich habe keine Lust auf eine feste Beziehung«, erkläre ich.

Birgitte schenkt sich Tee nach. Sieht mich von der Seite her an.

»Das glaubst du doch selber nicht! Nun mal ehrlich, Therese, du brauchst gewisse Verpflichtungen! Einem anderen Menschen gegenüber!« erläutert sie, weil sie weiß, was ich ihr entgegnen will. Daß ich meiner Arbeit verpflichtet bin. Diese Debatte haben wir schon oft geführt. Der Unterschied dabei ist nur, daß ich sonst rein theoretisch argumentiere.

»Und warum?« frage ich und zünde die erste Zigarette des Abends an. Aus Rücksicht auf die Schwangere und ihren Fötus habe ich mich auch in diesem Punkt heroisch beherrscht.

»Damit du erwachsen wirst. Man kann nicht ...«

»Birgitte, nun hör aber auf!« brause ich auf. »Wird man deswegen erwachsen, weil man sich verpflichtet? Für Villa, Volvo und Waschmaschine? Meine Güte, schau dich doch nur einmal um!«

Ich weiß, daß ich damit einen Schritt zu weit gegangen bin. Mindestens. Aber das ist sie auch.

Birgitte sammelt sich. Leckt sich die Lippen. Guckt auf ihre Swatch.

»Nun ja«, sagt sie und kommt mit angestrengter Miene vom Sofa hoch. »Ich muß sehen, daß ich nach Hause komme. Zu meiner Waschmaschine!«

»Entschuldige, das war nicht persönlich gemeint«, sage ich und reiche ihr meine Hand.

»Natürlich war es das!« Sie wirft mir ein schräges Lächeln zu, als ich sie vom Sofa hochgezogen habe. »Der Dunkle ist es, nicht wahr? Der so aussieht wie Richard Gere?«

»Nein!« widerspreche ich. »Er sieht viel besser aus!«

Birgitte kichert wie ein Teenager. »Go for it!« sagt sie.

Ich benutze meinen freien Tag, um einfach nichts zu tun und zu mir selbst zu kommen. Schlafe lange, mache sauber, gehe ins Waschcenter, zur Bank und zur Post. Kaufe im Supermarkt die Grundausstattung und bei Jan, dem polnischen Gemüsehändler um die Ecke, Unmengen Obst und Gemüse.

»Strastwuitje!« begrüßt er mich strahlend, als ich das kleine Geschäft mit einem Korb Pflaumen betrete. Wir reden immer russisch miteinander. Obwohl er glühender Antikommunist ist und das bereits war, als es noch nicht ungefährlich war, ist er ein großer Liebhaber der russischen Sprache. Abgesehen von mir, gibt es nur noch ein paar Botschaftskunden, mit denen er russisch sprechen kann. Aber denen antwortet er nur mit mürrischen Einwortsätzen.

»Herrenvolk!« schnaubt er, als ein paar umfangreiche russische Diplomatenfrauen ins Geschäft rauschen. »Die können nichts lernen, die wollen nichts lernen! Die denken gar nicht daran, auch nur ein einziges ihrer zahllosen Privilegien aufzugeben! Und jetzt erst recht nicht! Ne, ne, so naiv dürft ihr hier im Westen nicht denken. Und dieser Boris, der soll ein Demokrat sein? Ein Volksverhetzer! Opportunist! Soll ich dir einen Witz erzählen?« fragt er schließlich, als er Tomaten abwiegt.

»Also, vier Staatsoberhäupter haben sich versammelt und unterhalten sich nach einer Konferenz. ›Wenn ich im Ausland bin, fahre ich immer Mercedes‹, sagt der deutsche Bundeskanzler. ›Ja, wenn ich im Ausland bin, fahre ich immer Citroën‹, sagt der französische Präsident. ›Und wenn ich im Ausland bin, fahre ich nur Rolls Royce!‹ sagt darauf der britische Premierminister. ›Und Sie?‹ fragen sie den russischen Generalsekretär. ›Wenn ich im Ausland bin, fahre ich immer Panzer!‹«

Ich lache, obwohl der Witz alt und überholt ist, und Jan belohnt das, indem er mir ein paar Tomaten zusätzlich einpackt.

»Willst du dafür den neuesten Genossenschaftswitz hören?« frage ich.

»Ja!« nickt er eifrig.

»Der kostet zehn Dollar!«

Jan lacht polternd und zustimmend, so daß sich einige dänische Kunden im Geschäft konsterniert umdrehen. »Ja, ja, in diesen Genossenschaften herrscht der reinste Kapitalismus!« kommentiert er und wendet sich mit einem beflissenen »Wassollessein?« dem nächsten Kunden zu.

Ras hat auf den Anrufbeantworter gesprochen – er wünscht mir einen schönen freien Tag und geht davon aus, daß er mich nicht braucht. Ein Kulturverein in Westjütland möchte mich für einen Vortrag einladen, und der Verlagslektor möchte gern, daß ich zurückrufe, am besten »heute noch«. The rest is silence. Was bedeutet: Keine Nachricht von Paul, was gleichzeitig eine Enttäuschung und eine Erleichterung ist. Ich koche mir mit meiner alten, ramponierten Sansibarkanne einen Espresso, rauche ein paar Zigaretten, gieße die Blumen. Dann rufe ich den Verlagslektor an und verspreche ihm, einen Beitrag zu schreiben, den ich in spätestens drei Wochen abgebe. Anschließend telefoniere ich mit der Vorsitzenden des Kulturvereins, die einen so starken westjütländischen Akzent hat, daß ich kaum verstehe, was sie sagt. Ein Vortrag ist etwas ganz Neues für mich, aber da allgemein bekannt ist, daß verschiedene Kollegen fabelhaft mit derartigen Nebenjobs verdienen, sehe ich keinen Grund, mich zurückzuhalten. Doch ich bin bescheiden mit meiner Honorarforderung, vielleicht zu bescheiden, wie ich hinterher überlege. Sie klang so zufrieden, diese kulturelle Vorsitzende, und war ganz eifrig darauf bedacht, sofort einen Termin festzumachen. Wir haben einen Termin Mitte November vereinbart – natürlich unter dem Vorbehalt, daß er in meinen Dienstplan paßt.

Und dann nehme ich mir die Bänder vor, die ich aus Moskau mitgebracht habe. Es sind mehrere Kilometer Film von Den Drei Tagen, als ich meinen Kameramann Sergej gebeten habe, die Kamera permanent laufen zu lassen. Viel von dem Stoff ist zu grob und durcheinander, um es senden zu können, aber je mehr ich mir ansehe, um so sicherer werde ich, daß daraus eine vibrierende, authentische und außergewöhnliche Reportage zu machen ist. Nach ein paar Stunden bin ich so vertieft und habe bereits angefangen, das Material zu strukturieren, daß ich Ras einfach anrufen muß.

Zuerst schimpft er.

»Du solltest doch freimachen, meine Liebe!«

»Das mache ich ja auch!« behaupte ich und erzähle ihm dann, daß ich Gold gefunden habe. Was trotz allem sein Interesse weckt.

»Und was denkst du, was man damit machen sollte?« fragt er schließlich.

»Einen Beitrag fürs Auslandsjournal«, schlage ich vor.

»Das heißt, daß du vom Dienstplan suspendiert werden willst?« fragt er leicht besorgt.

»Nur für ein paar Tage ...«, wiegle ich ab.

»Das muß ich erst mit dem Journal checken und vielleicht auch gleich mit deinem ganz speziellen Freund«, entscheidet Ras und verspricht zurückzurufen.

Während ich auf seinen Rückruf warte, mache ich mit dem Video weiter. Spule vor und zurück und bin ganz wild darauf, in einen Schneideraum zu kommen. Das kann eine wirklich gute Story werden.

Es klingelt an der Haustür, und ich stehe auf, verärgert über die Unterbrechung, die mich aus einem Zustand reißt, den ich am liebsten mag: Arbeitseuphorie. Es ist ein Blumenbote mit einem riesigen Blumenstrauß. Zuerst bin ich überzeugt davon, daß es sich um ein Mißverständnis handeln muß, aber dann sehe ich die Karte und nehme den Strauß an. Vierundzwanzig langstielige rote Rosen. No more, no less. »Voll Sehnsucht, dein P.«

Mehrere Stunden lang habe ich nicht an ihn gedacht, ihn höchstens als ein schwaches Sausen im Blut gespürt, und als ich nun mit dem monströsen, in Zellophan gewickelten Strauß in der Hand dastehe, möchte ich ihn am liebsten auf den Küchentisch legen und weiterarbeiten. Ihn zurückweisen, den Strauß als ein trojanisches Pferd betrachten. Aber dann fällt mir Tante Mo und ihr Rosengarten ein, der ihr Leben lang ihre Leidenschaft war, ob sie nun mit dem einen oder dem anderen verheiratet war, hier oder dort gewohnt hat oder schließlich Witwe ihrer beiden Ehemänner war. Und wie schon so oft ist es ihre Eisenhand in Samthandschuhen, die meine Handlungen steuert, als ich die Rosen aus dem Zellophan befreie, die Stiele anschneide, bevor ich schließlich Wasser in einen verbeulten Champagnerkühler fülle und sie hineinstelle.

