Читать книгу Meerjungfrau sucht Mann fürs Leben - Hanne-Vibeke Holst - Страница 5
ОглавлениеMeine Mutter bekam ihre Wehen im ersten Akt von »Nora oder Ein Puppenheim«, sie spielte unbeeindruckt weiter und hätte fast einen Monat zu früh auf offener Bühne ein Kind geboren.
Birgitte, meine Busenfreundin, wachte eines Morgens in einem Meer auf und fuhr in erhabener Ruhe mit Jens, dem Zeichendreieck, der sich an sein Mobiltelefon klammerte, ins Krankenhaus und ich – ich gebäre überhaupt nicht.
Wenn man die ganze Geschichte betrachtet, schon reichlich ironisch, daß ich jetzt die 41. Woche hinter mir habe, ohne, wie es so schön nüchtern auf Englisch heißt, delivered zu haben. Rein klinisch gesehen bin ich ansonsten als reif beurteilt worden. Der Gebärmutterhals ist auf dem Weg, sich zu verwischen, der Schleimpfropfen ist abgegangen und das Fleisch weich und gefügig. Das Kind hat sich schon seit langem gedreht, sein Kopf steht wie ein eingeschraubter Baseball fest zwischen meinen Schenkeln, und sein Gewicht scheint um die 3400 g zu liegen. »Das fühlt sich da einfach nur wohl!« erklärte Birgitte fröhlich, und Paul erinnert mich daran, daß ich ein Wunder in mir trage. »Wir hätten es ebensogut verlieren können!«
Ja, und ich bin die erste, die dieses Wunder preist. Auf einer Bahre nach Hause geflogen, auf der Landebahn mit einem Krankenwagen abgeholt und im Krankenhaus von einem instruierten Team mit finsteren Mienen empfangen zu werden und danach mit der Diagnose »vorzeitige Wehen« zwischen weißen Wänden und ergreifenden Schicksalen auf einer gynäkologischen Abteilung für Wochen eingesperrt zu werden verändert dich. Du wirst demütig. Das Leben ist nichts Selbstverständliches mehr. Weder das eigene noch das, welches du hervorbringst. Deshalb ist es nicht Undankbarkeit oder kindische Ungeduld, die mich den Gynäkologen immer wieder fragen läßt, wann zu erwarten ist, daß die Geburt beginnt, und warum ich nicht schon längst geboren habe. Im Gegenteil, es ist die Angst, daß sich das Drama wiederholen könnte. Daß ich doch noch für mein unbedachtes Moskau-Abenteuer bestraft werde, daß ich nur nicht glauben soll, ich könnte so einfach davonkommen. Ich bin ja mit dem Schrecken davongekommen, habe die Krise überstanden und bin mit einem Urin, klar wie Wasser, gesund geschrieben worden, mit einem Blutdruck wie eine keusche Jungfrau und einem Fötus, der nach allen Untersuchungen, Ultraschallbildern und den Zeichen von Sonne und Mond, von denen sich kein moderner Mediziner gänzlich loszusagen traut, vollkommen unbeschadet und normal sein soll.
Aber wie damals, als ich als junges Mädchen von einem Lastwagen auf dem Rad angefahren wurde und mir einen Fuß gebrochen hatte und danach viel mehr damit beschäftigt war, den schockierten Fahrer zu trösten, als mich um mein eigenes Unglück zu kümmern, kam die Reaktion auch jetzt erst später. Damals traute ich mich ein halbes Jahr lang nicht, mich auf mein neues Rennrad mit zehn Gängen zu setzen, das ich als Ersatz für mein lädiertes bekommen hatte. Und als die Phobie endlich überstanden war, hatte meine Schwester Kiki das Rad geklaut und nach Christiania geschleppt, wo es spurlos verschwand.
Während ich auf der Station lag, war ich auch diejenige, die die ganze Situation am entspanntesten ertrug. Ich, die Paul lautstark versicherte, daß alles gutgehen würde. Ich, die unter keinen Umständen zulassen wollte, daß Mutter ihren und Freddys Toskana-Urlaub abbrach und ich, die Seelsorgerfunktionen für die urlaubsreifen Krankenschwestern übernahm, welche kollektiv vom schlechten Gewissen geplagt waren, weil sie mit tiefem, menschlichem Leid gezwungenermaßen oberflächlich und zeitweise sogar brutal umgehen mußten. Sie schimpften, als sie im Bett meiner Zimmernachbarin Agnes Kaffeesatz fanden, da diese in einem verzweifelten Versuch, zum vierten Mal ein Kind zu behalten, den Anweisungen einer westjütländischen Quacksalberin gefolgt war und ihren Bauch mit Gevalia Kaffeepulver eingerieben hatte. Aber sie heulten, wie der ganze Rest der Station, als sie recht behielten. Auch dieses Mittel war wirkungslos.
Mit Agnes mußte man einfach Mitleid haben. Wie auch mit den Drogenmüttern, einige von ihnen mit Aids im akuten Stadium. Mit den Diabetikerinnen und den Herztransplantierten, die, koste es, was es wolle, darauf bestanden, ihre Schwangerschaft auszutragen. Aber als sogar der General himself, mein schroffer Chef, im Krankenhaus auftauchte, zur Hälfte hinter einem riesigen Korb mit Rotwein, Schokolade und exotischen Früchten verborgen, und mich teilnahmsvoll nach meinem Zustand fragte, hatte ich wirklich das Gefühl, daß die Gerüchte über meinen kurz bevorstehenden Tod reichlich übertrieben waren. Das antwortete ich ihm, dekoriert mit einem schiefen John-Wayne-Lächeln, das ihm beweisen sollte, daß good old Tes ihre Power nicht verloren hatte, und bald wieder im Sattel sitzen würde. Er lächelte anerkennend über den Versuch, Tränenhasser, der er war, tätschelte mir aber dennoch den Handrücken und forderte mich auf, es ruhig angehen zu lassen.
»Es kann ja sein, daß du nur noch eine Kugel im Lauf hast, Missie!«
Ungefähr das war auch der Inhalt der Entlassungspredigt, die ich vom Professor mit auf den Weg bekam.
»Ich erlaube Ihnen nur, hier wegzugehen, wenn Sie mir versprechen, sich zu pflegen! Und damit meine ich absolute Ruhe! Unsere gemeinsamen Anstrengungen sollen doch nicht vergebens gewesen sein, oder?« sagte er und überreichte mir eine Krankschreibung mit einem Blick, der von mir zu Paul und zurück zu mir wanderte. Und mir war in der Zwischenzeit klargeworden, daß dieser ziemlich einzigartig gewesen war. Paul meine ich. Nicht jeder Typ steht drei Wochen lang jeden Tag, ohne zu mucken, in der gynäkologischen Abteilung habacht in dem heißesten Sommer der letzten fünfzig Jahre, um aufzumuntern und die schwüle Langeweile zu vertreiben, in der wir ansonsten dahindösten. Aber Paul bedeutete, wie meine Mitpatientinnen mir anvertrauten, für »uns alle zusammen« ein erfrischendes Ereignis. »Und außerdem ist er ja ein scharfer Typ. Mit ihm könnte ich es mir sogar noch mal vorstellen, einfach zum Vergnügen«, bemerkte Agnes, während sie ständig brütete. Selbst die Ärzteschaft lebte auf, wenn Paul kam und vor den Europameisterschaften, bei denen Dänemark wegen Jugoslawiens Unglück plötzlich ohne jede Erwartung mitspielen durfte, Wetten organisierte.
Deshalb war ich in der Hitze ziemlich scharf darauf, genau mit diesem Paul und einem immer noch relativ großen Happen an Sommer voller Farben, Duft und Freiheit, aus der Isolation entlassen zu werden, mit Geburtstermin Mitte September. Mir zuliebe hatte er sogar seinen Stolz gegenüber seinem großen Bruder beiseite geschoben und dessen Angebot angenommen, sein hübsches, neu erworbenes Ferienhaus in Hornbaek zu bewohnen, während er mit Marianne und ihrem widerlichen Sproß auf Kreuzfahrt im Mittelmeer war. Zum Glück war das Haus – Phillips »Osterei« für Marianne – immer noch in dem Zustand, in dem der frühere Besitzer es verlassen hatte, das heißt nüchtern und einfach mit Rauhfasertapete, zwei Gasflammen in der Küche, durchgelegenen Matratzen und einem unberührten, wild zugewachsenen Gelände. Paul machte sich sofort daran, das mannshohe Gras mit einer scharfen Sense zu mähen, und in einem Liegestuhl ruhend seinen nackten Oberkörper in der Sonne in kraftvollen, regelmäßigen Schwüngen arbeiten zu sehen machte mich so trocken im Mund und naß im Schritt, daß ich den Liegestuhl verlassen und ihn bitten mußte, mich gleich hier zwischen Geißblatt, Brennesseln und hartem, geschnittenem Gras zu nehmen.
Es war eine neue, sozusagen eher natürliche Art, ihn zu erleben, eine tiefere, innerliche Form des Zusammenschmelzens, wie er zuerst zurückwich aus Angst, dem Kind zu schaden, ich ihn dann aber davon überzeugen konnte, daß das nur gesund wäre ... Worauf er grinste und sich mit einem erdigen Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte – »Wie du willst, Geliebte!« –, und dann waren wir Kuh und Stier mit dem Himmel, der wie ein blaues Viereck auf und ab wippte. So verliefen die Wochen auf dem Land – einfach, unverstellt, wie die Kartoffeln, die wir aus einem überwucherten Beet in einer Ecke des Gartens ausgruben und mit Butter, Dill und geräuchertem Hering aus dem Hafen von Gilleleje aßen. Wir wuschen einander die Haare mit kaltem Wasser, tauchten Erdbeeren in Schokolade und vermieden sorgfältig die Kopenhagener Herde in Hornbaek-Stadt, indem wir uns einfach fernhielten. Mit anderen Worten: Wir waren zum ersten Mal laut Pauls präziser Formulierung Mann & Frau, die Tag und Nacht in intimer Zweisamkeit verbrachten, was wir zuvor stets vermieden hatten, bewußt oder unbewußt. Wir furzten und rülpsten, schnarchten und sabberten, waren morgenmuffelig und mittagsschläfrig, abends geil und konnten nachts nicht schlafen, und in allererster Linie der Gesellschaft des anderen überlassen. Angenehme Gesellschaft, sollte ich hinzufügen, denn das stellten wir auch fest. Daß es uns gut zusammen ging, daß wir auf einer Wellenlänge waren, uns schieflachen konnten, uns nie die Worte fehlten, wir aber andererseits auch keine Angst vor der Stille hatten, wenn wir abends an der Küste entlanggingen und dem Geräusch der Wellen lauschten und sahen, wie die Lichter an der schwedischen Küste angezündet wurden, wenn die Nacht einen Ton dunkler wurde. Und dann eine elementare Sache, die für mich normalerweise der peinliche, kritische Punkt ist: der Körper. Mein heimlicher Ekel vor dem Körper des Geliebten. Schlaffe Pobacken, eine hängende Schulter, zu plumpe Figur oder ein unschöner Schwanz. Aber Pauls Körper liebte ich. Ihn anzusehen, an ihm zu schnüffeln, ihn zu berühren. Er ist auf eine fast feminine Art und Weise schmackhaft, perfekt proportioniert und federnd wie bei einem Jüngling. Und ihn so um mich zu haben, moschusduftend, mit nackten Zehen in den Espadrilles, war genau eines dieser sensuellen Sommervergnügen, denen mich zu öffnen er mich lehrte. Er versuchte auch, mir ein zusammenhängendes Grundwissen über die französischen Philosophen beizubringen, während ich tastend die Tiefen der russischen Volksseele beschrieb. Und während Paul mir Victor Hugos »Die Elenden« auslieh – starkes Buch! –, lieh ich ihm Tschechows Briefe und machte ihn ein wenig eifersüchtig mit meiner Äußerung, daß ich für ihn, Tschechow, immer schon eine Schwäche gehabt hätte. Anton war sanft und fern zugleich, und außerdem fühlte er die Rastlosigkeit und das Zögern, sich an seine geliebte Olga zu binden, das auch ich in diesen Tagen gesättigter Leibesfülle als Unruhe im Blut wiedererkannte, ein plötzliches Kitzeln unter den Fußsohlen, ein Ausspähen nach etwas anderem. Aber Tschechow war nie schwanger, er hatte nie dieses Kind gehabt, das ihn wie ein Sandsack zur Erde ziehen konnte. Und auch nicht diese Erwartung von etwas Großem, das seinem Leben endlich eine Richtung geben konnte.
Denn das Kind war natürlich der Himmelskörper, um den wir uns die ganze Zeit drehten. Unser Lieblingsthema, auf das wir immer wieder zurückkamen. Dort in diesem übersichtlichen Idyll, das Paul als medienfreie Zone bestimmte, erschien es so einfach und selbstverständlich, sich zu reproduzieren. No problem! Wir hatten Ferien, der Preis für Windeln und der Mangel an Krippenplätzen segelten wie Schäfchenwolken an dem ewig blauen Himmel an uns vorbei. Und meine Angst, mich selbst zu verlieren, meine Verteidigung der heiligen Integrität und mein professionelles Über-Ich kamen mir ehrlich gesagt ein wenig übertrieben vor. Warum alles so komplizieren? Paul war ja auch da, ich würde nie im Stich gelassen werden. Ganz im Gegenteil, versicherte er mir. Jeden Tag. Mehrmals am Tag. Zum Schluß fühlte ich mich so apathisch oder wie nach einer Gehirnwäsche, daß ich mein Mißtrauen gegenüber seinem wirklichen commitment zusammen mit den Wolkenformationen wegwehen ließ. Auf den Sand hinaus, wo sich der Zweifel auflöste und zu Luft wurde.
»Es ist ja nun ganz klar, daß das hier nicht das wirkliche Leben ist«, sinnierte ich eines Mittags, während die Hummeln in den Heckenrosen summten und Paul eine Wassermelone zerteilte.
»Wer sagt das?« bemerkte er und legte vier Stücke rotgrüne Melone auf einen angeschlagenen Tonteller. »Du bist jedenfalls nie zuvor so wirklich für mich gewesen, Tes! So nahe, so fruchtbar, liebenswert ohne Abstand ...«
»Oh, wie lyrisch!« richtete ich mich auf, immer empfänglich für jeden Anflug manierierter Gefühlsduselei.
Er reichte mir den Teller.
»Tes, hast du jemals überlegt, wieviel Lärm um uns herum ist? In der Stadt, jeden Tag? Bevor wir hierhergekommen sind, waren wir nie zusammen einfach nur still! In all dem Lärm habe ich dich faktisch gar nicht hören können! Wenn wir nicht hierhergekommen wären, hätten wir nie die Ruhe gehabt, uns kennenzulernen! Ich habe dich gespürt, aber es könnte doch sein, daß ich mich geirrt habe ...«
»You win some, you lose some!« lächelte ich.
Paul biß in die Melone, daß der Saft ihm das Kinn herunterrann. Dann bestand er ernsthaft darauf, sich vor mir in die Hocke zu setzen.
»Du warst ganz genau so schön, wie ich es mir erträumt hatte: Ich liebe dich. Laß uns hierbleiben!«
»Hierbleiben?« fragte ich und gab ihm seine kleinen, bekräftigenden Küsse zurück.
»Hier in diesem Leben. Laß uns aussteigen, bevor es richtig angefangen hat, laß uns einfach und gut leben, das Kind aufziehen, ordentliche Kartoffeln anpflanzen, hier und da ein bißchen schreiben ...«
»Nullwachstumsromantiker!« spottete ich, die selbst einmal davon geträumt hatte, spartanisch in einem südamerikanischen Landwirtschaftskollektiv zu leben. »Wir werden unruhig werden, im Winter einschneien und einander auf die Nerven gehen! Das Kleine wird Bronchitis kriegen und wir in Thermoklamotten herumrennen und meckern, warum kein Geld für Heizöl da ist.«
»Ich bin kein Romantiker, ich bin Realist. Das läßt sich problemlos machen. Wir verkaufen die Wohnung. Du wirst Freelancer, und ich werde Schriftsteller. Wenn du willst ...«
»Das will ich vielleicht in dreißig Jahren! Ich habe keine Lust, mich pensionieren zu lassen, Paul!« sagte ich ärgerlich über das Idyll, das von dieser trivialen Unterhaltung zerstört wurde, die doch im Endeffekt von dem ewig zwischen uns gärenden Konflikt handelte: meinem Verhältnis zu meiner Arbeit.
