Читать книгу Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln - Arved Fuchs, Hannes Lindemann - Страница 135
ОглавлениеLa Coruña, im Juli 1964 |
Die Biskaya haben wir nun überquert und damit den kalten, grauen Norden hinter uns gelassen.
Wir standen am Mittag des 23. Juli 210 Seemeilen südwestlich von Brest. Die Sonne schien warm. Wolkenlos strahlte der Himmel. Von Nord drehte der Wind auf Nordost und nahm zu. Er wehte jetzt mit Stärke 4, sodaß sich »Kairos« unter dem Druck der Segel zu neigen begann. Mit schäumender Bugwelle lief das Schiff auf Kurs Südwest zu Süd, zeichnete die vergängliche Spur seines Kielwassers in die Unvergänglichkeit des Meeres.
Elga übernimmt nach dem Mittagessen die Ruderwache und steuert den Kurs, der uns nach Spanien führt.
Unter Deck lege ich mich nach einem Blick auf die Seekarte in meine Koje. Ich schließe die Augen und entspanne den Körper, soweit das bei der rollenden Schiffsbewegung möglich ist. Weich und willig gehorcht »Kairos« dem Rhythmus der See und dem Gebot des Ruders, läßt mich dadurch die Harmonie spüren, die es geben kann zwischen der Natur und dem, was der Mensch sich schuf. Zum erstenmal seit unserem Aufbruch fühle ich mich glücklich.
Dieser Aufbruch lag um zwei Monate zurück. Er war wie ein Erwachen gewesen, weil aus achtjährigem Planen Wirklichkeit wurde in dem Augenblick, da die Kugelbake in der Elbmündung hinter dem Horizont verschwand. Wir hatten es gewagt.
Zurück blieb alles, was die Zufriedenheit unseres Lebens ausgemacht hatte: Freundschaft, Beruf, Wohnung. Es blieb auch zurück, was uns ständig bedroht hatte: Gewohnheit, Entschlußlosigkeit, Vermassung.
Unser Plan war, die Erde zu umsegeln. Acht Jahre hatten wir jeden Pfennig dafür gespart. Jeden Sommer hatten wir unseren Kielschwertkreuzer »Kairos« über Nordsee, Skagerrak und Ostsee gesegelt, hatten Erfahrungen gesammelt – harte Erfahrungen oft – hatten die Ausrüstung ergänzt und verbessert. Während langer Winterabende hatten wir gesessen und gelesen: Reisebeschreibungen anderer Weltumsegelungen, Seehandbücher, meteorologische Abhandlungen. Wir hatten Seekarten und Klimakarten studiert. Und langsam reifte der Plan. Aus einer Reisevorbereitung wurde eine Lebensvorbereitung. Wir begannen, uns sicherer zu fühlen – soweit man gegenüber der unberechenbaren See überhaupt Sicherheit fühlen kann.
Den Jahreszeiten der Erde gemäß, den großen Klimazonen mit ihren vorherrschenden Winden entsprechend, zeichneten wir den beabsichtigten Kurs in eine Weltkarte. Oft war es uns unheimlich, wenn wir über Weltmeere sprachen wie über Binnenseen oder Flußreviere. Oft erreichte unser theoretischer Kurs Seegebiete oder Küsten zu ungünstiger Jahreszeit: hier konnten sich tropische Wirbelstürme entwickeln, dort herrschten winterliche Temperaturen. Dann mußten wir wieder von vorne beginnen. Was waren wir doch für feine Seeleute: bereits ein paar Mal um die Erde gesegelt – jedoch nur mit dem Bleistift auf der Karte!
Schließlich errechneten wir, daß unsere Reise dreieinhalb Jahre dauern würde. Die Kurse und ihr Zeitablauf waren festgelegt.
Elga weckt mich, als die Sonne im Nachmittag steht. Das schräge Licht läßt den Seegang höher erscheinen. Ich übernehme die Wache: Kurs Südwest zu Süd. Einige blasse Wolken ziehen von Nordosten her und werden über uns vom Winde zerweht.
Wir trinken Kaffee und essen einige Kekse. Wir sprechen nicht viel. Erste Müdigkeit macht sich bemerkbar. Elga wäscht die Tassen und räumt sie ins Geschirrfach. Ich höre sie in der Kajüte hantieren. Dann kommt ihr kurzer Gruß »Gute Wache«. Sie geht zur Koje. Ich bin allein mit dem segelnden Schiff.
Mehr Wolken ziehen von Nordosten her. Langsam beginnen sie, einen hohen Wolkenschleier zu bilden. Das kann Wetteränderung bedeuten.
Nach acht Jahren verfügten wir über das Geld für unsere dreieinhalbjährige Reise. Finanziell hatten wir ein Reservejahr eingeplant, da wir nicht wissen konnten, ob Krankheit oder Politik längere Wartezeiten erforderlich machen würden. Elga hatte ihre Sprachkenntnisse erweitert. Außer Englisch hatte sie sich intensiv mit Französisch, Spanisch und Portugiesisch befaßt. Außerdem besuchte sie einen Kursus für Erste Hilfe.
Wir verließen unsere Wohnung und zogen an Bord. Zahllose Autoladungen mit Ausrüstungsgegenständen wurden zum Schiff gefahren. Von morgens bis abends wurde besprochen, gekauft, eingepackt und nach Staulisten an Bord wieder ausgepackt. Nachts träumten wir von Kartons, Konservendosen, Ersatzteilen und – mit einiger Beklemmung – von Logarithmen, Höhenstandlinien und Azimutpeilungen. Denn nebenher machten wir noch einen Kursus für die Prüfung zum Sporthochseeschiffer, deren Termin unaufhaltsam näher kam. Unsere Navigationskenntnisse sollten den letzten Schliff erhalten.
Die Prüfung kam. Wir bestanden sie.
Zwei Wochen später torkelte »Kairos« über die grau-weißen Brecher und durch die grün-dunklen Wellentäler des Englischen Kanals. Es war ein Hundewetter mit Nebel und Nordostwind Stärke 8. Es hielt fast 20 Stunden an. Als es nachließ, als wir aus den Standlinien einer für Minuten möglichen Sonnenbeobachtung und einer kaum hörbaren Consolfunk-Peilung unseren Standort errechneten, uns dann später an die nächtliche englische Küste herantasteten, da waren Angst und Abschiedsschmerz überwunden. Wir hatten es gewagt.
Zu Steuerbord im Westen, wo die Wasser der Biskaya grenzenlos in die des Atlantik übergehen, sinkt nun die Sonne blutigrot. Vor dem Glühen des Himmels hängen Schleierwolken. Der Wind verändert sich. Ist er während des Tages in zu- und abnehmendem Schwingen gekommen, so wird er jetzt unruhig hart. Er macht Sprünge und teilt Schläge aus.
»Elga!« rufe ich. Die vier Stunden meiner Ruderwache sind abgelaufen.
»Ich komme!« Bald darauf steht sie verschlafen im Niedergang. »Wie geht’s – he?« fragt sie gedehnt. »Was läuft er denn?«
»Er« bedeutet »Kairos«. Wir haben uns seit seinem Stapellauf noch nicht dazu durchringen können, daß unser Schiff wie üblich eine »Sie« sein soll. »6 Knoten. Wind nimmt zu. Wir müssen reffen für die Nacht. Ja – und Hunger hab’ ich auch.«
Elga übernimmt die Pinne, während ich das Großsegel reffe. Dann mache ich die Eintragungen für meine Wache im Logbuch: Wind, Strom, Barometerstand, Kurs, Distanz, Segelführung – und übernehme wieder die Pinne. Elga bereitet das Abendessen vor. Es ist bei uns an Bord die Hauptmahlzeit des Tages, der 24 Stunden lang ständig Ruderwachen von uns fordert.
Im Westen wird das Tageslicht farblos. Dämmerung beginnt zu fallen. Gelb-rot aus Dunst und Wolken über dem östlichen Horizont steigt in diesem Augenblick der fast volle Mond auf. Erst rötlich, dann silbern gießt sein Licht eine schimmernde Bahn auf das schwarz gewordene Meer.
Elga ißt zuerst. Während ich anschließend meinen Hunger stille, wird mir die Einfachheit unserer neuen Lebensführung bewußt. Wir essen, einfach weil wir Hunger haben. Wir schlafen, einfach weil wir müde sind. Wir wachen, einfach um das Schiff auf Kurs zu halten.
Auf dem Hafenkai von Dartmouth erinnert eine Bronzetafel an die Schiffe »Mayflower« und »Speedwell«, die im Herbst 1620 mit englischen Kolonisten Dartmouth als Nothafen anliefen, weil die »Speedwell« leckgesprungen war.
Der Schaden wurde behoben und wiederum vertraut sich eine Handvoll Familien den morschen Planken an. Welch ein Aufbruch: jenseits des Atlantiks in einer unbekannten Welt das zu suchen, was es in der Heimat nicht gab – Freiheit.
Im Atlantik springt die »Speedwell« wiederum leck und muß umkehren, getreulich begleitet von der »Mayflower«, die in Plymouth zu ihren Passagieren noch die der »Speedwell« übernimmt. Allein, mit überfüllten Decks gelingt es ihr dann, jene Menschen nach Nordamerika zu bringen, die als »Pilgerväter« die Ahnen des nordamerikanischen Volkes wurden. Das war im Herbst 1620.
Im Sommer 1944 wurden im Hafen von Dartmouth 485 amerikanische Schiffe ausgerüstet und bemannt. Sie brachen auf und nahmen an der Invasion teil als Bruchteil jener Kraft, die über den Atlantik zurückkam, um in Europa das zu retten, wofür ihre Urväter mit zwei Schiffen aufgebrochen waren: Freiheit.
Elga weckt mich um Mitternacht zur Wachablösung. Es kostet mich Anstrengung, Müdigkeit und Traumerinnerungen abzuschütteln. Das gelbe Licht der Petroleumlampe fällt schwankend auf Kartentisch und Seekarte, in die unsere Kurslinie eingezeichnet ist. Ich stoße die Niedergangsluke auf. Draußen fällt milchiges Mondlicht durch hohen Dunst. Schwarz-silbern wogt die See.
»Hallo, Faulpelz!« sagt Elga.
»Was läuft er denn?« frage ich lahm.
»Fünfeinhalb.«
»Bist du müde?«
»Ja.«
»Ich komme.« Eilig ziehe ich Hemd, Hose und Pullover an und will an Deck klettern.
»Heh, Seemann, deine kleinen Schuhe!« ruft Elga.
»Ach ja.« Ich ziehe meine Seestiefel an.
Über uns die Segel sind windgefüllt, offen wie suchende Hände. »Kairos« rollt schäumend. Seine Formen sind schön, fest eingefügt in eigene und fremde Bewegung.
»Kurz vor der Morgendämmerung muß das Feuer an der spanischen Küste durchkommen«, sagt Elga.
»Ja. Punti Candel-sowieso.«
»Punta Candelaria«, sagt Elga sehr gedehnt und lacht.
»Marsch, ins Bett!«
Sie klettert durch den Niedergang hinunter. Ihr Schatten beugt sich über den Kartentisch. Sie trägt ins Logbuch ein: Wind, Strom, Barometerstand … karges Spiegelbild unendlicher, nie wiederkehrender Variationen, die unser Leben himmlisch oder höllengleich gestalten können.
Das Licht in der Kajüte erlischt, die See wird laut.
Wir standen ein letztes Mal auf dem Steilufer der englischen Küste. Regenböen zogen über das Land wie über das Meer. Das Land wurde fruchtbar unter ihrem Zuge. Über dem Meere aber löschten sie den Horizont aus und schufen urweltlichen Raum. Fernes Sonnenleuchten ließ einen Regenbogen entstehen.
