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Ein dickes Portemonnaie
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BETTY
Ich war ein verträumtes Kind. Wurde mein Name gerufen, musste ich mich erst aus meiner Traumwelt herausfinden, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, worum es gerade ging. Für die Familie war ich die „Transuse“, ein Schimpfwort, kein Lob, doch ich wehrte mich nicht. Ich galt als ruhiges, freundliches Mädchen, aber eben auch als ein bisschen langsam im Gegensatz zu meinem jüngeren Bruder, der für alle das „pfiffige Kerlchen“ war, obwohl er nervte.
Meine Erinnerungen an die Kindheit beginnen zur Zeit des Kriegsendes. In unserer kleinen Stadt waren viele Häuser zerstört. Wir Kinder fürchteten uns vor den Ruinen und flüsterten von den Toten in den Kellerlöchern. Wenn meine Mutter zur Arbeit ging, waren wir nachmittags bei den Großeltern oder auch allein zu Hause. Allein zu sein, genoss ich sehr, obwohl es oft Streit mit meinem Bruder Torsten gab. Er konnte nicht leben, ohne das letzte Wort zu haben, bei Erwachsenen und erst recht bei mir.
Ich genoss es, durch die Wohnung zu bummeln, öffnete Schubladen und Schrankfächer, besah mir den Inhalt, nahm Bücher aus dem Schrank und betrachtete die Bilder. Vieles begriff ich noch nicht, aber das war meine Welt. Später fing ich an, wahllos zu lesen, was mir in die Hände kam, egal ob ich den Inhalt verstand oder nicht.
Dass ich als Mädchen Kleider trug und anders aussah als die Jungen, hat mich nicht weiter interessiert. Mit meinem Bruder habe ich mich nie verglichen und nur ausnahmsweise mal gespielt. Von den Doktorspielen, zu denen sich einige Nachbarskinder geheimnisvoll in eine offene Garage im Hof zurückzogen, schloss man mich als Älteste aus, doch das war mir egal. Ich war gern für mich allein.
Dieter Nuhr, der Kabarettist, hat einmal gesagt, in der Schulzeit und davor sei er ganz entspannt wie eine Qualle in der Welt herumgesegelt, völlig ohne Absicht und Ziel. Das hat mir gefallen. So sehe ich mich als Kind.
Den Moment, in dem mir mein Körper zum ersten Mal ein erotisches Signal gegeben hat, erinnere ich genau. Ich habe immer gern, schnell und viel gelesen. Und beim Lesen im Roman „Clochemerle“, den ich mir heimlich aus dem Schrank genommen hatte, kribbelte es plötzlich in meinem Bauch. Das war ein schönes Gefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte.
„Clochemerle“ wurde mein Buch! Erst vor kurzem entdeckte ich es auf einem Flohmarkt, blätterte darin und suchte schließlich die Schlüsselstelle, oder genauer eine Schlüsselstelle:
„Sie näherte sich dem Bett, auf dem der arme Kranke, von halb fiebrigen Träumereien angestachelt, seine Kräfte zurückkehren spürte. Die Erscheinung seiner Wirtin mit dem Gurgeltrank gegen die Angina gab diesen Träumen einen so willkommen konkreten Inhalt, daß er mit der Miene eines launisch kranken Kindes, das verzogen werden möchte, ihre Schenkel umschlang, die breit und fest waren und sich gut anfassen ließen. Eine Welle beruhigenden Wohlgefühls durchströmte Adeles Körper, als ob, nachdem das Gewitter endlich ausgebrochen war, große Regentropfen ihre glühende Haut erfrischten. … Er nutzte die Behinderung seiner Wirtin durch das Tablett, das sie immer noch hielt, dahingehend aus, daß er sich weitere Vorteile verschaffte, indem er sich in einer Weise aufdeckte, die jede Beteuerung erübrigte. Adele gab als gute Geschäftsfrau, die den Wert der Zeit zu schätzen weiß, sanft nach … „
Mehr war da nicht!
Beim erneuten Lesen nach mehr als einem halben Jahrhundert erkannte ich, dass diese simplen Zeilen mich als Teenager berührten und zum ersten Onanieren verführten. Das kann ich heute noch nachempfinden.
Warum es so angenehm geprickelt hat, wollte ich nach dem ersten Lesen sofort erforschen. Ich war allein zu Hause und suchte mir einen Handspiegel. Dann habe ich – ganz ohne Anleitung durch Feministinnen - den Schlüpfer ausgezogen, mich auf den Fußboden gesetzt, die Beine breit gemacht und mich betrachtet. Bis dahin hatten nur meine Finger heimlich diesen Teil des Körpers erkundet, von dem es immer hieß: „An den Popo fasst man sich nicht, pfui! „
Aber wenn ich an meinen Fingern gerochen habe, fand ich nicht, sie würden stinken, sondern irgendwie spannend riechen. Jedenfalls nicht unangenehm, mehr so, dass man sie nur an die Nase hält, wenn man ganz allein ist. Zum Beispiel im Bett.
Damals habe ich nicht darauf geachtet, doch im Nachhinein denke ich, dass ich als Kind schon alle paar Wochen so etwas wie Hormonschübe hatte. Jedenfalls hatte ich dann immer Lust darauf, das schöne Gefühl zu wiederholen. Anfangs las ich die Stellen in „Clochemerle“, wo die Seiten dunkler auszusehen begannen. Später brauchte ich nur daran zu denken. Es war so eine Art intuitiver Vorbereitung. Ich habe das Buch genommen, es mir gemütlich gemacht und mich mit dem Spiegel angeguckt. Da erwachte sofort ein schönes Gefühl.
In der Kindheit habe ich immer gut funktioniert und Anweisungen meistens befolgt. Zu Hause war alles in der Schwebe. Meine Mutter war stark unter Druck. Sie musste Kindererziehung und Haushalt allein bewältigen. Und arbeiten gehen musste sie auch. Der Vater war nie da. Während des Krieges und danach verfiel er mehr und mehr dem Alkohol und wurde zu einer Randerscheinung in der Familie.
Mit acht Jahren habe ich meine Mutter am Heiligabend ernsthaft gefragt, wie lange wir uns die Eskapaden meines Vaters noch gefallen lassen würden. (Vermutlich hatte ich ein deftigeres Wort gewählt!) Er hatte, während wir in die Christmette gegangen waren, den Baum schmücken, die Kerzen anzünden und bei unserem Heimkommen Weihnachtslieder am Klavier spielen sollen. Stattdessen hing er volltrunken auf dem Sofa. Nach diesem Eklat reichte meine Mutter die Scheidung ein, allerdings schweren Herzens. Es hat mich immer bedrückt, dass meine Frage der letzte Anstoß zu diesem Schritt gewesen war.