»Ich finde es schön auf dem Land, aber ich freue mich auch, wieder zurück in die Stadt zu kommen! Denn ganz gleich, was du hoffst oder glaubst, werde ich nie diejenige werden, der es reicht, Rhabarber einzukochen!«
»Okay, du hast recht. Wir gehen zurück und leben unser Surrogatleben in der Metropole. Meine geliebte, geliebte Tes! Aber sage nie, daß es meine Schuld ist!«
Das versprach ich.
»Ich werde schon die Verantwortung für meine Handlungen übernehmen. Und zwar zu jeder Zeit!«
Kurz darauf gingen wir zu einer Telefonzelle und riefen daheim an, um Pauls Anrufbeantworter abzuhören. Auf ihm war ein Anruf von einer Sekretärin von TV 2. Betreffend die Bewerbung, die er vor ein paar Monaten eingesandt hatte. Am nächsten Tag rief er zurück und wurde gebeten, am gleichen Nachmittag zu einem Gespräch nach Kopenhagen zu kommen. Am Abend hatte er das Angebot bekommen, zu Weihnachten als Allroundreporter bei der Kopenhagen-Redaktion eingestellt zu werden.
»Erster Dezember wahrscheinlich. Also haben wir nur ein paar Monate zusammen mit dem Baby«, überlegte Paul, als er aus der Stadt zurückgekommen war und wir mit Weißwein an unserem Lieblingsplatz im Garten anstießen. Es war schwül, der süße Duft von Kamille und herbstreifem Getreide hing schwer in meinen angeschwollenen Nasenlöchern.
»Wir können das Geld gut gebrauchen«, sagte ich vernünftig. »Und wenn du als Freier einen anständigen Monatslohn nach Hause bringen willst, wird es sowieso verdammt hart!«
Paul wippte mit seinem Glas in meine Richtung.
»Sag es nur, Tes. Wenn’s soweit ist, willst du mich sowieso am liebsten aus dem Haus haben.«
»Aber das wäre doch nur schön!« wich ich aus, und mir fiel ein, daß der Sommer im nächsten Moment vorbei sein würde. Dann fielen die ersten Regentropfen seit drei Monaten. Paul runzelte die Stirn, und mehr war nicht notwendig, damit auch mein Launebarometer drastisch sank. So leicht gebaut war mein innerer Deich gegen die seit Monaten aufgestaute Angst, daß er in der gleichen Nacht brach, in der ich mit weit aufgerissenen Augen schlaflos dalag und die Unruhe in mir aufsteigen fühlte, Meter um Meter, um mich schließlich mit eiskaltem Grauen zu überspülen.
»Aber, mein Schatz, wovor hast du denn Angst?« fragte Paul, als ich ihn weckte, um in seiner Armbeuge Trost zu suchen.
»Vor allem«, jammerte ich und schmiegte mich an ihn.
»So, so«, tröstete er, stand auf und kochte mir warme Milch mit Honig. Die trank ich und kam zur Ruhe, und am nächsten Morgen war das Gespenst in die Erde verbannt. Aber in der nächsten Nacht kam sie zurück, die Angst, die vielleicht eine neue Angst vorm Sterben war, eine Verletzlichkeit, die ich nie zuvor gekannt hatte. Und seitdem sind die Nächte voller Furcht, voller Alpträume mit deformierten Geschöpfen, siamesischen Zwillingen, mit Katzenkörpern geboren, einbalsamierten Föten in Schuhkartons. Ich werde von Krämpfen in den Beinen geweckt, muß aufstehen, Wasser trinken, pinkeln und zu mir selbst kommen. Mich zur Vernunft bringen, spüren, wie das Kind den Rücken bewegt und den Fuß streckt, ein lebendes Dementi, das mich im Morgengrauen aus dem Totenreich zurückholt.
Paul meint, es sei Moskau, das mich einholt. Daß ich gezwungen sei, mich der Angst zu stellen, die ich fühlte, als ich kurz davor gewesen war, von meinem ganz besonderen Mafiafreund, Alexander Kuznetsow, umgebracht zu werden. Sascha, unter Freunden.
»Du mußt deine Angst zulassen!« forderte er mich auf, als wäre er in einem Seelenklempnerkurs gewesen. »Du warst kurz vorm Sterben, Lady! Und dann gib doch endlich zu, daß der Krankenhausaufenthalt kein Picknickausflug war! Du mußt nicht immer die starke Frau sein!«
Ich gebe zu, daß ich neben den hormonal bedingten Gemütsschwankungen an den Nachwirkungen eines Schocks leide, wie damals, als ich vom Fahrrad geholt wurde. Ich gebe auch zu, daß die Wochen im Krankenhaus retrospektiv mit einer Reise durch den Vorhof der Hölle zu vergleichen sind. Aber ich bin, was die Strategie angeht, ganz anderer Meinung. Meiner Meinung nach gehört der Urschrei auf den Therapiemarkt, wo die Leute sich herzlich gerne auf dem Boden wälzen und brüllen sollen, wenn sie meinen, das gäbe ihnen einen Kick. Ich persönlich kenne eine sehr viel effektivere und wirksamere Kur: Arbeit.
»Müßiggang ist die Wurzel allen Übels«, antwortete ich auf seine Diagnose, als wir Ende August das Ferienhaus verschlossen, um in die Stadt zurückzukehren. »Ich habe einfach zuviel Zeit. Ich muß was zu tun haben. Ich kann nicht so herumlaufen und warten und von morgens bis abends in meinen Eingeweiden herumwühlen.
»Du hast was zu tun!« beharrte er. »Du mußt ein Nest bauen!«
»I prefer intellectual work!« Ich verdrehte die Augen wie meine russische Freundin Swetlana, die dieses Argument als Entschuldigung für ihre praktische Faulheit zu verwenden pflegt. Übrigens hat sie gerade überglücklich aus Moskau angerufen. Sie hat einen Job als Übersetzerin und Sekretärin in einer amerikanischen Beratungsfirma bekommen, »so soon I’ll be living in New York!«.
Aber ich weiß nur zu gut, daß ich mich nicht weigern kann. Ich muß ein Nest bauen. Während ich im Krankenhaus war, bekam Paul endlich die Carte blanche, um meine Wohnung zu räumen und zu vermieten. Ich war matt und geschwächt und unterschrieb den Mietvertrag mit dem fatalistischen Gefühl, entmündigt zu werden. Und jetzt, hinterher, wo ich eigentlich damit einverstanden bin, daß Paul und ich mit unserem Kind zusammen in seiner Wohnung leben werden, weil sie größer und schöner ist als meine, bin ich dennoch nicht ganz frei davon, mich hintergangen zu fühlen. Wenn es also schon schwierig war, mich zu überwinden, auszuziehen, so ist es noch schwieriger, einzuziehen. Paul hingegen hat den Weg dazu bereitet, indem er rigoros seine eigenen Sachen aussortiert hat, damit Platz für mich ist. Regalplatz, Schrankplatz, Schubladenplatz. Sogar Wandplatz für meine Pinnwand, als ob das einen Unterschied machen würde. Mein Leben als Single ist vorbei, ganz gleich, wie wir die Tatsache auch beschönigen. Als wir auf dem Land waren, war es nur ein undramatischer Entwicklungsschritt, aber hier in der Stadt, wo ich die ganze Zeit mit den Kulissen meines alten Lebens konfrontiert bin, scheue ich vor dem Neuen wie vor einem Hindernis. Ich kann mich nicht zu dem endgültigen Sprung, der Kapitulation, überwinden, wie sinnlos es auch in diesem Stadium erscheint. Also ist mein Leben immer noch in Umzugskartons verpackt, unästhetisch in Pauls hübschen Zimmern aufgestapelt. Irgendwie tue ich, als wäre ich nur zu Besuch und könnte, wann immer ich wollte, mich aus dem Terrain zurückziehen. Zu mir.
Dem Kind gegenüber kann ich mich jedoch merkwürdigerweise einfacher verhalten. Ich kann akzeptieren, daß es vernünftig ist, rechtzeitig einen Kinderwagen zu kaufen, und aufgrund meiner Initiative fahren wir zu einem Babyausstattungsgeschäft am Roskildevej. Ich bin es auch, die Paul unter Druck setzt, den »Gründungskredit« anzunehmen, den Ernst, sein reicher Vater, uns großzügig anbietet. »Zins- und gebührenfrei«, so daß hier von einem regulären Sponsoring die Rede ist, auch wenn Paul sich etwas anderes einbildet. Ich persönlich habe keine Skrupel, im Gegenteil: Ich wüßte nicht, wie wir sonst eine Investition in die Zukunft hätten bewerkstelligen können.
»Weißt du, daß wir uns dieses Projekt eigentlich gar nicht leisten können?« warf ich ein, als wir im Geschäft standen und auf einen Kurier warteten, der Kinderwagen, Wiege, Wickeltisch, Badewanne, Wipper und Babyphone in die Nørre Søgade bringen sollte.
»Natürlich können wir das«, sagte er. »Wenn nicht wir, wer dann?«
»Eine Packung Pampers kostet fast hundert Kronen! Wir werden kaum noch Geld fürs Kino haben!«
Paul lächelte satanisch.
»Wir werden keine Zeit fürs Kino haben!«
Das machen wir dafür im voraus. Und gehen ins Café und in die Galerien, in Geschäfte und in den Wald – und zur Beerdigung eines lieben, pensionierten Kollegen. Er war einer der Grand Old Men der Auslandskorrespondenten, gerecht, humorvoll und so großzügig, daß er gern sein Wissen mit den Jungen teilte, wenn er beim Sender »mal reinschaute«. Ich war eine derjenigen, die er aufgrund ihres Mutes respektierte, aber aufgrund meines Übermutes ermahnte, wie er selbst sagte. Als ich also in der vollen Kirche saß, fiel mir auf, daß ich den feinen, älteren Herrn gern gemocht hatte, und an dem gebeugten Kopf des Generals ein paar Reihen vor mir sah ich, daß auch er gerührt war. Die Witwe dankte hinterher gerührt, daß ich gekommen war und sie an den »Lebenskreis« erinnert hatte, und ihre warme Rede über die Freude nach der Trauer war so unerwartet bewegend, daß ich Paul am Arm packte und ihm sagte, wir müßten sofort gehen.
»Und was ist mit dem Leichenschmaus?« fragte er flüsternd.
»Ich halte es nicht aus. Es ist zu traurig«, brachte ich heraus und entschuldigte meine Unpäßlichkeit. »Das sage ich dir – die Wartezeit geht mir auf die Nerven. Ich muß was zu tun haben! Warum geht es nicht endlich los? Ich bin schon sechs Tage überfällig!«
»Weil du dich nicht traust!« sagte Paul und lotste mich zum Alfa auf dem Parkplatz. Von meinem Platz auf dem Beifahrersitz aus erwiderte ich ein Winken des Generals, der aus seinem heruntergekurbelten Fenster fragte, ob es denn ein Mammut wäre, mit dem ich niederkommen sollte.
»Zwei!« rief ich zurück, während Paul schäumte. »Mußt du mit ihm auf diese Art und Weise flirten?«
»Flirten? Nun mal ehrlich, Paul, du hast doch gehört, was ich gesagt habe. Das war nicht just sexchikane!«
»Er soll mein Kind nicht ein Mammut nennen!« schnaubte Paul daraufhin, während ich lachte.
»Warum schlägst du ihn dann nicht nieder? Ein für allemal?«
»Irgendwann werde ich das auch tun!« sagte er unheilschwanger und trat aufs Gas, daß der Kies unter den Reifen wegspritzte. Paul, sonst die Geduld in Person, gleich, ob ich fettige Haare oder geschwollene Knöchel hatte, unleidlich und empfindlich war, beginnt, mich jetzt auch erwartungsvoll anzusehen, wenn ich eine der langen Vorwehen bekomme, die wir inzwischen »Narrenwehen« nennen. Aber es passierte nichts, so die niederschmetternde Mitteilung, wenn Kiki, meine Schwester, mindestens zweimal am Tag anruft und Mutter überraschend aus den Proben vorbeischaut, um zu hören, ob es etwas Neues gibt. Birgitte hat vorgeschlagen, wir sollten »es losbumsen«, die Prostaglandine im Samen des Mannes wirkten wehenfördernd, was die Ärztin zögernd bestätigte. Aber das erste Mal, seit wir uns kennen, kann Paul nicht. Ganz gleich, welche Verführungskünste ich auftische, er bleibt schlaff wie ausgekochte Spaghetti.
»Nicht, daß du nicht wahnsinnig süß bist«, entschuldigt er sich. »Aber ich habe irgendwie das Gefühl, als wäre das Kleine dabei und würde zugucken.«
Birgitte schnalzt bedauernd mit der Zunge, als sie von seiner Impotenz hört.
»Ihr solltet es aber trotzdem genießen, denn hinterher ist es nie wieder das gleiche!«
Sie begleitet mich ins Kaufhaus, wo wir Strampelanzüge und Unterwäsche in Größe 50 kaufen. Was ich schon lange hätte tun sollen, aber weil ich mich irgendwie immer noch nicht richtig freuen kann, traute ich mich nicht, so vermessen zu sein, mich meinem Kind so stofflich zu nähern. Kinderwagen und die andere Ausstattung würde ich immer wieder verkaufen können, falls ... Aber so ein winzig kleines Unterhemdchen mit Bindeband ...
»Wie süß!« murmele ich mit einem wohligen Schaudern.
»Ja, es ist furchtbar«, sagt Birgitte. »Man vergißt ganz, wie hart es ist!«
Ich ermuntere sie nicht, ihre Behauptungen zu veranschaulichen. Ich weiß, was sie sagen will, und mag nichts mehr von »Vorher« und »Hinterher« hören und all die anderen zum Himmel gerichteten Prophezeiungen, mit denen unter anderem auch sie glänzt. Aber sie fährt unerschütterlich fort. Malerisch, so daß ich gegen meinen Willen grinsen muß.
»Goodbye, Nachtschlaf! Auf Wiedersehen, Sexualleben! Adios, Candlelight-Dinner! Au revoir, Karriere!«
Es nützt nichts, aber ich protestiere dennoch mit dem Hinweis auf die Unterschiede bei den Vätern. Jens befindet sich so oft beim Bau der Brücke über den Großen Belt, daß Birgitte eigentlich als alleinstehende Mutter zu betrachten ist.
»Liebste Birgitte, mein Kind hat auch einen Vater! Einen äußerst präsenten Vater!«
»Das kann schon sein. Aber ganz gleich, wie ihr es euch vorstellt, du bist und bleibst die Mutter!«
Ich schüttle den Kopf.
»Diese neue Mütterlichkeit kannst du dir gern ...«
Im gleichen Moment stoße ich ein Stöhnen aus, klappe zusammen und greife nach ihr.
»Was ist? Geht es los?« fragt sie aufgeregt.
»Nein, das ist nur eine Vorwehe! Manchmal ist es, als schössen sie bis in die Schenkel!« keuche ich.
Birgitte nickt verständnisvoll.
»Glaubst du, Paul hat auch Vorwehen?«
»Phantomwehen!« entgegne ich und frage, ob wir jetzt nicht genug haben. Ich möchte lieber ins Café.
Sie schüttelt erfahren den Kopf und greift nach Unterhosen. »Nein, du brauchst mindestens jeweils fünf Stück. Du machst dir einfach keinen Begriff davon, wieviel diese Neugeborenen scheißen! Die reinste Remoulade, das läuft einfach so raus!«
»Bitte, Birgitte!« verdrehe ich die Augen.
»Aber das stimmt doch! Aber keine Sorge, das wird erst später eklig.«
Wir gehen ins Café Europa – dem einzigen Café in Kopenhagen mit einem Samowar auf dem Bartresen –, und auch wenn es nur ein paar hundert Meter vom Kaufhaus zum Højbro Plads sind, bekomme ich Seitenstiche und Atemnot bei meinem Versuch, mich in einem normalen Tempo zu bewegen. Birgitte senkt das Tempo und schiebt eine Hand unter meinen Arm, so daß wir das letzte Stück wie ein paar ehrwürdige ältere Schwestern meistern. Sie hilft mir auch, mich zwischen den Cafétischen durchzumanövrieren, so daß mein Bauch nicht gerade die Tassen zu Boden fegt, sondern nur den Lederjackenrücken eines jungen Typen streift.
»Toll!« bemerkt der spontan, als er sich umdreht. »Wann ist es soweit?«
»Schon vor hundert Jahren!« sage ich und sinke erschöpft auf einem Stuhl nieder. Ich muß eigentlich pinkeln, aber allein der Gedanke, das ganze Café zu durchqueren und mich eine steile Kellertreppe hinunterzuwinden, um ein Spiegelkabinett von einem Damen-WC zu erreichen, läßt mich lieber darauf verzichten.