Der Strauß findet in meinem Schlafzimmer auf dem Boden neben meinem Bett, wo es von Bändern und Notizen nur so wimmelt, ein Plätzchen, und widerstrebend muß ich zugeben, daß er schön ist. Obwohl ich davon überzeugt bin, daß Paul schon Tausende solcher Karten geschrieben hat, durchläuft mich doch ein Schauer, als ich sie noch einmal lese. Und noch einmal. Kurz bevor ich vor lauter verbotenem Entzücken zerfließe, ruft der General an. Himself. Er ist der Meinung, das mit den Bändern klänge »riesig«, schlägt aber vor, eine eigene Sendung daraus zu machen. Also eine richtige Dokumentation. Wenn ich denke, daß ich Stoff genug für fünfzig Minuten habe. Das denke ich.

Reichen mir sieben Redaktionstage, so daß der Film für den übernächsten Freitag ins Programm genommen werden kann? Auch das denke ich.

Gut, dann wird er es selbst mit Ras regeln, daß ich aus dem normalen Dienstplan herausgenommen werde.

So. Nachdem ich aufgelegt habe, bleibe ich eine Weile regungslos stehen und starre aus dem Fenster. Das Mädchen gegenüber hängt wie immer in ihrem Fensterrahmen, schaut mich gleichgültig an wie ein neunzehnjähriges Musterbeispiel für einen Menschen, den man durch Nichtstun vor die Hunde gehen läßt. Behindert durch Arbeitslosigkeit.

Das bin ich nicht, ganz im Gegenteil. Das Versprechen, das ich dem General gegeben habe, grenzt an Wahnsinn. Wenn ich es einhalten will, muß ich sofort loslegen. Ich wende mich vom Fenster ab, gehe aufs Klo, koche Kaffee. Und dann betrete ich den geschlossenen Raum der Konzentration.

Dort bleibe ich fast zehn Tage, von denen ich mich die meiste Zeit mit Søren, den ich mir als Techniker geangelt habe, hinter dem Mischpult befinde. Trotz seiner Flower-power-Ideale hat er Respekt vor meinem Ehrgeiz und meinem Ernst und läßt sich von meiner Vision anstecken, die ich anfangs nur vage als »eine Oper« bezeichnen kann. Ohne schwerfällige Analyse und Interpretation, sondern nur Bilder voller Pathos, Angst und Hoffnung. Untermalt von russischer Opernmusik.

»Du meinst, wir sollen Kunst machen? In sieben Redaktionstagen?« fragt er mich am ersten Morgen, als wir die Croissants vertilgen, die ich zum Kaffee mitgebracht habe. Als ich nicke, legt er mir eine Hand aufs Knie und sagt, daß ich wahnsinnig sei. Wenn das stimmt, dann sind wir es beide, denn von dem Moment an ist er hundert Prozent für mich und das Projekt engagiert. Läßt sich selbst von den Standbildern auf dem Monitor hinreißen – alte, bettelnde Frauen, ängstliche Kindersoldaten, junge Studenten im Freudentaumel. Das Volksmeer auf dem Manegenplatz und die stumme kollektive Trauer über die drei Opfer.

»Ist das schön!« sagt er mehrfach. »Ich wünschte, ich wäre dort gewesen ...«

Ich erinnere ihn daran, daß wir eine Oper produzieren. Daß die Vorstellung zu Ende ist, wenn der Projektor ausgeschaltet ist. Aber Sørens Glauben an das Volk ist unerschütterlich, und als uns beim Schnitt nur noch die letzten Sequenzen fehlen, ist er dagegen, daß wir auch nur ansatzweise Skepsis gegenüber der russischen Revolution zeigen könnten. Erst nach stundenlangen Diskussionen beugt er sich und ist damit einverstanden, daß wir die Oper mit einer Bilderserie von Jelzin abschließen; die letzte Aufnahme, die mein Kameramann von unten gefilmt hat, läßt ihn wie ein Denkmal erscheinen. Ein großer Mann. Wie Lenin, Stalin oder Dzieržyński.

Meine einzige Kritik an Søren ist, daß er immer pünktlich geht. Er muß seine Tochter spätestens um fünf aus dem Kindergarten abholen, Viertel vor ist er also weg. Ohne einen Techniker kommt man schlecht weiter, aber ich bleibe dennoch sitzen, sehe mein Schnittmanuskript noch mal durch, höre mir die Musik an oder gehe auf den Auslandsflur, um die Lage zu peilen und ein wenig mit Ras und den Kollegen zu reden. Knud, ein älterer Kollege in der Osteuropa-Redaktion, pikst mich beleidigt an und kann nur schwer seine Unzufriedenheit darüber verbergen, daß ich mich mit einer eigenen Sendung, der Revolution und allem hervortun darf, während er wie alle anderen Doofen das tägliche Geschäft erledigen muß.

»Du bist nur neidisch!« erklärt die Producerassistentin mit ihrem losen Mundwerk und drückt ihm eine Thermoskanne in die Hand, damit er Kaffee kochen kann. Kirsten ist erst fünfundzwanzig, aber sie hat die notwendige, angeborene Autorität, so daß die alten Primadonnen ihr wie gutdressierte Hunde gehorchen.

Paul hat aufgehört, mich anzurufen oder mir Nachrichten zu hinterlegen, und es sind auch keine weiteren Umschläge oder Blumenboten gekommen. Da die Rosen schnell verwelken, weil ich weder das Wasser wechsle noch sie schneide, und ich ihm nur einmal in der Kantine über den Weg laufe, wo er – vielleicht mir zu Ehren – mit dem Arm locker um Henriettes Schulter sitzt, fehlt nicht mehr viel, daß ich ihn ganz verdrängen kann. Aber beim Essen mit Frank und Simon, wo ich etwas zuviel Retsina zum Moussaka trinke und die beiden nebeneinandersitzen, sich Küßchen geben und Zärtlichkeiten austauschen und dabei so unglaublich männlich sind, da muß ich doch von ihm erzählen. Und an dem Morgen, als ich sehe, wie er aus ihrem VW Cabriolet aussteigt, krampft sich in mir einiges zusammen.

Ich versuche einen primitiven Gegenzug – am Wochenende rufe ich einige meiner alten Flammen und Liebhaber an. Der eine würde verdammt gern kommen und hat schrecklich viel Lust, aber er steht kurz vor seiner Hochzeit. Ein anderer irritiert mich bereits fürchterlich während eines Essens in dem neuen thailändischen Restaurant, wo ich mich mit ihm verabredet habe. Den dritten besteige ich sogar, krabble jedoch schnell wieder herunter und lasse ihn frustriert, um nicht zu sagen erzürnt in einem Hotelbett in Vesterbro zurück.

In den letzten Tagen vor Redaktionsschluß habe ich keine Zeit, an ihn zu denken. Ich bin kurz davor, in Panik zu geraten, aber Søren erweist sich wieder einmal als Kumpel. Er überredet seine Mutter, die Tochter abzuholen, und da seine Krankenschwesterehefrau sowieso Nachtwache hat, kann er unbegrenzt bleiben. So sitzen wir die letzten beiden Abende bis spät in die Nacht da – bis es uns vor den Augen flimmert, der Nacken steif wird und wir nicht mehr in der Lage sind, länger vernünftig zu arbeiten. Erst am Freitag nachmittag – im allerletzten Augenblick – können wir stolz und guten Gewissens das fertige Band dem Sendeleiter abliefern.

Ich fühle mich ausgelaugt und euphorisch, habe das Gefühl, meiner Vision so nahe wie möglich gekommen zu sein, und spendiere Søren und den anderen im Redaktionsflur Wein. Nachdem die Leute nach und nach mit ihren Beiträgen fertig geworden sind, entwickelt sich das Ganze zu einer Art Umtrunk – zur großen Verärgerung des Sekretariats, in dem die Leute bis zum Ende der Spätnachrichten nüchtern bleiben müssen. So daß der General, der keine Gelegenheit ausläßt, sich aufzublasen, den Redaktionsflur entlanggerollt kommt, um mit seiner Rifle zu drohen. Ich nehme ihm den Wind aus den Segeln, indem ich ihm auch ein Glas anbiete. Er fragt, ob meine Arbeit denn wirklich so gut sei, daß ich es mir erlauben könne, mich selbst zu feiern, und ich antworte »you bet!« und gebe ihm eine Kopie des Bands. Er kann es sich ja selbst angucken, wenn er mir nicht glaubt.

»Ich habe keine andere Wahl!« sagt er und kippt den sauren Kantinenwein hinunter. Aber er nimmt tatsächlich das Band mit und versichert, daß er es sich sofort anschauen werde.

Søren und ich werfen uns Blicke zu – ich bin nicht wirklich davon überzeugt, daß der Bericht dem Geschmack des Generals entspricht. Er ist zweifellos mehr für Pulver und Kugel als für eine großartige Oper und Kunst! Während also der General mit dem Band in seinen Pranken den Flur entlangmarschiert, bereue ich bereits, daß ich unbedingt Emma Peel spielen mußte. Es ist schon früher vorgekommen, daß er interveniert hat und in letzter Sekunde eine Umarbeitung gefordert oder eine Sendung aus dem Programm genommen hat. Und natürlich kann er das jetzt auch noch tun.