Das Klavier, das mein Vater als einziges Stück aus der Wohnung hatte mitnehmen wollen, ertrotzte Mutter für uns und unseren künftigen Klavierunterricht. „Das Klavier bleibt da.“ verlangte sie. „Haben die Kinder denn schon Unterricht?“ fragte der Scheidungsrichter. Sie musste zugeben, das sei nicht der Fall. Dennoch ging sie nicht auf den Vorschlag des Gerichts ein, sich mit dem Vater zu einigen.
Was meine Aufklärung betrifft, so gab es einen eher lächerlichen Versuch meiner Mutter, indem sie mir das entsprechende DDR-Buch in die Hand drückte, geschrieben von einem Professor Siegfried Schnabl mit dem zugkräftigen Titel „Die Geschlechterfrage“. Zu jenem Zeitpunkt meinte ich schon allerhand zu wissen und sah gelassen und ein bisschen neugierig auf das Kommende.
Während der Pubertät haben wir uns in unserer reinen Mädchenklasse gegenseitig beobachte und belauert. Leider gehörte ich nicht zu denjenigen, denen sichtbar der Busen wuchs. Die haben wir aus Neid geärgert: sie zögen sich einen Büstenhalter an, um Busen vorzutäuschen. Eine Mitschülerin zerrte schließlich mit Tränen in den Augen ihren Pullover hoch, um uns die Echtheit zu beweisen. In der Turnhalle betrachteten wir uns gegenseitig, meist etwas verstohlen. Dort redeten wir auch über die Periode. Es war üblich, dass die Betroffenen auf der Bank sitzen blieben und nicht mitturnten. Wenn man seine Tage bekommt, meinten die Weisen unter uns, wird man eine richtige Frau. Von den Klassenkameradinnen erfuhr ich, dass man dann blutet und dass das ganz normal ist. Es ginge allen Mädchen so.
Ich fand das Ganze höchst eigenartig und hatte keine Ahnung, was man gegen das Bluten tut. Die anderen erzählten von Binden, mit denen man gar nicht richtig gehen könne. Sie berichteten auch, wie vorsichtig man sein müsse, um nicht alles schmutzig zu machen. Ich erinnere mich, dass ich mir versuchsweise ein zusammen gerolltes Taschentuch in den Schlüpfer gesteckt habe und steifbeinig herumstolziert bin. Ich habe darauf gewartet, gefragt zu werden, warum ich so komisch gehe, und dann hätte ich geantwortet, weil ich meine Tage habe.
Als es dann wirklich passierte, bekam ich heftige Bauchschmerzen und dachte, das sei Durchfall. Auf der Toilette habe ich das Blut gesehen und meine Mutter gerufen. Sie hat mir diesen entsetzlichen Gürtel aus Gummiband gegeben, an den man eine Stoffbinde knöpfen musste. Damals gab es nichts Besseres.
Der Großvater hat in unserer Kindheit viel Einfluss auf das Familienleben genommen. Er war blind geworden und hatte genug Zeit, sich über alles Gedanken zu machen. So redete er immer wieder auf uns Enkel ein, ja nicht zu heiraten und sich Kinder anzuschaffen. Für mich war das wie eine Schallplatte, der ich nicht mehr zuhörte. Irgendwie würde sowieso alles auf mich zukommen, dachte ich, ob ich wollte oder nicht.
Wenn ich als Backfisch – so hießen Teenager in jenen Tagen - meinen Großvater durch die Stadt in den Schrebergarten führte und mich im Vorbeigehen in einem Fenster spiegelte, fand ich mich entsetzlich hässlich, geradezu lächerlich: eine Giraffe mit langen Beinen und obendrauf ein kleines Köpfchen. Weil ich groß war, drückte ich die Knie beim Gehen nicht durch und hielt mich nicht gerade, um nicht so lang zu wirken.
In der Familie war ich in dieser Zeit nicht nur die „Transuse“, sondern wurde auch ständig gefragt, wo ich denn noch hinwachsen wolle. So hoch aufgeschossen, würde ich wohl nie einen Mann finden und Jungfer bleiben, lautete der Kommentar, und ich dachte nur: „Ach, du lieber Gott!“ Damals konnte mich wirklich nicht besonders leiden.
Als ich mit vierzehn Jahren an der Jugendweihe teilnahm, änderte sich das zum ersten Mal. Meine Mutter hatte schwarzen Taftstoff aus dem Westen besorgt. Wie sie das geschafft hatte, weiß ich nicht. Aus einer westdeutschen Zeitschrift durfte ich mir bei einer Bekannten ein Modell aussuchen. Und schließlich fand ich das Kleid sehr schick, sogar an mir.
In den ersten Schuljahren war meine Frisur ein Kränzchen gewesen, also ein oben um den Kopf herum geflochtener Zopf. Danach trug ich eine Art Pagenkopf mit Mittelscheitel und Pony. Ich sah aus, als hätte man mir zum Haareschneiden einen Topf aufgesetzt, einfach furchtbar, aber eben auch furchtbar praktisch! Zur Jugendweihe bekam ich eine Lockwelle, wie sie gerade modern geworden war. Mit dieser Frisur habe ich mir gefallen.
Im Betrieb, in dem meine Mutter arbeitete, fand die Jugendweihe, der DDR-Ersatz für die Konfirmation, in einem Saal statt. Da standen wir Vierzehnjährigen alle steif und unbeholfen auf der Bühne herum. Aber Verwandte und Bekannte bewunderten mein Aussehen, und ich habe mich gut gefühlt. Dagestanden habe ich freilich mit eingeknickten Hüften und ständig nach rechts und links gesehen, um mich den anderen anzupassen und optisch zu verkleinern. Das weiß ich noch ganz genau.
Nach der achten Klasse begann ich, da das die Familie, besonders meine Mutter, so entschied, eine Ausbildung zur Grundstufenlehrerin und musste deswegen in ein Internat gehen. Zwar war es nur einige Bahnstationen entfernt, aber wir durften lediglich Sonnabend/Sonntag nach Hause fahren. Das war schon hart.
Für Jungen hatte ich mich bis dahin kaum interessiert. Wie anders sie sind, konnte ich ausreichend an meinem kleinen Bruder Torsten studieren. Er schien nur Freude zu haben, wenn er stänkerte und das letzte Wort hatte.