Der Mensch wird seinen Ordnungssinn in diesem Raum nicht sichtbar machen können. Er kann das Land beackern und bewohnen, wird ernten. Das Meer kann er nur heimatlos befahren und braucht die ganze Kraft seiner Seele dazu.
»Wenn es kommt« – so steht geschrieben – »daß ich Wolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen in den Wolken sehen. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allen lebenden Seelen.«
Genügt also ein Regenbogen, um Mut in der Heimatlosigkeit zu geben? – Wir liefen von Falmouth aus zur Biskayaüberquerung. Doch Schauerböen aus Südwest und West drängten uns dicht an die französische Küste. Abgekämpft blieben wir schließlich in atemloser Flaute liegen. Mit Motorkraft liefen wir den Hafen von Brest an.
Der sinkende Mond wird jetzt vom Dunst verschluckt. Wie aus Watte steigt im Osten schwaches Tageslicht auf, fließt über ein farbloses Meer. Noch immer kein Zeichen des Feuers von Punta Candelaria voraus. Der Wind weht stark und feucht. Er singt im Rigg. Wachablösung.
Ich mache meine Logbuch-Eintragung. Das Barometer fällt.
»Wenn der Wind weiter zunimmt, weck mich zum Reffen.«
»Ja. Schlaf gut.«
»Gute Wache – und wenn dir das Steuern zu schwer wird, weck mich, hörst du!«
»Ich werde dich wecken, du kannst ganz beruhigt sein. Schlaf gut.«
Eigentlich mag ich Elga nicht allein lassen. Zögernd schließe ich die Luke. In der Koje muß ich mich mit Kissen und Decken festkeilen, so rollt das Schiff. An der Bordwand neben meinem Ohr höre ich das Wasser zischen und gurgeln. Ich will wieder hoch und mit Elga sprechen. Doch die Müdigkeit überwältigt mich.
Ich schrecke hoch. 06 Uhr. Wasser poltert über Deck. »Kairos« liegt hart über und arbeitet schwer.
»… müssen reffen!« ruft Elgas Stimme.
Ich ziehe Ölzeug an – vergesse die Gummistiefel diesmal nicht – und steige an Deck. Graue, schaumgeäderte Seen mit weißen Kämmen formen einen unfreundlichen Hintergrund zu Elgas hockender Ölzeuggestalt. Der Wind hat auf Ost gedreht und weht mit Stärke 6. Schritt für Schritt arbeite ich mich zum Mast, fiere das Großsegelfall, so daß das Segel Lose bekommt, die ich mit der Reffkurbel auf den drehbaren Großbaum drehe. Einmal. Zweimal. Meine Arme werden lahm, weil ich mich immer wieder festhalten muß. Beim dritten Mal breche ich mir den Daumennagel ab. Der Schmerz macht mich wach. Einschließlich des Reffens vom Vorabend ist das Segel jetzt fünfmal eingedreht, die Segelfläche entsprechend verkleinert.
»Er liegt noch hart«, sagt Elga, als ich nach achtern komme.
»Wir wechseln das Vorsegel.«
Schritt für Schritt und Hand über Hand arbeite ich mich zur Segelkammer hinunter. Gischt trommelt aufs Kajütsdach. Mit der Baumfock unterm Arm arbeite ich mich wieder an Deck, berge die Genuafock und setze die Baumfock. Das dauert fast 25 Minuten einschließlich des Aufklarens der Leinen und des Verstauens der Genuafock. Von außen salzwassergebadet, von innen schweißdurchnäßt sitze ich atemlos im Cockpit.
»Die Sicht ist miserabel.«
Eine See unterläuft das Schiff. Das Leedeck taucht in Schaum und Nässe, während von Luv hochknallende Gischt über uns hinwegfegt. Am Himmel wehen Nebelwolken, der Horizont ist dunstverhüllt. Da, vor uns in Unsichtigkeit verborgen, liegt die spanische Küste − 20 Seemeilen entfernt nach unserer Koppelrechnung.
Bis zum Beginn meiner Wache habe ich noch eine Stunde Zeit. Ich klettere in die Koje und horche auf das Rauschen, Poltern und Trommeln der groben See. Ich bin müde, hundemüde. Habe ich Angst? Klebriger Schweiß läuft mir über Stirn und Brust. Werde ich seekrank? Schlafen jedenfalls kann ich nicht.
Zum Wachwechsel um 08 Uhr, nach einem hastigen Frühstück, das ich hinunterwürge, übernehme ich die Pinne. Von der Küste ist nichts zu sehen. Sie ist zwischen 400 und 600 Meter hoch, steil steigt sie auf. So habe ich im Handbuch gelesen.
Unentwegt bahnt »Kairos« sich seinen Weg. In die vom Bug aufgeworfenen Gischtwolken zaubert die manchmal aus dem Dunst tauchende Nebelsonne Regenbogenfarben. Die Sicht beträgt höchstens 2 Seemeilen.
09 Uhr. Noch immer keine Küste in Sicht. Einige Möwen umfliegen das Schiff. Ich bin unruhig und nervös. Ob Elga schläft? Ich starre und fühle mich blind. Es ist schwer, Küsten zu verlassen und in ein solches Hundeleben hineinzusegeln – aber es ist ebenso schwer, sich ihnen zu nahen. Teufel, ich sehe nichts!
Vor drei Tagen verließen wir Brest. Der Wetterbericht meldete ein Hoch südwestlich von Irland. Blauträumend blieb die französische Küste achteraus.
10 Uhr. Es muß jetzt die Küste in Sicht kommen. Dunstschwaden verhüllen wieder die Sonne. Der Tag wird sofort um einige Nuancen dunkler.
Ich springe auf – aber es ist nur ein Fischkutter, der Backbord voraus auftaucht und erschreckend schnell vom gelb-grauen Nichts verschluckt wird. Möwen, Fischkutter – das sind Zeichen von Landnähe.
Aus der Bucht von Brest liefen wir bei leichtem Nordwestwind in einen klaren Abend hinein. Leuchtfeuer sandten Grüße hinter uns her, die schwächer und schwächer wurden. Lange blickte ich zurück.
10 Uhr 45. Ich blicke voraus. Wenn die Küste jetzt nicht in Sicht kommt, müssen wir abdrehen. Das Risiko ist zu groß: blind bei fast auflandigem Wind vor einer unbekannten Küste zu segeln. Ich zögere, weil es schwerfällt, ein Ziel aufzugeben.
Voraus steht eine dunkle Wolkenbank mit ausgefransten, hellen Oberrändern. Eine Bö.
»Elga!« rufe ich.
Die Wolkenwand steht steinern unbewegt. Ihre hellen Ränder sind Nebelschwaden über Felsenhängen!
»Elga! Schnell! Land! Land voraus!«
Ich gehe auf Westkurs. Elga zieht sich hastig an. Der Wind unter der Küste nimmt aus Ost rasend zu, warme Böen beginnen zu fallen. Die Sonne kommt durch und wirft Licht auf einen Felsgrat. Und da, da ist der Leuchtturm von Punta Candelaria! Hoch über uns wie ein weißes Schwalbennest hängt er am Felsen.
Wir fallen uns in die Arme und lachen und singen. Der Wind läßt das Meer tanzen. Er heult in Böen, er ist heiß und riecht nach Erde, nach Kiefern und Eukalyptus. Die Biskaya ist überquert. Am Abend kurz vor Sonnenuntergang ankerten wir hier im Hafen von La Coruña. Einige englische und französische Jachten lagen ebenfalls vor der Pier des Real Club Nautico. Stadt und Hafen sind laut und schmutzig – aber was tut’s: der Himmel wurde leuchtend blau.
Während ich dies schreibe, packt Elga dicke Pullover und Wollhosen in die tiefsten Tiefen der Schränke.
Madeira, im September 1964 |
Damals in La Coruña: Die Einreiseformalitäten für Spanien begannen am Morgen nach unserem Einlaufen auf der sonnenüberstrahlten Treppe des Real Club Nautico. Ein Beamter in Zivil und ein Matrose der Hafenpolizei hielten vergebens Ausschau nach einer Übersetzmöglichkeit zu unserem Schiff. Aus ihrem Gestikulieren war unschwer der Wunsch engeren Kontaktes mit uns abzulesen.
Wir machten unser Schlauchboot klar und ruderten zur Pier. Elga lud die Beamten ein, an Bord zu kommen, was sie jedoch mit Seitenblicken auf unser Schlauchboot einerseits und die dicke Ölschicht auf dem Hafenwasser andererseits ablehnten.
Auf einer Bank unter den Arkaden des Clubhauses füllten wir ein postkartengroßes Formular aus, das u. a. die Frage aufführte, über wieviele Kanonen das eingelaufene Schiff verfüge. Das war nach einem Blick in unsere Pässe der dienstliche Teil.
Elga führte anschließend ein langes Gespräch mit dem Sefior in Zivil. Er sprach mit den Händen ebenso lebhaft wie mit den Lippen. Seine schwarzen Augen glänzten. Der Matrose und ich blieben stumm – er wegen dienstlicher Bescheidenheit, ich wegen mangelnder Sprachkenntnisse. Unsere Blicke streiften sich mehrmals und sagten: Hombre, was die alles zu quasseln haben, was? Wir fühlten nach einer halben Stunde bereits innige Freundschaft.
Das Gespräch endete schließlich mit hinreißendem Lächeln des Beamten und unzähligen »muchas gracias« meiner Frau. Wir schüttelten uns alle herzgewinnend die Hände, wobei mir die derbe Faust des kantabrischen Bauernsohnes ohne Boot, aber in Matrosenuniform fast die Hand zerquetschte.
»Um was ging es denn eigentlich?« fragte ich Elga, als wir zu »Kairos« zurückruderten. »Heiratsantrag?«
»O nein«, sagte Elga bescheiden, »ich fragte ihn nur nach der Bankadresse.«
Wir blieben nicht lange in La Coruña. Der Hafen wird von vielen kohlefeuernden Fischdampfern angelaufen: so kann sich jeder leicht den Schmutz, der dort allgegenwärtig herrscht, vorstellen. Weiter nach Westen um das Cap Finisterre, dann nach Süden, segelten wir an der spanischen Küste entlang. Abends liefen wir in Buchten ein und ankerten. Angaben über die Brauchbarkeit der gewählten Ankerplätze entnahmen wir dem Seehandbuch und der Seekarte, wobei wir das herrschende Wetter und seine mögliche Entwicklung berücksichtigten. Wir verließen uns dabei nicht ausschließlich auf die Seewetterberichte, vertrauten auch der eigenen Entschlußkraft, den rechten Augenblick für unser Handeln zu finden. »Kairos« nannten die griechischen Philosophen jenen gewollten und schicksalsbegünstigten Augenblick, dessen Begreifen und Ergreifen für den Ablauf des weiteren Geschehens so entscheidend ist. Und »Kairos« hatten wir unser Schiff genannt.
Nicht immer frisch wehte der Nordwind dieser Jahreszeit an der iberischen Küste entlang. Vor der Ria de Muros liefen wir in eine absolute Flaute. Nachmittags brannte die Sonne mitleidlos aufs Deck, eine träge Dünung rollte unter dem Schiff dahin, das sich wie ein Wal zu wälzen begann. Flimmernd lag backbord die spanische Küste. Sie schien in der Hitze der bewegungslosen Luft zu kochen. Steuerbord voraus stieg die Rauchfahne eines Fischdampfers senkrecht auf. Wo sie in einiger Höhe auf eine kühle Luftschicht stieß, breitete sie sich flächig aus, bildete einen Vorhang, über dem sich der Dampfer als Luftspiegelung überkopf deutlich abzeichnete. Monte Louro, der zwiegegipfelte Berg neben der Einfahrt unseres Zieles – auch sein Spieglbild hob sich empor, reckte und verzerrte sich. Achteraus sahen wir zwei Horizonte, und das Glitzern der Sonne zuckte flirrend bis in den Zenit hinauf. Wir saßen und starrten und fürchteten, daß die Welt bald nur noch aus Unwirklichkeiten bestehen würde.