Aber genau fünfundfünfzig Minuten später – in denen Søren und ich verschiedene Strategien diskutiert haben, wie wir uns im schlimmsten Fall verhalten, allerdings ergebnislos – kommt er zurück. Mit dem Band in der einen Hand und zwei Flaschen Wein in der anderen.

»Prima«, sagt er. »Anders, aber gut. Herzlichen Glückwunsch!« Dann gibt er mir das Band und die Flaschen und fordert schroff, daß wir doch bitte schön unser Fest aus Rücksicht auf die arbeitende Bevölkerung in die Kantine verlegen möchten. Ich starre mit offenem Mund auf die beiden Flaschen St. Emilion und komme erst wieder zu mir, als Søren mir in den Rücken boxt und »Wahnsinn!« ruft und die anderen um mich herum ebenfalls ihrer Anerkennung Ausdruck verleihen. Es ist nicht jedem vergönnt, Wein oder öffentliches Lob vom Programmchef zu bekommen. Und schon gar nicht beides zugleich.

Deshalb hebe ich auch besonders hervor, daß die halbe Ehre Søren gebührt, und überreiche ihm die eine Flasche. Danach gehorchen wir dem Befehl und verlegen das Fest in die Kantine, die zu diesem Zeitpunkt so gut wie leer ist. Wir trinken schnell die beiden Flaschen aus und kaufen weitere, nachdem sich das Gerücht in der Abteilung verbreitet hat und die Gesellschaft immer größer wird. Es ist außerordentlich selten, daß es hier ein Gelage gibt – normalerweise stürzen die Leute nach Hause, sobald sie können. In der Beziehung ist es ein langweiliger Arbeitsplatz.

Gegen sieben, als ich so viel getrunken habe, daß ich schon links und rechts heftig flirte, taucht Paul auf. Dicht gefolgt von Henriette, die in voller Kriegsbemalung und auf hohen Hacken daherstolziert und aussieht, als wäre sie auf dem Weg in die Stadt, um sich dort zu amüsieren. Im Gegensatz zu mir, ich trage flache Absätze, und von meinem Make-up ist nur noch ein bißchen verschmiertes Mascara übrig.

»Läuft es gut?« fragt Paul mich.

Ich nicke und biete überfreundlich Paul und auch Henriette ein Glas Wein an. Paul bedankt sich und setzt sich sofort hin, während Henriette den Kopf schüttelt und stehenbleibt – trippelnd und offensichtlich ungeduldig. Aber als er ihren Wink mit dem Zaunpfahl ignoriert, kann sie nicht länger an sich halten und begeht einen fatalen Fehler.

»Paul, wir müssen jetzt wirklich gehen, wenn wir nicht ...«

Paul schaut kaum zu ihr hoch, während er sie auszählt. »Du bist auch eingeladen. Ich habe jedenfalls vor zu bleiben. Okay?«

Das ist boshaft, und Henriettes Reaktion ist die einzig würdevolle. Sie geht. Verläßt die Kantine und ihren Traum vom Liebhaber Paul.

Jemand räuspert sich, andere scharren unangemessen mit den Füßen unter dem Tisch, und unmittelbar nach Henriettes Abgang löst die Gesellschaft sich auf. Der Zauber ist gebrochen, die Stimmung kaputt, und den Leuten fallen plötzlich Verabredungen und Versprechen ein, sie bekommen ein schlechtes Gewissen und stürzen heim zu Frau oder Mann. Sogar Søren hat es eilig auszutrinken – er muß seine Tochter bei seiner Mutter abholen –, aber er drückt meinen Arm und bedankt sich für eine tolle Zusammenarbeit, dann ist auch er fort.

Ich hätte während des allgemeinen Aufbruchs abhauen sollen, bleibe jedoch dummdreist sitzen und schaue ihn herausfordernd an, als wir allein sind.

»Danke für die Blumen«, sage ich dann.

»Ach, du hast sie also gekriegt?« erwidert er säuerlich. »Die Dankeskarten sind ja nicht gerade in überwältigender Menge bei mir angekommen.«

Ich zucke mit den Schultern. Lüge rund heraus und mit voller Absicht.

»Ich hatte keine Zeit.«

»Keine Zeit – wofür?«

»Keine Zeit zum Flirten.«

Paul bewegt seinen Kopf langsam von einer Seite zur anderen. »Tes –«, sagt er nur. Resigniert und sanft.

Sein Blick ist wie ein Laserstrahl, der sich durch weiches Fleisch schneidet. Ich schaue weg und sauge meine Zigarette glühendheiß, um den Drang zu überspielen, mich ihm an den Hals zu werfen. Meine Hände auf sein Gesicht zu legen, seine Lider zu küssen...

»Bist du noch nicht vor Hunger gestorben?« fragt er dann in einer ganz anderen Tonlage, die mich zum Lachen bringt.

»O doch!« gebe ich aus vollem Herzen zu, und von dort bis zu einem kleinen provenzalischen Restaurant in der Innenstadt ist es nicht sehr weit.

Beunruhigend kurz sogar, denke ich mit einem nervösen Kichern, als ich in der winzigen Toilette des Restaurants stehe und versuche, ungefähr so auszusehen, wie man sich eine Dame vorstellt. Unten in meiner Tasche finde ich glücklicherweise ein Paar große goldene Ohrringe und eine halbleere Parfumprobe. »Magie Noire« – die ich mir hinter die Ohren und zwischen die Brüste tupfe – just in case. Mit meinen schwarzen Jeans und dem schon etwas abgetragenen Body ist nicht viel zu machen, und wenn es soweit kommen sollte, muß er sich damit abfinden, daß mein Slip eher von H&M als von Aubade ist.

Wir einigen uns auf das Tagesmenu – Schnecken, Kalbsschnitzel und Crème caramel – und akzeptieren den Weinvorschlag des Kellners, einen jungen, kühlen Beaujolais. Paul ißt schmatzend und mit Genuß und spricht laut und begeistert über das Essen. Er läßt den jungen Wirt rufen und macht ihm Komplimente in etwas, das für mich wie perfektes Französisch klingt.

»Lernt man das in Skovshoved?« ärgere ich ihn und tunke mein Baguette in die Schneckensoße. Beim Sender ist das sein Handicap – daß er ein waschechter Oberklassensprößling ist.

»Meine Großmutter mütterlicherseits war Französin«, erklärt er nebenbei. »Und außerdem habe ich als Tellerwäscher in einem Restaurant in Marseille gearbeitet. Aber mein Vater stammt aus Viborg«, fügt er als Entschuldigung hinzu und tupft sich die Mundwinkel mit der weißen Stoffserviette ab.

Und dann reden wir über etwas anderes. Harmlos fröhlich, so daß ich während des Hauptgerichts keine Atemnot aufgrund der elektrisierenden Atmosphäre mehr habe, die mich, seit wir allein in der Kantine zurückblieben, zu einem einzigen stromführenden Teil gemacht hat.

Als jedoch der Kellner die Fleischteller entfernt hat und Paul sich über den Tisch beugt, mir eindringlich in die Augen sieht und seine Knie gegen meine drückt, habe ich dennoch das Gefühl, einen Schlag zu bekommen. 220 Volt.

»Okay, nun erzähl mal. Was ist zwischen Sonntag und Montag passiert?«

»Nichts«, weiche ich aus.

»Tes!« beharrt er.

»Ich habe mich nur geirrt. Dich romantisiert. Das ist nicht deine Schuld. Wenn ich mich ungeschickt verhalten habe, bitte ich hiermit um Entschuldigung«, erkläre ich und neige meinen Kopf auf japanische Art.

»Wenn es Henriette ist, von der du so kryptisch redest, so ist das nie etwas Ernsthaftes gewesen. Und wie du selbst gesehen hast, ist die Verbindung endgültig beendet.«

»Zack!« kommentiere ich.

»Dir zu Ehren«, sagt er ausdruckslos wie ein Samurai.

»Was für ein Geschenk!«

Paul schweigt. Spielt lange mit einem Brotkrümel, bevor er mich wieder anschaut.

»Ich verstehe deine Angst und deine Bedenken sehr gut. Du kennst mich nicht, aber ich denke wirklich, daß ich so bin, wie du hoffst, daß ich bin.«

»Und wieso denkst du das?« frage ich mit dem letzten Rest angestauter Aggression.

Er spielt mit anderen Brotkrümeln. Fegt sie zu einem kleinen Haufen auf der Tischdecke zusammen. »Weil ich dich haben will!«

Zack!

Als wenn das ein Argument wäre! antwortet mein Gehirn, während mein Körper sofort zu singen anfängt. Hosianna, Halleluja! Und während ich nach einer entwaffnenden Antwort suche, werde ich in seine Augen gesogen, und genau in dem Moment, als das Dessert auf den Tisch gestellt wird, sage ich wie in Trance: »Ich will dich auch haben.«

Wir kosten pflichtschuldigst das goldfarbene Dessert, lassen aber die Löffel gleichzeitig sinken.