In den großen Ferien, bevor ich im Institut anfing, lernte ich meinen späteren Mann kennen, der für mich von Anfang an ein Phänomen darstellte, weil er sich als stolzer Schweiger und etwas Besonderes gab und in der Sportschule schon ein Star war. Wir begegneten uns im Betriebsferienlager, in das ich nach dem Schulabschluss noch einmal geschickt wurde, weil ich ein Auge auf meinen Bruder haben sollte. Wolfgang war als Betreuer eingesetzt. Von den Mädchen wurde er angehimmelt, was er scheinbar überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Er müsse sich auf sein Training konzentrieren und habe für nichts anderes Zeit, sagte er immer wieder, auch ungefragt. Er war der Typ „einsamer Indianer“, und ich fand ihn ganz toll. Wenn er vom Sportfeldrand Ratschläge gab, zum Beispiel, wie wir den Volleyball halten müssten, habe ich ihn bewundert und fand sein Wissen enorm. Als ich bemerkte, dass er sich für mich interessierte, fühlte ich mich geschmeichelt. Für mich war er ein Freund, dessen Art mir gefiel. Mehr war da nicht: Bewunderung, zunächst noch ganz ohne Erotik. Also zum Beispiel, wenn ich mit Wolfgang geschmust habe – das war rein geistig-seelisch -, und wenn ich dabei einen feuchten Slip bekam, dachte ich, ich sei blasenkrank, denn ich habe keinen Zusammenhang herstellen können.
Wolfgang war keusch wie eine Jungfer und verklemmt dazu - wie ich später herausfand -, so dass er es vermieden hat, seinen Penis in meine Nähe zu bringen oder ihn gar sehen zu lassen. Im Gegenteil: er versteckte ihn! Wir waren fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, und ich habe mich gewundert, warum er so ein großes Portemonnaie in der Hose trägt, wenn er mich umarmt.
Für mich war er anders als die anderen. Er war ernsthaft, gab sich erwachsen, lästerte nicht, verspottete keinen. Letzteres hatte wohl auch damit zu tun, dass er keinen Humor hat. Aber das habe ich erst viel später bemerkt.
Im Internat lebten und lernten Jungen und Mädchen gemeinsam. Ich habe die Jungen zunächst als geschlechtslose Kumpel wahrgenommen und stand selbst gern im Mittelpunkt. Vor anderen aufzutreten, habe ich genossen. Ich wollte gefallen, vor allem den Erwachsenen.
Es waren auch meist die Älteren, die sich für mich interessierten. Ein Arbeitskollege, ein schöner, sehr männlicher Mann in meinen Augen, sagte meiner Mutter – und sie hat es ihren Bekannten erzählt -, wenn ich erst mal 16 Jahre alt sei, werde er sich um mich bemühen. Wörtlich soll er gesagt haben, dann sei ich fällig. Falls wir uns begegneten, setzte er sich in Szene. Berührte er mich scheinbar zufällig am Arm, bekam ich einen elektrischen Schlag. Ich träumte von ihm, etwa, dass er mich anfasst und auszieht und sich zu mir legt. Mit angenehmen Gefühlen wachte ich dann auf.
Durch Bücher hatte ich eine gewisse Vorstellung davon, was die beiden Geschlechter miteinander machen. Gelegentlich versuchte meine Mutter, mir zu erklären, wie sich Mann und Frau lieben. Sie litt Qualen dabei, das spürte ich und belächelte sie insgeheim, weil ich mich für bestens informiert hielt.
Die Leipziger Messe galt in der DDR als Begegnungsstätte zwischen Ost und West, leicht anrüchig, weil Ostmädchen dort mit Westmännern schnelles Westgeld verdienen konnten. In unserem Institut hatte man – ich weiß nicht wer und warum – die Idee, dass drei ausgewählte Schüler einen Tag auf der Messe verbringen und sich dort umsehen sollten, um danach über ihre Eindrücke zu berichten.
Ich gehörte zu den drei Auserwählten. Bei der Rückfahrt bin ich nicht ins Internat, sondern nach Hause gefahren. Meine Mutter, die mir am nächsten Morgen eine Entschuldigung schrieb, hat sich mächtig darüber aufgeregt, dass man uns allein zur Messe, also in ein Sündenbabel, geschickt habe. Wir seien schließlich gerade erst 16 Jahre alt. „Was wäre, wenn dich einer verführt hätte!“ Ich habe geantwortet, dass ich mich gewehrt hätte. „Du hast doch gar keine Erfahrung.“ Ich widersprach: „Trotzdem merke ich, wenn einer was will!“ „Und wenn er dir schöne Strümpfe schenkt und sie dir anziehen will und die Beine streichelt?“ - „Dann sage ich Danke und gehe weg!“ – „Das stellst du dir viel zu einfach vor.“ Ich gab Widerworte, bis wir letztendlich lachen mussten. Aber sie fuhr fort, mir zu erklären, dass ich die Situation vielleicht nicht bremsen könne, weil manche Männer eben auch gut verführten. Sie mühte sich noch eine ganze Weile, ihre unerfahrene Tochter vor den bösen Männern zu warnen. Dass ich in Wirklichkeit viel weiter war und bei der Erinnerung an ihren Arbeitskollegen onanierte, der Gedanke ist ihr gar nicht gekommen.
Einmal habe ich meine Eltern – wie wohl die meisten Kinder - beim Sex erwischt. Mein kleiner Bruder stand im Gitterbett und jammerte, er müsse sich erbrechen. Ich rannte aus dem Zimmer, um Mutter Bescheid zu geben. Als ich die Wohnzimmertür aufriss, lagen die Eltern nackt auf der Couch. Beide schraken auf, und mein Vater verlangte energisch: „Raus!“ Die Situation war für mich so befremdlich, dass ich schnell die Tür zugemacht habe und weggelaufen bin.
Über solche Erlebnisse haben wir uns im Ferienlager unterhalten. „Ich habe das bei meinen Eltern gesehen, wie die das machen.“ erzählte ich. „Meine Mutter lag oben drauf und hat mit meinem Vater gesprochen.“ Einer von den Jungen hat ganz locker gesagt, dass sie da nur gespielt hätten. Damit war das Thema für mich erst mal erledigt. Man kann ja vielerlei Spiele machen, wenn man zu zweit allein ist.
Nachdem meine Mutter geschieden war und zur „Ex-Frau vom „wilden Männe“ wurde, bemerkte ich einige Male, wie sie sich von Männern bedrängt fühlte. Eines Abends weinte sie zu Hause und schimpfte, sie werde keinen Schritt mehr in das Büro setzen, in dem sie nebenher zuverdiente. Immer wieder erlebte sie, wie Männer über sie herfielen, weil sie glaubten, eine allein lebende Frau müsse ganz heiß sein und brauche dringend einen Mann. Meine Mutter hat das jedes Mal als erniedrigend und eklig empfunden und ist nie wieder in diese Büros gegangen.