Wir warfen die Maschine an und hielten auf die Küste zu. Die vorgelagerten Riffe konnten wir schon bald ausmachen. Hinter ihnen war eine Kursänderung ins Fahrwasser der Bucht notwendig. Wir hatten keine Landpeilungen, bis sich die Verzerrungen vor uns wieder in normale Formen zurückschoben. Aus Unheimlichkeit wurde vertraute Schönheit. Auf welch schmalem Pfad leben wir Menschen! Ein wenig zuviel Hitze genügt, um unser Bild von der Erde zu zerstören. Ein wenig zu kalte Luft reicht aus, um unsere Umwelt auf den Kopf zu stellen.
In der geschützten Bucht liefen wir zum Ankerplatz. Der Anker fiel und zog rasselnd die Kette hinter sich her. Als Stille eintrat, klangen Menschengeräusche vom Städtchen Muros herüber, das sich in dünnen Häuserreihen an den abenddunklen Hang preßte.
Die Berge des gegenüberliegenden Ufers färbten sich rot. Wie Behausungen von Zwergen lagen dort Dörfer an den Hängen. Und darüber standen die Gipfel, deren nackter Fels im Schein der Abendsonne zu glühen begann: Heimat fremder Heroen, die in unirdischen Träumen leben und niemals zu uns Menschen niedersteigen.
Männer nahmen von dieser Küste Abschied, deren Entdeckungsfahrten das europäische Bild der Erde prägten. Columbus, Magallan, de Soto, Balboa, Cortez, Pizarro, zahlreiche andere. In unendlicher Hoffnung fuhren sie aus und in maßlosem Elend kehrten sie zurück: erschöpft, auf morsch gewordenen Schiffen, mit zerrissenen Segeln, nur einen Bruchteil der Gefährten um sich, die mit ihnen ausgezogen waren. Ihrem Elend folgte oft Triumph, ebenso oft auch Gefangenschaft und Hinrichtung. Kein Schicksal ist unausdenkbar in diesem endlosen Zug der Geschichte. Und kehrten sie nicht zurück, blieben sie irgendwo verschollen, ertränkt im Schiffbruch vor fremder Küste, erschlagen von Eingeborenen, erhängt von Meuterern, erdolcht von Neidern, dem Fieber erlegen oder vom Hunger dahingerafft: neue Männer zogen von diesen Küsten aus, immer wieder neue.
Ihr Traum ist Gold. Ihr Stolz ist beispiellose Tapferkeit. Ihre Leidenschaft ist die Bekehrung von Heiden. Sie finden Gold und sie bekehren Heiden.
Kein Preis ist ihnen dafür zu hoch und jedes Mittel recht.
So zerrinnt das Gold und die Bekehrung bessert nichts. Sie stürmen weiter, segeln, entdecken, erobern, metzeln, brandschatzen, rauben. Sie gründen ein Reich, in dem die Sonne niemals untergeht. Aber schon die Söhne müssen verteidigen, was die Conquista ihrer Väter zusammenraffte.
Der Traum verlischt. Der Stolz zerbröckelt wie das Reich. Die Leidenschaft versiegt. Wehmut bleibt: Eldorado tapferer Hidalgos, intrigierender Granden, einsamer Könige. Da reitet in Unsterblichkeit der Ritter von der traurigen Gestalt – Don Quijote.
»Abendessen!« rief Elgas Stimme aus der Kajüte.
Ich blickte nochmals zu den Bergen, deren Konturen nun ins Grau der Nacht sanken. Von dieser Küste werden auch wir Abschied nehmen, um über das Meer dorthin zu segeln, wo sich das Schicksal so vieler entschied. Wie wird sich das unsere entscheiden?
»Tomatenreis mit verlorenen Eiern, frischer Salat, mit Zitronensaft bereitet!« sang Elga.
»Ich komme mit gewaltigem Hunger!« rief ich und stieg in den freundlichen Lampenschein unserer Kajüte hinunter.
Gern würde ich alle Einzelheiten über unsere Küstensegelei in spanischen und portugiesischen Gewässern erzählen. Wir erlebten so viel – zu viel, um alles erzählen zu können. Wir mußten segeln, wenn es das Wetter nur irgendwie gestattete. Spätestens Anfang November wollten wir Las Palmas auf Gran Canaria zur Atlantiküberquerung verlassen. Zuvor mußte »Kairos« überholt und ausgerüstet werden. Im November wird der Westteil des südlichen Nordatlantik – das Seegebiet der Antillen also – sicher: die Jahreszeit der tropischen Wirbelstürme ist dann vorbei.
Bei nördlichen Winden segelten wir nach Vigo, um unsere Post zu holen. Wir ankerten in der Bucht von Bayona auf gleichem Platz, wo 1493 die Karavelle »La Pinta« unter Martin Alonso de Pinzon vor Anker ging. Als erstes Schiff aus Columbus’ Geschwader brachte sie die Nachricht von der Entdeckung der Neuen Welt. Wir lauschten im Flußgebiet westlich der Stadt Aveiro dem klagenden Ruf der Vögel und sahen über der flachen Sumpflandschaft die weißen Haufen trocknenden Salzes, während die dunklen Segel der Barken, die das einzige Verkehrsmittel in jener Welt von Wasserläufen sind, geheimnisvoll vorüberglitten.
In Oporto stiegen wir in den Keller und probierten Portwein. Es war eine erschreckend lange Reihe von Gläsern. Die Probe artete fast in Arbeit aus. Jetzt wissen wir wirklich, was Portwein ist.
Wir lagen in portugiesischen Fischerhäfen, und Elga übersetzte mir die Erzählungen der Fischer von den Neufundlandbänken, von Schoonern und Dorys, von Dorsch und Sturm und Nebel.
Am Cabo da Roca vorbei segelten wir in die Tejomündung. Es wehte aus Nord mit Stärke 7, und wir wurden naß bis auf die Knochen.
Und während aller Zeit lag zu Steuerbord der große Atlantik und wartete. Wir kannten nichts von ihm. Sein unerbittlicher Dreiklang von Himmel, Wasser und Horizont war uns fremd und unheimlich.
»Elga«, sagte ich, »wenn Cabo da Roca nächste Woche achteraus verschwindet, sind wir allein – du und ich und das Schiff.«
»Ja«, sagte sie.
In Lissabon warteten wir auf Nordwind. Immer wieder saßen wir in etwas gedrückter Stimmung im Cockpit. In einen heißen, windlosen Himmel hob sich das Monument Heinrich des Seefahrers, der nie eine Seefahrt unternahm. Aber er löste sie aus dem Zustand zwischen Seeräuberei und Eroberungszug. Er machte Seefahrt zu einer geistigen Erfahrung, die Ungewißheit austilgen konnte. Er sammelte die Meldungen seiner Kapitäne, sichtete sie. Er schuf den Grundgedanken des Seehandbuches: Küstenlinien und Untiefen zu beschreiben, Strömungen aufzuzeichnen, damit die Nachfahren Nutzen daraus ziehen konnten. Ein Seefahrer, der nicht die See befuhr – steinern steht er auf seinem dem Bug eines Schiffes ähnlichen Podest, hinter sich die Kapitäne, Geologen, Kartographen und Paladine, über sich die granitene Schwingung des Denkmals wie ein geblähtes Segel. Er blickt über den Tejo, auf dem die Schiffe kommen und gehen, in jene Weiten, denen er so viel von ihren ungewissen Schrecken nahm.
Wir machten Museumsbesuche und Ausflüge. Dann war es plötzlich so weit: Wind wehte, Nordwind! Wir segelten den Tejo hinab. In der Flußmündung kontrollierten wir durch Azimutpeilungen der Sonne unseren Kompaß. Als wir das grüne Flußwasser unterm Kiel verloren und das Blau des Ozeans tief wurde, frischte der Wind auf. Wir refften das Großsegel. Der Seegang lief grob. Wir fühlten uns seekrank. Kurs Südwest nach Madeira lag an. 500 Seemeilen Ungewißheit.
Ich blickte zum Cabo da Roca zurück, das wie ein Klotz in Dunst und Sonnenschein lag. Voraus wurde die Linie des Horizontes vom ziehenden Seegang unterbrochen.
»Bist du zufrieden?« fragte Elga.
»Ja«, antwortete ich. »Jetzt sind wir mittendrin. Jede Minute und Stunde, jeder Tag zählt – hoppla!« Das Schiff rollte, und ich mußte mich festhalten.
Während meiner Nachmittagswache zogen Federwolken auf. Sie bleichten den Schein der Sonne und ließen das Meer graubärtig und heimtückisch in ihrem verschleiernden Licht erscheinen. Aber das Barometer stieg. Lauf, »Kairos«, dachte ich, segle die Ungewißheit weg!
Während dieser Fahrt erlebten wir außer einer Gewitterbö, die mich fast aus dem Mast schleuderte, nur Flauten. Unsere Müdigkeit wurde unerträglich bei der unerbittlichen Reihenfolge der Wachen. Doch nach 8 Tagen und 9 Stunden fiel unser Anker auf der Reede von Funchal.
Die Sache mit der Gewitterbö war so:
In der zweiten Nacht auf See zog aus Südwest eine schwere Wolkenwand auf – gegen den Wind. Wir segelten bei Nordostwind Stärke 4 unter Großsegel und der nach Backbord mit dem Spinnakerbaum ausgestützten Genuafock.
Elga weckte mich. »Zieh Ölzeug an. Vorsegel bergen und Großsegel reffen. Da braut sich was zusammen.«
Verschlafen steige ich an Deck. Der Wind ist klebrig warm. Heftig rollt das Schiff. Voraus wetterleuchtet es. Im schwachen Schein der Kompaßlampe wirkt Elgas Gesicht alt und müde. Ich streiche ihr über das Haar, bevor ich nach vorn turne und das Vorsegel berge.
Bei einer plötzlichen Bewegung des Schiffes verliere ich den Aufholer des Spinnakerbaumes. Die Leine entschwindet nach oben, läuft dort durch ihren Block und fällt nutzlos aufs Deck. Der Baum kann jetzt nicht in seine Ruhestellung senkrecht vor den Mast geholt werden.
Zunehmendes Blitzen im Südwest.
Teufel – ich fühle mich krank. Denn »Kairos« ist nicht voll manövrierfähig mit diesem ungehaltenen Baum. Mit solchen Kleinigkeiten bei sich verschlechterndem Wetter können Katastrophen beginnen: dem ersten Mangel folgt ein zweiter, aus dem sich ein dritter und vierter ergeben. Ihre Summe nimmt laufend von der Seetüchtigkeit des Schiffes – ein wenig – dann noch ein wenig – und mehr – und alles – während sich das Wetter zu tödlicher Raserei steigert …
Im Südwest begleitet jetzt Donner die Blitze.
»Aufholer ausgelaufen, muß in’n Mast!« rufe ich. Elga antwortet etwas, das ich nicht mehr verstehe. Ich bin schon oben, finde Halt mit den Füßen am Mast und mit der linken Hand an der Saling – mit der rechten versuche ich, den mit nach oben genommenen Tampen durch den Block zu ziehen. Der Mast fegt hin und her. In den Augenblicken seiner abrupten Richtungsänderung vermag ich nur mit ganzer Kraftanstrengung mich zu halten. Dabei verliere ich den Aufholer aus den erlahmenden Fingern. Ich klettere zurück.