»Ist so eine Crème caramel nicht äußerst erotisch?« fragt Paul, worauf ich antworte, indem ich den Löffel in die Crème schiebe und ihn dann langsam ablecke. Paul stöhnt leise auf.

»Nun?«

Dann bezahlen wir. Stürzen aus dem Restaurant und erneut in ein Taxi, in dem wir uns halberstickt und ohne den sich räuspernden Fahrer zu beachten aufeinanderwerfen. Gegenseitig öffnen wir widerspenstige Reißverschlüsse, und als wir Pauls Wohnungstür hinter uns geschlossen haben, fallen wir im Flur übereinander her.

Danach siedeln wir in sein ockerfarbenes Schlafzimmer um und machen es noch einmal – aber ruhig, freundlich und mit einer schwindelerregenden neuen Zärtlichkeit. Ich bin auf diesem Gebiet unerfahren, spüre jedoch plötzlich in einem heiligen Moment, daß das der Weg zur Hingabe ist. Vielleicht sogar zur Liebe.

Ich lecke ihm die Schweißtropfen ab, schnüffle in seiner Achselhöhle, küsse sein kleines Tier und habe nur noch den einen Wunsch: hier zu liegen und seinem Herzschlag zu lauschen, während er mir übers Haar streicht.

Früh am nächsten Morgen werde ich geweckt.

»Herzlichen Glückwunsch!« sagt er und raschelt munter mit der Tageszeitung.

»Was ist los?« frage ich schlaftrunken, aber nicht ganz sicher, ob ich träume oder wach bin, als ich Paul nackt auf der Bettkante sitzen sehe, die Zeitung in der Hand.

»Die Fernsehkritiker sind begeistert! Hör mal: ›Mit ihrer Oper in Rot gelang es Therese Skårup, die stereotype und oft reichlich langweilige Berichtform zu erneuern, so daß die russische Revolution Fleisch und Blut bekam. Sicher brach sie dabei mit dem Objektivitätskriterium, das ansonsten wie ein Mühlstein vielen Mitarbeitern der Staatssender anhängt, und traf eine bewußte Entscheidung, als sie die Reportage zu einer subjektiven Augenzeugenschilderung machte. Die Revolution, wie Skårup sie sah – mit ihren Helden und Schurken, mit ihrem Glauben und ihren Zweifeln. Man kann sich über ihre Beurteilungen streiten, aber wie mutig und wohltuend ist es doch, eine Reportage zu sehen, die persönlich und konsequent gemacht ist, sowohl in Form wie in Inhalt. Das ist die Art Fernsehen, die in die Zukunft weist und dem Medium in diesen bewußtlosen Glücksradzeiten einen Sinn gibt.‹«

Paul sieht mich triumphierend an, als hätte er es selbst geschrieben, während ich mich im Bett halb aufrichte und gähne. »Du gähnst? Nach so einer Kritik?« Paul sieht mich verblüfft an. »Es ist sechs Uhr«, gähne ich erneut. »Aber es war lieb von dir. Danke.«

»Danke gleichfalls!« Paul schüttelt den Kopf. »Sollte es jemals jemanden geben, der so über mich schreibt, dann würde ich ... Wo ist dein Band?«

»Was für ein Band?« frage ich und sinke wieder in die Kissen. Ich habe Kopfschmerzen.

»Die Reportage? In deiner Tasche?« fragt er und schaut sich suchend um.

»Ja. Warum?« Ich bin schon fast wieder eingeschlafen.

»Weil ich sie sehen will!« sagt Paul über die Schulter und verläßt das Schlafzimmer.

»Jetzt?«

»Ja!« ruft er aus dem Wohnzimmer und kommt mit dem Band in der Hand zurück. Eigentlich sollte ich dagegen protestieren, daß er allein an meine Tasche geht, aber nun mal ehrlich, es ist sechs Uhr morgens ...

Er schiebt das Band ins Videogerät und springt mit der Fernbedienung in der Hand erwartungsvoll wieder ins Bett. »Du bist ja geisteskrank!« erkläre ich.

»Man muß sich einen Vorsprung sichern!« grinst er und fragt, wann ich Kaffee haben möchte.

»Um neun. Um halb elf muß ich zum Friseur«, murmle ich, drehe mich zur anderen Seite und schlafe bei den Tönen zu »Boris Godunow« und meiner eigenen Stimme wieder ein. Wir frühstücken im Erker mit Ausblick auf den Dunst über dem Peblingesø. Teilen uns die Zeitung – von der Paul bisher nur die Fernsehrezension gelesen hat –, Inland für ihn, Ausland für mich. Und zum Schluß ein bißchen Kultur. Zwischendurch spähen wir immer mal wieder schnell über den Zeitungsrand, berühren uns, tippen mit den Zehen unter dem Tisch den anderen an. Sein Nagel vom großen Zeh wandert kratzend mein Bein hinauf und erzeugt bei mir eine Gänsehaut. Dafür lasse ich einen Fuß seinen behaarten Schenkel hinauflaufen – schubse seinen Kimono beiseite, so daß ich ganz hinaufkomme und meinen Fuß zwischen seine Beine legen kann. Er umfaßt meine Hacke, so daß ich gleichzeitig berauscht und sensibilisiert die Zeitung fallen lasse, um ihn ansehen zu können. Paul war schon immer ein hübscher Typ – das ist Teil seines Rufs. Aber an diesem Samstag vormittag, als er unrasiert und verlottert mir gegenübersitzt, da sehe ich, daß er schön ist. Ich suche nach Worten, um es ihm zu sagen – aber die Telepathie zwischen uns ist so konkret, daß er mir zuvorkommt.

»Tes, du bist schön«, sagt er, und ich schüttle schnell den Kopf. Geniert. Senke den Blick, fühle mich entblößt und voller Fehler. Fehler, die er vielleicht bisher übersehen hat, aber die er in diesem Morgenlicht der Erkenntnis unzweifelhaft bemerken wird. »Doch, das bist du!« beharrt er. »Es ist wunderbar, dich anzugucken.«

»Nein!« Ich schüttle den Kopf. »Meine Augen stehen zu eng zusammen, meine Nase ist schief, und mein Mund ist zu groß ...«

»Sonst noch was?«

»Ich kriege schon Falten!«

Paul grinst. Läßt meine Füße los und gießt Kaffee ein. »Let’s face it! Du gehst hart auf die Neunundzwanzig zu!«

»Und du?«

»Ein junger Mann von siebenundzwanzig! Aber nur ruhig, ma chérie! Ich war schon immer scharf auf reife Frauen.«

Ich ohrfeige ihn mit dem Sportteil, während er mein Handgelenk packt und mich auf seinen Schoß zieht. Mich küßt und eine Hand besitzergreifend auf meine Brust legt, die sich bereits aufführt, als gehöre sie ihm. Schamlos, wollüstig.

Wir sind den ganzen Tag zusammen. Selbst als ich zum Friseur gehe, kommt er mit. Sitzt unbeirrt dabei und guckt von seinem Platz in dem dreieckigen Wartesofa aus in meinen Spiegel, verzieht seinen Mund zu einem imaginären Kuß und formt »Je t’aime« mit den Lippen, so daß ich geniert schmunzle und Bente, meine Friseuse, wissend breit grinst. Wir pflegen sonst immer sehr interessante Gespräche zu führen, sie und ich. Dostojewski ist ihr Lieblingsschriftsteller, und wir versuchen auch ein wenig ernsthaft über »Schuld und Sühne« zu reden, das sie im Urlaub erneut gelesen hat, aber Pauls Anwesenheit wirkt auf uns beide zu ablenkend. Also konzentriert sie sich aufs Schneiden, und ich sitze in dem gestreiften Hemd, das ich mir von ihm ausgeliehen habe, nur summend da. Gewöhne mich an meinen Schwebezustand. Spüre, wie das Eis bricht.

Anschließend gehen wir Hand in Hand den Strøget entlang. Immer wieder komme ich aus dem Schritt, und Paul fragt, ob ich auch so schlecht tanze.

»Ich bin nur aus der Übung«, erkläre ich und will ihn unwillkürlich loslassen, als wir ein paar Kollegen entdecken, die auf uns zukommen. Aber Paul hält mich fest, als wäre ich ein Hund, der an der Leine zieht, und redet in dem entsprechenden gewissenhaften, ruhigen Ton auf mich ein.

»Ruhig, ruhig! Die haben uns schon gesehen! Also kannst du ebensogut deinem Schicksal mit Würde entgegengehen!« sagt er und lächelt ihnen freundlich zu, als sie uns mit Augen, groß wie Kameralinsen, anstarren.

»Welchem Schicksal?« knurre ich zwischen den Zähnen.