Birgitte hat mich der kollektiven Besichtigung überlassen, während sie die Bestellung an der Bar übernimmt. Unglaublich, wie so ein Bauch die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zieht. Von allen Seiten wird hemmungslos geglotzt – auch in der Redaktion, an meinem Arbeitsplatz, wo ich trotz Pauls Gemaule ein paarmal hingegangen bin, um Post zu holen und an Mitarbeiterkonferenzen teilzunehmen. Die Leitung hat Pläne, die Nachrichtensendung auf 21 Uhr zu verschieben, was der General ablehnt und die Vertrauensleute befürworten. Die Mitarbeitergruppe ist gespalten, und ich selbst habe mir keine definitive Meinung bilden können. War dazu irgendwie nicht in der Lage. Was mich selbst beunruhigt: Mein Arbeitsplatz kommt mir schon jetzt fern und nicht mehr mich betreffend vor, und prinzipiell zeugt es von schlechtem Stil, zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hereinzurauschen und der Vertretung über die Schulter zu gucken. Ras, der Auslandsredakteur und mein direkter Vorgesetzter, sagte auch einmal direkt, daß er sich einer Tes mit dickem Bauch gegenüber »einfach nicht verhalten könnte«, und der General sah aus, als würde er in Gesellschaft einer so provozierenden Weiblichkeit nahezu unpäßlich. Dazu würde das Gerücht passen, es läge ein inoffizielles Dekret vor, wonach der General keine hochschwangeren Reporterinnen um sich haben will, wie die Produktionsassistentin Kirsten behauptet, die einzige, die sich offen gegenüber meinem Zustand verhalten konnte, indem sie mir auf den Bauch klopfte und »hallo, du da!« sagte.
Aber dem General blieb gar nichts anderes übrig, solange es notwendig war, die erforderlichen Fellow-up-Treffen hinsichtlich meines Moskau-Abenteuers zu veranstalten. Um mich zu schonen, bin ich rücksichtsvollerweise in Unwissenheit darüber gehalten worden, was weiter passierte. Aber wie der General es beschrieb, kann die Situation so zusammengefaßt werden, daß mein Mafiafreund Sascha geschworen hat, seinen belfernden, sich jetzt ziemlich im Ruhestand befindlichen Köter zu rächen, daß mein Kollege Ferdinand äußerst passend Moskau verließ, um nach Jütland heimzufahren und sich dort mit Frau und Kindern wiederzuvereinigen, daß der tapfere Kameramann Sergej in der Datscha seines Onkels in Sibirien untergetaucht ist, und daß der General witzigerweise reichlich paranoid wurde, sein Auto zweimal auf Bomben hat untersuchen lassen und sich weigert, nicht angekündigte Pakete anzunehmen. Schließlich hat der General dafür gesorgt, daß in Moskau Gerüchte verbreitet wurden, wir hätten nichts anderes in den Kasten gekriegt als die absolute Finsternis und einen bellenden Hund, und ich glaube einfach nicht, daß Sascha nur um des Exempels willen das nicht unbedeutende geschäftsmäßige Risiko auf sich nehmen wird, das darin liegt, westliche Fernsehleute zu liquidieren. Aber trotzdem mag mein Chef ja recht damit haben, wenn ich in nächster Zeit nicht wieder nach Moskau geschickt werden soll. Mein Baby soll trotzdem nicht mutterlos aufwachsen. Deshalb mußte ich zustimmend nicken, als er mir mitteilte, daß »die junge Miriam« ausersehen war, Ferdinands Nachfolgerin zu werden. Auf dem Korrespondentenposten, der eigentlich meiner sein sollte.
»Bin ich jetzt zum Backbencher degradiert?«, fragte ich während einer Audienz, bei der ich wie üblich auf dem Gästestuhl vor dem Schreibtisch saß, während er allmächtig dahinter thronte, unaufhörlich seine griechischen Glimmstengel paffend. Sie stinken nach Lungenkrebs, aber ich inhalierte den Rauch ganz nostalgisch und wurde an die Zeit erinnert, als ich eine toughe Reporterin voller Power war.
»Das liegt jetzt bei dir«, sagte er und öffnete die Lippen zu einem tabakgelben Lächeln. »Ich habe immer Bedarf an Angreifern.« Dann griff er hinter sich und holte aus dem überquellenden Regal eine Videokassette. Es war das Band mit den Aufnahmen aus Moskau.
»Hier. Ich habe es auf VHS überspielen lassen.«
»Hast du es angeguckt?« fragte ich atemlos. Denn wenn es etwas gibt, was ich in diesen Monaten zu verdrängen versucht habe, dann ist es dieses Band. Wenn Sergejs Mut und mein Wagemut wirklich nichts anderes als neblige Schatten zum Ereignis hätten, das wäre kaum zu ertragen. Andererseits – wen interessiert es eigentlich, wenn wir die Geschichte wirklich im Kasten haben und damit beweisen können, daß es einen Handel mit angereichertem Uran aus Moskaus Industrieviertel zwischen einem georgischen Mafiaboß und einem arabischen Kunden gab – mit Sascha als Mittelsmann? Selbst die surrealistischen Sensationen aus dem alten Mutterland werden über Nacht zu alten Nachrichten.
»Nein«, sagte er. »Und ebensowenig bin ich der Ansicht, daß du damit öffentliche Screenings veranstalten solltest. Aber du kannst dich ja bis zu deiner Geburt damit vergnügen. Wer weiß, vielleicht steckt da Gold drin!«
Ich nahm das Band und bedankte mich für seine Umsicht. Dann ging ich in den kleinen Kaninchenstall von Büro, in dem Miriam saß. Und obwohl es nicht ihre Schuld war, ich mich gut mit Miriam verstehe und ihr eine schnelle Karriere wünsche, hatte ich doch einen bitteren Nachgeschmack, als ich ihr viel Glück wünschte.
»Wenn sie die Beste nicht kriegen, müssen sie sich eben mit der Zweitbesten begnügen!« sagte sie ganz lieb und bat mich, »den Kindsvater« zu grüßen. Das versprach ich und war darüber hinaus noch so großzügig, sie zu einem Briefing zu mir nach Hause einzuladen.
»Spasiba!« bedankte sie sich und benutzte damit das einzige russische Idiom, das sie bisher gelernt hatte. Wohingegen ich halbherzig versuchte, meine eigenen Sprachkenntnisse damit frisch zu halten, daß ich mit mir selbst Russisch rede, aber ich fürchte, es wird Rost ansetzen, wenn ich weiterhin in dieser fachlichen Vorhölle bleibe. Schon seltsam, wie schnell man an Höhe verliert.
»Bitteschön!« sagt Birgitte und stellt Cappuccino und Rüblitorte vor mich hin.
»Das ist ganz lieb von dir«, sage ich, »aber ich esse keinen Kuchen!«
»Ach, scheiß auf die Kalorien!« sagt sie locker.
»Das sind nicht nur die Kalorien!« entgegne ich und mache meine Beine breit, um besser Platz für den Bauch zu haben. Ich habe zuviel zugenommen. Vierzehn Kilo. Zwölf wären auch genug gewesen. Das ist dieser ganze Müßiggang.
»Bekommst du Sodbrennen?« fragt sie, und ich nicke verwundert. »Weißt du eigentlich alles?«
»Alles! Deshalb hör gut zu und halte dich dran!«
Ich schütte Rohrzucker in den Kaffee, schlürfe den Milchschaum und sage nichts. Unsere Freundschaft ist ziemlich zerbrechlich, seit sie Jens getroffen hat, und ernsthaft gefährdet, nachdem sie Maxi bekommen hat, der jedenfalls inzwischen halbtags schwarz bei einer Tagesmutter untergebracht ist. Ich habe ziemliche Schwierigkeiten damit, daß sie sich so verändert hat. Daß sie sich zuerst von der Ehe und dann von der Mutterschaft so hat aussaugen lassen. Ich hatte eine größere Kapazität bei ihr erwartet, eine größere Fähigkeit, sie selbst zu bleiben. Ja, ihr spezielles kreatives Talent zu entfalten, das alle anderen außer ihr selbst so schätzen. Und dann ist es mir peinlich, daß sie sich rein physisch so hat gehenlassen. Nicht, daß sie gebaut ist, als könnte sie eine von Tom Wolfes krankhaften »X-rays« sein, aber warum sie üppig wie eine Revuesängerin erscheinen muß, begreife ich nicht.
Birgitte war jedoch seit der Pubertät die engste Beziehung, die ich hatte, meine Rettungsleine zu anderen Menschen. Und auch nach Pauls Erscheinen weiß ich sehr genau, daß ich es mir nicht leisten kann, sie zu verlieren. Deshalb passe ich auf sie und uns auf und schlucke meinen sarkastischen Kommentar runter, den ich bereits auf den Lippen habe, als sie erst ihr eigenes und dann mein Stück Rüblitorte in sich hineinschaufelt. Aber Birgitte mit ihrer visuellen Begabung und ihrer Fähigkeit, mich zu durchschauen, läßt plötzlich die Kuchengabel sinken.
»Weightwatcher!« stößt sie aus. »Hör auf, mich so anzusehen!«
»Warst du nicht auf Diät?« weiche ich aus.
»Doch! Und gerade deshalb bin ich ja so hungrig!« lacht sie. »Warte nur, bis du auch mit Schlankheits-Pulver und Fieberpillen anfängst. Das ist überhaupt nicht witzig!«
»Soweit ich weiß, ist es überhaupt nicht besonders witzig, ein Kind zu kriegen!« bemerke ich säuerlich.
»Nein, dann hast du mich eben mißverstanden!« ruft sie abwehrend aus. »Ein Kind in die Welt zu setzen, ist das Tollste, was man überhaupt tun kann. Aber danach wirst du niemals wieder dieselbe sein!«
Ich zucke mit den Achseln. Was soll ich dazu sagen? Nein! Doch! Ich weiß nicht?
Kurz danach huscht sie davon – sie muß Maxi bei der Tagesmutter abholen – und fragt mich, ob ich bis Nørreport mit will. Aber ich möchte lieber noch ein bißchen allein hier sitzen, noch eine Tasse Kaffee trinken und drücke fest ihre Hand zum Abschied.
»Heute nacht ist Vollmond, dann geht es bestimmt bald los!« sagt sie. »Ruf mich an, wenn das Fruchtwasser abgeht!«
Das verspreche ich, auch wenn es mir inzwischen unwahrscheinlich vorkommt, daß ich jemals so weit kommen werde. Das Gefühl, das ich heute habe, unterscheidet sich nicht von dem, das ich an den anderen Tagen hatte, an denen ich wirklich glaubte, daß es jetzt losgehen würde.
Mir gelingt es, eine Mulattenkellnerin im Minirock dazu zu bewegen, mir nachzuschenken, zünde mir die eine Zigarette an, die meine heimlich festgesetzte Tagesration ausmacht, und greife in meine Kaufhausplastiktüte nach dem »Spiegel«, den ich in deren gut sortiertem Kiosk auf dem Weg hierher gekauft habe. Die Titelstory der Zeitschrift handelt vom Rohstoff- und Waffenschmuggel aus der Ex-UdSSR und bestätigt meine eigene These über alle Maßen: Mittels aufgeputzter Kaufleute der Mafia, zu denen auch mein Freund Sascha gehört, verkaufen korrupte Offiziere alles aus den alten Lagern, so daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann jeder Mullah, jede Terroristenzelle oder jede Partisaneneinheit daheim in der Garage die eigene Atomwaffe zusammenbasteln kann. Äußerst bedrohlich, und mit jeder Zeile werde ich von neuem Feuereifer erfaßt. Denen muß Einhalt geboten werden! Jemand muß etwas tun, und deshalb muß ich die Geschichte fertigkriegen! Als ich die Zeitschrift umblättere, entdecke ich, daß der Lederjackentyp mich anstarrt. Er lächelt ungeniert und prostet mir mit seiner Tasse zu. Er sieht mit dem zurückgekämmten Haar, seinem Zopf und dem kunterbunten Bandana um den Hals aus wie ein Pirat. Ich hebe meine Tasse und erwidere den Gruß, senke aber gleich wieder meinen Blick und versuche, meine zuvor so engagierte Lektüre auf deutsch fortzusetzen: In Moskau wird eingeräumt, die Kontrolle über die Atomsprengköpfe sei während der Zeit des Machtwechsels in den GUS-Republiken für einige Monate verlorengegangen ... Aber die Worte flimmern im Bewußtsein dessen, daß der Pirat mich unverwandt anstarrt. Ich schiele über die Zeitschriftenkante zu ihm hinüber. Kenne ich ihn? Habe ich mit ihm in einer meiner wilden Phantasien gebumst? Bin ich mit ihm zur Schule gegangen? Habe ich ihn in einer Kneipe verärgert?
Er steht auf, wie ich feststelle, und ich spüre gleichzeitig, daß mein Herz bei dem Wissen, daß er auf dem Weg zu mir ist, heftig pocht. Aber ich schaue erst auf, als er an meinem Tisch steht und mich anspricht.
»Du«, sagt er. »Darf ich dich was fragen?«
»Ja« antworte ich entgegenkommend, aber kurz angebunden, und erfasse in einem kurzen Augenblick das, was ich wissen will. Breit gebaut, nicht besonders groß. Dunkle Augen und ein Schönheitsfleck ungefähr dort, wo Robert de Niro seinen hat. Ich habe den Typen noch nie gesehen.
»Du hast wohl einen Vater zu dem Kind, oder?«
Ich lächle spontan.
»Und wie!«
Er nickt und legt eine Hand auf den Cafétisch. Sie ist kräftig und sonnenverbrannt, mit Silberringen mit eingefaßten Türkisen auf mehreren der breiten Finger.
»Denn sonst«, hebt er an und stockt dann, als hätte er plötzlich den Mut verloren.
»Sonst?« ermuntere ich ihn mit schräg geneigtem Kopf.
»Sonst würde ich dich mit auf See nehmen! In die Südsee!«
»Was für ein Angebot!« stoße ich lachend aus. Er ist wirklich ein Pirat!
»Ich heuere in drei Tagen auf einem Schiff nach Tahiti an. Du kannst mich hier morgen zur gleichen Zeit finden, wenn du es dir anders überlegst.«
»Das werde ich sicher nicht«, sage ich.
»Man kann nie wissen«, sagt er, streift meine Hand mit einem Finger, wünscht mir »viel Glück« und dreht mir den Rücken zu, als er sich hinausbewegt. Er hat einen Hängearsch in der Hose, und an seinem rechten Stiefel fehlt der Absatz.
Ich muß mich einen Moment lang fassen. Die Südsee! Ich habe Seeleute und Segler noch nie verstanden. Noch nie den Drang verstanden, auf allen Seiten Wasser um sich haben zu wollen. Vielleicht hatte ich immer schon zu viel Angst vor der Tiefe. Obwohl wir ja gerade daher kommen. Aus dem Wasser. Wie mein kleiner Fisch, an den ich jetzt wie an einen nassen Delphin denke, in seinem eigenen Ozean tauchend. Einen Augenblick lang verliere ich mich in meiner Sehnsucht, das Wasser vom Rücken des Delphins abstreifen zu können. Ich gebe weitere Fachlektüre auf und leere meine Kaffeetasse. Lege die Zeitschrift zurück in die Plastiktüte, wo mir die Einkäufe aus der Babyabteilung ins Auge fallen. So handfest und dennoch so fern. Ich sollte lieber zusehen, daß ich nach Hause komme. Statistisch gesehen steigt das Risiko, daß die Geburt losgeht, schließlich mit jeder Sekunde. Und ich kann mir nichts Schlimmeres als eine Geburt im öffentlichen Bus vorstellen. Ich sammle meine Tüten zusammen, stehe auf und gebe mir alle Mühe, nicht zu watscheln, als ich an der Fotogalerie an der Schmalseite vorbeigehe und darauf Coco Chanel, die kinderlose Verführerin, entdecke. Dann gehe ich zum Taxistand und winke einen Wagen heran.
Paul ist nicht zu Hause, was mich etwas enttäuscht. Dafür wundert es mich, daß er nach dem Frühstück nicht abgewaschen hat. Er ist doch sonst immer so penibel. Auf dem Küchentisch finde ich die Erklärung – ein schnell hingekritzelter Bescheid: »Bin von TV 2 für ein Gespräch angerufen worden. Bis bald. P.« Es ist etwas Dringendes an diesem Satz, das mich beunruhigt. Warum hat das plötzlich so eine Eile, wenn er doch schon zum Gespräch da war? Und außerdem hat er den Vertrag für seine Einstellung bekommen, und auch wenn ich vom ersten Dezember an mit dem Kind allein zurechtkommen muß und mir gar keine Hoffnungen zu machen brauche, vor Ende der Erziehungszeit wieder zur Arbeit zu kommen, so sind wir immerhin in den ersten paar Monaten zwei Erwachsene. Jedenfalls, wenn ich mich endlich dazu bequemen könnte, zu gebären.