Blitze, Donner, zischendes Rauschen aus Südwest.
Auch der zweite Versuch mißlingt. Ich weine vor Erschöpfung und berge das Großsegel, dessen Hin- und Herschlagen in der einsetzenden Flaute mein Klettern erschwert. Dann versuche ich es ein drittes Mal. Arme und Füße sind wie Blei, die Finger ohne Gefühl. Mein Körper scheint Tonnen zu wiegen. Aber es gelingt, den Tampen durch den Block zu ziehen. Das durchgezogene Ende nehme ich zwischen die Zähne und rutsche kraftlos abwärts. Zwei Meter über Deck verliere ich den Halt und falle. Ich verbeiße mich in den Aufholer – was auch jetzt passiert, den darf ich nicht verlieren.
Es gibt einen Ruck, Zähne splittern. Ich liege ohne Atem rücklings auf dem Deck und schmecke Blut. In meine Benommenheit kommt das Bewußtsein: du hast den Tampen! Es überstrahlt den Schmerz. Elga hat aufgeschrien. Spuckend sichere ich den Spinnakerbaum und belege den Aufholer. Das Schiff ist klar für jedes schlechte Wetter.
Dann kam die Bö mit blauen, krachenden Blitzen und Regen. Ohne Besegelung ließen wir sie über uns hinwegheulen. Elga gab dem treibenden Schiff Ruderhilfe. Ich saß im Cockpit und fühlte mich wie ein Bündel rohes Fleisch.
Dem Gewitter folgte kein schlechtes Wetter. Die Nacht wurde wie Watte. Kein Windzug war zu spüren. Ich hätte den Aufholer nun in aller Ruhe durch seinen Block da oben scheeren können. Bei der Kürze der Bö wäre dem ersten Mangel wohl kein zweiter gefolgt, kein dritter und vierter. Oder –? Der See ist niemals zu trauen. Wer »später« zu ihr sagt, wird es später bereuen – oder überhaupt nicht mehr.
Daran dachte ich, als wir auf einer Bank im Botanischen Garten von Funchal saßen. Das Laub tropischer Bäume, deren unbekannte Namen wir von Tafeln abzubuchstabieren versucht hatten, schenkte uns Schatten. Der durch Laubgrün und Blumenpracht führende Kiesweg verlor sich hinter Gartenkulissen, wo uniformierte Gärtner mit Spaten, Hacke und Wasserschlauch hantierten. Auf einer von Schatten und Sonnenlicht gesprenkelten Terrasse rieselte ein Brunnen.
»Ich habe bisher nicht gewußt«, sagte Elga, »daß ein Garten so schön sein kann. Muß man 2500 Seemeilen segeln, um das so stark zu erfahren?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich nachdenklich. »Jedenfalls haben wir es getan.«
Das Haus des deutschen Konsuls erreichten wir mit dem Bus. Es lag 300 Meter hoch über Funchal mit einem großartigen Blick über Stadt und Meer. Der Atlantik sah von dieser Höhe friedlich und zauberhaft aus.
Mit raschen, sicheren Schritten führte uns der 82 jährige Herr G. durch seinen Besitz, auf dem er nach dem Tode seiner Frau mit der Tochter lebt. Er erzählte lebhaft. Unzählige Gäste wurden hier im Laufe der Jahrzehnte empfangen. Die Bilder an den Wänden, die Gästebücher vermittelten uns ein Stück deutscher Geschichte. Von den Gästebüchern konnte ich mich am Abend kaum loslösen.
Namen von Männern und Namen von Schiffen – Seeoffiziere und Kriegsschiffe meist. Immer wieder blätterte ich die Seiten um. Und aus den Zeilen niedergeschriebener, froher Dankesworte formten sich mir nur allzuoft die Bilder ferner Todesstunden. Die Schreibenden hatten nichts von ihnen geahnt: Falkland Inseln, Cocos Insel, Skagerrak, La-Plata-Mündung, Nordantlantik. Die Namen der Seeschlachten standen nicht in den Gästebüchern – natürlich nicht, sie waren damals noch ungeschehen. Ungeschehen! Wie grauenhaft pathetisch und wie furchtbar falsch ist nach dem Geschehen darüber geredet und geschrieben worden.
Herr St., ein Hamburger Kaufmann, der sich hier zur Ruhe gesetzt hat, lud uns zu einer Inselrundfahrt ein. Sie gab uns einen guten Einblick in das Leben auf der Insel. Der Touristenrummel hat den Madeirenser nur oberflächlich beeinflussen können. Sobald die Dampfer ausgelaufen sind, verschwinden die zur Schau gestellten und deshalb unnatürlich wirkenden »Spezialitäten« und »Besonderheiten«. Sie werden dorthin gebracht, wohin sie gehören, wo sie sich sinnvoll und deshalb charakteristisch entwickelt haben.
Die Volkstrachten sieht man in den Bergen, bei den Frauen bunt bestickte Röcke mit weißen Blusen und farbigen Kopftüchern – bei den Männern weiße Kniehosen und farbig bestickte Hemden. Die Männer tragen wollene Mützen mit hochklappbaren Ohrenschützern, denn die Winde auf den Bergen sind auch im Sommer kalt. Man trägt grobes, sehr festes Schuhzeug, da die facendas – die Bauernhütten – sehr oft weitab von den Straßen liegen und nur in langen Fußmärschen erreicht werden können.
Genau wie sich in dem ausgeklügelten Bewässerungssystem der Insel portugiesische Sorgfalt und Umsichtigkeit zeigen, so auch in den Treppenstraßen. Sie sind mit schwarzen Lavasteinen, groß wie das erste Glied eines Männerdaumens, gepflastert – teilweise in künstlerischen Mustern. Wo die Straße einen Hang hinabführt, wird ihre bis dorthin glatte Oberfläche wellenförmig in Querrichtung. So hat der Fuß des Menschen Halt, der Huf des Tieres findet waagerechte Oberfläche, und die Kufe des Ochsenschlittens wird gebremst. Die kleinen Lavasteine werden am Meeresufer, wo sie von der unaufhörlichen Brandung rund gewaschen wurden, lastwagenweise eingesammelt.
Die Ochsenschlitten, deren hölzerne Kufen in alten Tagen über die Treppenstraßen glitten, beförderten die Erzeugnisse der Bauern nach Funchal. Heutzutage sind diese Gespanne nur noch bei Ankunft der Dampfer zu sehen, um Touristen herumzufahren. Der merkantile Transport geschieht per Lastauto: ihm haben die alten Treppenstraßen zu weichen und machen Asphaltbahnen Platz.
Überall neben den Straßen sahen wir Wasserrinnen, die teilweise aus Naturstein gefügt, teilweise aus Zement geformt waren. Das in den Rinnen talwärts sprudelnde Wasser schafft das »Paradies Madeira«.
Der portugiesische Entdecker Gonçalves Zarco fand 1419 die Insel bewaldet, weshalb er sie Madeira, Holz, nannte. Durch rücksichtsloses Holzschlagen brachte man die Insel fast zum Austrocknen. Im letzten Augenblick besann man sich und schuf ein Bewässerungssystem, das die Fruchtbarkeit der Insel rettete. Das auf den Höhen der Nordberge fallende Regenwasser leitet man in die Rinnen, deren System sich über die ganze Insel ausbreitet und das Wasser den Gärten und Feldern zuführt. Der Transport des Wassers geschieht durch Gefälle, gepumpt wird nirgends. Jeder Landbesitz ist diesem Kunstwerk angeschlossen und erhält seiner Größe entsprechend wöchentlich Wasser. Das fließende Wasser wird vermittels wohldurchdachter, ständig kontrollierter Schaltungsmöglichkeiten gelenkt. Ingenieure steuern Wasserströme, und Gärtner ernten zu jeder Jahreszeit.
Wir werden schweren Herzens von diesem gesegneten Eiland und seinen fleißigen Menschen Abschied nehmen.
Las Palmas de Gran Canaria, im Oktober 1964 |
Ich sitze im Cockpit und schreibe, Elga ist an Land gerudert, um Einkäufe zu machen. Weiß strahlen die modernen Hochhäuser dieser Stadt am Ufer. Die Sonne glüht und der Himmel ist blau. Daran hat sich seit Madeira nichts geändert – sonst viel.
Die Gruppe der Kanarischen Inseln besteht aus sieben Inseln. Geographisch gehören sie zu Afrika, politisch zu Spanien. Wie Madeira sind sie vulkanischen Ursprungs. Ihre Kegelberge zeugen davon viel deutlicher als die aufgetürmten Lavahänge Madeiras, die in Regenschauern achteraus verschwanden, nachdem Elga »Kairos« unter Maschine aus dem Hafen von Funchal gesteuert hatte.
Das geschah vor einer Woche – und scheint doch eine Unendlichkeit zurückzuliegen. Das Erlebnis der See verschiebt die Grenzen der Zeit.
Der Abschied fiel uns schwer. Die Familie G. hatte uns mit liebevoller Gastfreundschaft bedacht. Lotsen und Bootsleute, Bauern und Geschäftsleute scheuten nie vor jenen Hilfeleistungen zurück, die unseren Aufenthalt so schön machten: wir fühlten uns zu keiner Stunde als Fremde. Der Zahnarzt, der die Trümmer meines ramponierten Obergebisses gegen strahlenden Kunststoff auswechselte, nahm mir in seinem komischen Englisch, über das wir beide stets lachen mußten, das Versprechen ab, nie »seine« neuen Zähne für Segelmanöver zu benutzen. Seine Rechnung – ich hoffe, sie hat wenigstens die Unkosten gedeckt. Als wir aus der Windabdeckung Madeiras liefen, setzten wir die Segel und stellten die Maschine ab. Dünung zog, Wind wehte, Wolken segelten. Der Kurs war Südsüdost, der Wind Nordost Stärke 5. Unendlich langsam sank das Licht des Tages. Rot im Westen stand schließlich ein letzter Abendschimmer über schwarzem Horizont. Die Nacht kam auf. Sterne zogen.
Am Morgen des nächsten Tages nach dem Frühstück – Kaffee, Toast, Butter, Marmelade – prüfte ich das Chronometer anhand des Zeitzeichens der Radiostation WWV, Washington. Den Chronometerstand trug ich ins Logbuch ein. Nachdem ich Elga eine unserer Stoppuhren hinausgereicht hatte, stieg ich an Deck. Mit der linken Hand hielt ich mich fest, mit der rechten balancierte ich den Sextanten, um ihn vor Schaden zu bewahren.
Elga sah dieser akrobatischen Vorführung von der Ruderpinne her sorgenvoll zu.
»Es ist ein Jammer«, sagte ich, »daß wir keinen Flugzeugträger fahren.«
Elgas Gesicht heiterte sich auf.
Die torkelnde Winzigkeit unseres Schiffes verwandelte sich in meinem Geiste zu einem sanft auf- und abschwingenden Deck. »Und dann dieser Platz! Und die Höhe! Stell dir das vor! Die können ja der Sonne auf die Schulter klopfen und nach ihrem Höhenwinkel fragen!«
»Nein«, sagte Elga. »Das wäre ja Flugnavigation. Bleib der Seefahrt treu, Junge!«
Meine Begeisterung brach ab. Ich suchte nach einem Platz, der möglichst hoch, möglichst trocken, möglichst ruhig einen von den Segeln ungehinderten Blick zur Sonne zuließ. Ich fand keinen. Schließlich setzte ich mich auf das Heck. Dort saß ich tief, fast trocken und überhaupt nicht ruhig.
Ich fixierte die Sonne durch den Sextanten und brachte ihr Spiegelbild auf die Kimm, die immer wieder vom Seegang verdeckt wurde. Nichts stand fest außer der Sonne im Himmel. Ihr Spiegelbild tanzte, das Schiff schlingerte, die Kimm war nur für Sekunden sichtbar. Ich folgte allen Bewegungen, Bruchteile von Sekunden zu spät.