»Daß wir spätestens Montag bei der Morgenkonferenz als das neue Paar des Senders gelten!«

Die Kollegen, zwei Typen von der Dokumentargruppe, halten sich nicht zurück, sie bleiben stehen und wollen mit uns plauschen. Ich bleibe demonstrativ stumm, während Paul, immer noch meine Hand fest in seiner, die absolute Komödie spielt und über Wind und Wetter und die Tamilensache plaudert, an der die beiden gerade dran sind.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagt der eine schließlich direkt zu mir. »Das war eine tolle Reportage, die gestern von dir gelaufen ist.«

Ich bedanke mich und interveniere hastig, als Paul mit der heutigen Fernsehrezension prahlen will. Auf dem Weg in die Stadt kauft er noch fünf weitere Zeitungen – zwei Morgen- und drei Abendzeitungen –, drei berichten positiv, eine ist sauer, und eine erwähnt die Reportage gar nicht.

»Warum sollte ich das nicht sagen?« fragt Paul, als wir die beiden Neugierigen endlich los sind.

»Hochmut kommt vor dem Fall!« erkläre ich drohend.

»Aber ich bin doch so stolz auf dich!« Paul drückt mich heftig an sich. »Ich finde, du bist phantastisch! Ich finde, es ist die wunderbare, prachtvolle und absolute Seligkeit, hier mit dir auf der Straße laufen zu dürfen! Ist das so schlimm?«

»Das weiß ich nicht!« antworte ich konfus, lege aber jedenfalls meine Hand wieder in seine.

Wenn er sich abzuheben traut, dann ich auch. Paul hatte es, soweit mir bekannt, nie eilig, seine neuen Eroberungen vorzuführen. Vermutlich, um anderen Damen nicht alle Hoffnung zu nehmen! Daß er jetzt so begeistert ist, mit mir gesehen zu werden, muß ein direktes Signal für mich sein. Er will für mich der sein, den ich mir erhoffe. Bleibt nur noch die Frage, wen er sich in mir erhofft.

Genau das frage ich mich, als wir am Abend wieder im Erker sitzen und coq au vin essen, für dessen Zubereitung er den ganzen Nachmittag gebraucht hat, während ich gegen seinen Willen nach Hause gegangen bin, um die Post durchzusehen, mich umzuziehen und ein paar Grad abzukühlen, bevor ich völlig dahinschmelze. Aber die Wirkung des kalten Wassers und eines Ablenkungsbesuchs bei Simon und Frank, wo ich Paul skrupellos auf seinen Körper reduziere – »ein knackiger Bissen« –, ist nur kurzlebig. Denn sobald ich wieder bei ihm bin, beginnen mein Schoß, mein Körper und meine Seele zu lechzen und zu glühen.

»Jetzt erzähle mir mal, wer du bist, Therese!« sagt er und schenkt mir Wein nach.

Normalerweise besteht meine Beziehung zu Männern, die diese Art rhetorischer Fragen mit verschleiertem Verführerblick stellen, nicht über das Ende eines candlelight dinner hinaus. Aber wenn Paul das sagt, dann ist das natürlich etwas vollkommen anderes. Ich drehe das Glas am Stiel, während ich nachdenke, bereit, eine richtige Antwort zu geben.

»Journalistin?« antworte ich und höre selbst, daß es eher wie eine Frage klingt.

Paul lächelt leicht.

»Journalistin? Und was noch?«

»Frau?«

»Frau«, wiederholt Paul und erfüllt das Wort mit einer neuen, warmen Sinnlichkeit, die meine Gebärmutter wie eine Seeanemone schaukeln läßt.

»Und weiter? Wer bist du noch?«

Ich zucke unsicher mit den Schultern.

»Ich selbst«, antworte ich schließlich, und das klingt vielleicht etwas poppig, ist aber deshalb nicht weniger wahr. Ich bin in erster Linie ich selbst, und so ist es schon immer gewesen.

»Und darauf bist du stolz«, sagt er und verwirrt mich, weil er so direkt in meine eigenen Gedankenbahnen eindringt.

»Wie meinst du das?« frage ich ablenkend.

»Du bist stolz, du selbst zu sein«, erklärt er. »Du bist Journalistin und Frau und stolz, du selbst zu sein.«

»Letzteres habe ich nicht gesagt!« protestiere ich.

»Was hast du nicht gesagt?«

»Daß ich stolz bin, ich selbst zu sein!«

»Ja, bist du es denn nicht?« Paul schiebt mir eine Packung Zigaretten hin, und ich ergreife das Päckchen mit einer heftigen Bewegung. Irgendwie fühle ich mich in eine Ecke gedrängt.

»Darf ich das nicht?« frage ich zornig und ignoriere demonstrativ das Feuerzeug, das er bereithält, während ich mich über den Tisch beuge und meine Zigarette an einer Kerze anzünde.

»Doch, natürlich. Wenn ich du wäre, wäre ich auch stolz auf mich. Ich bin ja auch stolz auf dich, das habe ich doch schon gesagt!« erklärt Paul und schaut mir ungeniert ins Dekolleté.

»Paul, was spielen wir hier eigentlich?« frage ich und schiebe den Stuhl hart nach hinten.

»Nichts«, antwortet er mit unschuldiger Miene. »Ich versuche nur herauszufinden, was für ein Mensch du bist.«

Das tut er dafür um so gründlicher und mit einer derartigen Hartnäckigkeit, daß ich mehr als einmal an diesem Wochenende das unangenehme Gefühl habe, wir würden Katze und Maus spielen. Wobei ich natürlich die Maus bin. Aber jedesmal, wenn ich frage, ob er mich zum Narren hält, schaut er mich ernst an und gibt mir die gleiche Antwort, in verschiedenen Variationen: »Ich will wissen, wer du bist.«

Und ich, die ansonsten bekannt dafür ist, reserviert zu sein und nie so eine war, die ihre Lebensgeschichte in der S-Bahn zum besten gibt, gehe am Sonntag Hand in Hand mit Paul um die Seen und erzähle ihm Dinge, von denen ich gedacht habe, ich hätte sie vergessen. Er hat ein seismographisches Gespür dafür, wo es weh tut, und ohne sich zu schämen, legt er genau dort seinen Finger drauf und bohrt weiter, bis er dahin kommt, wo meine Nervenstränge ungeschützt freiliegen. Ganz zurück in die Kindheit und zum Ursprung aller Schmerzen.

Also erzähle ich zum ersten Mal als Erwachsene von dem sieben Jahre währenden Strindberg-Drama meiner Eltern, das alle, außer den Akteuren selbst, ausschloß, so daß sogar die Kinder, die sie hervorgebracht hatten, zu Statisten oder Requisiten wurden.

»Das ist wirklich ein gutes Beispiel für zwei Menschen, die ganz und gar nicht füreinander geschaffen sind!« sage ich trocken.

Paul lächelt und macht mich damit aufmerksam auf meinen unbewußt aufgestellten Gegensatz zu uns beiden ...

»Und warum waren sie das nicht?« fragt er und nimmt mich von dem einen Haken, um mich sogleich an einen anderen zu hängen.

»Ach«, ich breite die Arme aus und muß mich entschuldigen, weil ich fast einen alten Mann mit Stock geschlagen hätte. »Sie waren einfach zu unterschiedlich. Du weißt, mein Vater kommt aus einem strenggläubigen Kleinbauernmilieu auf Læsø, rebellierte und ging nach Kopenhagen, um Kunst zu studieren. Aber ...«

Ich stocke, als wir einem Elternpaar mit Zwillingskinderwagen ausweichen müssen. Zum ersten Mal seit Jahren sehe ich meinen Großvater vor mir. Brütend und gewaltig, schwer in seinen riesigen, schlurfenden Holzschuhen, die Kiki und mich immer laut losprusten ließen. Sie fragte ihn einmal, ob er die auf einer Werft hatte anfertigen lassen, und das fand er überhaupt nicht lustig. Er fand sowieso, daß wir zwei ungezogene Kopenhagener Gören waren, und die wenigen Sommer, die wir die lange Reise nach Læsø machten und die Sommerferien in Großvaters Lehmhütte mit Strohdach verbrachten, in der die kalten Kammern nach Urin rochen und es weder ein WC mit Wasserspülung noch fließend Wasser überhaupt gab, sind in meiner Erinnerung immer noch in erster Linie furchteinflößend und exotisch. Noch jetzt kann ich das Gefühl plötzlicher Kälte und Klammheit spüren, wenn wir aus der sonnenflimmernden Læsø-Natur mit Hummeln in den Heckenrosen in Großvaters Küche traten, wo immer Kröten und Ohrenkneifer auf uns lauerten. Und dann Großvater selbst, der plötzlich in der Türöffnung erscheinen konnte, nach Stall stinkend und gefährlich. Außerdem sprach er in dieser unverständlichen Kartoffelsprache, die Kiki nachahmte, wenn wir im Bett lagen. Aber im Grunde genommen war er ein stummer Mann. Wir hörten ihn eigentlich nur etwas sagen, wenn er schimpfte oder das Tischgebet sprach. Selbst Vater hatte Angst vor ihm. Nur Mutter konnte wie ein Zitronenfalter um ihn herumflattern und ab und zu ein Blitzen in seinen Augen hervorrufen, und es geschah sogar manchmal, daß sie ihn zum Lächeln brachte. Aber wir fuhren immer zur falschen Zeit, und wenn Mutter nicht auf der Fähre nach Frederikshavn seekrank wurde und sich übergab, so stritten Vater und sie bereits auf dem Wasser, wie krank im Kopf Großvater war. Denn auch wenn Vater schrecklich frustriert war, verteidigte er trotzdem Großvater und warf Mutter vor, sie sei eine bourgeoise Ziege, die keine Ahnung von dem »wahren Leben« habe. Ein einziges Mal gab er zu, daß es »schlimmer geworden ist, seit Großmutter tot ist«, und da stritten sie nicht. Statt dessen sah ich zu meiner Verwunderung, daß Vaters Maske Risse bekam und ihm Tränen in die Augen stiegen. Mutter umarmte ihn, und darauf liefen Kiki und ich schnell zum Achtersteven und spuckten über die Reling. Das ist wohl so zwanzig Jahre her. Soweit ich weiß, lebt er immer noch.