»Wenn du mich im Stich läßt, raste ich aus!« flüstere ich in einer bösen Vorahnung und gehe erst mal pinkeln. In meinem Slip ist Blut. Nicht viel, aber genug, daß sich auf der weißen Baumwolle ein roter Strich abzeichnet.
»O nein«, murmle ich und werde auf das Gemeinschaftsklo bei Sergej zurückgewirbelt, wo meine blutende Vagina eine schreiende Warnung von Tod und Unglück war. Aber dann fällt mir der Abschnitt über die bevorstehende Geburt in der mir ausgehändigten Broschüre ein, und ich kann sogar beim Namen nennen, was ich sehe: Eingangsblutungen. Also ist es nur noch eine Frage von Tagen oder Stunden, bis es passiert. Ich spüle und laufe planlos in Pauls Wohnung umher. Bei den Konsultationen im Krankenhaus war ich ungeduldig und insistierend, tief frustriert darüber, in diese Wartehaltung versetzt zu werden und äußerst unzufrieden mit der unerträglich religiösen Attitüde der Ärzte gegenüber meiner verspäteten Geburt.
»Wenn Gott will!« antworten die Ärzte immer nur, wenn ich sie um einen Termin bitte.
Während ich Patina angesetzt und vergeblich versucht habe, sie dazu zu bringen, die Geburt einzuleiten – »die Geburt wird komplizierter, wenn wir die Natur stören!« –, ist Paul ganz auf einer Linie mit dieser geburtshilflichen Methode.
»Dein Problem, Tes, ist«, dozierte er vor ein paar Tagen, während wir in scharfem Trab um die Seen herumliefen – ein weiterer Versuch, der heiligen Natur auf die Sprünge zu helfen –, »daß du wie die meisten modernen Menschen alles kontrollieren willst. Du kannst einfach nicht damit zurechtkommen, daß es Dinge gibt, die du nicht lenken kannst. Aber in der Ungewißheit findest du das Mysterium der Schöpfung, das Grauen und die Schönheit, und meiner Meinung nach zeugt es von absoluter Weisheit, daß die größte Geburtsstätte des Landes ihre Demut und Grenzen erkannt hat!«
»Schreib doch ’nen Feuilletonartikel darüber!« forderte ich ihn trocken auf. Worauf er tatsächlich nach Hause ging und das tat! An dem Vormittag, als ich mich mit Birgitte traf, saß er übrigens an dem Text und überarbeitete ihn, und er muß es wirklich eilig gehabt haben, denn der leuchtet immer noch auf dem Farbbildschirm seines Macs, wie ich sehe, als ich in meinem rastlosen Herumstreunen unseren gemeinsamen Schreibtisch umkreise.
Etwas deutet darauf hin, daß er lieber zusehen sollte, zu Potte zu kommen, wenn der Artikel nicht veralten soll, denn auch wenn ich nicht gerade die große physische Veränderung spüre, bin ich doch mit einem Mal überzeugt davon, daß es heute sein wird. Oder zumindest kommende Nacht. Und vielleicht ist es ja auch eine Bestärkung, daß ich wie eine Schülerin, die während der unterrichtsfreien Zeit gefaulenzt hat, mit einem Mal von einer entschlossenen Betriebsamkeit ergriffen werde. Das ist jetzt die letzte Chance, wenn etwas aufgeholt werden soll.
Zunächst lege ich meine Einkäufe auf ihren Platz in die Schubladen in der Ecke des Schlafzimmers, die Paul mit Hilfe pastellfarbener Bemalung und Teddy-Schablonen zu einer richtigen Heititei-Babyecke gemacht hat. Dann mache ich den Kinderwageneinsatz mit dem Bettzeug mit der Lochstickerei fertig, das ich von Birgitte geliehen habe. Ich rede mit dem Baby, wobei mir auffällt, daß es seit einem halben Tag schon auffallend still war. Die Ruhe vor dem Sturm vielleicht?
Danach wasche ich in der Küche ab, fege den Boden und wische ihn auf allen vieren liegend, was anstrengend ist, aber laut Geburtsvorbereitungskurs sehr gut für das Kreuz sein soll, das angefangen hat, ab und zu zu mucksen. Schließlich trinke ich am Küchentisch eine Tasse Tee, kaue eine Alkaselzer gegen das Sodbrennen und esse in kleinen Löffelchen einen Joghurt, während ich auf den Fahrstuhl oder leise Schritte die Treppe herauf lausche, die davon künden, daß Paul auf dem Weg ist. Ich gehe auch ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob ich vielleicht den Telefonhörer falsch herum aufgelegt habe, und ich spule den Anrufbeantworter noch einmal zurück, um ganz sicher zu sein, daß es keinen Bandsalat gab. Aber merkwürdigerweise gibt es keine Nachricht.
Spät am Nachmittag ist mir kalt, ich bin verschwitzt und schon müde, aber nichtsdestotrotz beginne ich mit einem gigantischen Projekt: Ich fange an, meine Umzugskartons auszupacken. Irgendwie bekomme ich den obersten heruntergehievt – das ist derjenige, in dem Kleidung in Größe 38 ist, von der ich gar nicht begreife, wie ich mich jemals dort habe hineinschrauben können. Ich lege sie in Pauls Schrank, hänge meine Blusen und Jacken zwischen seine und mache meine Slips zu Nachbarn seiner Boxershorts. Das ist die definitive Kapitulation, aber es erscheint sinnlos, noch Widerstand leisten zu wollen, jetzt, wo die Konturen der ersten Wehe wie eine Staubwolke am Horizont zu erahnen sind. Ich muß mich beeilen, wenn ich es schaffen will, deshalb mache ich in hohem Tempo weiter, obwohl ich kurz vorm Auf geben bin, als nach den Kartons mit Haushaltgeräten, undefinierbarem Nippes und den schweren mit Büchern und Bändern immer noch der mit den A4-Mappen, Papieren, vergilbten Zeitungsausschnitten, alten Briefen, Aufgaben aus der Journalistenschule, dem Fotoalbum und den Mappen mit Vaters zurückgelassenen Zeichnungen übrig ist. Mit äußerster Kraftanstrengung gelingt es mir, das meiste einigermaßen vernünftig unterzubringen, nur für Vaters Mappe kann ich keinen sicheren Platz finden. Das Format ist zu groß und unhandlich. Deshalb stelle ich sie vorläufig an die Wand – ohne sie zu öffnen und anzugucken –, während ich mich umschaue und mit einer gewissen Zufriedenheit feststellen kann, daß ich jetzt auch hier wohne.
Ich spüre wieder dieses Grummeln in der Ferne, gehe unter die Dusche, seife meinen Ballon ein und rede beruhigend auf ihn wie auch auf mich ein, während ich versuche, mich darauf einzustellen, daß ich, aus welchem unbekannten Grund auch immer, wohl allein werde losgehen müssen.
»Wieder mal im Stich gelassen«, singe ich an der Grenze zwischen Hysterie und Ausgelassenheit, werde aber jäh unterbrochen, als das, was wohl die erste richtige Wehe sein muß, wie der Vorbote des Orkans heranstürmt. Ich beginne zu spät mit kontrolliertem Atmen, und als ich endlich meinen Rhythmus gefunden habe, ist die Wehe schon vorbei. Nachdem ich mich schnell mit Bodylotion eingerieben und Leggins und Sweatshirt angezogen habe, rufe ich die Information an, die mir mit nasaler Stime die Nummer von TV 2 Kopenhagen gibt. Dort bitte ich, mit Paul Weber sprechen zu können, den niemand kennt, aber als ich mich nicht abwimmeln lasse, kann die Zentrale herausfinden, daß die Redakteure »zum Essen sind«. Nein, leider ist keine Nachricht hinterlassen worden, in welchem Restaurant das Essen eingenommen werden soll.
Ich beiße mir auf die Fingerknöchel und gebe die weitere Jagd auf, beeile mich statt dessen, Birgittes Nummer einzutippen. Vogelgezwitscher und Anrufbeantworter – »Wir sind leider im Augenblick nicht zu Hause ...«. Nach dem Piepton hinterlasse ich die lakonische Nachricht, daß ich Wehen bekommen habe, und dann gehe ich in der Reihe weiter zu meiner Mutter, mit der zu reden ich jetzt einen unbändigen Drang verspüre. Sie ist auch nicht zu Hause, und im Theater wird mir gesagt, daß Frau Skårup im Probenraum ist und nicht vor sechs Uhr gestört werden darf. Es ist halb sechs, seit der ersten Wehe sind zehn Minuten vergangen, und jetzt kommt die zweite angebraust und zwingt mich in die Knie. Ich stütze mich auf die Tischplatte, finde schließlich die Atemstöße, die mir helfen, auf den Wehen zu reiten. Also ist doch noch was bei der Geburtsvorbereitung herausgekommen, die ich ansonsten als vergeudete Zeit angesehen habe. Kiki, die letzte auf meiner Liste, ist natürlich auch nicht zu Hause. Aber ihr ulkiger Geliebter Spunk fragt, ob er ihr etwas ausrichten soll.
»Sage ihr, daß ihre Schwester goddammit endlich ihr Kind kriegt! Sie kann gern zurückrufen!« entgegne ich obercool und wühle auf dem Tisch nach dem Mutterpaß, in dem die Nummer vom Kreißsaal abgedruckt ist.
Die wachhabende Hebamme fragte mich, ob ich Erstgebärende sei und wie lang der Zeitraum zwischen den Wehen ist, und als ich antworte, neun bis zehn Minuten, bittet sie mich, doch zu warten, bis es nur noch fünf Minuten sind.
»Aber ich bin allein«, piepse ich benommen, und so erbarmt sie sich und erlaubt mir zu kommen, wenn es »für mich am besten so ist«.
»Dann werden wir uns schon darum kümmern«, sagt sie beruhigend, und erst hinterher wird mir klar, daß sie glaubt, ich sei vollkommen allein. Daß es überhaupt keinen Mann gibt. Aber vielleicht gibt es ihn ja auch nicht ...
Wir wohnen nur einen Zeitungswurf vom Krankenhaus entfernt, und da ich es verabscheue, als Jammerlappen dazustehen, entschließe ich mich, zu Fuß zu gehen. Paul hat offensichtlich den Alfa genommen, der sowieso ausschließlich für kleine italienische Männer designed ist. Ich nehme den Fahrstuhl nach unten und steuere dann mit der Tasche in der Hand verwegen den Zebrastreifen an, erreiche ihn aber nur mit Mühe und Not, bevor ich erneut nach Luft schnappen muß und krampfhaft den Mast mit dem Signalknopf umklammere. Der Verkehr rauscht vorbei, es ist mitten in der Rushhour, ein rasanter Fahrradbote fährt mir fast über die Zehen, und ein blindes Mädchen mit Blindenhund fragt mich, ob es jetzt grün sei. »Ja«, murmele ich und habe dabei keine Ahnung, wie ich selbst jemals über die Straße kommen soll, deshalb bleibe ich einsam und verlassen stehen, zusammengekrümmt am Randstein. Da hält ein Taxi neben mir, das Seitenfenster gleitet nach unten, und der Fahrer fragt, ob etwas nicht in Ordnung sei?
»Können Sie mich rüber ins Krankenhaus fahren? In die Geburtsabteilung?« frage ich und falle dem pakistanisch aussehenden Fahrer fast um den Hals, als er »’türlich« nickt und mir auf den Rücksitz hilft. Im Autoradio hat er irgendeine Art bengalischer Katzenjammermusik, die er rücksichtsvoll leiser dreht, als wir losfahren.
»Sie gleich Kind kriegen – auf mein Rücksitz?« lächelt er begeistert in den Rückspiegel, und während er überholt und fast einen Radfahrer in einer rechten Kurve mitnimmt, erzählt er stolz, daß er selbst fünf Kinder und eine Frau habe, die eine »richtige Gebärmaschine« sei.
Ich nicke höflich und erleichtert auf, als wir auf den Blegdamsvej abbiegen und das Rigshospital in Sicht kommt. Routiniert findet er den Eingang zur Geburtsstation, hilft mir aufmerksam aus dem Auto, aber nachdem ich bezahlt habe und meine Tasche greifen will, schaut er mich mit einem Mal nachdenklich an.
»Kein Mann?« fragt er.
»Scheint nicht so«, lächle ich schwach.
»Soll ich mitkommen?« bietet er mir daraufhin an, als wäre er bereits dabei, die praktischen Probleme, die eine derartige Hilfe mit sich bringen würde, zu lösen.
Ich lehne dankend ab und versichere ihm, daß ich schon zurechtkommen werde, dann reiße ich mich zusammen, um kompetent und ganz normal auszusehen, als ich mit der Tasche über der Schulter die Tür aufschiebe. Was für Angebote ich heute schon bekommen habe. Sie wiegen fast meine Wut auf das Männervolk auf, die ich im Fahrstuhl bedrohlich gären fühle. Paul, du Arschloch!
»Unbefugte haben keinen Zutritt« steht mahnend an der Glastür zur Geburtsstation, und ich zögere, bevor ich auf die Klingel drücke. Ich fühle mich unbehaglich, empfinde die ganze Situation als unwirklich und bin mir nicht mehr sicher, ob ich nicht einfach nur hysterisch bin. Hysterisch schwanger. Ich klingle trotzdem. Was sonst?
»Hallo«, sagt die diensthabende Hebamme und läßt mich in das Allerheiligste ein. »Sind Sie es, die allein ist?«
Ich nicke und korrigiere sie matt, während ich ihr meinen Mutterpaß gebe.
»Mein Freund kommt vielleicht später.«
Sie nickt kurz, bittet mich Platz zu nehmen und zu warten, bis ein Untersuchungszimmer frei ist.
»Heute abend ist es ein bißchen stürmisch hier«, fügt sie erklärend hinzu und will sich schon wieder entfernen.
»Aber, aber, ich glaube, es eilt!« kann ich ihr noch hinterherrufen. »Jetzt sind sieben, acht Minuten dazwischen, oder?« fragt sie.
»Dann haben wir noch massenhaft Zeit! Sie sind ja Erstgebärende...«
»Anfängerin!« hätte sie mich ebensogut titulieren können. Ich betrachte wütend ihren gebügelten Kittelrücken, schon angespannt, weil ich mich in die Gewalt dieser besserwissenden Menschen begeben soll. Warum habe ich mich nicht dazu entschieden, mein Kind zu Hause zu bekommen, dann könnte ich mich jetzt wie eine der gebärenden Katzen zusammenrollen, die Kiki und ich im Heu auf Læsø fanden, als wir im Sommer Großvater auf seinem Hof besuchten. Ich bin so aufgebracht, als ich mich auf einen der Laminatstühle setze, daß ich ein sehr junges Mädchen, das mir gegenübersitzt, fast nicht bemerkt hätte. Aber kaum sitze ich, spricht sie mich an.
»Bist du auch allein?« fragt sie und beugt sich zu mir vor.
»Nicht ganz«, sage ich und stemme die Hacken in den Boden, als ich die Welle heranrollen spüre. »Aber du?« frage ich, als ich wieder zu Atem gekommen bin.
»Na ja, sozusagen. René ist in Nyborg, weißt du? Und eigentlich dürfen die dabeisein, aber jetzt ist das Fruchtwasser drei Wochen zu früh abgegangen, und ich habe angerufen, aber es ist nicht sicher, ob er es schafft.«
»Ach so«, erwidere ich, bevor mir klar wird, wovon das Mädchen eigentlich spricht.
»Sonst ist er immer schnell bei der Sache!« erklärt sie und holt eine Rolle Schokoladenkekse aus einer Plastiktüte. »Willst du einen?«
Ich nehme einen, um ihr eine Freude zu machen, an ihr ist etwas äußerst Verletzliches, als wäre sie zeit ihres Lebens gezwungen gewesen, gelassen zu bleiben.
»Wie heißt du?« fragt sie, den Mund voller Keks.
»Therese«, antworte ich und beuge mich vor, um mit einer Hand mein Kreuz zu massieren.
»Ich heiße Heidi«, erklärt sie und schaut mich aufmerksam an. »Hast du Wehen?«
Ich nicke und spähe den Flur entlang nach der Hebamme. Im gleichen Moment zerreißt ein Schrei, gefolgt von einem laut klagenden Jammern den ansonsten so stillen Flur. Wir erstarren alle beide und tauschen in gleicher Beunruhigung Blicke.