»Achtung!« sagte ich. Das Schiff hob sich, die Kimm wurde sichtbar. Ich korrigierte die Sextanteinstellung – zu spät. Ein Brecher zog vorbei.
Endlich klappte es. »Null!« rief ich. Elga betätigte die Stoppuhr. Ich arbeitete mich in die Kajüte zum Kartentisch zurück, wo ich zunächst den Sextanten vorsichtig in seinen Kasten stellte. Dann las ich das Chronometer ab. »Achtung – stopp!«
»1 Minute und 3 Sekunden«, meldete Elga.
Unter Berücksichtigung dieser zwischen Sonnenmessung und Chronometerablesung abgelaufenen Zeit machte ich die Eintragung meiner Beobachtung ins Logbuch. Für einen Augenblick träumte ich wieder von dem hohen, sanft schwingenden Deck meines Flugzeugträgers, wo mehrere Navigatoren nun ihre abgelesenen Werte vergleichen konnten – meine Messung stand ungeprüft im Logbuch. Ich stieg an Deck und übernahm die Pinne.
Elga wertete die Beobachtung aus, eine logarithmische Rechenarbeit von etwa 20 Minuten Dauer.
Durch die geöffnete Niedergangsluke konnte ich sie dabei heimlich beobachten, während ich laut, falsch und scheinheilig »La Paloma« pfiff. Sie saß gut verkeilt am Tisch, umgeben von den ebenfalls verkeilten Tafeln und Büchern. Nur unser großes, grünes Radiergummi konnte frei liegen und rutschte nicht. Ihr Gesicht war ernst und konzentriert, während sie kleine Zahlen eilig und sauber in das Beobachtungsbuch schrieb.
»So«, sagte sie schließlich, packte die Bücher ins Fach und kam zum Niedergang, an dessen Stufen sie sich festhielt. »Ich bin müde. Gute Wache!«
»Schlaf gut!«
»Brauchst du noch etwas?«
»Danke, nein.«
Mittags weckte ich Elga, die das Ruder übernahm. Ich holte den Sextanten, suchte einen Platz, der sich jetzt auf dem Bug niedrig, feucht und sehr bewegt anbot. Von dort beobachtete ich die Kulmination der Sonne, ihren höchsten Stand im Mittag.
Diese Mittagshöhe wertete Elga zusammen mit dem Ergebnis des Vormittags zum Mittagsbesteck aus. Sie kam anschließend mit der Seekarte an Deck.
»Hier sind wir«, sagte sie und zeigte auf das Bleistiftkreuz. »Wir haben eine Versetzung von 12 Seemeilen nach Südsüdwest. Etmal 121 Seemeilen.«
Ich sah mir die Karte an. »Setz den Kurs gut westlich von den Selvagem Inseln ab. Zu Mitternacht sind wir frei von ihnen. Dann gehen wir auf den direkten Kurs zur Nordspitze von Gran Canaria.«
Elga kletterte zum Kartentisch und sagte nach einigen Minuten: »186° am Kompaß – ab Mitternacht dann 166°. Verstanden?«
Ich wiederholte die Kurszahlen und rief dann: »Hunger!«
»Es gibt heute Haferflocken mit Pfirsichkompott«, verkündete Elga gelassen, wobei sie sich festhalten mußte, weil »Kairos« überholte.
Ich schildere das alles so genau, damit man sich unseren Alltag auf See vorstellen kann. Es ist ein Alltag in ständiger Bewegung, ein Alltag, eingegrenzt von der Reling unseres Schiffes, erfüllt von unserer Bordroutine, die Wache um Wache und Arbeit um Arbeit vorschreibt. Unaufhörlich zieht »Kairos« seinen Weg: schäumend teilt sein Bug die See, gurgelnd fließt das überkommende Wasser durch seine Speigatten ab, willig wölben sich seine Segel in den Wind – vorwärts, vorwärts: ziehender Punkt im Ozean.
Am nächsten Tag lösten sich die Konturen der Insel Gran Canaria aus Dunst und Wolken.
Es würde nichts ausmachen, wenn das Ziel noch nicht so nah vor dem Steven liegen würde. Denn so lange Wind weht und Wasser unter seinem Kiel wogt, wird ein Schiff segeln – vorwärts, weiter und weiter. Schiffe brauchen kein Ziel, wie wir Menschen, die sie bedienen. Schiffe sind um des Segelns willen da. Sie tun es ohne Ermüdung, wenn man sie richtig behandelt. Es liegt etwas unsagbar Überzeugendes in ihrer Stärke. Gewiß sind sie wie Auto, Eisenbahn oder Flugzeug Konstruktionen, die der Fortbewegung dienen. Aber ebenso gewiß sind sie mehr als diese. Ihr segelndes Bestehen ist nur gesichert, wenn es in völliger Harmonie mit den Menschen, die sie führen, und mit der Natur geschieht, die sie umgibt. Diese Wechselwirkung scheint Segelschiffen eine Seele einzugeben, scheint sie zu Lebewesen werden zu lassen, die man liebt. In jeder Liebe sucht und findet der Mensch sein Spiegelbild ebenso wie seine Selbstlosigkeit. Und kein Ding auf dieser Erde schenkt dem Menschen sein Spiegelbild so klar und fordert so unbedingt Selbstlosigkeit wie ein Segelschiff.
Eigentlich spreche ich gar nicht von »Schiffen«, sondern von »Kairos«. Wir leben seit unserer Ausreise nun 140 Tage und Nächte auf diesem Schiff, Tage und Nächte, deren größter Teil seiner Wartung und Bedienung galt. Er hat uns sicher und zuverlässig getragen. Nie hatten wir auf ihm, dem winzigen Punkt im Ozean, das Gefühl von Enge und Verlorenheit.
Verlangen diese Tatsachen nicht, daß man sich mit dem »Ding« auseinandersetzt? Plötzlich hat es Seele und ergänzt mit ihr das wundersame Hundeleben, das man führt.
Elga kommt nun mit dem Schlauchboot vom Bootssteg des Real Club Nautico angerudert. Ich helfe ihr, die Einkäufe an Bord zu bringen, nachdem sie das Boot längsseits gebracht hat.
Wir essen kalt zu Mittag. Kochen würde die Temperatur in der Kajüte unerträglich machen. Die warme Mahlzeit bleibt dem Abend vorbehalten.
Anschließend erzählt Elga von ihrem Gang in die Stadt.
»Lebensmittel sind billig. Wir werden alles kaufen können, was für die Atlantiküberquerung notwendig ist. Nur die Werften – sie sind irrsinnig teuer, und sie lassen nicht mit sich handeln.«
Wir sitzen einen Augenblick schweigsam und denken an die zahllosen Arbeiten, die am Schiff getan werden müssen, um es für die 2700 Seemeilen über den Atlantik klar zu machen. Es muß geslipt werden, damit wir den Bewuchs am Unterwasserschiff entfernen können. Je wärmer das Wasser, desto schneller und üppiger wachsen Gras und Muscheln am Kiel.
»Was wollen wir machen?« fragt Elga. »Uns trockenfallen lassen während der Ebbe?« Sie zeigt zum Strand neben dem Clubgebäude.
»Nein«, sage ich, »zu viele Steine. Außerdem kommen wir danr. nicht an die Unterseiten von Kiel und Ruder. Das Ruder muß geprüft werden, gründlich. Da war ein Geräusch, das ich weder erklären noch orten konnte, als wir hierhersegelten. Außerdem, wenn hier eine Dünung aus Süd einsetzt, haben wir auf dem Strand Ärger.«
Elga sieht mich an. »Die wollen 3000 Pesetas haben, das ist eine Menge Geld.«
»Gewiß. Aber ›Kairos‹ ist unsere einzige Lebensmöglichkeit auf See. Er muß absolut zuverlässig sein.«
Elga nickt ein wenig verzweifelt. »Ob wir den Preis noch ’runterhandeln können? Ich glaub’ es nicht!«
In der Frage nach einer Slipmöglichkeit kamen uns die Bootsleute des Clubs zu Hilfe. Elga unterhielt sich oft mit ihnen, und sie waren bereit, so glaube ich, sich für die Señora aus dem Norden vierteilen zu lassen. Die armen Kerle wurden nicht sehr freundlich von den speedboatfahrenden Söhnen reicher Clubmitglieder behandelt. Sie verdienten etwa DM 5,- am Tag. Damit kann selbst auf den Kanarischen Inseln niemand ein sorgenfreies Leben führen.
Elga brachte eines Tages den Vorschlag der Bootsleute. »Sie haben einen Slipwagen, der ihnen geeignet erscheint. Sie haben den Besitzer dieses Wagens um Erlaubnis gefragt und sie erhalten, da er sich einen neuen bauen läßt. Der Wagen wurde bisher für ein Motorboot von 3 Tonnen benutzt. Sie wollen 500 Pesetas für die Arbeit haben.«
Wir sahen uns am nächsten Tage den Wagen, den Slip und alle Einzelheiten an. Der Wagen schien ein wenig schwach – »Kairos« wiegt 5 Tonnen. Alle anderen Dinge waren in Ordnung.
Immer wieder vermaß ich den Wagen. Die vier Bootsleute erklärten mit leuchtenden Augen – ich weiß nicht was, sicherlich, daß die »Queen Mary« hier aufgedockt werden könnte.
»Männer«, sagte ich schließlich und sie verstummten, »Männer der See – eh, mariñeros! Trägt dieser Wagen 5 Tonnen?«
Sie starrten mich fassungslos an.
Ich versuchte es auf spanisch: »Cinco, eh – also, cinco toneladas? Dieser Wagen, eh, also – este para cinco toneladas?«
»Si, si, si, señor!« sagten sie beschwörend und erklärten alles ganz genau. Ich verstand nicht einmal die Hälfte. Elga stand stumm, wohl in Bewunderung meiner so plötzlich zutage tretenden Sprachkenntnisse.
Ich zweifelte nicht an den Fähigkeiten der Bootsleute. Die Frage lag in der Beurteilung des Wagens, und in dieser Hinsicht mißtraute ich den Spaniern. Wir gingen alle noch ein paar Mal um den Wagen herum. Aber dadurch wurde er auch nicht größer und stabiler.
»Oha, oha!« sagte ich zu Elga. »Was sagst du?«
Sie schwieg.
»Morgen bei Hochwasser.«
»Mañana con la marea alta«, wiederholte Elga meine Entscheidung.
Die Bootsleute jubelten.
Mir war zumute, als hätte ich einen Exekutionsbefehl gegeben.
Ächzend, schwankend, auf quietschenden Rädern brachte der Wagen »Kairos« aus dem Wasser. Mit den Drahtseilen der handbetriebenen Winsch zogen wir ihn bis zur Hochwasserlinie. Dann fand keiner mehr den Mut, diese Maus unter einem Elefanten weiterzubewegen. Das Schiff wurde mit bereitgelegten Pallhölzern von den Bootsleuten abgestützt, während ich sofort begann, das stark bewachsene Unterwasserschiff zu reinigen. Damit fing es an.
Und Tag für Tag ging es mit den Arbeiten weiter. Farbekratzen, Spülen mit Süßwasser eimerweise, da der Schlauch nicht lang genug war, Schleifen mit Sandpapier, Spachteln, Vorstreichen mit Grundfarbe, Streichen mit Unterwasserfarbe. Wiederholung dieser Arbeiten in ähnlicher Weise an den Bordwänden, Streichen mit Lackfarbe.