Im Grunde genommen habe ich jedoch keine Ahnung, wie es ihr damals als Frau erging. Irgendwie kam es mir so vor, als sei Sex für sie kein friedlicher Genuss, sondern mehr ein Kampf. Viel später, als wir uns einmal darüber unterhielten, sagte sie, sie sei eine dumme Kuh gewesen, denn sie habe erwartet, dass sich jeder Mann so verhalte wie Männe, wenn er nicht betrunken war. Sie hat ihn geliebt, und den Sex empfand sie als schön und erfüllend, solange er dem Alkohol noch nicht ganz verfallen war. Er war übrigens erstaunt darüber gewesen, dass sie bei ihrem ersten Verkehr noch Jungfrau war, und hat von Anfang an ihre natürliche Sinnlichkeit bewundert. Sie verhalte sich, sagte er, als habe sie viel Erfahrung. Das hat ihr gefallen und Selbstvertrauen gegeben. Doch es fiel ihr ihr Leben lang schwer, über dieses Thema zu reden.
Einmal hat sie sich abgerungen, zu Wolfgang zu sagen, er solle mich aus dem Urlaub so wiederbringen, wie sie mich verlassen habe. Damals waren wir bereits verlobt und sind mit ihr und Bruder Torsten an die Ostsee gefahren. Wolfgang und ich, wir beiden Jungfern, hatten uns vorgenommen, dass ES in in diesen Ferien zum ersten Mal geschehen sollte. Mutter und Torsten mussten früher abreisen, während wir uns noch für einige Tage ein Quartier besorgt hatten. Zum Abschied präsentierte sie diese Äußerung - total daneben, wie aus einem schlechten Roman. Prompt antwortete Wolfgang mit einem Ja, obwohl ich ihm und ihr zuvor erklärt hatte, dass ich jetzt Sex haben wolle, unbedingt. Wir waren verlobt, wollten zusammen bleiben und auch mal eine Familie gründen. Warum also kein Sex, sondern ein Leben wie im Kloster?
Meine Mutter reagierte mit „Oh mein Gott!“ und verlangte, ich solle ja vorsichtig sein. Männe habe das immer gekonnt. Ich habe gefragt, was er denn immer gekonnt habe und womit ich vorsichtig sein solle. Männe habe es eben gekonnt, dass man keine Kinder bekomme. Ich fragte: „Und wie ist das mit Wolfgang?“ Sie entgegnete, er habe doch auch Eltern, mit denen müsse er über diese Dinge sprechen.
Den ersten Sex haben wir beide uns übrigens ganz großartig organisiert, so dass er weit ab von jedem Lustempfinden von statten ging. Wir haben eine Art heiligen Akt vollzogen, indem wir beide am Abend bei Sonnenuntergang in die kalte Ostsee gestiegen sind und uns hinterher nass und nackt in den kalten Sand gelegt haben – wahrhaftig genial und zum Totlachen! Unerfahren eben, dafür mit Sand paniert!
Übrigens war ich es, die Wolfgang bei einem abendlichen Spaziergang das erste Mal geküsst hat. Ich bin auf der Parkbank näher und näher an ihn herangerückt, und dann gab es einen Kinderkuss. Aber er war schön genug und hat mächtig gekrabbelt, eine angenehme Erfahrung. Mein Zukünftiger überließ mir, was den Sex in unserer Beziehung anging, immer die Initiative, er ließ nur geschehen. So war es beim ersten Kuss gewesen, und so war es auch später.
Damals endeten im Kino die Liebesszenen, bevor etwas geschah. Aber dennoch verhalfen uns Stars, wie etwa Gérard Philip, wenn sie einen von der Leinwand herunter ansahen, zu Schmetterlingen im Bauch. Bei mir lösten diese richtigen Männer Gefühle aus. Später erkannte ich den Grund: Männe hatte als Vater in meinem Leben keine Rolle gespielt. Den erwachsenen Mann gab es in meiner Jugend nicht. Während der Zeit im Lehrerinstitut hatte ich allerdings den Eindruck, dass mir manche Lehrer nahe kommen wollten. Zum Beispiel beim Tanzen. Das habe ich irgendwie erstaunt hingenommen, und mir auch da manches erst später erklärt.
In den Jahren im Internat, also in der Pubertät, schien meine Lust in bestimmten Abständen anzuwachsen, und die Gefühle wurden immer intensiver. Mit anderen habe ich nie über so etwas gesprochen. Doch ich bin manchmal abends auf die Toilette geschlichen und habe mich breitbeinig hingesetzt. Ich war schon auf dem Weg dorthin erregt, so dass mir Gedanken genügten, um die Gefühle auszulösen und aus dem Institutsalltag mit seinem Druck und seiner Kontrolle zu entfliehen. Oder ich nahm die Finger zu Hilfe. Jedenfalls habe ich es mir schön gemacht, weil ich Lust darauf hatte. Ich habe mich nie gefragt, ob ich süchtig danach bin. Das schöne Gefühl gehörte mir ganz allein.
Im Mittelpunkt meines Denkens und Fühlens stand jedoch Wolfgang. Wir waren längere Zeit räumlich getrennt, er bei der Armee und ich beim Studium. Urlaub bekam er, wenn überhaupt, alle sechs bis acht Wochen. Da reichte die gemeinsame Zeit meistens nur für einen Spaziergang oder einen Abend bei uns zu Hause. Damals habe ich weder seinen Penis gestreichelt, noch hatten wir Verkehr, sondern wir haben nur gekuschelt, wobei ich, wenn auch ohne Orgasmus viel Vergnügen hatte, aber nicht weiß, wie es bei ihm war. Er hat sich wahrscheinlich schwer getan, mit dem Onanieren sowieso, denke ich. Aber ich kann mich erinnern, wie ich ihn einmal in meines Großvaters Garten entführt habe, indem ich in der Wohnung der Großeltern den Gartenschlüssel geklaut habe für die Laube, in die ich ihn dann hineingezerrt habe, und auf der schmalen Liege hat er mich gestreichelt.
Aber das ging immer von mir aus, nie von ihm. Unsere Geschlechtsorgane haben wir erstaunlich lange Zeit völlig außer Acht gelassen, was meine Mutter offensichtlich für unmöglich hielt. Ich bekam jedes Mal Krach, wenn ich später als vereinbart am Abend nach Hause kam. Wie gesagt, hockten Wolfgang und ich auf Parkbänken und sprachen über Gott und die Welt, das heißt über den Sozialismus und die Welt, wie Wolfgang sie sah. Wir blickten in die Sterne und beredeten die große Politik oder was auch immer, indem Wolfgang sprach und ich nickte.