»Ach was«, platzt Heidi heraus und streckt die Hand nach einem weiteren Keks aus. »Die stellt sich sicher reichlich an, oder? Also SO weh wird es doch wohl nicht tun, was?«
Ich schüttle tröstend den Kopf. Nein, so weh kann es unmöglich tun. Dann wird Heidi geholt, sie gibt mir mit dem Daumen ein Siegerzeichen und verschwindet mit der gelben Plastiktüte und einem Bauch, der wie ein grotesker Vorbau wirkt, der an den zarten Körper geheftet wurde. Das arme Mädchen. Schließlich erlischt eine weitere rote Lampe über einem der Untersuchungszimmer, und ein werdendes Elternpaar kommt heraus, während ich hineingerufen werde.
»Eine ziemlich verworrene Geschichte, was?« sagt die untersuchende Hebamme mit Blick in den Mutterpaß. »Nun ist es aber Zeit, das Kind herauszukriegen!«
Ich gebe ihr innerlich recht und habe bereits jetzt viel mehr Vertrauen zu der älteren Else Jakobsen, wie ich auf ihrem Schild lese, als ich es zu ihrer jüngeren Kollegin kurz zuvor hatte. Und dann befaßt sie sich erfahren und vor sich hinredend mit mir, die ich bereitwillig auf der Pritsche liege, die Beine in den Bügeln.
»Wollen wir ihm mal ’nen kleinen Schubs geben!« sagt sie und »räumt Hindernisse aus dem Weg«, daß mir der kalte Schweiß ausbricht.
»Sie bekommen gleich einen Einlauf, und dann werden Sie sehen, dann werden es richtig gute Wehen!«
»Aber ich habe ausgezeichnete Wehen!« protestiere ich gekränkt.
»Ja, ja, meine Liebe. Gut sind sie, aber nicht gut genug! Sie sind erst zwei Zentimeter offen, und wir müssen schließlich auf zehn kommen!«
»Soll das heißen, daß es schlimmer wird?« frage ich unruhig.
»Schlimmer, aber gleichzeitig besser! Kommt denn da niemand, um Ihnen die Hand zu halten?« fragt sie, während sie ein Klistier einführt. Es kitzelt, ist aber nicht unangenehm, wie ich befürchtet hatte.
»Doch«, antworte ich und klemme die Pobacken zusammen. »Mein Freund kommt bald ...«
Und als ob es sich um eine Opera buffa handeln würde, tritt Paul genau in dem Moment zur Tür herein, als ich wehrlos daliege und meinen Schließmuskel bezwinge. Mindestens drei Minuten sollen vergehen, bis ich mich entleere. Ein heftiger Wutanfall ist bis auf weiteres nicht möglich, ich kann nichts weiter als heiser ein kurzes »hallo!« zischen, mit einem leisen »Wo zum Teufel bist du gewesen!« drangehängt.
»Entschuldige, Tes!« murmelt er schuldbewußt und kommt näher, um mich auf die Stirn zu küssen. Er stinkt nach Knoblauch, Wein und Rauch, und ich würde ihn am liebsten bitten, sich zum Teufel zu scheren. Die Hebamme läßt uns weise mit der Bemerkung allein, daß sie gleich zurückkomme.
»Es tut mir wahnsinnig leid!« wiederholt er und geht in die Hocke, so daß wir auf einer Augenhöhe sind. »Die Zeit ist mir einfach davongelaufen ...«
Er hat wirklich ein schlechtes Gewissen. Sein Blick ist verschleiert, sein Mund ist angespannt, wie er nur ist, wenn Paul verletzt ist oder unter Druck steht. Es muß etwas passiert sein. Etwas außerordentlich Schreckliches.
»Bist du mir untreu gewesen?« frage ich spontan.
Paul bricht in ein überwältigendes Lachen aus.
»Nein! Aber ich bin tatsächlich mit einer fremden Dame essen gewesen.«
»Mit der Kopenhagener Redakteurin von TV 2?« frage ich mit einem steifen Blick auf die Zeiger der Wanduhr. Zwei und eine halbe Minute. Noch dreißig Sekunden. »Und was wollte sie?«
»Mich angucken!«
»Das hat sie ja wohl verdammt gründlich gemacht, was? Mit drei Gängen, Kaffee und avec! Tut sie das mit allen zukünftigen Mitarbeitern? Dann kann ich aber verflucht noch mal gut verstehen, warum die Sender ökonomische Probleme haben!« spucke ich hitzig aus und schlage die Decke zur Seite. »Geh mal zur Seite!« kommandiere ich dann und schwinge meine Beine herüber.
»Was willst du denn?« fragt Paul verwirrt.
»Raus zum Scheißen!« zische ich und schaffe es gerade noch, das Schloß zu drehen und die Hosen herunterzuziehen, bevor der Darminhalt herausschießt.
Der Einlauf hat offensichtlich wirklich etwas in Gang gesetzt, denn ich habe mich kaum von den furchtbaren peristaltischen Krämpfen erholt und brause mich gerade ab, als sie angejagt kommt. Die erste gute Wehe. Wie ein Gürtel aus glühendem Eisen umklammert sie meinen Unterleib mit dem Höhepunkt um den Nabel, der herausgepreßt ist und wie ein zitternder Knopf auf dem aufgeblähten Bauchbogen sitzt. Von Schmerzen, die jenseits jeder Vorstellungskraft liegen, aufgespießt, klammere ich mich an den Brausekopf, die kurze Minute, die es dauert, bis die Wehe vorbei ist, leise stöhnend.
»Tes? Bist du okay?«
Pauls Knöchel an der Tür.
»Ja!« sage ich und schüttele den Kopf. Ich hatte ihn fast vergessen.
»Ist irgendwas nicht in Ordnung?« fragt er dumm und kommt heran, um den Arm fürsorglich um mich zu legen, als ich ruhig mit bloßen Beinen und nackten Füßen aus der Toilette komme. Ich weiß, daß es sich nicht lohnt, die Leggins wieder anzuziehen.
»Paul, es geht los«, antworte ich matt, als befände er sich auf einem Planeten in einem anderen Sonnensystem. »Vielleicht ist es am besten, wenn du gehst!«
»Ich soll gehen?« ruft er fassungslos aus. »Tes, so hart darfst du mich nicht bestrafen!«
»Ich will dich nicht bestrafen«, sage ich und spüre, wie ein neuer Angriff auf den Weg geschickt wird. »Ich möchte nur am liebsten allein sein!«
Ich schließe die Augen, atme tief ein, damit die Lungenflügel mit Luft gefüllt sind und ich dieses Mal der Wehe schwebend begegnen kann, um dem freien Fall der Schmerzen zu entgehen. Als ich die Augen wieder öffne, steht Pauls Mund ungläubig offen. Meine Fingernägel haben auf seinem Handrücken Abdrücke hinterlassen.
»Ich bleibe!« entscheidet er heiser.
Ich zucke mit den Schultern. Wie er will. Eigentlich ist es ja gleich. Er kann bleiben oder gehen. Ich bin sowieso allein. Das weiß ich jetzt schon.
Mitten in der dritten Wehe kommt die Hebamme, um nach mir zu schauen. Sie bugsiert mich wieder auf die Liege, schaut, tastet und horcht mit ihrem altmodischen Holzstethoskop.
»Jetzt ist es losgegangen, was?« sagt sie anerkennend. »Schon fünf Zentimeter! Besser, wir bringen Sie in den Kreißsaal!«
»Können wir den grünen haben?« fragt Paul, als wäre es von allergrößter Bedeutung, daß Vorhänge vor den Instrumenten hängen.
»Ich werde mal schauen!« meint die Hebamme entgegenkommend und verschwindet, um bald wieder zurückzukommen und zu melden, daß der Raum frei ist.
Paul will mich über den Flur stützen, aber ich bestehe darauf, allein zu gehen. Ich ziehe mich auch selbst um, nehme mit Erleichterung das Krankenhaushemd und die lockeren Unterhosen und rolle mich auf dem Geburtsstuhl zusammen, dem einzigen Aktivposten im Kreißsaal. Es ist hart für ihn, daß ich so abweisend bin. So hat er sich das in seinen softigen Tagträumen nicht vorgestellt. Aber ich habe keine Kraft, um mich ihm gegenüber noch zu verhalten. Keine Kräfte zur Versöhnung. Wenn ich das hier schaffen soll, muß ich mich konzentrieren, abschotten und nach innen wenden. Den Körper übernehmen lassen.
Die Hebamme hingegen möchte ich möglichst die ganze Zeit bei mir haben. Sie bringt Ruhe und Sicherheit mit, hilft mir beim Atmen, zeigt mir, wie ich die Maske vor den Mund halten kann, damit ich den zunehmenden Wehen mit einer lindernden Mischung aus Lachgas und Sauerstoff begegnen kann. Sie instruiert Paul, zeigt ihm, wo er mich massieren kann, und dirigiert auch seinen Atemrhythmus, damit er mir damit helfen kann.
Als meine Wut ihm gegenüber mich aus dem Rhythmus bringt und würgen läßt, und Paul sie wie ein Kind, das kurz vorm Heulen ist, ansieht, werde ich sanft zurechtgewiesen.
»Jetzt hören Sie mal, meine Liebe! Sie verschwenden viel zuviel Energie darauf, sauer zu sein! Nun entspannen Sie sich und lassen sich von ihm helfen! Irgendwann einmal müssen Sie ihn ja jedenfalls gemocht haben!«
»Es tut so weh«, jammere ich und reiße die Maske an mich.
»Das muß weh tun!« sagt sie bestimmt, während ich verzweifelt Lachgas inhaliere. »Aber es tut noch mehr weh, wenn Sie sich verkrampfen! Nun komm schon!« sagt sie und führt Pauls Hand über mein Kreuz. »Entspann dich und spür, wie gut das tut!«
Zuerst wehre ich mich so sehr dagegen, daß ich fast weine. Aber als Paul nicht nachläßt, und seine warme Hand dort liegen läßt, gebe ich langsam nach, und bei der nächsten Wehe hole ich sie mir selbst.
Die Hebamme nickt zufrieden und verläßt uns. Sie muß in das andere Zimmer.
»Zu Heidi?« bringe ich heraus.
»Ja, kennen Sie sie?«
»Ein wenig. Ist René gekommen?«
»Nein, aber eine Schwesternhelferin ist bei ihr.«
Ich verdöse den Abend. Die Stunden verstreichen monoton wie auf einer Autobahn. Ich habe aufgehört, sie zu zählen, eingesperrt in den Dunst des alles beherrschenden Schmerzes. Das Lachgas macht mich high, so daß meine Gedanken wie zufällig angeschwemmtes Strandgut in einer trüben Flut hin- und herdümpeln. Diese vielen vergessenen Bilder und Erinnerungen, die plötzlich auftauchen: Vater und Mutter, die lachend Jitterbug auf dem Wohnzimmerparkett tanzen. Die Kuh mit dem sanften Blick, die ich an einem Sommertag auf Læsø zwischen den Hörnern kraulte, bis der Ortsschlachter in Kittel und schwarzen Gummistiefeln über den Zaun kletterte und ihr eine Kugel in die Stirn schoß. Kiki, meine Schwester, schrie was von »Mörder« und »Tierquälerei« und mußte mit Gewalt entfernt werden, während ich nur mit großen Augen dastand und nicht begriff, daß das Tier nicht mehr lebte. Und ich sehe eine Schlange im Heidekraut, Blaubeeren im Glas, mich selbst auf Tante Mos viel zu großem Fahrrad und begreife, daß ich zeitweise eine glückliche Kindheit hatte.
Und auf einem Floß segelnd taucht auch der Pirat auf – der um Polynesien herumfahren will –, er hat eine Klappe vor dem Auge und einen Papagei auf der Schulter, und ich muß kichern, als ich das Sausen in den Palmen höre und sehe, wie eine Kokosnuß herunterfällt.
Ich denke an ganz konkrete Dinge, wende mich Paul zu, nehme die Maske vom Mund und erinnere ihn daran, daß ich morgens eine Maschine Wäsche angestellt habe und daß keine Kaffeefilter mehr im Haus sind. Er lächelt, froh, daß ich plötzlich so neutral und alltäglich bin, und sagt, daß er schon dran denken wird. Dann fällt mir die Arbeit ein, die trockene Luft im Schneideraum. Ich denke an den Zuckerbäckerstil der Wasilij-Kathedrale, an Gorbis Muttermal, und ich schreie laut auf, als das Gefühl des Hundebisses durch meinen Stiefel mich wieder ereilt.
»Mein kleiner Schatz!« sagt Paul mitleidig.
»Es zerreißt mich!« klage ich.
»Du bist so tüchtig! Und jetzt haben wir bald unser kleines Kind! Denk doch nur daran, Therese!«
Ich schaue ihn über die Maske hinweg verwundert an. Ja, es stimmt. Das Kind! Deshalb liege ich hier. Weil ich ein Kind zur Welt bringe. Ich schließe die Augen wieder. Drücke Pauls Hand, um zu spüren, daß er da ist. Denke an ihn ganz in Weiß bei unserer ersten Begegnung. Begreife nicht, daß das erst ein Jahr her ist. Blende dann über zu dem goldenen Weihnachtsabend, an dem unser Kind gezeugt wurde.
»Ich sollte die Rubine umhaben«, sage ich träge und bitte um Wasser.
»Hier!« sagt er und führt den Becher an meine Lippen, aber ich schaffe es kaum, wieder zurückzusinken, bevor mir ohne jede Vorwarnung schlecht wird. Ich mache verzweifelte Zeichen, daß er mir die Spuckschale reichen soll, und er schafft es gerade noch, bevor ich mich übergebe.
Die Hebamme, nach der er sofort geklingelt hat, tupft mich mit einem angefeuchteten Tuch sauber und sagt, daß das prima ist. »Dann kommt bald die Preßphase!«
Ich friere und klappere mit den Zähnen, mir ist plötzlich auf eine ganz neue Art und Weise elend.
»Ich kann bald nicht mehr!« piepse ich und sinke auf den Gebärstuhl zurück.
»Das brauchst du auch nicht! Aber weißt du was, mein Dienst endet leider um elf. Doch bevor ich gehe, schicke ich meine Ablösung zu dir herein. Keine Sorge!« sagt sie und streichelt mir die Wange. »Sie ist genau die Richtige für euch.«
Das glaube ich ja nun nicht, und so verlassen zu werden, raubt mir fast den letzten Mut. Aber Else Jakobsen hat recht, die neue Hebamme ist ganz anders. Es durchzuckt Paul, als sie durch die Tür tritt. Natürlich in weißem Kittel, wie die anderen, aber dennoch von ganz anderem Wesen. Groß und blond, mit scharfen Zügen, das lange Haar von einem bunten Kopftuch zurückgehalten. Schwere Goldringe in den Ohren, knallroter Lippenstift, ebensolcher Nagellack und irisblaue Augen.
»Hallo!« sagt sie und gibt mir einen festen Händedruck, den ich nur matt erwidere. »Ich heiße Randi, und mit mir sollst du dein Kind kriegen!«
Ich nicke, fast gehorsam, und sehe Pauls Verwirrung, als sie auch ihn begrüßt. Sie redet so energisch über die bevorstehende Geburt, daß ich das erste Mal in dem ganzen Verlauf anfange zu verstehen, daß es wirklich eine Tatsache ist, daß das Kind bald herauskommen wird. Aufmunternd. Aber gleichzeitig deutlich, daß diese Hebamme, die aussieht, als wäre sie auf dem Weg zu einer Zigeunerhochzeit, etwas von mir erwartet. Sie will, daß ich etwas leiste, aktiv an der Geburt teilnehme, als wenn es nicht ausreichen würde, daß ich mich hier langsam zerreißen lasse.
»Hör zu!« sagt sie, nachdem sie mich untersucht hat und alles normal gefunden hat. »Jetzt lassen wir das Fruchtwasser abgehen! Danach ist anzunehmen, daß es ziemlich hektisch wird. Bist du bereit?«
Ich schüttle den Kopf, ich verstehe die Frage nicht.
»Bist du?« fragt sie zu Paul gewandt, der bleich, aber gefaßt nickt. Ihre Verschworenheit bringt mich aus der Fassung, so daß mich die nächste Wehe wie eine falsch rollende Welle trifft, die mich aufschreien und zur Brücke anspannen läßt. Mit dieser Wehe wird meine äußerste Grenze akzeptabler Schmerzen überschritten.
»Ich will nicht! Ich kann nicht!« heule ich wie eine Wahnsinnige in der Zwangsjacke, und als Paul mich tröstend umarmen will, schlage ich rasend nach ihm. »Hau ab!« schreie ich in einer neuen Stichflamme des Hasses auf diesen Mann, der mich in diesem Inferno extremen Leidens allein gelassen hat.
»Geh mal einen Augenblick hinaus!« nickt die Hebamme ihm zu.
»Du kannst auf dem Flur rauchen, und da ist auch ein Kaffeeautomat.«
Ich entblöße höhnisch mein Zahnfleisch. Kaffee!
