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Einleitung

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Marx bezeichnet die kommunistische Gesellschaft auch als Verein freier Menschen. Das heißt: Einerseits werden sich die Menschen vereinen, andererseits werden sie in dieser Vereinigung frei sein. Dieses Vorhaben ist nicht einfach; seine Schwierigkeiten lassen sich illustrieren am Symphonieorchester, einem Beispiel für Kooperation, das auch Marx herangezogen hat.1 Die Musiker gewinnen durch die Vereinigung die gemeinsame Fähigkeit, eine Symphonie erklingen zu lassen, die kein einzelner Musiker erklingen lassen könnte, und profitieren auch individuell, indem sie innerhalb der Vereinigung einander zuhören, erhört werden, neue Fähigkeiten erlernen und an etwas Großem teilhaben, das sie alleine nie zuwege bringen könnten. Zugleich aber muss sich jeder Einzelne der Vereinigung fügen, indem er ihren Ansprüchen gerecht zu werden versucht, sich selber zurücknimmt und für sich sowie mit allen anderen Musikern gemeinsam übt. Der Dirigent steht dabei vor der schwierigen Aufgabe, die Einzelnen mit dem Orchester als Ganzem zu vermitteln. Er muss einerseits seinem Orchester zuhören, dessen Impulse aufnehmen und die Musiker als Künstler würdigen, statt sie sich mit seinem Taktstock zu unterwerfen. Da aber der Zusammen- und Wohlklang nicht die automatische Folge der Zusammenkunft der verschiedensten Musiker ist, muss der Dirigent die Musiker andererseits zur Verbesserung ihrer Fähigkeiten bewegen, zur Selbstzurücknahme anhalten und durch seinen Taktstock führen. Offenbar hat der Dirigent im Orchester ein ähnliches Werk zu vollbringen wie laut Platon der Philosophenkönig im Gemeinwesen, der darin »Wohlsein« hervorbringen soll, indem er »die Bürger ineinanderfügt und sie teils überredet, teils nötigt, einander mitzuteilen von dem Nutzen, den jeder dem allgemeinen Wesen leisten kann« (Platon, Politeia 519e–520a). Platon zufolge ist es durchaus ein Gebot der Vernunft, die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Einzelnen zu erkennen und zu berücksichtigen. Dieses Gebot harmoniere aber nicht immer mit dem gleichsam vernünftigen Gebot des Allgemeinwohls (Letzteres steht in Platons Politeia im Zweifel höher). Einzelinteressen können dem Allgemeinwohl widersprechen und umgekehrt. Und die Freiheit des Einzelnen kann durch die Ansprüche des Gemeinwesens gefährdet sein. Dem Namen nach verkündet sich der »Verein freier Menschen« als Ausweg aus diesem Dilemma.

Dabei setzt der Kommunismus im Sinne von Marx vor allem auf eine andere ökonomische Ordnung. Die kommunistische Revolution soll die Kapitalisten enteignen und die Produktionsmittel vergesellschaften bzw. sozialisieren. Auf Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums wird es keine Klassen mehr geben. Produktion und Distribution werden sich nicht mehr blind über Geld und Markt vermitteln, sondern vernünftig und gerecht gestaltet. Der Fortschritt der Industrie wird das Elend der Produzenten nicht mehr verschärfen, sondern die Arbeit erleichtern und den Reichtum aller mehren. Alle Individuen könnten sich freier entfalten, gemäß ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen. Was Marx in Aussicht stellte, wurde im Realsozialismus allerdings nicht erreicht. Die meisten sozialistischen Bürger sehnten sich nach mehr Freiheit. Dass der Kommunismus in der Praxis scheiterte und alles andere als Freiheit brachte, resultierte auch, so die These in diesem Buch, aus seiner ökonomischen Idee.

Neu sind die Zweifel an der kommunistischen Ökonomie nicht, auch nicht seitens jener, die der Idee des Kommunismus zugeneigt sind. 1896 äußerte der Anarchokommunist Peter Kropotkin die Befürchtung, eine Industriegesellschaft bedürfe, um vernünftig und ganzheitlich, also kommunistisch organisiert zu sein, der Oberaufsicht des Staates. Hans Kelsen fragte 1920 skeptisch, ob eine Planwirtschaft des Zwanges entbehren könne. Albert Einstein wies 1949 in seinem Plädoyer für den Sozialismus deutlich auf die Gefahren der Planwirtschaft hin: die autoritäre Bürokratie und die Unterjochung des Individuums. Max Horkheimer, der 1933 noch davon ausgegangen war, im Sozialismus ließen sich die Ideen der französischen Revolution allesamt verwirklichen, betonte 1970 den Widerspruch von Freiheit und Gerechtigkeit und nahm traurig Abstand von der sozialistischen Utopie.2 Und Theodor W. Adorno sprach das »zentralste Problem der materialistischen Dialektik« in seiner Vorlesung über Fragen der Dialektik (1963/64) an: dass »rationale Planung ihrem eigenen Wesen nach mit der Herrschaft verbunden ist« (zit. n. Braunstein 2011: 276). An anderer Stelle formuliert Adorno einen ähnlichen Zweifel, zwar in Hinsicht auf musikalische Komposition, aber doch mit ökonomischer Note: »Die Frage aller Musik ist: wie kann ein Ganzes sein, ohne daß dem Einzelnen Gewalt angetan wird. Die Lösung dieser Frage hängt aber jeweils ab vom gesamten Stand der musikalischen Produktivkräfte, und zwar so, daß, je höher diese entwickelt sind, die Lösung in immer größere Schwierigkeiten gerät.« (Adorno 1937–1969: 62) Last, not least als Quellen der Inspiration für das vorliegende Buch sind die sozialismuskritischen Bücher der liberalen Ökonomen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek zu nennen.3 Während jedoch Mises und Hayek Apologien der kapitalistischen Marktwirtschaft verfassten, steht das vorliegende Buch unter einem anderen Stern. Hier handelt es sich um eine Kritik des Kommunismus, die dessen Beweggründe teilt und der Marx’schen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft verbunden ist. Man könnte auch sagen: Der Autor laboriert am Kommunismus.