Was den Sex angeht, so hat er ihn vermutlich als notwendiges Befruchtungszeremoniell gesehen, wenn man eine Familie haben möchte. Seine Wurzeln sind ja katholisch, aber auch als guter Sozialist, der er sein wollte, sah er Sex als notwendig, als zum Leben gehörig an, aber mehr war da für ihn wohl nicht. Anfangs in der Sportschule sah er sich zudem als Kader für den Leistungssport und wollte seinen Körper – wie von den Trainern strengstens empfohlen . nicht schwächen.
Er hat nie versucht, mich zu verführen, mich so gut wie nie vorbereitend gestreichelt. Er spielte immer den schweigsamen Helden. Dieses Schweigen habe ich anfangs als In-sich-ruhend beziehungsweise Mit-sich-im-Reinen-Sein interpretiert. Dabei ging es, wie ich später herausfand, von einer großen Unsicherheit aus. In seiner Fantasie lief er oft in merkwürdige Richtungen und ließ keinen daran teilnehmen.
Die Familie, vor allem meine Mutter, malte sich unterdessen aus, was wir Schlimmes taten. Der Großvater beharrte darauf, dass ich als Lehrerin arbeiten und alles andere bleiben lassen müsste, vor allem Männer und Kinder. Ich habe diese Vorhaltungen nicht an mich herankommen lassen, weil ich auf die schönen Gefühle nie im Leben hätte verzichten wollen. Zudem war ich der Meinung, dass ich selbst bestimmen kann, wie weit ich gehen will. Da wird keiner irgendetwas mit mir anstellen, das lasse ich nicht zu. Die Sorgen und Ängste der Mutter und des Großvaters gingen letztlich zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus, vor allem weil sie viel zu oft wiederholt wurden.
Während des Studiums habe ich mir mein zukünftiges Leben völlig normal vorgestellt, Heirat mit Wolfgang, Kinder, ein oder zwei sollten sein, also alles ganz normal. Abwarten, und sehen, was kommt und wie es geht.
Als ich das erste Mal mit dem Zukünftigen zusammen war, damals im kalten Ostseesand, und er anscheinend nur enttäuscht und voller Sand war, innen und außen, da hatte es mir trotz aller Schwierigkeiten doch irgendwie Spaß gemacht. Zwar dachte ich: „Ach du liebes bisschen!“, aber wir lagen noch eine Weile beieinander, und ich fragte ihn, ob wir das alles nicht gleich noch einmal probieren wollten. Auch in den folgenden zehn oder vierzehn Tagen habe immer ich als treibende Kraft gesagt: „Ach, lass uns doch noch mal zusammen ins Bett gehen!“ Das hat ihn jedoch, glaube ich, eher befremdet als erfreut. Mit dieser Anforderung hatte er nicht gerechnet und hat sich nicht besonders toll dabei gefühlt. Offenbar konnte er die Zärtlichkeiten nicht richtig genießen. Ich bin sicher, dass ich dabei nie einen Orgasmus bekam. Das habe ich irgendwie auch gar nicht erwartet. Ich wünschte mir Körperkontakt und Sex. Vielleicht hat er sich gedacht, dass ich eine geile Ziege bin, doch er hat mir den Wunsch erfüllt.
Ich wollte gern wissen, ob der Verkehr nicht noch größeres Vergnügen machen könnte – und es wurde im Laufe der Zeit genussvoller für mich, zwar hatte ich keinen Orgasmus, aber es war zumindest sehr wohltuend. Wolfgang schien allerdings nicht gelöster zu werden. Vermutlich hat ihn das Kondom gestört. Aber ich erinnere mich nicht einmal genau, ob er es regelmäßig benutzt hat.
Nach dem Studium besuchte er mich, wenn die Armee auf ihn verzichten konnte, in der Kleinstadt, in der ich als Lehrerin zu arbeiten angefangen und ein möbliertes Zimmer bekommen hatte. Wir versuchten bei diesen seltenen Gelegenheiten, mit der Verhütung nach Gnaus-Ogino über die Runden zu kommen, wobei die Frau morgens beim Aufstehen ihre Temperatur misst, um die fruchtbaren Tage herauszufinden. Ich musste jedoch feststellen, dass bei mir sowohl die Periode unregelmäßig kam, als auch die Körpertemperatur machte, was sie wollte. Und die Pille gab es noch nicht!
Über Verhütung hatten wir die ganze Zeit sehr wenig gesprochen. Das war sowieso die Krux unserer Beziehung, dass wir mit langen Briefen und wunderbaren Liebeserklärungen kommunizierten und auch lange Gespräche führten, die sich jedoch selten um uns selbst drehten.
Als ich schließlich, nachdem ich ein halbes Jahr gearbeitet hatte, meiner Mutter in den Westen schrieb, ich sei schwanger, antwortete sie, bei einer so großen Liebe sei das kein Wunder. Das war eine tolle Antwort, der allerdings ein Familiendrama vorausgegangen war, denn meine Mutter wollte mit Torsten die DDR verlassen. Die Mauer war noch nicht gebaut, und die Flucht zwar ein organisatorischen, aber kein lebensgefährliches Problem. Das Problem war jedoch, dass ich mich weigerte mitzukommen, und als knapp 18-jährige bei Wolfgang in der DDR bleiben wollte. Was ich auch tat!
Wir haben im Dezember geheiratet. Seit Oktober/November wusste ich von meiner Schwangerschaft. Im Dezember wurde ich 19 Jahre alt, arbeitete aber schon als Lehrerin. Im Zimmer zur Untermiete, das ganze 14 Quadratmeter groß war, hatte ich meinen Hausstand eingerichtet – aus dem Besitz meiner Mutter, die alles in der DDR zurücklassen musste, was sie nicht in Koffer packen oder in den Westen schicken konnte. Und das war nicht viel, denn sie durfte ja den DDR-Behörden nicht auffallen. Das Zimmer war bis obenhin voll geräumt. Das Klavier hatte ich in der Schule abgestellt, weil es wirklich an keine Wand mehr passte. 14 Quadratmeter ohne fließendes Wasser, bei einer 80-jährigen Wirtin. Auf dem kleinen Ofen in der Ecke stand eine Elektroplatte. Entweder wurden Nudeln gekocht oder Tomatensauce!
Wolfgang habe ich von der Schwangerschaft erst etwas gesagt, nachdem der Arzt sie mir bestätigt hatte. Er hat gemeint, dass wir dann eben heiraten sollten. So schnell wie möglich. Ich sei ja schon in die Nähe seines künftigen Studienortes gezogen. So stehe einer Heirat nichts im Wege. Ich hatte von ihm verlangt, dass wir nur aufs Standesamt gehen und nicht im Kreis seiner ziemlich großen Familie heiraten. Das wollte ich vor allem deswegen nicht, weil meine Mutter und mein Bruder nicht dabei sein konnten, da sie die DDR illegal verlassen hatten. Ob ich gesagt habe, wir sollten wegen des Geldes und der Umstände nicht groß feiern, oder den Wunsch geäußert habe, mit ihm allein sein zu wollen, weiß ich nicht mehr.