»Dein Vater war also auf der Kunstakademie, aber?« fordert Paul mich auf.

»Aber«, fahre ich fort, »das ging wohl nicht so gut, oder er wurde einfach vom heiligen Feuer ergriffen. Jedenfalls wurde er zu einem glühenden Kommunisten, trat der DKP bei und fühlte sich berufen, › sozialistische Kunst‹ zu machen. Er war bei der Gründung der Røde Mor dabei und malte Agitprop-Plakate für die 1.-Mai-Treffen und so. Und abgesehen von Mutter verehrte er Lenin, Marx und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.«

»Daher hast du das also?« Paul lächelt.

»Jedenfalls den Ansatz«, nicke ich. »Und Mutter war das bürgerliche Gegenteil. Tochter eines Kopenhagener Rechtsanwalts und seiner migränegeplagten Ehefrau, absolvierte die Schauspielschule des Königlichen Theaters, und als sie Vater kennenlernte, bereits ›ein vielversprechendes Talent‹. Aber wie alle anderen fand sie die Proteste romantisch, also flirtete sie zwischen ihren Ibsen-Proben ein wenig mit den Roten. Sie lernten einander auf einer politischen Veranstaltung kennen und ...«

»Der Mann vom Volk verliebte sich in das hübsche Mädchen aus der Oberschicht, das weiche Knie kriegte, wenn ein Mann aus dem Volk sie küßte«, fährt Paul fort. »Aber dann endeten die faszinierenden Gegensätze damit, daß sie zu unverzeihlichen Fehlern wurden?«

»Klassenfeinde!« nicke ich und erzähle die Geschichte, wie ich sie von Tante Mo, der Schwester meines Großvaters mütterlicherseits und der einzigen, die den Kontakt zu meiner Mutter aufrechterhalten hat, gehört habe. Mutter hatte nicht auf ihre bürgerlichen Eltern gehört und meinen Vater geheiratet.

Ich war zu klein, um die Nuancen in dem Kampf der Klassen und Geschlechter zu verstehen – aber groß genug, um die Scherben zusammenzufegen, wenn wieder einmal Waffenstillstand herrschte und die Gegner eine heftige Versöhnung im Schlafzimmer versuchten. Damals, als der Krieg zu einem erschöpfenden Grabenkrieg geworden war und Vater den Tag mit sechs Bier und einer halben Flasche Schnaps begann, um das Dasein auszuhalten, holte Tante Mo uns ab und teilte meiner Mutter mit, daß wir erst wieder zurückkommen würden, wenn »geordnete Verhältnisse« herrschten.

Das einzig Vernünftige, da weder Mutter noch Vater die Kraft hatten, sich um uns zu kümmern und das Kindermädchen schon lange davongelaufen war. Wir lebten von Haferflocken mit Milch, denn das war das einzige, was wir selbst kochen konnten. Und als es keine Milch mehr gab, aßen wir sie ohne. Als Tante Mo – durch Intuition und einen Anruf meiner Klassenlehrerin – das entdeckte, nahm sie sofort die Sache in die Hand. Wir müssen ziemlich lange bei Tante Mo und Onkel Erik auf dem Land geblieben sein, denn ich ging dort in die Schule und hatte schon fast schreiben gelernt, als wir zurück in die Havnegade und eine Wohnung ohne Vater kamen.

»Und weißt du, was das schlimmste an der ganzen Geschichte ist?« frage ich Paul, der mich auf eine Bank zieht. »Mutter hat während der ganzen Zeit keine einzige Probe versäumt, nicht eine Vorstellung im Theater!«

»Disziplin?«

»Ja, in der Beziehung war sie immer wahnsinnig diszipliniert.«

»Und deshalb haßt du sie?«

Ich lehne mich an Paul, der mir seinen Arm um die Schulter legt. »Ich hasse sie. Und bewundere sie.«

Er hat offenbar fürs erste genug, denn jetzt läßt er mich in Ruhe. Wir gehen entspannt plaudernd weiter, die Østerbrogade hinauf zu mir. Gucken Schaufenster an. Kleidung, Küchen, Inneneinrichtung. Paul ist es, der immer wieder stehenbleibt. Ich möchte mich selbst nicht besser machen, indem ich behaupte, daß mich materielle Dinge nicht interessieren. Aber ich habe den Puritanismus der Partei nie ganz ablegen können, und außerdem habe ich keinen ausgeprägten ästhetischen Sinn. Früher war es immer Birgitte, die sich als meine persönliche Stylistin betätigt hat, und seit sie andere Prioritäten hat, sind mein Look wie auch meine Wohnung ziemlich nichtssagend geworden. Während Paul, und dafür wird er von den Hängeärschen im Sender verlacht, ein eitler Markenfan ist – und nach weniger als zwei Tagen in seiner Wohnung kann ich berichten, daß er auch Einrichtungsmagazine liest.

Die Frage, die ich noch unausgesprochen und unbeantwortet zwischen uns hängen lasse, ist natürlich, wo er eigentlich das Geld für die teure Vier-Zimmer-Wohnung an den Seen mit Mahagoni-Küche, Badezimmer in norwegischem Granit und Le Corbusier und Philippe Starck im Wohnzimmer hat. Ganz zu schweigen von den Boss-Anzügen, den Stenström-Hemden und den handschuhweichen italienischen Schuhen!

Wir kaufen unterwegs Kuchen, und während wir händchenhaltend nach Hause gehen, bin ich fest davon überzeugt, daß man nicht noch spießiger werden kann. »Ist doch schön, oder?« grinst Paul, als ich eine Spitze über kleinbürgerliche Sonntagsvergnügen von mir gebe. Schön, zumindest als Abwechslung, denke ich, als ich uns in meine Wohnung hineinlasse, wo – was mir plötzlich bewußt wird – so oft die Sonntagsmelancholie in den Ecken gelauert hat. Und ich summe, als ich in der Küche stehe und Café au lait auf die altmodische Art und Weise mit Espresso und gekochter, geschlagener Milch mache. Es gefällt mir zu wissen, daß er drinnen auf meinem verschlissenen Sofa sitzt und eine meiner zerkratzten Platten hört, die auf meinem alten Plattenspieler läuft.

Die Freude über ihn und diesen Tag springt mir voran wie ein kleiner Gummiball und läßt ihn aufschauen, als ich das Tablett auf den Tisch stelle.

»Du lächelst?« stellt er fragend fest und lächelt selbst.

»Ich freue mich einfach, daß du hier bist«, erkläre ich, wohl wissend, daß ich mir damit eine Blöße gebe.

»Ich freue mich auch hierzusein! Komm!« Er lehnt sich zurück und will nach mir greifen.

»Zuerst der Kaffee!« sage ich.

»Zuerst ein Kuß!« beharrt er und küßt mich, daß ich den Boden unter den Füßen verliere. »Und dann der Kuchen!« neckt er mich und schubst mich weg.

Ich beherrsche mich und mache mich statt dessen über den Mandelkuchen her, der nur ein billiger Ersatz ist.

»Und dein Vater?« fragt er plötzlich ohne Übergang, als er das erste Stückchen Kuchen im Mund hat.

»Mein Vater?«

»Ja, wo ist er abgeblieben? Einfach aus der Geschichte ausgetreten, als du neun warst, oder wie?«

Ich seufze. Vor allem vor Müdigkeit. Psychische Müdigkeit. »Können wir das nicht ein andermal durchnehmen, Sigmund?«

»Wie du willst. Ich bin nur neugierig.«

»Ja, das kann man wohl behaupten!« bestätige ich und erzähle ihm doch die Geschichte. Von Vater, der ein halbes Jahr später mit Entzugstabletten und vielen Versprechungen doch wieder zurückkam und fast ein halbes Jahr lang der perfekte Vater war. Lieb und witzig, zärtlich und anwesend. Von Mutter, die sich während einer Tournee durch die Provinz einem anderen Schauspieler in die Arme warf–Vater entdeckte das, weil sie wollte, daß er es entdeckt.