Und der Marxismus? Wie hat dieser die Enttäuschung, das Scheitern des Kommunismus aufgearbeitet? Auf der einen Seite des Spektrums stehen die Marxisten, die den Realsozialismus kritisieren, um den Kommunismus vor ihm zu retten. Sie interpretieren den Realsozialismus als Abirrung vom Kommunismus. Einige von ihnen erblicken das realsozialistische Übel in der Vormachtstellung der Bürokratie (z. B. Leo Trotzki und Ernest Mandel) oder in der Klassenherrschaft durch die Bürokratie (z. B. Bruno Rizzi und Milovan Djilas), andere deuten den Realsozialismus als Staatskapitalismus (Tony Cliff) oder als Marktwirtschaft plus Staatsbourgeoisie (Charles Bettelheim).4 Diesen marxistischen Kritikern des Realsozialismus ist die Zuversicht gemeinsam, dass der eigentliche Kommunismus noch verwirklicht werden könnte. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Marxisten, die vom Kommunismus, wie er bei Marx angedacht war, angesichts des Realsozialismus Abstand genommen haben und weder für Kommunismus noch für Kapitalismus, sondern für einen dritten Weg plädieren, zum Beispiel für Konkurrenzsozialismus (Oskar Lange, Abba P. Lerner), Reformsozialismus (Rezső Nyers, Ota Šik) oder unterschiedlichste Formen von Marktsozialismus (Deng Xiaoping, Anthony Giddens). Solches Abrücken vom Kommunismus erscheint in diesem Buch verständlich, der dritte Weg allerdings wird nicht weiterverfolgt. Das Buch präsentiert keinen Ersatz, sondern hält inne. Es verharrt in Aufarbeitung.

2015 hat Axel Honneth, ein Nachfahre der Kritischen Theorie, in einem Essay den Sozialismus rekapituliert und für Marktsozialismus plädiert: Der Sozialismus, wie er war, habe zu engstirnig auf die Abschaffung des Marktes zugunsten planmäßiger Kontrolle gesetzt.5 Vielleicht, so blickt Honneth voraus, wären andere Märkte, als die kapitalistischen es sind, die Lösung. Einerseits ist diese vage Position vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen verständlich. Andererseits klingt darin die Position der Sozialdemokratie an, die sich vom Sozialismus entfernt hat und das nicht zufällig. Was Honneth als Dogma moniert, ist doch die Grundidee von Kommunismus und Sozialismus: die Idee, die Produktionsmittel zu sozialisieren und die ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft vernünftig zu gestalten und die Märkte durch Planung zu ersetzen. Ohne diese Grundidee bleibt nicht viel übrig, was den Sozialismus als Gesellschaftsalternative auszeichnet. Gleichwohl ist Honneth in einem wichtigen Punkt Recht zu geben: Der Sozialismus vernachlässigte in der Fixierung auf die Ökonomie genaue Überlegungen, wie eine sozialistische Demokratie aussehen könnte, und vermochte es in diesem Mangel später nicht, die sozialistische Einparteienherrschaft aus sich heraus zu verhindern (Honneth 2015: 63).

Dass der Kommunismus in der Praxis zu einem System totalitärer Herrschaft wurde, hatte vermutlich verschiedene Ursachen. Neben der Ignoranz und Arroganz der kommunistischen Klassiker gegenüber Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Parlamentarismus gehören wahrscheinlich dazu: die Idee der Diktatur des Proletariats, der verkappte religiöse Eifer bzw. der politische Messianismus des Kommunismus, dessen Frontstellung gegen herkömmliche Religionsgemeinschaften, das absolutistische Erbgut, das dem Sozialismus in Russland und China innewohnte, die teils brachiale Zentralisierung der sozialistischen Vielvölkerstaaten und die kriegerische Weltsituation (Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, atomare Bedrohung), in der er sich immerzu behaupten musste. All diese Ursachen stehen nicht im Zentrum der folgenden Untersuchung. Im Zentrum steht die Ökonomie des Kommunismus. Ohne solche Konzentration, in der Anderes aus dem Blick gerät, keine Erkenntnisse. Mögen diese hernach durch jene, die die Ursachen zu überblicken wissen, ins Gesamtbild des Realsozialismus eingeordnet werden. Und mögen diese Erkenntnisse jene Marxisten und Kommunisten ins Grübeln bringen, die es gewohnt sind, das Scheitern des Kommunismus bzw. Sozialismus nur auf äußere Faktoren (Weltimperialismus) oder falsches Personal (Stalin) zurückzuführen. Und mögen diese Erkenntnisse jenen nicht als Munition dienen, die nichts für die Beweggründe des Kommunismus übrighaben.

Vor allem richtet sich das Buch an solche Leser, die an der Aufarbeitung des Kommunismus interessiert sind, gerade weil sie dessen Utopie von Mitmenschlichkeit zu schätzen wissen – eine Utopie, die gegen das Elend Einspruch erhebt, in dem weltweit viele Arbeitslose und Arbeiter leben müssen.

Verein freier Menschen?

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