Der Schweiß rann in Strömen bei 28° im Schatten. Blasen platzten auf. Bei Hochwasser arbeitete ich bis zu den Knien im Wasser, bei Niedrigwasser lag ich auf dem Rücken und malte am Kiel. Abends nach schweigsamer Mahlzeit an einem schiefen Tisch – die Schiffslänge lag parallel zur schiefen Ebene des Slips – fiel ich in eine schiefe Koje, aus der ich mich morgens mit immer noch schmerzendem Rücken erhob.
Elga erging es nicht besser. Sie machte kleine Malarbeiten. Hauptsächlich jedoch fertigte sie endlose Meter von Schamfielings an: auf Band gezogene Kardeelenden, die um Wanten und stehendes Gut gewickelt werden, wo Segel scheuern und sich dadurch beschädigen können. Die Arbeit mit dem widerspenstigen Tauwerk verursachte auch bei ihr schmerzendes Aufplatzen von Blasen. Ihrem Rücken erging es nicht besser als meinem.
Bald fühlten wir uns erschöpft und deprimiert. Wozu das alles? Für 2700 Seemeilen leeres Meer, für Einsamkeit und Kräfteverschleiß, für Müdigkeit und Ungewißheit.
Bei Hochwasser donnerte für Tage die Brandung eines fernen Sturmes auf den Slip und ließ das Schiff zittern. Sie störte Arbeit und Schlaf in gleicher Weise. Wozu auch das noch? Um nach Wochen großer Mühsal mit brennenden Augen eine Insel jenseits des Atlantik auftauchen zu sehen.
Motoröl wechseln, Bilge reinigen, Luken lackieren, Achterpiek malen, Wantspanner fetten. Frag nicht, halt durch.
Es ist vorüber! »Kairos« strahlt wie ein Neubau im Glanz seiner frischen Farben. Ein Schaden an der Ruderhalterung wurde entdeckt. Seine Beseitigung gab uns unsere alte Freude und Zuversicht wieder: säßen wir nicht, schief und müde, auf diesem Wagen an der Wassergrenze des Ozeans, wir hätten ihn nicht entdecken und beseitigen können. Und morgen geht’s zurück ins Wasser!
Beim Abslippen neigten sich die Querstreben des Wagens so stark, daß sie die Räder blockierten. Wie festgeschweißt stand der Wagen. Es begann zu ebben. Fieberhaft takelten wir mit den Bootsleuten eine vierfache Talje, mit deren Kraftübertragung es gelang, den bockenden Wagen slipabwärts zu zwingen. Eisen schrie auf Zement. Der Wagen wankte und ebenso »Kairos«. Im rostbraunen Eisen der hinteren Querstrebe sprang ein hellgrauer Riß auf. So endet eine Reise, dachte ich – so schnell? Frag nicht, halt durch.
Nach zwei Stunden schwerster Arbeit konnten wir unter Maschine zu unserem Ankerplatz laufen. Die Bootsleute winkten glücklich, als sie das, was einmal ein Slipwagen gewesen war, aus dem Wasser holten. Und wir winkten ebenso glücklich zurück, während wir unser Schiff von den Gefahren des Landes fortsteuerten.
Auf der Reede vor dem Jachtclub waren inzwischen einige neue Jachten angekommen, andere ausgelaufen. Den Gesprächen mit anderen Jachtsleuten zufolge hatten etwa 15 Jachten die Absicht, in diesem Jahr über den Atlantik zu den Westindischen Inseln zu segeln. Da waren Amerikaner, Franzosen, Holländer, Schweden, Engländer, Australier. Es herrschte ein reger Bootsverkehr zwischen den Jachten. Manche Bekanntschaft wurde gemacht, die sich zu Freundschaft vertiefte.
»Gestern ist die ›Takebora‹ ausgelaufen«, sagte Bryan, als er in seinem Dinghi vorüberruderte. Mit seiner Sloop »Askadil« wollte er ebenfalls zu den Antillen, begleitet von seiner Frau und seinem zweijährigen Töchterchen. Und er fügte hinzu: »Mal sehen, wie’s der Maurenbrecher« – er hatte große Schwierigkeiten mit diesem holländischen Namen – »einhand schafft. Übrigens: kommt ’rüber heute abend zum Drink! Bob und Sheila von der ›Bella Donna‹ sind auch da. Wir laufen morgen zusammen aus!«
Es wurde ein lustiger Abend – o ja! Am nächsten Morgen standen Elga und ich auf dem Deck und winkten der »Askadil« und der »Bella Donna« nach, deren Segelsilhouetten schon in der Hafenausfahrt so erschreckend klein wurden. Wir fühlten uns verlassen. Und bald würden auch unsere Segel winzig überm Horizont dort zu sehen sein …
»Wir treffen sie wieder«, sagte ich zu Elga. »Drüben, auf Barbados, auf Antigua, irgendwo ganz bestimmt. Und jetzt heiß mich, bitte, in die Takelage.«
Während zweier Tage saß ich im Bootsmannsstuhl, prüfte das Rigg und brachte die von Elga hergestellten Schamfielings an. Dann kauften wir nach den von Elga aufgestellten Listen Proviant ein. Karton nach Karton mit insgesamt 100 Konservendosen und über 50 kg loser Verpflegung wurden an Bord gerudert, sortiert und zu den alten, gelichteten Beständen gestaut. Das kostete Elgas Geduld und meinen Schweiß: was ich wegpackte – es ging nur Dose für Dose in unserem kleinen Schiff – das wurde von ihr auf Staulisten verzeichnet, um es später auf See wiederfinden zu können. Abends arbeiteten wir die Handbücher des Atlantik, der Westindischen Inseln sowie die Pilotcharts durch. Es entstand der Plan, der die Gegebenheiten von Wind und Strom berücksichtigte und unsere entsprechenden Kurse über den Atlantik festlegte. Erfahrungen von anderen Jachtsleuten, bei vielen Gesprächen gehört, wurden ebenfalls berücksichtigt. Oft sprachen wir während der Arbeit von jenen fernen Inseln. Wir sagten ihre Namen, die uns noch gar nichts bedeuteten, deren Klang jedoch so schön, so verlockend, so geheimnisvoll war.
Die Bestände von Trinkwasser, Benzin, Petroleum wurden ergänzt.
»Wir haben jetzt alles an Bord«, sagte Elga. »Wann wollen wir auslaufen?«
Das war sie, die Frage, auf die wir gewartet hatten. Seit wir die Reise planten und vorbereiteten, seit 8 Jahren also, wußten wir um sie. Und um die Antwort wußten wir ebenso.
»Morgen«, antwortete ich.
Wir gingen frühzeitig zu Bett. Ich lag wach und blickte aus der halb aufgestellten Vorderluke zu den Sternen. Meine Gedanken segelten suchend über den Atlantik. Machen wir eine gute Überfahrt – finden wir den Passat bald – steuert »Kairos« sich selbst ohne unsere Ruderwachen – ist alles stark genug: Wanten, Spannschrauben, Bolzen, Winschen, Blöcke, Spleiße, Schoten, Segel, Muskeln, Herzen, Seelen – treten Schäden ein – beheben wir sie – kommen wir an. Fragen waren es ohne Fragezeichen, weil sie mehr beteten als fragten.
Ich drehe mich zur Seite und schließe die Augen. Wir haben alles getan, was wir tun konnten. Morgen gibt es nur noch eines: segeln.
Barbados, im Dezember 1964 |
Steuerbord achteraus hob der Pico de Teide, höchster Berg der Kanarischen Inseln, in 40 Seemeilen Entfernung den schneebedeckten Gipfel aus Wolken und Dunst: ein letzter Gruß der Welt diesseits des Atlantik. Wie würde das Land aussehen, das jenseits seiner Wasserwüste in Sicht kommen würde?
Uns blieb wenig Zeit, um solche Fragen zu beantworten. »Kairos« verlangte unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Auf Südwest-Kurs mit Wind und Seegang von Steuerbord querein rollte er heftig, das Steuern war anstrengend. Gischt wehte über Deck.
Trotz Seekrankheits-Tabletten fühlten wir uns miserabel. Ich fluchte kläglich beim Messen der Sonnenhöhe, weil der Sextant naß wurde und ich das Instrument in der Kajüte gründlich trocknen mußte. Nach ihrer Rechenarbeit zeigte auch Elga ein grünblasses Gesicht. Wegen des Seegangs mußten wir alle Luken geschlossen halten. Die Luft in der Kajüte wurde stickig-feucht.
»Ich mag nichts essen«, sagte Elga. »Du? Ich kann auch nichts vorbereiten hier unten.«
»Etwas essen müssen wir –«
Sie schloß die Luke, weil Gischt übers Schiff geworfen wurde. Nach einem Augenblick reichte sie mir lächelnd eine halbe Tafel Nußschokolade heraus. Das Lächeln konnte die Anspannung ihres Gesichtes kaum mildern.
»Iß du auch etwas!« schrie ich. Sie hatte die Luke schon wieder geschlossen. »Und schlaf, so gut du kannst!« Wir brauchten Stärkung in diesem chaotischen Beginn.
Ich aß von der Schokolade, ohne wahrzunehmen, wie sie schmeckte. In mir wuchsen Übelkeit und Angst vor der vorausliegenden Ungewißheit. Umkehren, dachte ich, laß uns umkehren. Zwar wußte ich, daß wir das niemals tun würden, aber dieses Wissen half nichts. Kurs Südwest, Atlantik, 2700 Seemeilen, es ist zum Kotzen, dachte ich, und tat es. Dann aß ich den Rest der Schokolade.
Abends ließ der Wind nach. Die See beruhigte sich. Wir refften aus. Übelkeit und Angstzustände besserten sich. Elga kochte mit Anstrengung das Abendbrot – Corned Beef mit geschmorter Gurke und Makkaroni. Es schmeckte. Unsere Widerstandskraft festigte sich.
Während der folgenden Tage und Nächte beobachteten wir gespannt den Wind, der weiterhin abflaute, auf Nord drehte, einige Schauer brachte – Passat? – und doch wieder auf Nordwest zurücksprang und aufbriste. Es war noch nicht der Passat.
Wache folgte auf Wache. Unsere Müdigkeit nahm schnell zu. Doch gleichzeitig wuchs unser Selbstvertrauen. Unser Anpassungsvermögen machte das Leben auf dem nie bewegungslosen Schiff jeden Tag etwas erträglicher. Wir wurden froh des Windes und des Schiffes, das sprühend durch die blauen Seen zog als Zeichen unseres Willens im Dreiklang von Wasser, Horizont und Himmel. Achteraus versank, so wie vor Tagen die Kanarischen Inseln, was belastend und hemmend auf unseren Seelen gelegen hatte. Wir waren auf See, eingespannt in unser geordnetes Bordleben, eingelassen in eine Freiheit, die der Atlantik mit grenzenlosem Raum vor uns ausbreitete.
Am Morgen des vierten Tages setzten heftige Schauer ein, nach deren Durchzug der Wind auf Nordost drehte und stetig blieb. Es war der Passat!
Ich setzte nun zum ersten Male unsere Passatsegel – zwei Vorsegel, die mit je einem Spinnakerbaum nach den Seiten ausgestützt werden. Von den Nocken der Bäume laufen Leinen über Blöcke und Taljen zur Ruderpinne. Unter dieser Besegelung kann sich das Schiff vor dem Winde selbst steuern. Gleich stark fällt der Wind von achtern in beide Segel und drückt sie nach vorn. Dieser Druck, der dem Schiff Fahrt gibt, überträgt sich gleichzeitig als Zug auf die Leinen und damit auf die Ruderpinne, die das Ruder mittschiffs hält. Läuft das Schiff aus dem Ruder, d. h. ändert es aus irgendeinem Grunde den Kurs, so wird der Winddruck im Segel jener Seite stärker, zu der das Schiff dreht. Die Folge ist, daß die Pinne dem verstärkten Zug von Leine und Talje folgt, den Kurs also berichtigt, bis der Druck auf beiden Seiten in den Segeln wieder gleich stark ist. Das Ganze ist ein Balancesystem, dessen ausgleichende Kraft der Wind erzeugt. Die Manövrierfähigkeit des Schiffes ist unter den Passatsegeln stark eingeschränkt. Es kann nicht wenden oder hoch am Wind segeln. Nähern wir uns Land, so müssen die Passatsegel gegen die konventionelle Besegelung gewechselt werden.