»Und dann ging er ganz fort. Legte einen Zettel und etwas Geld für uns auf den Küchentisch und verschwand. Reiste in Europa und Nordafrika herum und landete schließlich auf Mallorca, wo er anfing, Kitschportraits für Touristen zu malen, und damit so viel verdiente, daß er es sich leisten konnte, Alkoholiker zu sein. Dort ist er, soweit ich weiß, immer noch.«

»Hast du keinen Kontakt zu ihm?«

Ich schüttle energisch den Kopf.

»Im ersten Jahr schrieb er, und wir, meine kleine Schwester und ich, schrieben ihm zurück. Aber dann verlief sich das im Sand. Kiki, meine Schwester, hat ihn einmal an einem Strand da unten gesehen, aber ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er abgereist ist. Ich würde ihn wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen, wenn ich ihm auf der Straße begegnen würde.«

»Vermißt du ihn?«

»Nicht mehr«, sage ich und mache dicht. Auch wenn es Paul ist ...

Die letzte Vernehmung des Tages wird am späten Sonntagabend in meinem Bett durchgeführt. Hinterher.

»Du, Tes«, murmelt er. »Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Soll das ein Witz sein?« frage ich und schnuppere an seiner Halsgrube. Plane einen Revanche-Knutschfleck.

»Hattest du ‘nen Russenschwanz?«

»Wie bitte?« frage ich erstaunt und setze mich jäh im Bett auf, daß er zur Seite rollt.

»Hattest du ‘nen Russenschwanz?« wiederholt er ruhig.

»Das geht dich doch überhaupt nichts an!«

»Aber ... hattest du?« beharrt er.

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Ich hatte keine Zeit. Außerdem ist die Perestroika auf dem Gebiet der Intimhygiene noch nicht eingeführt«, erkläre ich.

»Und das bedeutet?« Paul krabbelt zu mir hoch.

»Daß sie sich nicht waschen. Da«, sage ich und zupfe an seinem Pimmel.

»Au!« ruft er. Aber dann grinst er ein breites Jungsgrinsen. »Heißt das, daß es außer mir keinen anderen gab, seit letztem Mal?«

»Ja! Und ich wünschte, ich könnte das gleiche sagen!« erwidere ich und zupfe noch einmal. Strafend.

Er umschließt meine Hand mit seinen Händen.

»Tes, in meinem Leben hat nie eine andere Frau existiert. Du bist die erste. Und die letzte.«

»Ha!« fauche ich und will mich freimachen. Aber Paul hält mich fest.

»Glaube mir lieber.« Paul schlägt einen Flickflack mit den Augen. »Vielleicht ist das ja eine Drohung!«

Paul hatte vollkommen recht. Noch bevor wir – jeder für sich – am Montag morgen die Glastür durchschritten haben, sind wir bekannt als das neue Paar. Und obwohl wir uns darin einig sind, uns zurückzuhalten und das gemeine Volk nicht unsere zerbrechliche Romanze besudeln zu lassen, ist nichts zu machen. Wir sind hot news.

Lea lächelt warm und gratuliert mir. Kirsten schnalzt mit der Zunge, und Ras nennt mich eine »Renegatin«, weil ich mich mit einem vom Inland eingelassen habe. »Hättest du nicht einen aus unseren eigenen Reihen nehmen können?«

Ich bin überrumpelt von dem enormen Interesse an meinem Privatleben, und bevor ich das Visier herunterlassen kann und die Standardantwort »no comments« herleiere, ist es zu spät. Da das Dementi nicht umgehend erfolgt, weiß jeder im Laufe weniger Tage, daß die Geschichte stimmt: Die Hochzeitsglocken beginnen bereits zu läuten ... Ich hasse Journalisten!

Ich gebe mir große Mühe, mich wie immer zu verhalten, das heißt beschäftigt und professionell, während Paul immer wieder unsere Abmachung über Diskretion mit gestohlenen Küssen, einem Überfall im leeren Redaktionsraum und langen, tiefen Blicken über einen vollbesetzten Kantinentisch hinweg unterminiert.

»Ihr strahlt ja dermaßen!« ruft Lea eines Tages, als sie seinen Blicken nicht ausweichen kann, und bringt damit den ganzen Mittagstisch zum befreienden Lachen.

»Ja, es ist wirklich nervend mit all dieser Liebe!« meckert Kofoed, der Bornholmer Stützpfeiler im Sonntagsmagazin.

»Schade, sonst könntest du sicher was lernen!« pariert Paul, der nie aus seiner Antipathie gegenüber dem geräucherten Bornholmer Junggesellen einen Hehl gemacht hat. Kofoed hat keinen Charme und ist deshalb nach Pauls Meinung die absolute Fehlbesetzung für einen Moderator.

Abgesehen davon verstehe ich sein Unwohlsein uns gegenüber ausgezeichnet. Ich war immer die erste, die sich über so ein Gelaber empörte, und war in dieser Beziehung nie – man braucht nur Birgitte zu fragen – besonders großzügig. Freude über das Glück anderer, wenn sie sich in lallende Stereotypen verwandelten, sobald sie meinten, den Mann/die Frau fürs Leben gefunden zu haben, war mir fremd.

Meine Entschuldigung: Ich bin nicht mehr ich selbst. Verliebtsein ist ja im Grunde ein krankhafter Zustand, eine Krise, deren Abklingen man abwarten muß. Danach – so liest Paul aus dem Alberoni vor, den er auffallend abgegriffen in seinem Regal stehen hat – kann das Verliebtsein plötzlich von Gleichgültigkeit oder sogar Widerwillen gegenüber dem zuvor so glühend Besungenen abgelöst werden. Oder – im Idealfall – in echte Liebe transformiert werden. Ersteres ist eine banale Erfahrung in einem kritischen Single-Leben und also auch in meinem. Mit letzterem kann man genauso sicher rechnen, wie damit, eines Tages von CNN einen Job angeboten zu bekommen. Hier kann ich auch ebensogut für Paul reden, denn auch wenn er ein beziehungsloser Peter Pan ist – gewesen ist? –, so weiß ich doch, daß er gleichzeitig ein »Born-to-be-wild«-Freak ist und nie daran gezweifelt hat, eines Tages die einzige auf seine Goldwing zu schwingen und in den Sonnenuntergang hineinzufahren.

Deshalb gibt es neben all der Freude, der Verwunderung und Glückseligkeit, die Augen morgens aufzuschlagen und seinen zu begegnen, auch stellenweise Frost in Herz und Hirn. Eine Abneigung dagegen, an den Haaren weggeschleppt zu werden, das verletzende Gefühl, gelockt und verführt zu werden, und ein grundlegendes, alles durchdringendes Mißtrauen gegenüber allzu engen Paarverhältnissen.

Anders gesagt: Es ist bei weitem nicht so, daß ich nicht auf der Hut wäre. Und gerade deshalb ist es so bedauerlich, daß meine Versuche, die Fahne aufrecht zu halten und die Zugbrücke hochzuziehen, so halbherzig sind. Oder genauer – mißglückt sind. Innerhalb von vierzehn Tagen wird »ich« zu »wir« und »mir« zu »uns«, und ich habe Probleme, mich daran zu erinnern, daß es jemals anders war. Aber am allerschlimmsten ist, daß ich, je weiter ich den Berg hinaufkomme, um so ängstlicher werde abzustürzen.

Manchmal, wenn ich allein bin und für einen Moment die Hypnose abschütteln kann, frage ich mich selbst, was es eigentlich ist, was an ihm so besonders sein soll. Was hat Paul, was all die anderen nicht hatten? Und endet vielleicht die ganze Geschichte damit, daß ich gedemütigt dastehe, angeschmiert und um eine Erfahrung reicher, während Paul weiterzieht? Wieder einmal reingelegt!

Aber wenn wir zusammen sind, erscheint mir jeder Zweifel vollkommen absurd, fast blasphemisch. »Man soll über Wunder nicht spotten, indem man ihnen zu entgehen versucht«, schreibt Paul mir einmal auf eine Reklamepostkarte aus einem Café, als ich meine Bedenken vorgebracht habe und ihn bitte, die Geschwindigkeit zu drosseln. »Genieße es, meine Geliebte. Genieße mich, genieße dich, genieße uns!«

Das lehrt er mich auch. Loszulassen und zu genießen. Also genießen wir einander in diesem reifen Spätsommer, in dem die Märkte sich mit Heide füllen und ein angeschwollener Wespenstich mich daran erinnert, daß ich immer noch nur ein Mensch bin. Und dazu nur ein halber Mensch – wenn ich allein bin, ohne ihn, und ins Leere greife, kann ich nichts anderes tun, als ruhelos darauf zu warten, daß er zurückkommt, damit wir unseren unterbrochenen Dialog, unsere abenteuerliche Expedition fortsetzen können. Denn das sind wir – zwei Entdeckungsreisende, die ein neues Land erobern und nie wissen, ob ihr nächster Schritt sie in Sumpfgebiet, zwischen Sanddünen oder in das verbrannte Gras der Savanne führt.