Ich hatte die Formalitäten für die Heirat bewerkstelligt und eine Unterkunft in einem kleinen Gasthaus in der Nähe besorgt – als Hochzeitsreise quasi. Das Gasthaus war über die Weihnachtsfeiertage eigentlich geschlossen, aber die Wirtsleute sagten, da wir heiraten wollten, machten sie eine Ausnahme und wir durften als einzige Gäste bleiben und das bei ihnen essen, was sie sich über die Feiertage kochten.
Als wir vom Standesamt kamen, hatten sie in der Ecke am Kamin einen schönen Blumenstrauß hingestellt und gratulierten uns, und es war sehr nett so. Noch nie wären Jungvermählte bei ihnen gewesen, betonten sie. Dann rief meine Mutter an und gratulierte, Allerdings kam die Telefonverbindung erst nach Mitternacht zustande.
Wir waren ganz allein in dem Gasthaus, es war Schnee, und wir hatten Skier, und alles hätte traumhaft sein können, aber ich kriegte diesen Menschen, meinen Mann, nicht ins Bett. Ich kriegte ihn nicht zum Sex, die ganze Woche nicht! Er hat sich regelrecht verweigert. Den Grund dafür weiß ich bis heute nicht. Ob seine Kumpel bei der Armee schon zuvor wegen der Heirat gespottet hatten, er werde wahrscheinlich klapperdürr zu ihnen zurückkehren, weil er nicht aus dem Bett herauskäme, oder ob er mich sofort bremsen wollte, nicht zu viel zu erwarten, ich hatte damals keine Ahnung und auch bis heute nicht. Wenn es wegen der Schwangerschaft war, hätte er das doch wenigstens erklären können. Vielleicht hatte er auch nur verinnerlicht, dass zu viel Sex nicht gut sei.
Jedenfalls hat er versucht, so einen familiären Rhythmus einzuführen, also ganz früh aufzustehen, Frühsport, Frühstück, alles nach irgendwelchen Regeln, was weiß ich. Ich hatte gesagt, lass uns doch wieder ins Bett gehen, das ist doch so gemütlich. Aber er wollte partout nicht, und es war für mich sexuell wirklich enttäuschend. Er war eben ein Anfänger durch und durch, und ich weiß nicht, ob er begriffen hatte, dass man auch zärtlich miteinander schmusen kann, ohne dass es im Verkehr endet und man zum Orgasmus kommen muss. Zum Genießen war er offensichtlich zu verklemmt.
Wolfgang war überdies sehr auf sich bezogen, auf sein Aussehen, seine Leistung, seinen Sport legte er sehr viel Wert. Schon mit 16/17 Jahren wurde ihm eingeredet: bloß nichts mit Mädchen anfangen, das mindert die Leistung! Sowohl in der Familie als auch in der Sportschule hörte er das. Später hat er mir mal gestanden, dass es in der Zeit, als er Olympiakader war, verboten wurde, Kontakt zu Mädchen zu haben. Es handelte sich um ein striktes Verbot, das kontrolliert wurde. Er war damals im Kader für den 800-m-Lauf. Sein Trainer war ein Arbeitskollege von meiner Mutter, der stets betonte, Wolfgang dürfe keinen Kontakt zu mir haben.
Also wollten wir uns heimlich treffen. Ich habe gesagt, ich sei Sonntag im Hallenbad und schwimme von zehn bis zwölf Uhr. Aber er kam nicht. Als ich ihm nach ein paar Wochen wiederbegegnete und fragte, sagte er, er sei da gewesen und ich hätte ihn sogar angelächelt. Doch ich bin kurzsichtig und schwamm nie mit Brille, so dass ich ihn nicht gesehen habe. Ich hatte prophylaktisch alle angelächelt, und das war's.
Da jede Beziehung verboten war, meinte er schließlich, wir sollten uns ein ganzes Jahr lang weder sehen noch schreiben. Das galt ihm als Beweis von Charakterstärke, die ihm immer wichtig war. Wir haben wirklich durchgehalten, jedenfalls so lange, bis wir uns zufällig bei einem Tanzvergnügen von Mutters Betrieb trafen. Als ich ihn sah, ging es mir durch und durch, und ich bekam einen roten Kopf, ging auf ihn zu, und wir waren uns schnell einig, dass es zu schön sei, sich zu treffen, als dass wir dem Verbot weiterhin Folge leisten wollten. Etwa ein Vierteljahr hatte ich Wolfgangs Vorgabe mitgemacht und hatte auch nicht klein beigegeben, sondern auf den Zufall gewartet.
Mit diesen Vorsätzen wie auch damit, Verbote zu akzeptieren, hat er sich das Leben schwer gemacht und mich enttäuscht. Auch in sexueller Hinsicht verließ er sich nicht einfach auf seine Empfindungen, sondern war traurig, weil er nicht die Gefühle bekam, wie er sie in der Pubertät manchmal gehabt hatte. Ich sollte ihm helfen, eine Liebe zu entwickeln, wie er sie sich vorstellte. So verlangte er mal von mir, dass ich mich vor ihm ausziehe, also mich richtig mit Musik und Tanz entkleide. Das habe ich gemacht, doch er war enttäuscht. Ich solle nun Streichhölzer nehmen und sie immer dann anzünden, wenn ich wieder etwas ausgezogen habe. Alles habe ich gemacht, doch es erregte ihn nicht wie bei der Lektüre früher.
Einmal bekamen wir von einer Kollegin erotische Literatur aus dem Westen geborgt, französische Romane zum Beispiel. Ich erinnere mich an ein Buch, in dem von der Magie der schlechten Worte die Rede war. Dass man erregt werde durch Schimpfworte, den Sex betreffend, wurde da beschrieben. Wolfgang hat das gelesen und fand es ganz toll, während des Beischlafs die Frau, die sich ihm hingibt, heftig zu beschimpfen. Alles hat er ausprobiert. Natürlich dachte ich dann irgendwann, dass ich ihm nicht genüge als Frau. Dass ich persönlich ihn nicht richtig befriedigen und glücklich machen kann. Eigentlich wünscht man sich doch, dass einer mal sagt, wie sehr es ihn errege, die Partnerin nur anzusehen. Doch so etwas kam nie von ihm, nicht mal in Andeutungen.