Es kostete mich etwa zwei Stunden Arbeit, bis die Passatsegel gesetzt waren und in voller Wirkungskraft die üblichen, jetzt festgemachten Segel ersetzten. Den Nachmittag verbrachten wir dann neben den Routinearbeiten damit, die Zugkraft der beiden Segel so auf die Pinne zu bringen, ihre noch nicht einwandfrei ausbalancierte Arbeitsleistung so zu verbessern, daß sich das Schiff selbst steuerte. Wir hatten ja keinerlei Erfahrungen in dieser Sache. Die Konstruktion beruhte auf meinen theoretischen Zeichnungen und auf dem, was andere Segler in ähnlicher Weise gemacht und beschrieben haben. Es war manche Änderung notwendig. Wir arbeiteten ohne Pause.
Abends lag Elga müde in ihrer Koje. Ich saß zerschlagen im Niedergang, halb ihr, halb dem Kompaß zugewandt. Wir tranken spanischen Wein und waren schweigsam froh – zu mehr reichte es nicht.
Aber »Kairos« steuerte sich selbst auf Westsüdwest-Kurs. Wie von Geisterhand bewegt, ging die Pinne hin und her, über Taljen und Blöcke eingespannt in den Wechselzug der Passatsegel. Es war großartig!
»Ich werde während der ersten Nachthälfte stündlich Ausguck halten, Schlummertier«, sagte ich zu der schläfrigen Elga. »Du dann in der zweiten. Einverstanden?«
Elga drehte sich behaglich auf die Seite. »Sechs Stunden ohne Wecken! Oh, das ist gut.«
»Kairos« segelte.
Ich saß noch für eine Weile und blickte übers Meer. Die Nacht sank. Der Kurs nach Barbados, dort an der Westseite des Atlantik, lag an. Ich setzte die Lichter für die Nacht und legte mich zu einer kurzen Ruhepause in die Koje. Die zweite Nachthälfte schlief ich ununterbrochen durch. Elga hielt stündlich Ausguck. Die Fron der Ruderwachen waren wir los.
Unser Bordleben änderte sich nun von Grund auf. Um 08 Uhr – Elga hatte meist schon den Kaffeetisch gedeckt, wenn der Seegang es zuließ – sah man den Kapitän ein Duschbad nehmen: Lufttemperatur 26°, Wassertemperatur 23°. Nach dem gemeinsamen Frühstück, anfangs noch Toast und Eier, später Hartbrot, stets mit Kaffee, Marmelade und Dosenbutter, ging ein jeder seinen Aufgaben nach. Elga wusch ab und räumte auf, ich erledigte die zahlreichen kleinen Arbeiten, die ein segelndes Schiff fordert. Hier waren Fallen nachzusetzen, dort Scheuerstellen zu schützen; die Selbststeuerung mußte korrigiert und neu eingestellt werden, wenn sich der Wind verändert hatte; kleine Reparaturen standen immer auf der Warteliste.
Dann war es Zeit für die erste Höhenmessung der Sonne geworden. »Achtung – Null« und »Achtung – stopp« ging es, damit Elga die Unterlagen für ihre Rechenkünste hatte. Danach konnten wir uns in die Kojen legen, um Schlaf nachzuholen, wenn uns danach zumute war. Auch lasen wir viel in jenen paradiesischen Tagen.
Mittags kam der wichtigste Augenblick des Tages. Nach der Kulminationsbeobachtung der Sonne errechnete Elga das Mittagsbesteck – den »wahren Ort« nach geographischer Breite und Länge. Ein kleines Kreuz wurde in die Seekarte gezeichnet: in aller Unermeßlichkeit wußten wir nun, wo wir waren.
Mit Lesen oder kleinen Arbeiten verging der Nachmittag. Bei Sonnenuntergang »versammelte« sich die Besatzung im Cockpit, um ein oder zwei Gläser Wein zu trinken. Dabei sprachen wir über die Ereignisse des Tages, bewunderten die Farben des Abendhimmels, die sich im Meer vielfältig spiegelten.
Tag auf Tag, Nacht um Nacht zog über uns dahin. »Kairos« segelte und der Kurs lag an. Himmel und Wasser, Wolken und Gestirne: der Raum des Ozeans hatte uns aufgenommen. Wir lebten in einem Dasein, das wunschlos macht. Längst hatten wir uns an die Schiffsbewegungen gewöhnt. Das ging so weit, daß uns nun der Horizont als »schief« erschien, wenn wir aus der Kajüte an Deck kamen.
Die Linie unserer Mittagsstandorte zählte 16 Kreuze, 1700 Seemeilen lagen hinter uns, wir begannen schon spielerisch mit unserer Ankunftszeit auf Barbados zu rechnen, als sich das Wetter änderte. Aus Norden schob sich eine ungewöhnlich lange Schauerfront herauf. Als ihre ausgefransten Wolkenränder über uns standen, schwieg der Wind.
Der Passat wehte nicht mehr! Das Barometer fiel tiefer, als es üblich ist im Auf-und-ab eines tropischen Tagesablaufs.
Aus solchen Passatstörungen entstehen zur Jahreszeit der tropischen Wirbelstürme oftmals Hurrikane. Außerhalb der Jahreszeit ziehen die Störungen meist harmlos mit böigem Schauerwetter weiter. Seit 69 Jahren hat man nur drei Wirbelstürme außerhalb der Jahreszeit zwischen Mai und Oktober in diesem Seegebiet festgestellt.
Und wenn diese Störung nun den vierten in 70 Jahren einleiten würde? Obwohl keine Annäherungszeichen eines Hurrikans sichtbar wurden, lähmte diese Frage unser ganzes Denken. Ich schlug Sturmsegel an.
Nach einer wilden Nacht mit Schauerböen aus nördlichen und nordwestlichen Richtungen und entsprechenden Segelmanövern, die uns viel Schlaf nahmen, wurden die Winde flau und umlaufend. Wir mußten Ruderwachen gehen.
Und das Meer war nicht mehr dunkelblau und brechergeschmückt unter dem Wehen des Windes. In bleierner Trägheit dünte es, ließ »Kairos« hilflos rollen. Erbarmungslos schlugen Blöcke und Segel. Jeder Schlag zitterte durchs ganze Schiff. Grenzenlosigkeit dehnte sich ringsum, da nichts in unserer Nähe geschah. Bleiern das Meer, gläsern der Himmel, der Horizont ausgelöscht. Gewitterwolken drohten. Sie zogen nicht, sie standen tags im Sonnenlicht, nachts in Mondschein und Wetterleuchten. Über ihnen schwebte Federbewölkung von Süd herauf. So blieb es tagelang.
Unsere Müdigkeit wuchs. Die Ruderwachen wurden zur Qual. Wir hatten diese Wetteränderung inmitten eines Gebietes, das regelmäßigen Passatwind während des ganzen Jahres aufweist, nicht erwartet. Sie traf uns völlig unvorbereitet, was unsere Umstellung erschwerte. Gestern noch in einem Paradies geträumt und heute in der Hölle aufgewacht: so war’s! Wir machten uns in suggestiver Eindringlichkeit klar, daß jeder Meter, jeder Meter und wieder jeder Meter das Schiff dem Ziele näher brachte und daß es unsere Aufgabe sei, jeden dieser Meter so zu steuern, als wäre er eine Seemeile.
So saßen wir am Tage in goldener Hitze und während der Nacht im blauen Wetterleuchten bewegungsloser Gewitter, Wache um Wache, während »Kairos« über eine Fläche torkelte, die aus zähem Öl gemacht schien. Wir konnten nichts tun als sitzen und steuern, dann schlafen, dann essen, dann wieder sitzen und steuern – Tag für Tag.
Unsere Müdigkeit nahm überhand. Hatte mich Elga abgelöst, so schlief ich bereits, bevor ich überhaupt das Bettzeug meiner Koje fühlte. Und kaum war ich eingeschlafen, so schien es, weckte mich Elgas Ruf. Waren vier Stunden vergangen? Ja – sie waren in todähnlichem Schlaf wie zu Sekunden geworden. Benommen stieg ich an Deck.∗
»Wind?«
»Kaum. Ein Knoten Fahrt«, sagt Elga.
Ich übernehme die Pinne, beginne auf den Kompaß zu starren.
»Ich hab’ eine Menge Bi-dem-Winder gesehen«, erzählt Elga stockend, »weißt du, diese Quallen, die segeln. Blau und rosa sind sie und fast durchsichtig. Wie die wohl von unten aussehen?«
Ich versuche, das gedanklich zu erfassen. »Keine Ahnung … sie treiben …« Ich blicke über die dünende See. Die Segel schlagen, der Mast zittert, die Blöcke poltern.
»Zum Abendbrot mache ich einen Eintopf«, fährt Elga aufmunternd fort, wobei ihr fast die Augen zufallen.
Sie steigt zur Kajüte hinab. Da unten ergeht es ihr so wie mir: sie wird schon schlafen, ehe sie das Bettzeug fühlt. Und mein Ruf nach vier Stunden wird wie nach vier Sekunden kommen.
Während der Wache, die wiederum keinen durchstehenden Wind brachte, fing ich mit der Pütz einige vorbeitreibende Bi-dem-Winder. Als ich Elga dann wecken mußte, fand sie die Tiere und konnte sie einer eingehenden Betrachtung unterziehen. An ihrer Unterseite hatten sie lange, nesselnde Fangfäden. Elga freute sich. Es half ihr etwas über die Müdigkeit hinweg.
Wind? – immer noch kein Wind. Einige Stunden später: Wind? – immer noch kein Wind. Einige Tage später: Wind? – immer noch kein Wind. Nur immer ein Hauch – aus Ost, aus Nord, aus Süd und West: falsche Versprechungen, die den Rudergänger zu einsamer Verzweiflung trieben.
Achteraus, wo früher einmal das Kielwasser geleuchtet hatte, zeigten sich jetzt nur einige lächerliche Blasen. Voraus, wo die Bugwelle bis zum Deck hinaufgesprüht hatte, geschah nichts als unbeholfenes Plantschen. Sollten wir schreien in Verzweiflung und Einsamkeit, zusammenbrechen unter der Last des Nichts? Wie stark waren eigentlich unsere Nerven?
Wir sprachen miteinander. Unsere Worte drangen durch die Sphären unserer Müdigkeit und weckten Zuversicht. Sie blieb stärker als die äußeren Zeichen unserer Fahrt. Sie mußte uns auch ohne Bugwelle, die gischtet, und ohne Kielwasser, das leuchtet, dem Ziele näher bringen. Durch sie wurden die Meter wirklich zu Seemeilen. Wir kamen ja immer noch voran, langsam zwar – Herrgott, wie langsam! – aber voran. Am zehnten Tage, nachdem Schauer und Böen – und unsere große Angst – die flauen Winde eingeleitet hatten, kam endlich der Passat wieder. Wir waren nun 26 Tage auf See – doch hatte das geringe Bedeutung.