»Wäre es nicht besser, wenn ich bleibe?« fragt Paul kleinlaut.
»Nein«, antwortet die Hebamme und umfaßt meinen Knöchel mit ihrer Hand. »Im Moment ist es am besten, wenn du gehst! Aber geh nicht zu weit weg, bald brauchen wir dich wieder!«
Wie ein Kind, das Theater gemacht hat, warte ich, daß die Hebamme mich ausschimpft, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat. Das tut sie nicht. Sie stellt sich zwischen meine Beine, beugt sich über meinen Bauch und streicht mit weichen, beschwörenden Handbewegungen darüber, während sie leise und beruhigend auf mich einredet.
»Therese, jetzt versuche mal, dich gaaanz zu entspannen!« predigt sie in einem hypnotischen Tonfall. »Versuche die Augen zu schließen und spüre, wie die guten Energien in deinem Körper arbeiten! Versuche dein Kind zu sehen, ganz entschlossen auf dem Weg hinaus durch dein Becken! Das Kind ist voller Mut und Lebenslust, und obwohl es unruhig und unsicher wie ein Astronaut daliegt, der in den Weltraum geschickt wurde, hat es einen Code in sich, der ihm sagt, daß es seine erste dramatische Reise unternehmen soll. Und so einen Code hast du auch in dir, Therese, der sagt, daß du deinem Kind dabei helfen sollst. Niemand sonst kann das! Deshalb kannst du es, auch wenn du denkst, du kannst es nicht!«
»Es tut so weh!« jammere ich, schon weniger sicher in meinem Glauben, daß ich vollkommen im Recht bin, mich so aufzuregen und dagegen anzukämpfen. Gagarin auf der Kreisbahn um die Welt. Ein kleiner Astronaut in dem großen Weltall! Das Bild wirkt, stark und unmittelbar, mir wird warm ums Herz bei dem Gedanken an das ungeschützte Wesen, das ebenso hart darum kämpft, zu mir zu gelangen, wie ich es tue, um zu ihm zu kommen.
»Schöpfung aus Schmerzen!« sagt sie wie eine Priesterin, läßt ihre gespreizten Hände über meinem Bauch kreisen und legt sie schließlich direkt auf die Bauchdecke, als eine neue Wehe im Anmarsch ist.
»Hol tief Luuuft, damit das Kleine guten Sauerstoff kriegt! Ja, das ist super! Bis in den Bauch hinein! Prima, Therese!« lotst sie mich hindurch, so daß ich zum ersten Mal das Gefühl habe, daß ich es bin, die die Wehe dirigiert, und nicht die Wehe, die sich meiner bemächtigt.
Ich greife zur Maske, habe noch Kraft über, um zu lächeln, als sie mit dem Stethoskop am Ohr berichtet, daß die Herztöne gut sind.
»Okay«, sagt sie. »Dann lassen wir das Wasser ab! Soll ich deinen Mann reinrufen?« Ich bitte sie, noch einen Augenblick zu warten, aus Angst, daß die Magie, die sie mit in das Zimmer gebracht hat, zerstört wird, wenn er eintritt.
Das Wasser fließt warm in eine Schale, als sie die angespannte Fruchtblase anritzt, und ich sehe vor mir, wie mein Kind mit dem Strom mitgerissen wird. Dabei fallen mir die sibirischen Wassergeburten ein, die ich einmal in der BBC gesehen habe. »Habt ihr ein Wasserbassin?« frage ich.
»Möchtest du gern ein Bad?« fragt sie mit der Hand in meiner Vagina. »Ich fürchte, für das ist es zu spät. Du bist tatsächlich knapp zehn Zentimeter offen!«
»O nein!« entfährt es mir und ich werde rot, denn aus irgendeinem Grund ist es mir peinlich. »Ich muß aber auf die Toilette!«
»Mein Gott, jetzt schon!« sagt sie und kommt zwischen meinen Beinen in Fahrt. »Das sind Preßwehen!« teilt sie mit und drückt auf den Klingelknopf. »Du mußt noch ein wenig verhalten, wir müssen erst soweit sein!«
Paul wird hereingeholt und begegnet mir mit einem erwartungsvollen Lächeln, eine Schwester kommt mit klappernden Schuhen herein und hilft der Hebamme, das Geburtsbett fertig zu machen, auf das ich jetzt verfrachtet werden soll. Paul und die Hebamme bringen mich auf die Beine, und ich lege schwer meine Arme auf Pauls Schultern und folge seinen Anweisungen während des leichten, schmetterlingsartigen Atmens, das mir hechelnd helfen soll, nicht zu pressen.
»Halte das Kind!« kommandiert die Hebamme, die sich blitzschnell einen grünen Kittel, eine Haube und Handschuhe überstreift und somit von einer mystischen Priesterin in eine tatkräftige Geburtshelferin verwandelt.
Einer gebärenden Frau zu befehlen, ihrem Preßdrang nicht nachzugeben, widerspricht ebenso der Natur, wie die Lava zwingen zu wollen, im Schoße des Vulkans zu bleiben. Es ist unmöglich, ich kann es nicht zurückhalten!«
»Nein!« stöhne ich, wieder hilft mir Paul dabei, zu hecheln, hecheln, hecheln am Rande zum Hyperventilieren. Und als ich endlich auf der Liege drapiert bin mit den Beinen in den Bügeln, geschieht es mit unsagbarer Erleichterung, daß ich der enormen Kraft nachgeben darf, die den kleinen Astronauten auf die letzte Etappe schicken soll.
»Prima!« feuert die Hebamme mich von ihrer Position zwischen meinen Schenkeln an. »Ich kann die schwarzen Haare sehen!«
»Ja?« keuche ich ermattet und drehe mich zu Paul, aber der lächelt nicht. Ganz im Gegenteil ist er grau im Gesicht, als wäre er kurz vor der Ohnmacht. Die Hebamme bemerkt das offenbar auch, denn sie blinzelt ihm zu und schlägt ihm vor, sich umzudrehen, während sie die Pudendusblockade legt.
»Mir geht es ausgezeichnet«, behauptet er mit gezwungenem Lächeln, und also sticht die Hebamme die Nadel in den Damm, was unglücklicherweise mit der nächsten Preßwehe zusammenfällt. Das läßt mich wieder laut und tierisch aufbrüllen, der Schmerz von der Nadel ist wie eine brennende Hautabschürfung und die Wehe wie eine Flutwelle, die mir die Beine unter dem Körper wegreißt und mich gegen die Klippen schleudert.
Ich verdrehe die Augen, bis nur das Weiße zu sehen ist, und liege halb tot und naß vom Schweiß da und schnappe nach Luft, als die Welle sich zurückgezogen hat. Das muß jetzt reichen, ich träume sicher nur. Das kann nicht ich sein, die hier als jammernde Gebärende in ihrer Not liegt. Das ist einfach unmöglich. Und ganz gleich, was Randi mich glauben lassen will, ich weiß, daß das hier schiefgeht.
»Ich habe Angst!« murmle ich zu Paul, und das hat er auch, wie ich sehen kann, auch wenn er meine Hand preßt und mir versichert, daß alles in Ordnung sei. Aber die Schwester, die still ein Plexiglasbettchen zum Empfang bereitgemacht hat, nickt weiterhin aufmunternd, als wäre das alles Routine.
»Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen«, Randis Radar hat unsere Unruhe geortet, auch wenn sie ihr Ohr am Holzstethoskop hat. »Eurem Kind geht es gut. Die Herztöne sind die ganze Zeit kräftig! Aber wir wollen lieber zusehen, daß wir es im Laufe der nächsten paar Wehen herauskriegen!«
Erpicht darauf, Randis Erwartungen zu erfüllen, presse ich, bis mir die Augen aus den Höhlen treten und mir das Haar am Gesicht klebt. Ich gebe auch nur einen kleinen Mucks von mir, als ich geschnitten werde, aber es ist eher das Geräusch der Schere im Damm als der eigentliche Schmerz, wogegen ich aufmucke. So nah am Ziel bin ich fit for fight, als würden erst jetzt die Kampfressourcen, die ich immer noch mobilisieren kann, freigegeben.
»Ja!« tönt es triumphierend vom Fußende. »Jetzt kommt der Kopf! Der Schädel ist fast draußen! Versuche, es so zu halten! Nicht zu schnell!«
Paul fängt mit Hundewelpengehechel an, und ich folge ihm, um dann aber trotzdem ein frustriertes »O nein!« zu hören.
Der Kopf ist wieder hineingerutscht, und so geht es die ganze nächste Stunde weiter. Raus und wieder rein. Ich kämpfe buchstäblich so verbissen, daß meine Kiefer festgeschraubt sind und mein Schädel kurz vorm Zerbersten ist. Ich lasse mich fügsam auf alle viere umdrehen, um mehr Hilfe von der Schwerkraft zu bekommen, ich versuche meine Energie vom Kopf in den Unterleib umzulenken, und als auch Randis Beschwörungen nicht helfen, nehme ich ohne Widerstand einen wehenstimulierenden Tropf. Meine eigenen Wehen sind dabei, auszuebben, ich bin völlig ausgepowert, und Pauls unbewußte Art, meine Hand zu pressen, als Randi mich wieder abhorcht und dann die Schwester bittet, die Ärztin zu holen, läßt mein Blut zu Eis erstarren.
Die Gynäkologin, ein Mannweib, das sich nicht damit aufhält, mich oder Paul zu begrüßen, wird kurz informiert, hört ein paar Sekunden zu und erklärt dann, daß das Kind SOFORT raus muß!
»Wann haben Sie das letzte Mal was gegessen?« werde ich schroff gefragt, und auch wenn es mir vorkommt, als wenn das in prähistorischen Zeiten gewesen sein muß, kann ich matt murmeln, daß das wohl gestern so gegen drei gewesen sein muß.
»Gut! Wir machen alles fertig zum Kaiserschnitt!«
Das Wort läßt alles vor mir im Nebel verschwinden, und Paul dreht sich weg wie jemand, der eine Backpfeife bekommen hat. Er ist kurz vorm Heulen.
»Können wir es nicht zunächst mit der Saugglocke versuchen?« schlägt Randi vor.
»Bei den Herztönen? Dazu haben wir keine Zeit!« erwidert die Ärztin, schon mit dem Rücken zu ihr. »Warum sind keine Elektroden angelegt?«
»So schlecht sind die ja nun auch nicht!« protestiert Randi. Sie wollen sich gerade heftig streiten, als Paul plötzlich dazwischenfährt.
»Nun tut doch etwas!« ruft er mit einem Anflug von Panik, der die Leute aufhören läßt.
Randi bekommt ein CTG in die Hand, und trägt ein wenig kalte Creme auf meine Bauchdecke auf und fährt mit dem CTG herum. Alle stehen wie erstarrt da, während wir auf die Herztöne warten. Schließlich hören wir sie als schwaches, allzu schwaches Signal aus dem Weltraum. Randi leckt sich angestrengt die Lippen und gibt der Ärztin kleinlaut recht.
»Wir müssen uns beeilen!«
Paul reagiert hysterisch, indem er sich prompt ins Waschbecken übergibt, während ich gegenteilig reagiere: Meine Seele verläßt den Körper, der sich aufs Sterben vorbereitet, während das Zimmer sich mit mich nicht interessierenden Menschen füllt, die alle zu mir kommen und sich vorstellen. Guten Tag, ich heiße Soundso und Soundso, ich bin der Narkosearzt, Kinderarzt, die Krankenschwester ... Ich winke sie irritiert weg. Meinetwegen könnte die gesamte medizinische Fakultät mit dem Professor an der Spitze aufmarschieren und mein entblößtes, fruchtwasserklammes Geschlecht betrachten, während mir mit einem Katheder die Blase entleert wird, ich rasiert und mit einem sterilen Tuch gewaschen werde. Und ich lasse sie auch passiv meinen Körper anonymisieren, als sie mir meine Swatch und den Art-Nouveau-Ring abnehmen, den Paul mir einmal bei einem Trödler in der Ryesgade gekauft hat. Sie können mit mir machen, was sie wollen, wenn sie mich nur verflucht noch mal von den Schmerzen befreien und ich endlich meine Ruhe habe! Und wenn sie ewig währen sollte.
Paul sieht aus, als gäbe er mir den Todeskuß, als er mit Augen, schwarz wie japanische Tusche, seine Lippen auf meine preßt und ein belegtes tschüs flüstert, bevor ich im Laufschritt in den Operationsraum gefahren werde, wo man mich mit einem maskierten Team unter grellen Lampen allein läßt. Trotz der pädagogischen, beruhigenden Worte der Ärztin, erinnert mich die ganze Inszenierung an die Alptraumvision, die ich in der Nacht hatte, bevor mein Kind als geplante, eingeleitete Fehlgeburt enden sollte. Es war der Anblick der scharfen Messer und des glitzernden Metalls, der mich zurückhielt, und ich muß fast über die Ironie des Schicksals lächeln – jetzt haben sie mich doch gekriegt –, als mir ein Schlauch in den Hals geschoben wird.
»Wir leeren nur den Mageninhalt«, sagt die Krankenschwester und lobt mich aufmunternd, als ich ihr alles in der Schale darbiete.
Ihr Gerede ist wie Supermarktmusik, auf der ich dahinschwebe. »Prima! Und jetzt bekommen Sie noch so ein hübsches grünes Hemd an. Ja, und nun noch Riemen um Arme und Beine, damit Sie nicht herunterfallen! Dann sind wir soweit! Jetzt bekommen Sie die Maske, und dann drehen wir die Tropfen auf, und in zwei Minuten ist Ihr Kind draußen! Schlafen Sie gut, Therese!«
Erst läßt die Angst mich dagegen ankämpfen, und meine letzte Erinnerung, bevor ich in der Narkose untertauche, ist die Geschichte von meiner Urgroßmutter aus der Familienchronik, die im Wochenbett bei einer Zwillingsgeburt starb. Das eine Kind wurde gerettet, das andere, ein Junge, mußte Stück für Stück herausgeschnitten werden.
»Lebe!« rufe ich meinem Astronauten von der letzten Scholle des Bewußtseins zu. Dann bin ich weg.
Ich werde von einem scharfen Raubtiergeruch geweckt, der mich verwundert und unter Mühen die Augen öffnen läßt. Ich weiß, daß etwas Schreckliches geschehen ist, als ich das weiße Krankenhauszimmer sehe, in das durch den Spalt zwischen den vorgezogenen Gardinen Tageslicht eindringt, aber erst, als ich Paul erblicke, mit Bartstoppeln und roten Augen auf einem Stuhl neben dem Bett, dämmert es mir. Es ist etwas mit dem Kind, mit unserem Kind.
»Tes!« stößt er spröde hervor. »Bist du wach?«
»Wie spät ist es?« frage ich, um die Katastrophe hinauszuzögern.
»Viertel vor zehn«, sagt er, legt seine Hand auf meine Wange und schaut gleichzeitig schräg über die rechte Schulter, als sich eine weißgekleidete Gestalt nähert.
»Guten Morgen«, sagt die Weißgekleidete und beugt sich zu mir herab. »Sind Sie wach?« wiederholt sie.
»Ja«, nicke ich. »Kann ich ein wenig Wasser haben?« frage ich demütig.
»Wenn Sie mir sagen, wie Sie heißen, wann Sie geboren sind und wo Sie wohnen!« erwidert sie mit einem Blick in ihr Journal. Ich befeuchte meine Lippen und antworte.
»Die Adresse stimmt wohl nicht?«
»Das ist ihre alte Adresse. Sie ist gerade erst umgezogen«, kommt Paul mir zu Hilfe.
Die Krankenschwester nickt, gibt mir ein Schlückchen Wasser zu trinken und fragt noch einmal, ob ich wach sei.
Ich möchte sie gern abfertigen, aber meine Augen fallen wieder zu, und ich lasse mich feige wieder in den Schlaf sinken. Ich bin noch nicht fähig, irgendwelche Konfrontationen durchzustehen. Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist der Stuhl neben dem Bett leer. Dafür entdecke ich, daß ich mich mit drei anderen Aufwachenden in einem Vierbettzimmer unter der Aufsicht der weißgekleideten Wache von vorhin befinde. Sie löst Kreuzworträtsel, bekommt aber sofort mit, daß ich aufgewacht bin.
»Hallo«, sagt sie, lächelt fröhlich und tätschelt mir die Hand. »Haben Sie noch ein Extranickerchen gemacht?«
Ich nicke und denke, daß es doch reichlich unpassend ist, so mit einer Frau zu reden, die gerade ihr Kind verloren hat. Aber vielleicht weiß sie es ja nicht.