Dennoch habe ich mich in jener Zeit nicht selbst befriedigt. In der Pubertät kam es ja so alle vier Wochen ein- bis zweimal vor. Aber in der Familiensituation mit einem kleinen Kind und Beruf war ich stark eingespannt und abends natürlich todmüde. Ich habe allerdings nie Nein gesagt, sondern konnte mich schnell darauf einstellen, wenn er wollte.
Ich muss sagen, dass ich auch mit dem Onanieren mehr Erfahrungen hatte als er, weil ich dem Sex gegenüber sehr aufgeschlossen war. Er macht Spaß und schöne Gefühle, da musste ich nicht lange nachdenken und mir womöglich ein schlechtes Gewissen machen, wie das bei ihm der Fall gewesen sein muss. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass ihn sein Vater, falls er ihn beim Onanieren erwischt haben sollte, verprügelt hat. Solche Strafen waren üblich in seiner Familie.
Was mein Vergnügen angeht, so habe ich nur in der allerersten Zeit mit Wolfgang keinen Orgasmus erlebt. Ansonsten habe ich ihn beinahe jedes Mal erreicht, wenn wir zusammen waren, besonders natürlich wenn wir wochenlang getrennt gewesen waren und ich heftige Sehnsucht bekam. Zwar hat er immer sein Ding gemacht, kaum Rücksicht auf meine Gefühle genommen, und ich musste sehen, wie ich mit ihm mitkomme, aber dennoch habe ich fast immer mein eigenes Ziel erreicht. Dabei musste ich jedoch stets darauf achten, auch seinen Wünschen nachzukommen.
Zum Beispiel hat er gern Aktfotos gemacht. Ich erinnere mich an einen Ostseeurlaub auf dem Darß, da lag ich quasi in der Brandung, der Seewind blies kräftig, aber es war dennoch wunderschön, und Wolfgang fotografierte. Solche Fotos brauchte er für seine visuellen Vorstellungen, aber das alles bezog sich nie auf mich als Person.
Oft hat er meine Mängel hervorgehoben, jedoch nie gesagt, was ihm an mir gefällt. So war ihm mein Busen zu klein und hing zu sehr. Es war die Zeit von Brigitte Bardot und den hohen Brüsten im spitzen Büstenhalter. Ich konnte wunderbar stillen, und das reichte mir. Für Wolfgang war es jedoch nicht genug. Jedenfalls ist das meine Erinnerung an unsere Ehe.
Meine Mutter fragte mich einmal in einem Brief, ob ich denn nicht einen Wunsch so ganz für mich allein hätte, den sie mir gern erfüllen würde. Da bat Wolfgang, ich solle mir aus dem Westen so richtig tolle Reizwäsche wünschen, einen tollen BH, der alles hochhebt. Das habe ich ihr geschrieben, doch sie erklärte kategorisch, für so einen Quatsch sei ihr das Geld zu schade. „Wem soll denn das nützen?“ fragte sie. Warum wolle sich Wolfgang noch mehr erregen, unsere Kleinfamilie passe gerade so in die kleine, wenig komfortable Wohnung! So deutlich hatte sie es nicht geschrieben, mehr in der Art, dass das kein richtiges Geschenk für mich sei. Und er habe eine schöne Frau, und das sei genug.
Auch an meinem Gewicht und der Figur hat er herumgemeckert. Ich wollte es ihm immer recht machen und bin lange Zeit jedem Streit ausgewichen. Ich habe ihn sogar vor anderen auf ein Podest gehoben. Das hat ihn nur in seiner Rolle bestätigt, in der Rolle als Despot und Egoist.
Doch selbst in der Zeit, als er mein Kollege an der Schule wurde, war ich noch total auf ihn orientiert, für mich kam nur dieser Mann in Frage, auch wenn er unser Familiendiktator war, der sich immer an offiziellen Anforderungen orientierte. So erinnere ich mich, dass die Familie unter seiner Ansicht von gesunder Ernährung litt und wir zum Beispiel feuchtschweres Schwarzbrot essen mussten, anstatt frischer Brötchen.
Besondere Schwierigkeiten gab es, wenn meine Mutter aus dem Westen zu Besuch kam. Ein paar Mal ist sie richtig ausgeflippt und aus der Wohnung gerannt, um tief durchzuatmen und wieder ruhiger zu werden. Sie fragte mich dann, wie ich das denn nur aushielte mit diesem Mann, aber ich protestierte, er liebe mich doch und ich ihn. Ich hätte mich für ihn entschieden, und nun sei es eben richtig so. Das stehen wir durch.
Oft haben wir stundenlange Gespräche bis tief in die Nacht geführt. Sie drehten sich immer um politische Vorgaben für die sozialistische Familie, die wir sein oder werden sollten. Zum Beispiel forderte Wolfgang von mir, dass ich meiner Mutter schreibe, wir wollten absolut keine Westpakete mehr von ihr. Da habe ich mich jedoch glatt geweigert, weil er als Lehrer so wenig verdiente, dass es gut tat, Kaffee und Schokolade, Waschpulver und Seife, aber eben auch mal eine Strickjacke für mich oder Pullis und Hosen für den Sohn zu bekommen. Man sah den Sachen freilich die westliche Herkunft Meilen gegen den Wind an, so dass sich Wolfgangs Genossen beschwerten, ich liefe immer westlich gekleidet herum. Er solle gefälligst auf mich einwirken. Aber ich war in dieser Angelegenheit auf beiden Ohren taub, weil wir die Unterstützung viel zu gut gebrauchen konnten. Und natürlich weil mir die Sachen gefielen.
Ja, aber, das geht doch nicht, denk mal an uns – so lautete seine Argumentation, doch ich erwiderte, gerade daran dächte ich.
Er fing immer wieder damit an. Immer wieder ein Grund zu Auseinandersetzungen!
Und Wolfgang wurde immer knarziger, böser und heftiger und fand dann kein Ende. Streit hat bei uns nie mit Sex geendet, wie vermutlich bei vielen anderen Paaren, sondern eher damit, dass ich mich auf die andere Seite drehte und still vor mich hin weinte. Ich sage heute – und das Gedächtnis verlässt einen ja immer weniger, je weiter die Dinge zurückliegen -, es ist nie passiert, dass er kam und kuscheln und mich trösten wollte in solchen Situationen. Ich habe geweint, und er hat womöglich gedacht: selber schuld!
Stets habe ich mich wieder genähert und versucht, nett und locker zu sein. Ja, er hat es hingenommen, er hat abgesahnt!
Wir waren beim Verkehr auch immer ganz leise, damit unser Vergnügen nicht auffiel. Natürlich muss man dazu sagen, dass die Wohnung klein war und das Kind ganz nah. Rücksicht war also angebracht.
An dieser Stelle sollte ich wohl den einzigen großen Seitensprung gestehen.