Derart – unter Tropenhelm und großen Gefahren – lernen wir einander kennen. Werden miteinander vertraut, flüstern intim, miteinander verschmolzen. Wir teilen Tage und Nächte, und ganz gleich, was wir tun, es ist für uns ein fast greifbarer Genuß, zusammenzusein: Ob wir nun französische Filme sehen, einkaufen oder zu Rockkonzerten gehen. Ob wir in Vesterbro türkisch essen oder beim Brunch im d’Angleterre sitzen. Wir reden, bis uns die Kiefer weh tun. Über die Filme, Bücher und die Musik eines ganzen Lebens. Wir zeigen einander Kopenhagen und überschütten uns gegenseitig mit Kindheitserinnerungen und alten Witzen. Wir rekonstruieren all die Gelegenheiten, wo wir vielleicht auf derselben Fete waren, im selben Bus, zum selben Springsteen-Konzert in Hamburg.

Manchmal glaube ich, Paul als Sechzehnjährigen mit gelocktem Haar und Mittelscheitel vor mir zu sehen, und er ist überzeugt davon, daß wir zum Soundtrack von »Grease« zusammen getanzt haben. Was ich nicht glaube, denn ich habe John Travolta immer verabscheut, und außerdem, argumentiere ich süßlich, würde ich mich doch auf jeden Fall daran erinnern ...

Aber wir sind uns in unserer Verwunderung darüber einig, daß wir nicht schon lange aufeinandergestoßen sind. Das hätte zweifellos leicht geschehen können, wir haben verschiedene gemeinsame Bezüge und Bekannte und haben beide im »Tannhäuser« Absinth getrunken – um nur ein Beispiel zu nennen.

Allein die Tatsache, daß es uns geglückt ist, uns in der Journalistenhochschule aus dem Weg zu gehen, ist ein Mysterium. Ich hatte gerade mit dem Praktikum angefangen, als er mit dem ersten Theorieabschnitt in Århus anfing, und als ich zum zweiten Abschnitt zurückkam, war er im Praktikum. Paul behauptet, er hätte mich in der Kantine gesehen, als unsere Gruppe am Praxistag mitten im Praktikantenabschnitt in Lederjacken auftrat, und ich kann mich daran erinnern, daß ich von ihm gehört habe, weil eine Achtzig-Kilo-Frau aus meiner Klasse öffentlich erklärte, sie wäre bereit, sich den Mund mit Draht zunähen zu lassen, wenn sie dadurch Paul Weber kriegen würde. Diese Geschichte schluckt Paul mit einem breiten Pferdehändlergrinsen und revanchiert sich damit, daß er erzählt, diverse Typen in seinem Jahrgang wären ganz scharf auf mich gewesen.

»Ach Quatsch! Die kannten mich doch gar nicht!« antworte ich, nicht weniger angetan.

»Nein, aber sie kannten dein Namenszeichen. Wir waren alle stark beeindruckt von deinen Artikeln. Noch an der Hochschule und schon so etabliert, daß du übers Ausland schreiben durftest! Über Außenpolitik!«

Paul neckt mich. Kratzt an meiner Seriosität, kitzelt an meiner eigenen Ernsthaftigkeit. Vielleicht genieße ich an Paul in erster Linie seine unablässigen Herausforderungen, den Widerstand eines gleichwertigen Partners. Obwohl es genau diese Provokation ist, die einen Typen wie Paul so anstrengend und irritierend macht, ist sie vielleicht auch das, was ihn von den anderen unterscheidet. Daß Paul sich nicht abfindet, nicht mit einer schnellen Antwort oder taktischen Manövern abgespeist werden kann.

Dennoch brauche ich ziemlich lange, bis ich den Ernst unserer »Beziehung« begreife, wie ich sie nur zögernd nenne, weil ich mir immer noch einbilde, daß wir kein offizielles »Paar« sind. Gleichzeitig sehe ich selbst, wie lächerlich das ist, auch wenn Paul klug genug ist, es mir nicht auf die Nase zu binden. Denn ich binde mich an ihn, auch wenn ich so tue, als ob dem nicht so wäre.

Ich zeige mich öffentlich mit ihm, küsse ihn in der S-Bahn – also wirklich! – und führe ihn in den Teil meines Privatlebens ein, der normalerweise verbotenes Terrain für meine Liebhaber ist: Ich stelle ihn meinen Freunden und meiner Familie vor.

Birgitte trifft er das erste Mal auf der Wöchnerinnenstation des Rigshospitals, einen Tag, nachdem sie ihren Sohn geboren hat. Das war ein faux pas meinerseits, denn Birgitte sieht ziemlich ramponiert aus und will sich anscheinend nicht zu dem winzigen schlafenden Wesen bekennen, das in einem Plexiglasbettchen neben ihrem Bett liegt. Außerdem hat sie im Moment verständlicherweise wenig Interesse an meinen Angelegenheiten. Jens schaut sauertöpfisch wie immer und strahlt in keiner Weise beschützende Väterlichkeit aus. Wir verehren ihr einen von Paul ausgesuchten Mickymaus-Strampelanzug, der ein vorsichtiges Lächeln auf ihr Gesicht zaubert, während sie insgesamt fast traurig wirkt.

»Wirst du jetzt mütterlich?« fragt Paul im Fahrstuhl nach unten, und ich antworte ihm, indem ich die Augen verdrehe. Nein, ich werde weder diesmal mütterlich noch ein paar Wochen später, als Birgitte uns zu Pizza und Wein aus dem Karton einlädt. Ganz im Gegenteil. Die Szenerie ist beängstigend. Birgitte sieht immer noch aus wie etwas, das die Katze gefunden hat – ohne Make-up und mit ihren mindestens zehn überflüssigen Kilo, die sie notdürftig unter einem Sweatshirt und Leggings aus der letzten Saison verbirgt. Ein schlimmer Niedergang für eine Frau, für die Ästhetik einmal alles war. Aber diesmal zeigt sich jedenfalls eine Art Symbiose zwischen ihr und dem Kind, das bezeichnenderweise noch namenlos ist, weil die Eltern in dieser Frage festgefahren sind. Birgitte möchte ihn Maximilian nennen, weil er so groß war, und Jens beharrt auf Morten, was Birgittes Vorstellungen von einem Jungennamen diametral entgegengesetzt ist. »Warum nennt ihr ihn nicht einfach Susanne?« schlägt Paul vor und erntet das einzige Birgitte-Kichern des Abends, während Jens das überhaupt nicht witzig findet. Die Chemie zwischen Jens und Paul ist eindeutig nicht so, daß wir vier jemals eine Wandertour in den Alpen machen werden.

Der Junge, der immer noch winzig klein ist mit dünnen Froschbeinen und verschrumpeltem Gesicht, ist unruhig und schreit ununterbrochen, so daß Birgitte entweder mit ihm auf und ab läuft oder sich in das gewaltige ergonomische Stillkissen setzt und das Sweatshirt hochzieht, um das Kind erst an die eine, dann an die andere vor Milch fast platzende Brust zu legen.

Jens sitzt schäumend vor der Pizza, von der Birgitte kaum etwas probieren konnte, bis er endlich explodiert.

»Bring endlich das Kind zur Ruhe!« zischt er zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor, wobei seine Halsadern hervortreten und er die Fäuste ballt.

»Was glaubst du denn, was ich hier mache!« schreit Birgitte, und Jens steht so abrupt auf, daß sein Stuhl fast umkippt. Wütend rennt er aus dem Zimmer, wirft die Tür hinter sich zu und poltert die Treppen hinunter. Birgitte bleibt wie erstarrt stehen, sogar das Kind hat instinktiv aufgehört zu weinen. Paul und ich sehen uns über den Tisch hinweg an und erwarten, daß sie weinend auf dem nächsten Stuhl zusammenbricht. Aber das tut sie nicht. Sie beißt sich auf die Lippen und reißt sich zusammen. Legt das jetzt ruhige Kind in den Wipper, schaukelt ihn leicht und wendet sich uns zu.

»Kaffee oder Tee?« fragt sie unheimlich ruhig und geht hinaus, um Wasser aufzustellen.

Wir kommen zu keinem vernünftigen Gespräch, denn als wir endlich mit unserem Tee dasitzen, meldet der Kleine sich umgehend mit durchdringendem Gebrüll.

»O nein, jetzt hat er sich schon wieder eingeschissen!« ist Birgittes Kommentar.

Paul bietet seine Hilfe an, aber Birgitte sagt mit einem müden Zucken um den Mund, daß sie das wohl am besten selbst macht. Als ich vorschlage, daß wir damit den Abend beenden, versucht sie nicht einmal zu protestieren.

»Ich komme ein andermal vorbei«, versichere ich ihr, als wir uns im Flur verabschieden.

»Süßes Baby!« neckt Paul sie auf dem Weg hinaus.

»Scheißsüß!« erwidert Birgitte mit dem Kind über der Schulter und ähnelt zum Glück endlich einmal wieder sich selbst.

»Sie ist sonst nicht so!« sage ich leicht verärgert, als wir in der ohrenbetäubenden Stille der Straße stehenbleiben.

»Du meinst, sie war sonst nicht so!« korrigiert Paul mich. Und dann gehen wir ins Kino. Wir schaffen es gerade noch zur Spätvorstellung im Grand.

Mann umständehalber abzugeben

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