»Wo ist ... mein Freund?« frage ich und will mich aufsetzen, werde aber von einem sternengelben Schmerzblitz mit Zentrum im untersten Bauchteil wieder ins Bett zurückgeworfen.
»Vorsicht!« sagt sie und schiebt das Kopfteil in senkrechte Position hoch. »Trinken Sie ein bißchen Wasser! Ihr Freund ist im Babyzimmer bei dem Baby ...«
»Bei dem Baby. Heißt das, daß...?«
Die Sitzwache lacht.
»Hat er Ihnen das nicht erzählen können? Aber er scheint auch ein wenig aus dem Häuschen zu sein. Jedenfalls: Sie sind Mutter eines gesunden, wohlgeformten Kindes!«
»Junge oder Mädchen?« frage ich atemlos.
»Wissen Sie was, ich finde, das soll er Ihnen sagen dürfen! Soll ich nach ihm klingeln, oder möchten Sie lieber selbst ins Babyzimmer hinaufgefahren werden?«
Ich will hinauf. Fort aus dem Intensivstationsgeruch nach Drama und Risiko, fort von meiner eigenen Untergangsstimmung und hin zu den normalen, glücklichen Abschlüssen. Hinauf zu meinem Kind. Und nachdem ich eine schmerzstillende Spritze in den Schenkel bekommen habe, werde ich freigegeben. Wieder in die gleichen Fahrstühle, die gleichen Flure entlang werde ich von einem leise stotternden Krankenträger verfrachtet, der glücklicherweise auf Autopilot umgeschaltet hat und mich fast wortlos in ein Zweibettzimmer fährt.
Dort sitzt Paul auf einem freien Bett, im Schneidersitz, mit einem Bündel in den Armen.
»Tes!« ruft er aus, als er mich sieht. »Ich habe doch gesagt, sie sollen anrufen!«
Ich hebe eine schlaff abwehrende Hand, während mein Blick magisch von dem Bündel angezogen wird. Ein kleiner Schädel voller Flaum schaut hervor. Dunkel.
»Tes«, sagt er feierlich und schiebt die Decke zur Seite, damit ich das winzige Kind sehen kann. »Wir haben eine Tochter bekommen. Guck nur!«
Und ich gucke, daß es mir in den Ohren saust und schwarz vor Augen wird, aber ich kann es nicht fassen. Ich kann das Wunder nicht fassen, mich nicht aus dem watteartigen Gefühl der Unwirklichkeit befreien, in dem ich mich seit Beginn der Geburt befunden habe. Das ist einfach zu gewaltig.
»Ist sie nicht hübsch?« flüstert Paul und läßt sich vorsichtig mit dem Kind in den Armen aufs Bett sinken, kommt dann ganz dicht zu mir heran, damit ich es aus der Nähe betrachten kann. Ich blinzle erschrocken. Sie ist wach. Ihre dunkelblauen Augen sind weit aufgerissen, neugierig und observierend. Ihr Blick ist direkt auf Pauls Gesicht gerichtet, als hätte sie bereits einen festen Haltepunkt im Dasein gefunden. Außerdem kann ich feststellen, daß sie ihm ähnlich sieht. Die gleichen muschelförmigen Augen, der gleiche geschwungene Mund, die gleiche Kopfform. Die gleichen Farben.
»Doch, sie ist hübsch«, sage ich. »Sie ähnelt ihrem Vater!«
»Wirklich?« lächelt er stolz. »Na, vielleicht ein bißchen. Aber guck nur mal ihre Beine an! Lange, schöne Schenkel wie du!«
Ich betrachte sie weiter. Sie hat eine Stoffwindel um, sonst ist sie nackt. Immer noch voller Blutflecken und Käseschmiere, der abgeschnittene Bauchnabel wie eine abstehende, verschorfte Wunde über dem Windelrand.
Paul sieht mich abwartend an. Er erwartet eine Reaktion, einen Gefühlsausbruch, vielleicht sogar Weinen. Das ist es, soll ich weinen vor Freude.
»Ist das nicht phantastisch?« lockt er und bekommt selbst feuchte Augen.
»Doch«, sage ich müde. »Es ist nur so ... ich weiß nicht ... so überwältigend ...«
Vielleicht ist es das Geräusch meiner Stimme, das sie erschreckt. Denn plötzlich huscht ein unruhige Zug über ihr kleines, angeschwollenes Gesicht, die Mundwinkel ziehen sich nach unten und aus ihrem halb geöffneten Mund kommt eine Art piepsendes Knirschen.
»E. T. phone home? E. T. phone home?« fragt Paul und beugt sich zärtlich über das Wesen, an das ich mich jetzt als Astronauten aus dem Weltraum erinnere, Gagarin. »Fällt dir plötzlich deine Mutter ein? Ja, wo ist die denn nur gewesen? Aber jetzt sollst du zu ihr kommen!«
Ohne Vorwarnung schlägt er meine Decke zur Seite und legt das meckernde Kind zu mir, während ich voller Panik protestiere.
»Paul, ich bin so müde! Und ich habe Schmerzen! Ich will lieber noch warten!«
»Tes, sie braucht dich! Du bist die einzige, die sie kennt!« sagt er und legt sie zurecht, so daß ihr Kopf zwischen meinen Brüsten ruht.
Ich umfasse sie mit steifen Armen, habe das Gefühl, meine Steifheit stecke sie an, so daß ihr Meckern in lautes Weinen umschlägt, und das weckt etwas in mir Schlummerndes, so daß ich mich selbst ihr beruhigend etwas zuflüstern höre, während ich eine beschützende Hand auf ihre weiße Schädeldecke lege. Vielleicht erkennt sie auch den Rhythmus meines Herzschlags wieder, denn ihr Weinen wird leiser, während wir Haut an Haut liegen und versuchen, einander in eine andere Dimension zu übersetzen. Die Krümmung ihres Rückens, der Po, die Knie, die Ellbogen – so bekannt und dennoch anders. Konkret.
»Wie groß ist sie eigentlich?« frage ich und schnüffle wie betäubt an ihr. Das ist sie, die scharf nach Raubtier riecht. Sie, die diesen Urgeruch aus der Grotte mit sich bringt. Ich selbst rieche auch. Nach Schweiß, Blut, Scheiße, Urin, Erbrochenem und durchsickerndem Fruchtwasser. Den vergangenen halben Tag habe ich alle erdenklichen menschlichen Sekrete abgesondert.
»Groß!« sagt Paul. »3980 Gramm und 54 Zentimeter lang. Unter anderem deshalb konnte sie nicht rauskommen. Sie war zu groß, und du warst zu eng!«
Ich begnüge mich mit einem gemessenen Nicken. Absolut nicht in der Lage, eine nähere Analyse des Geschehens vorzunehmen.
»Es war schrecklich, nicht wahr?« fragt er dann und nimmt meine Hand. Ich wende den Kopf von ihm ab, drücke meine Tochter näher an mich. Versuche, ihm zu vergeben. Er kann nichts dafür, daß er nichts versteht. Aber er hätte ebensogut die Überlebende einer Notlandung fragen können, ob sie eine gute Reise gehabt hat.
»Wir werden schon drüber hinwegkommen«, antworte ich freundlich.
»Du«, sagt er. »Ich habe noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt. Als sie dich weggefahren haben, habe ich geglaubt, ich würde euch alle beide verlieren! Dich und sie! Noch nie habe ich mich so machtlos, so klein gefühlt!«
»Der Mensch vor Gott!« murmle ich sarkastisch und wünschte, er würde mir weitere Ergüsse dieser Art ersparen. Er irritiert mich, stört mich, verlangt zuviel.
Aber ich bin dennoch froh, daß er da ist, als das Kind plötzlich suchend von einer Seite zur anderen schaukelt.
»Was macht sie jetzt?« frage ich Paul, dessen Brutpflegeinstinkt – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis – seit der Zeugung voll entfaltet ist. Er schürzt hingerissen die Lippen.
»Sie will saugen! Sie sucht nach der Brust!«
»Aber ich habe doch noch gar keine Milch!«
»Aber Vormilch, Honey! Kolostrum!« erklärt er mit rollenden Augen und hilft mir, mich halb hinzusetzen, so daß ich sie umständlich zurechtlegen kann, während mir der Abschnitt über »die ersten Stunden nach der Geburt« in dem Handbuch einfallen, das ich nur locker durchgeblättert habe. Immer noch mit dem Kopf hin und her drehend, schiebt sie sich an die Warze heran, und mit der Sicherheit eines Blinden umschließen ihre rosa Lippen die Areola.
»Treffer!« lacht Paul, als sie sich festsaugt und anfängt zu ziehen. Ich muß auch lachen, erinnere mich an das ziehende Suchen im Bauch, als sie wohl nach ihrem Daumen gesucht hat.
Voller Verwunderung betrachte ich dieses neugeborene Mädchen, das daliegt und an meiner rechten Brust trinkt. Unbegreiflich. Daß ich eine Mutter bin. Ihre Mutter. Die einzige, die sie hat. Erschreckend. Aber während sie daliegt und begierig die fetten, lebensspendenden Tropfen einsaugt, fühle ich ihn wieder – den Instinkt. Nicht wie eine dramatische Lawine oder tausendstimmigen Hosiannajubel – eher wie leise Töne einer Klaviersonate oder rieselnden Sommerregen. Den Mutterinstinkt, der in den ersten nahen fünf Minuten mich mit Ruhe erfüllt. Ausgereifte, nach innen gewandte Ruhe.
Aber die Verbindung ist noch leicht zu erschüttern und bricht in dem Augenblick zusammen, als Paul einen Blitz auf uns abfeuert. Ich zucke zusammen und erschrecke das Kind, das erschrocken losläßt und seine Froschbeine unter sich anzieht.
Paul lächelt entschuldigend, während im gleichen Moment eine Krankenschwester, die mit einem Teewagen hereinkommt, ihm zu Hilfe eilt. Kaffee, Saft, Brot und die dänische Flagge.
»Herzlichen Glückwunsch!« lächelt sie und fährt den Wagen zu uns heran.
»Dankeschön!« antwortet Paul und fragt, ob sie nicht so lieb sein und ein Bild von uns drei machen könnte. Ich knurre, aber Paul besteht darauf.
»Denk doch an die Weihnachtskarten, mein Schatz! Und an mich«, fügt er hinzu, als er zu uns ins Bett krabbelt. »Schließlich ist es auch meine Tochter!«
Ich gebe nach. Lächle sogar noch, als die Krankenschwester auf den Knopf drückt und unser kleines Baby wieder den Mund verzieht. So werden wir vereinigt – Die heilige Familie, wie alle anderen, glücklich lächelnd in der ersten Stunde.
Und das ist auch nicht ganz falsch. Paul ist vollkommen überdreht vor Glück. Er macht sich plaudernd über Kaffee und Weißbrot her und schiebt drei Scheiben nacheinander hinein, während ich mit einer Übelkeit, die die Speiseröhre hoch- und runterschwappt, die nach der unsanften Magenentleerung unangenehm kratzt, nur zusehen kann. Ich nippe ein wenig an dem Saft, den ich bei mir behalten kann und wünsche mir, daß ich Paul doch einfach in die Arme nehmen und ohne Vorbehalte lieben könnte. Ihn als den Vater meines Kindes anzunehmen und nicht die ganze Zeit diese bohrende Irritation über seine Anwesenheit wie einen Schlagbaum zwischen uns zu spüren. Wenn also jemand auf dem Foto lügt, dann bin ich es. Ich, die es matt Paul überläßt, in der Welt herumzutelefonieren und die Neuigkeit vom Münztelefon aus zu verkünden, das uns auch gebracht wird. Sogar Mutters Nummer lasse ich ihn eintippen – aber dann bereue ich es und entreiße ihm den Hörer. Dafür stiehlt er mir das Kind, so daß ich mit leeren Händen dasitze, als Mutter atemlos an den Hörer kommt.
»Ja?« klingt es heiser und aufgeregt.
»Mutter?« frage ich.
»Ja! Therese, bist du das? Ich habe die ganze Nacht am Telefon gewartet! Kiki hat angerufen und erzählt, daß du im Krankenhaus bist. Ist was passiert?«
»Ja!« sage ich und möchte vor Lachen fast platzen. »Ich habe eine Tochter! Wir haben eine Tochter!«
»Ein kleines Mädchen!« bricht meine Mutter wie Vogelgezwitscher in C-Dur aus und entschuldigt sich, falls sie beschwipst klingt. »Ich habe die ganze Nacht wach dagesessen und mir vor lauter Schreck einen genehmigt! Und ist es gutgegangen?«
»Ja, doch!«, versichere ich. »Sie ist mit einem Kaiserschnitt geholt worden, aber sonst ...«
»Kaiserschnitt!« unterbricht meine Mutter mich. »Oh, mein armer kleiner Schatz!«
Ihr Mitgefühl überrascht und überwältigt mich, so daß ich kurz davor bin, ihr etwas vorzujammern, als ich den Ablauf schildere.
»O nein«, jammert sie für mich. »Wie LEID mir das für dich tut! Und wie STOLZ ich auf dich bin! Wie ich mich darauf freue, sie zu sehen! Ist sie HÜBSCH?«
»Sie ähnelt ihrem Vater«, sage ich mit einem Seitenblick auf Vater und Tochter, und Mutter schnalzt mit der Zunge und sagt, dann SEI sie also hübsch! Und dann verspricht sie, Tante Mo in der Provence anzurufen, meine Schwester Kiki und Freddy, Mutters langmütigen Zahnarztfreund, den fallenzulassen sie sich nicht überwinden kann.
»Wenn ich nur wüßte, an welcher Stelle der Erdkugel dein Vater sich herumtreibt, dann könnte ich ihn auch anrufen«, überlegt sie und ist offenbar ganz auf der sentimentalen Schiene. »Er würde sich bestimmt freuen!«
»Glaubst du?« frage ich und lasse meinen Blick erneut auf Vater und Tochter ruhen, und der Gedanke, daß mein Vater auch einmal so dagesessen und mich so hingerissen betrachtet hat, als ich ein paar Stunden alt war, versetzt mir einen Stich.
»Wir lieben dich!« murmelt Paul seiner Tochter zu, als ich aufgelegt habe und wir wieder allein im Zimmer sind. Das kann mein Vater unmöglich gemacht haben, beschließe ich. Dann hätte er mich nicht so einfach verlassen.
Leider erlebt Paul nicht die gleiche glühende Begeisterung, als er bei sich zu Hause anruft. Helene, seine Mutter, klingt fast leicht verärgert, daß es ein Mädchen geworden ist, »davon haben wir ja schon eine!« äußert sie gekünstelt mit Hinweis auf Pauls mißratene Nichte, aber dennoch bringt sie einen formalen Glückwunsch heraus. Ernst ist nach Riga verreist – of all places –, so kann er den Schaden nicht wiedergutmachen. Ich hasse diese eiskalte Kulturperle aus vollem Herzen, als Paul mit einem zerknitterten Lächeln auflegt.
»Kein Interesse. Aber weißt du was?« sagt er und beugt sich ganz dicht über das kleine Babygesicht. »Das ist mir jetzt scheißegal, denn jetzt habe ich meine eigene Familie!«
Die hat er, und während das Kind und ich erschöpft nach unserer jeweiligen Reise den Nachmittag über schlafen, geht er nach Hause in unsere Wohnung in der Nørre Søgade, um ein Bad zu nehmen und sich zu rasieren, so daß er wohlriechend und gutgelaunt die Horde von Wochenbettgästen in Empfang nehmen kann, die ihre Ankunft zur Abendbesuchszeit angekündigt hat. Ich bin noch ziemlich groggy und hätte es vorgezogen, den Tag eins für mich zu haben, aber ich begreife, daß die Tradition es anders will. Überhaupt kein Pardon – das Personal jagt mich rabiat aus dem Bett – ich bekomme Thrombosen, wenn ich mich nicht hinstelle! Also schwanke ich mit Paul als Stütze auf unsicheren Bambi-Beinen zur Toilette – und als ich schwindlig über der Schüssel im Stehen pinkle, um mich nicht über der Wunde zusammenkrümmen zu müssen, wird mir vollends klar, was diese bissigen Feministinnen damit meinten, als sie johlten, daß es die Frau ist, die ihren Körper hinhält. Ich brauche gar nicht erst auf meine wabernde, ausgeleierte Bauchdecke mit dem breiten Pflaster über der gezackten Wunde zu gucken, um zu wissen, wie verunstaltet ich bin. Das vermeide ich lieber. Die Schmerzen reichen.
Deshalb fühle ich mich auch vollkommen im Recht, als ich mich weigere, wieder aufzustehen – auch wenn mir ein Rollstuhl zur Verfügung gestellt wird –, als eine junge Lernschwester mich auffordert, mit ihr und Paul ins Wickelzimmer zu kommen, um gezeigt zu bekommen, wie unser Zuckerbaby gewickelt wird, das sich in dem durchsichtigen Plexiglasbettchen neben meinem Bett langsam räkelt.