Das ist insofern eine ganz vertrackte Geschichte, als Wolfgang mich mehrfach in Gesprächen über Sex aufgefordert hat, wenn ich mal eine Chance hätte, mit einem anderen Mann zu schlafen, dann solle ich das unbedingt tun. Ich musste ihm ganz fest versprechen, dass ich mich verführen ließe, ihm aber als Lohn für seine Großzügigkeit alles detailgetrau erzählen würde. Das sollte ich schwören. Was mir dabei gefallen hätte, sollte ich genau sagen. Versprich mir das, verlangte er. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie das gehen sollte.
Naja, der liebe Gott fand einen Weg.
Wolfgang hatte aus der Schulzeit einen sehr guten Freund, der in allem und jedem ganz ganz anders als er war, was der Freundschaft keinen Abbruch getan hatte. Dieser Fritz war offen und unverkrampft, nicht so zielgerichtet und auf Karriere bedacht wie mein Mann. Er hatte Schlosser gelernt, arbeitete aber als Fahrer für den Chef eines Großbetriebs. Ich kannte ihn seit Jahren und hatte manchmal gewünscht, Wolfgang könnte etwas von Fritz‘ Lockerheit lernen.
Ja, und es geschah nun also, dass mein Mann mit dem Sohn einige Tage weggefahren war. Wohin, erinnere ich nicht mehr. Fritz hatte dienstlich in der Nähe zu tun und kam am Wochenende überraschend zu Besuch, er stand einfach vor der Tür: Hier bin ich. Das war ganz normal, denn man besaß ja in der DDR als Normalbürger kein Telefon. Obwohl mich Wolfgang zu diesem Zeitpunkt schon zum Fremdgehen aufgefordert hatte, planten wir beide keineswegs, miteinander zu schlafen. Wir haben ein bisschen was unternommen, aber wie ein altes Ehepaar zu Hause gegessen, denn man fand auch nicht einfach so freie Plätze in einem netten Restaurant. Wir hatten eine angenehme Zeit miteinander, haben viel gelacht, und als Fritz fragte, ob er auf dem Sofa schlafen solle, meinte ich, das sei nicht nötig. So kam er ins Ehebett – ohne arge Absicht, dessen bin ich mir sicher.
Es lag dann an mir, dass ich ihm Gute Nacht wünschte, aber auch meinte, er habe mich noch nie richtig geküsst. Und so kam dann eins zum anderen. Es war zwar wunderbar, aber vor Schreck und Angst habe ich beim ersten Mal keinen Orgasmus bekommen. Im Gegensatz zu Wolfgang wiederholte er immer wieder, wie schön das gewesen sei. Am nächsten Tag wollte ich mit ihm noch einen Mittagsschlaf machen. Und wir lagen auf dem Sofa, gekuschelt als Löffelchen, und ich merkte plötzlich an seinem Herzschlag, dass er erregt war. Das hatte ich noch nie so gespürt und bekam plötzlich selbst einen Orgasmus wider Willen. Auch das war ein wunderbares Erlebnis. Bevor der Freund wegfuhr, gab es noch ein drittes Mal. Es war großartig, aber wir haben nicht darüber gesprochen. Wir haben es hingenommen als einen Sonnenstrahl im Leben, der sich manchmal ergibt.
Die Geschichte hat leider ein anderes Ende gefunden, als ich hätte annehmen dürfen: wir haben es, ohne dass wir das abgesprochen hatten, beide Wolfgang erzählt. Nun wollte er Genaueres nicht mehr wissen, nun reichte ihm der Schmerz, dass ich mich mit seinem besten Freund, den ich immer schon möchte, eingelassen hatte. Hatte mich mein Mann nicht aufgefordert zum Seitensprung?
Irgendwann – ich weiß den Zeitpunkt nicht mehr genau – fiel das utopische Bild von meiner Ehe, an dem ich lange festgehalten und es anderen gegenüber stets verteidigt hatte, in sich zusammen. Als wäre ein Fenster geputzt worden, sah ich plötzlich die Realität: Da war einer, der irrte durch seine wechselnden Vorstellungen vom Leben und bestimmte darüber, was Frau und Sohn zu tun hatten.
Als ich ihm schließlich sagte: „Schluss, aus und vorbei!“, da verlangte er ein halbes Jahr Aufschub und Bedenkzeit. Ich hatte nichts dagegen, weil ja auch alles organisiert werden musste, sagte ihm aber gleich, dass ich ein Mensch sei, der sich entscheide und dann bei der Entscheidung bleibe, er solle und dürfe sich keine Hoffnung machen.
Danach hat er sofort angefangen, junge Lehrerinnen aus dem Kollegium auszuprobieren, zum Beispiel eine Sportlehrerin, unverheiratet, die mit ihrer alten Mutter zusammen lebte. Insgeheim wurde sie von vielen Männern in der Schule angehimmelt. Viel später hat er mir erzählt, die alte Mutter habe ihn gefragt, was er denn eigentlich wolle, als er um die Hand ihrer Tochter angehalten habe.
Er hat auch auf Annoncen reagiert. Als ob er nun endlich mal erfahren wollte, wie das mit anderen Frauen geht. Er war ja ganz auf mich orientiert und hat wohl gedacht, alle Frauen seien so fügsam, wie ich es viel zu lange gewesen war. So geriet er an eine Zahnärztin, die ganz viele sexuelle Kontakte hatte. Sie konnte immer, sie konnte mit jedem, und er musste sich sehr anstrengen, erklärte er später seinen Grund für die Trennung. Als sie ihn Abend für Abend mit steifem Gesicht am Schreibtisch sitzen sah, ist sie gekommen und hat gefragt, was er da mache. Er erklärte, es handele sich um Geografie, um eine Vorbereitung für den Unterricht, Erzvorkommen der Sowjetunion, 5. Klasse. Sie hat ihn gefragt, wie viele Jahre er das Thema schon behandele. Er antwortete, es sei das dritte oder vierte Mal. Sie wunderte sich daraufhin nur, warum er immer noch Vorbereitungen machen müsse.
Mir hat er nie erzählt, es sei mit anderen Frauen schöner gewesen als mit mir, das hat er nie getan. Bei seinem 70. Geburtstag vergaß er allerdings in der Rede völlig, die erste Ehe und den Sohn zu erwähnen, um dann beim Abschied entschuldigend zu ihm zu sagen: „Naja, wenn deine Mutter damals bei mir geblieben wäre, hätte ich sie wohl immer noch zur Frau.“
Mein Kommentar dazu lautet, er habe es eben nie wieder so bequem gehabt wie mit mir. Ich war viel zu jung und voll auf ihn abgefahren.