»Das schafft ihr Vater ganz prima!« wehre ich sie ab, als sie voll guten Willens versucht, mich zu überreden. »Aber ich hätte gern etwas gegen die Schmerzen!«
»Ja, aber...«, versucht sie es noch einmal, doch Paul, der Supervater, legt ihr schnell eine verständnisvolle Hand aufihren nackten Arm.
»Weißt du«, sagt er und zieht sie von mir fort. »Meine Frau ist heute ein wenig erregt. Wollen wir ihr nicht lieber ein bißchen Ruhe gönnen? Und ihr eine Schmerztablette geben?«
»Das müssen Sie natürlich selbst entscheiden«, sagt sie schmollend und schüttelt sich, als er sie losläßt. Sie hat eine Gänsehaut bekommen. So eine Wirkung hat er auf Frauen. Sobald sie das Bettchen hinausgerollt haben und ich allein im Zimmer bin, hole ich meine Handtasche unter dem Nachttisch hervor. Suche meine Kosmetiktasche, lege Minimal-Make-up auf – Eyeliner, Mascara und Lippenstift – und verfalle über dem Fragment von Gesicht, das ich im Spiegel sehe, ins Grübeln. Meine Augen sind blutunterlaufen, und meine Haut ist gefleckt wie bei einer Kinderkrankheit. Beides hat seine Ursache in der Überanstrengung, wie mich dieselbe Lernschwester vor einiger Zeit belehrt hat. Ich habe Ränder unter den Augen und gerissene Lippen, und trotz meiner sorgfältigen Bemalung sehe ich ungefähr so frisch und gesund aus wie eine russische Fabrikarbeiterin in einer überfüllten Morgenmetro. Mit einem leichten Kopfschütteln lege ich die Kosmetiktasche weg und lese statt dessen in einer der Zeitungen, die Paul mir am Kiosk gekauft hat. Meine Augen gleiten über die auffälligen Titelzeilen – eine erneut gebrochene Waffenruhe in Bosnien, amerikanischer Wahlkampf, EU-Debatte – ohne an den Worten einen Halt zu finden, sie lösen sich auf und werden zu Druckerschwärze, Buchstaben, Konsonanten und Vokalen, die eine Welt beschreiben, die mit einem Mal so unendlich fern ist. Ich beginne von vorn. Buchstabiere mich voran und zwinge mein Gehirn zur Konzentration. Das darf nicht wahr sein, daß ich im Laufe von weniger als einem Tag von diesem Universum weggezogen worden bin, das meines war, seit ich selbständig denken kann. Das darf nicht wahr sein, daß meine gesamte Konzentration darauf ausgerichtet ist, auf Schritte auf dem Flur zu lauschen, da ich hier mit einer abgekämpften Erleichterung darüber liege, allein zu sein, die mir überhaupt nichts nützt, weil ich mich gleichzeitig leer fühle wie eine verlassene Kathedrale. Diese Veränderung erschreckt mich – und als ich endlich vertraute Schritte und das Holpern über die Türschwelle höre, halte ich die Zeitung wie ein Schild vor mir aufgeschlagen. »Hallo!« sage ich über den Rand und muß mich dennoch gleichzeitig beherrschen, nicht aufzustehen und sie aus dem Bettchen zu ziehen. Ich muß sie sehen, sie riechen, sie fühlen. »Wie ist es gelaufen? Hat sie gepinkelt?«
»Et cetera! Schwarzes Mekonium! Wie im Lehrbuch!« sagt Paul stolz über ihr erstes Produkt und hebt sie aus dem Bett. Zu abrupt in seiner Begeisterung, so daß sie einen erschrokkenen Schrei von sich gibt, der mir direkt in die Gebärmutter fährt. Jetzt kann ich ihr nicht länger widerstehen.
»Sie hat sicher Hunger«, sage ich beiläufig und knöpfe mich auf.
»Wird sie wohl«, sagt Paul und legt sie zu mir. »Die vollgeschissenen Windeln darf man wechseln! Aber wenn es wirklich darauf ankommt, ist man doch zu nichts nutze!«
Ich kichere verschämt, wie eine, deren heimliche Gefühle durchschaut werden. Vielleicht hat er es ja noch nicht entdeckt – ich habe es ja selbst kaum bemerkt –, aber von jetzt an ist er auf den zweiten Platz verwiesen.
»C’est la vie!« sage ich, während er uns wieder hilft. Und gerade in dem Moment, als ihr angstvolles Weinen von einem sanften Saugen abgelöst wird, wird Heidi hereingefahren.
Ohne Kind, wie ich sofort bemerke. Und bin beunruhigt, denn mit ihrem geschwollenen Gesicht und den angeschwollenen, halbgeschlossenen Augen sieht sie aus wie jemand, der im letzten Moment den Folterknechten der Militärjunta entrissen wurde.
»Heidi?« frage ich leise, als sie an ihrem Platz ist.
Sie öffnet langsam die Augen, versucht unter Schwierigkeiten, mich zu fokussieren, bis sie mit dem frischen Vollmilchlächeln, das ihr besonderer Vorzug ist, ein schwaches »Hallo!« ausstößt.
»Erkennst du mich wieder?« frage ich.
»Ja!« nickt sie. »Du bist ... Therese! Die von gestern, oder? Was hast du gekriegt?«
»Ein Mädchen«, sage ich und kann nicht vermeiden, daß ich mein trinkendes Kind anlächle. Paul ist Gott sei Dank diskret. Trotz seiner offensichtlichen Neugier hält er sich so sehr im Hintergrund, daß er fast nicht mehr zugegen ist.
»Ich habe einen Jungen«, sagt sie. »Er liegt im Wärmebett unten auf der Neo-wie-heißt-das-noch ...«
»Neo-natal!« werfe ich ein, erleichtert darüber, daß sie überhaupt ein Kind hat.
»Neo-natal, ja. Aber nicht, weil irgendwas nicht stimmt, weißt du. Er ist nur ’n bißchen klein. Und dann haben sie noch geglaubt, er hat Gelbsucht ... Aber das hat er garantiert nicht«, sagt sie und bricht plötzlich in ein rauhes Krähengelächter aus.
»Nee?« Paul und ich wechseln Blicke. Das Baby läßt die Warze los. Lauscht dem krächzenden Lärm. Wir haben das Gefühl, als balancierten wir auf einem Seil über der Katastrophenschlucht.
»Das hab ich ihnen auch gesagt – ›Das Kind hat keine Gelbsucht‹, hab ich gesagt, ›es ist nur ’n Vietnamese!‹« Heidi lacht wieder, roh und häßlich, während sie sich an die Stirn faßt.
»Das war vielleicht verrückt! Ihr hättet die Gesichter sehen sollen!« sagt sie und bezieht Paul mit ein, dessen Mundwinkel zucken.
»Aber Heidi«, sage ich und beiße mir auf die Lippen, um nicht selbst loszulachen. »Dein Freund, der René, ist er denn Vietnamese?«
»Nein, zum Teufel, nein!« gluckst sie.
»War er dabei? Hat er es noch geschafft?« frage ich.
»Ja, und wie er dabei war. Er hat vor Rührung Rotz und Wasser geheult, als das Kind rausgekommen ist und er gesehen hat, daß es ein Junge war!«
»Ja, und dann?« frage ich weiter. »Ich meine, als du ...«
»Ja, und dann?« Ihr Lachen verstummt jäh. »Er ist Amok gelaufen. Hat mich verdroschen ...«
»Verdroschen?« murmelt Paul, der Gentleman.
»Ja, ich habe reichlich eins in die Fresse gekriegt! Das ist ja eigentlich auch ganz in Ordnung, oder? Also, ich kann das verdammt gut verstehen, daß der Mann sauer geworden ist. Aber als er auf den Kleinen losgehen wollte, das konnte ich nicht mehr ab. Da bin ich vom Bett runter. Ich glaube, ich hätte ihn totschlagen können! Aber ich habe ihm nur in die Eier treten können, dann sind die Bullen gekommen und haben ihn rausgeschafft ... Das ist die viel größere Scheiße«, fügt sie nachdenklich hinzu, während Paul und ich sie mit offenen Mündern anstarren. Der reinste Comic: virtual reality.
Paul ist nicht umsonst Reporter. Er hakt nach, während ich mich im Gesicht meines Kindes verliere.
»Du mußt doch mit der Möglichkeit gerechnet haben, oder?« fragt er. »Ich meine, du mußt doch gewußt haben, daß eine gewisse Möglichkeit bestand, daß René nicht der Vater war?«
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!« wirft sie leicht hin und fragt, ob man hier wohl rauchen dürfe?
Das darf man auf keinen Fall, betont die Lernschwester, als sie das Abendessen, Eisentabletten und Codymagnyl verteilt. Heidi wirft den schlaffen Scheiben unter dem Metalldeckel einen wählerischen Blick zu und schlurft dann aus dem Zimmer, um im Aufenthaltsraum »ein bißchen Nikotin zu inhalieren«.
»Ein außergewöhnlicher Charakter!« bemerkt Paul mit einer dieser aristokratischen Untertreibungen, die seine Klassenzugehörigkeit hervorheben. Ich gebe ihm leicht lächelnd recht – Heidi ist offensichtlich sehr einfach und lustig, aber andererseits ist sie eigentlich nicht theatralischer als die turbantragende Frauengestalt, die kurz darauf mit einem teilweise von einer riesigen Sonnenbrille verdeckten Gesicht hereinflattert: meine Mutter.
»Nein, was ist sie entzückend!« bricht sie bereits auf dem ersten Meter ins Zimmer aus, so daß die Scheiben zittern und ein erschrockener Zug über das zarte Gesicht des Babys huscht.
»Psst!« weise ich sie mit dem Finger auf dem Mund zurecht, und Mutter entschuldigt sich mit Commedia-dell’arte-Mimik und einer Kußhand für Paul, der wie immer in Mutters Gegenwart vor sich hingluckst. Er ist wild begeistert von seiner Schwiegermutter und teilt in keiner Weise meine Intoleranz gegenüber ihren Manieren.
»Viel Glück, mein Schätzchen!« flüstert sie nunmehr, die Brille auf die Haare geschoben, daß es in der letzten Reihe zu hören ist, küßt mich auf die Stirn und setzt sich auf die Bettkante, nachdem sie sich eines zellophanknisternden Blumenstraußes und einiger eingewickelter Schachteln entledigt hat.
»Ach!« seufzt sie hingerissen, den Blick auf dem Baby ruhend, das sich anscheinend in den Schlaf genuckelt hat.
»Ist es nicht ein Engelchen?« fragt Paul, ungeduldig auf die Bestätigung des Wunders wartend.
»O ja. Und so frisch geboren! Darf ich sie anfassen?«
Paul breitet großzügig die Arme aus, aber ich komme ihm zuvor.
»Wenn du dir vorher die Hände wäschst!« antworte ich schroff, und das tut sie sofort ohne Widerrede mit einem entschuldigenden »Ach ja, mein Gott, natürlich!«. Erst als sie ganz nah zu uns kommt und mit ihrem Zeigefinger über die Wange ihres Enkelkindes streichelt, bemerke ich es: Im Mundwinkel ist ein Ansatz eines Herpesbläschens zu sehen, ein Beweis dafür, daß ihre Sorge um mich nicht nur eine ihrer üblichen Übertreibungen war.
Das rührt mich mehr als die Geschenke – das Bouquet von Bering, ein Nachthemd für mich und ein kleines Kleidchen für das Baby – und die Träne, die sie sich abwischt. Und als Paul wohlerzogen hinausgeht, um die Blumen ins Wasser zu stellen und Mutter meine Hände ergreift und mir für »das erste, allerliebste Enkelkind« dankt, fühle ich mich sogar wirklich mit ihr verbunden – wir gehören der gleichen Kette an, der ein neues, kräftiges Glied hinzugefügt wurde.
»Wie ähnlich sie dir sieht«, sagt Mutter und wischt sich die Augen mit einem Zipfel ihres Ponchos, den sie sich übergeworfen hat.
»Aber sie sieht ihrem Vater ähnlich!« protestiere ich entrüstet.
»Ja, sicher, aber dir sieht sie auch ähnlich! Du warst mindestens genauso süß! Ja, ich war ja der Meinung, du warst das absolut hinreißendste Baby!« lacht Mutter. »Nie in meinem Leben, weder vorher noch hinterher, bin ich so wahnsinnig glücklich gewesen! Und dein Vater! Dein Vater war der Meinung, daß seit Jesus von Nazareth kein größeres Wunder mehr geschehen sei! Nein, was war er um dich besorgt! Ganz genauso wie dein süßer Paul jetzt!«
»War er wirklich besorgt?« frage ich, erpicht darauf, mehr zu hören.
»Und wie!« Mutter lacht. »Die Oberschwester mußte ihm fast mit der Polizei drohen, um ihn aus der Klinik zu kriegen. Ja, damals durften die Väter nur zu den Besuchszeiten kommen, aber dein Vater, er hat sich auf der Toilette oder im Wäscheschrank versteckt, um sich wieder in mein Zimmer zu schleichen, sobald die Luft rein war! Dann kam er mit Rotwein und Gänseleberpastete, das war vielleicht ein Fest, bis der Drachen unser Lachen hörte ...«
Mutter muß wieder ihre Augen abwischen, aber diesmal ist es das Lachen, das die Tränen fließen läßt. Oder vielleicht doch auch die Trauer. Merkwürdig jedenfalls, daß sie mir nie zuvor die Geschichte erzählt hat. Aus dem einfachen Grund schon, weil es eine gute Geschichte ist.
»She was not amused!« fährt sie fort. »Aber als dein Vater ihr die Zeichnungen zeigte, die er von dir gemacht hatte, war sie doch ein wenig gerührt. Die waren aber auch bezaubernd!«
»Die hast du mir nie gezeigt!« sage ich mit kindlicher Empörung.
»Nein, er hatte sie versteckt. Er fand, sie wären nicht perfekt genug. Ist schon komisch, aber manchmal habe ich dran gedacht, daß es wohl damals angefangen hat ... Ich meine dieses Unvermögen, das er mitten in seinem großen Glücksrausch fühlte, durch das damals alles anfing ...«
Mutter kommt ins Träumen, sie tanzt auf Eierschalen, läßt eine Zungenspitze über die kleine Wunde gleiten.
»Was fing an?« hake ich nach, obwohl ich es eigentlich besser sein lassen sollte.
»Na ja, die Krise. Die Depression, die Angst, etwas zu zeigen, die Blockade, you name it«, zählt Mutter in einem Ton auf, als wäre die Reihenfolge der Synonyme nicht so wichtig. »Die Dämonen begannen zu wüten, er versuchte, sie im Sprit zu ertränken und ja – den Rest kennst du ja.«
»Vandalismus?« kommentiere ich und sehe Großvater sich wie den strafenden Jahve, wie eine Schattenfigur an einer schimmeligen Rauhfasertapete in den engen Zimmern auf dem Læso-Hof auftürmen.
»Vandalismus«, nickt sie und hat einen Zug um den Mund, der sie genauso alt macht, wie sie nicht sein möchte.
Wir sollten aufhören. Mutter hat keine Lust, die archäologischen Ausgrabungen fortzusetzen, und ich habe keine Kraft dazu. Aber während ich das Gewicht meines schlafenden Kindes auf meinem Unterarm spüre wie die Bestätigung für ein Leben nach meinem, entblöße ich dennoch den Hals. Ich schulde meiner Schaumgeborenen, Mut zu zeigen, ich bin es ihr schuldig, dem Dämon entgegenzutreten, den Kreis zu durchbrechen.
»Mit anderen Worten ist es meine Schuld ...« beginne ich, werde aber energisch von Mutter unterbrochen.
»Nein! Das habe ich nie gesagt!« braust sie auf.
»Nein, das sage ich! Seine Erstgeborene wurde sein Untergang«, sage ich und entlocke mir ein schiefes Lächeln als Camouflage für den Pathos, der ansonsten auftritt. »O God, give me strength to carry on...« singt Clapton plötzlich irgendwo im Unterbewußten, während eine Gitarre klagend einsetzt. Plugged.
Mutter blickt mich mit einem so reinen, nackten Gesicht an, wie ich es nur in den intensivsten Augenblicken auf der Bühne erlebt habe. Dort, wo sie ironischerweise am echtesten ist. Ihr Gesichtsausdruck ist gleichzeitig geläutert und verzweifelt, als sie wieder meine Hände ergreift.
»Mein Gott, wie sehr du diesen Mann doch vermißt!«