Von Bedeutung war, daß sich der Wind aus Nordnordost stärkte. Die Ruderpinne war nicht mehr ein Stück totes Holz. Die schlaffen Segel formten sich, wölbten sich, begannen zu arbeiten. Eine Bugwelle zauberte neben die Bordwände Schaumstreifen, die sich verdichteten, zu knistern anhuben und schließlich eine leuchtende Spur hinterließen. Der Passat erreichte seine alte Kraft. Die schweren Wolken hoben sich. Aus ihren bewegungslosen Massen lösten sich kleine Schönwetterwolken und zogen, zogen mit dem erwachten Winde.
Wir fühlten Erleichterung.
Uns wurde alles neu geschenkt, der Tag, die Nacht, das Schiff, die Segel, der Himmel, die See – sogar unsere Müdigkeit. Denn endlich geschah etwas ringsum. Unsere Stimmung löste sich aus ihrer Verbissenheit. Es konnte geschehen, daß der müde Rudergänger ein Lied sang.
Wir mußten weiterhin unsere Ruderwachen gehen, da der Wind zu seitlich einkam, um das Setzen der Passatsegel zu gestatten. Aber »Kairos« lief wieder 4 bis 5 Knoten Fahrt. Das gab uns neue Kraft. Kompaßrose und Steuerstrich, von den übermüdeten Augen kaum noch erfaßt, brannten sich ins Gehirn ein.
»Kairos« segelte.
Wir fürchteten, daß unsere Müdigkeit Fehler in der Navigation verursachen könnte, Ablesungsfehler an Sextant und Chronometer, Rechenfehler – immer wieder kontrollierten wir uns gegenseitig.
»Kairos« segelte durch die schnell grob werdende See. Manchmal fiel die Müdigkeit von uns ab. Geschah es gleichzeitig bei beiden, so sprachen wir von der plötzlich nah gerückten Ankunft. Noch 400 Seemeilen bis Barbados! Die große Freude der Erfüllung begann, unsere Seelen zu stärken. Wie schön war es doch, auf einem guten Schiff einem guten Ziel entgegenzufahren; wie schön war es, gemeinsam in aller Einsamkeit den richtigen Weg zu finden; wie schön, täglich der Natur gegenüberzustehen und ihre Gesetze verstehen zu lernen. Und wir sprachen über den Preis, den der Mensch dafür zu zahlen hat. Einsamkeit, Erschöpfung, Müdigkeit und Angst – in der Erfüllung wandelt sich alles zum Guten.
»Kairos« segelte.
»Wenn wir nach unserer Fahrt gefragt werden, wie sie war«, sagte ich am Abend vor unserem Landfall, »so werden wir die Fragen beantworten können – gewiß. Fragen von Seglern, von Reportern, von Navigatoren, von Romantikern –« Ich nahm Elga die Pinne ab, denn meine Wachzeit hatte begonnen. Die Segel über uns standen wie schwarze Flügel vor dem Leuchten im Westhimmel. »Aber werden unsere Antworten etwas Wahres aussagen können, ich meine: über das Ganze? Wir waren doch nur ein Teil. Das Ganze war der Atlantik.«
Wir blickten zurück, wo unser leuchtendes Kielwasser nach kurzem Schäumen spurlos verschwand. Die Nacht hob sich dort über den Horizont. In ihr beschlossen lag der Aufbruch des nächsten Tages – aller Tage, der vergangenen wie der kommenden.
Als ich morgens an Deck kam, um meine Morgendusche zu nehmen, sah ich backbord achteraus drei Tölpel fliegen, die in charakteristischen Sturzflügen Fische fingen. Diese Vögel nisten an Land und fliegen tagsüber zum Fischfang seewärts.
Eine Stunde später sichtete Elga einen Tanker 5 Seemeilen entfernt auf Gegenkurs. Wie gebannt starrten wir zu der Erscheinung hinüber. Außer uns und unseren Dingen an Bord hatten wir ja seit 30 Tagen nichts Menschliches gesehen. Da zog er seinen Kurs, hob sich in den Seen, fiel gischtend in die Wellentäler und war richtig schön anzusehen.
Mittags kam die letzte astronomische Standortbestimmung. Schon am Vortage hatten wir unseren Standort von der Atlantik-Karte, auf der Barbados ein winziger Punkt ist, in die Ansteuerungs-Karte übertragen, die Barbados in allen Einzelheiten zeigt.
»Noch 36 Seemeilen bis zur Nordspitze!«
Elga rief es mir aus der Kajüte vom Kartentisch zu. Ich blickte vom Kompaß auf – eigentlich nur, um meine brennenden Augen zu entspannen. Als sich die Augen an die Ferne des Horizonts gewöhnt hatten und schon wieder zurückkehren mußten zu der flimmernden Enge der Kompaßrose – da sahen sie im Westen einen schmalen, grauen Strich. Er war ganz unbedeutend unter der Fülle hoher Kumuluswolken. Aber er war trotzdem nicht zu verkennen.
Und ich sagte es zu Elga, so wie man von einem Wunder spricht: »Elga, es ist Land voraus.«
Sie kam an Deck und blickte nun auch zu dem schmalen, grauen Strich. Dann ging sie zum Bug und stand dort lange wie angenagelt. Und dann kam sie zurück und weinte und sagte: »Ja, es ist wirklich Land.«
Es ist von unserer Atlantikfahrt nun nicht mehr viel zu berichten. Im Laufe des Nachmittags wurde aus dem grauen Strich eine Insel, auf deren Nordspitze wir zusteuerten. Unsere Navigation war so genau, daß wir den Kurs nicht zu korrigieren brauchten. Das beruhigte uns.
Während die Sonne unterging, konnten wir schon Einzelheiten an Land erkennen. Als wir ins Lee der Insel liefen, blinkten bereits Leuchtfeuer. Durch die Landmasse aufgehalten, verlor der Passat an Kraft, wehte schließlich gar nicht mehr. Der Seegang ließ nach. Stille umgab uns.
»Riechst du die Blumen?« fragte Elga aufgeregt.
Wir drehten »Kairos« bei und legten uns schlafen, nachdem wir uns überzeugt hatten, daß er leewärts abtrieb. Denn das Einlaufen in die Carlisle Bay vor Bridgetown wollten wir am Tage erleben. Wir wollten das neue Land sehen und es sollte uns sehen: mit allen Flaggen gesetzt! Ein Fest sollte uns das werden, ein Finale unter flatternden Farben und mit rasselnder Ankerkette als Schlußakkord.
So geschah es dann am Sonntag, dem zweiten Advent. Der Anker fiel. Die Kette lief aus und warf vertrocknete Krumen kanarischen Sandes aufs Deck. Wir stießen sie lachend über die Reling, wo sie ins glasklare Wasser fielen und langsam zu Boden sanken.
Bequia, Weihnacht 1964 |
Wir ankern in der Admiralty Bay vor Port Elizabeth an der Leeseite der Insel Bequia. Namen sind Schall und Rauch. In dieser Admiralitätsbucht haben in vergangenen Jahrhunderten gewiß mehr Piraten als Admiräle geankert. Und Port Elizabeth besteht aus einer Handvoll Negerhütten um eine steinerne Kirche.
Es ist heiß. Wir haben unser Sonnenpersennig aufgetakelt, das vermittels starker Holzlatten vom Mast bis zum Heck und über die ganze Breite des Schiffes gespannt werden kann.
Die Bucht liegt vollkommen windlos, still wie ein See. Die Berghöhen mit ihren Spiegelungen auf der teilweise silbrig geriffelten Wasserfläche, die Fächerlinien der Palmen, das Weiß des Strandes, die Negerhütten mit blau aufsteigendem Rauch, die Insel-Schooner und eine amerikanische Ketsch vor Anker: es ist ein Bild, wie es noch nicht gemalt wurde.
Der Frieden der eleganten Palmenkronen am nahen Ufer wird in einer plötzlichen Regenbö zum Flirren fechtenden Widerstandes. »Kairos« reißt an der Ankerkette. Hastige, weißblasige Wellen springen über das Wasser. Niederströmender Regen löscht alle Bilder aus.
Als er abzieht, glänzt die Bucht für Minuten in Silbergrau. Dann bricht die Sonne hervor und verklärt Wasser, Ufer, Berge zu neuer Schönheit.
Wir sitzen und schauen. Diese Inseln mit ihren Buchten strahlen eine unerhörte Betäubung aus. Ihre Schönheit wirkt wie ein Rauschgift. Mit diesem Wissen muß man sich wappnen, will man sich ihrer Schönheit hingeben. Mehr als nur eine Weltumsegelung fand hier ihr vorzeitiges Ende.
»Jacht läuft ein!« sagt Elga.
Ich schrecke auf aus meinen Träumen. »Es ist Peter mit seiner ›Kinya‹.«
Peter Sch., Segler und Exportkaufmann, unser bester Freund, ließ sich nach einer Segelreise von Hamburg nach Südamerika auf Barbados nieder. Er baute sich dort eine Existenz auf und verwirklichte dabei den Traum seines Lebens: zwischen diesen Tropeninseln kann er Geschäftsreisen mit seiner Jacht machen.
Zehn Meter neben uns geht die »Kinya« vor Anker. Nachdem Peter das Deck aufgeklart hat, kommt er mit dem Dinghi zu uns herübergerudert.
»Frohe Weihnachten!« sagt er. »Laßt uns gleich baden, mir ist heiß.« Wir tun es und –
So sind diese Inseln. Ihre zauberhafte Gegenwart löscht Vergangenheit und Zukunft aus. Ich wollte über den Fortgang unserer Reise erzählen, sitze aber nun hier und träume und bade.
Wir blieben 14 Tage auf Barbados und lebten recht komfortabel, größtenteils in Peters Bungalow. Unser Freund kam am Nachmittag unseres Ankunfttages in die Carlisle Bay gesegelt, ging genauso wie eben jetzt zu Anker und brachte uns unsere Post, außerdem einen Karton mit frischem Brot und Obst, Butter in einer kleinen Eisbox: ein Segler weiß, was Seglern nach langer Fahrt fehlt. Die Begrüßung war stürmisch, wir hatten uns zwei Jahre lang nicht gesehen.
»Paßt auf, Leute«, sagte Peter. »Ich weiß nicht, wie eure Pläne sind. Ich wohne nördlich von Bridgetown in einem Bungalow am Strand. Wie wär’s, wenn ihr dort neben ›Kinya‹ auf der Reede ankert? Ist der Ankerplatz zu unruhig, könnt ihr im Bungalow wohnen. Tagsüber hab’ ich mein Geschäft, aber die Abende sind unser.«
»Großartig!« sagten wir. »Dann können wir einander endlose Seegeschichten erzählen.«
»Ja. Und Weihnachten feiern wir gemeinsam auf Bequia!«
Am nächsten Tage verholten wir »Kairos« zum Ankerplatz vor Peters Bungalow. Damit begann für uns ein Amphibienleben. Mit dem Schlauchboot pendelten wir zwischen Schiff und Bungalow hin und her. Elga konnte an Land Wäsche waschen, während ich mit den Instandhaltungsarbeiten an Bord begann.
Wir hatten plötzlich einen Eisschrank, eine Terrasse, einen Vorgarten mit schneeweißem Sand zum Wasser hin, einen palmenumrahmten Blick übers Meer – und abends unseren Freund, der das alles so großzügig zur Verfügung stellte. Da oft Seegang um die Nordspitze der Insel herumlief, der »Kinya« und »Kairos« auf der Reede schwer rollen ließ, blieben wir auch nachts an Land und schliefen im Wohnraum des Bungalows.
Wir fuhren mit Peter über die Insel. Wir sahen, was Zuckerrohr ist. Grün wie Gras, hoch wie zwei Männer, dicht wie Schilf wächst der Reichtum in ausgedehnten Feldern. Auf den Straßen zwischen den Feldern fuhren wir wie durch Schneisen: undurchdringliche Rohrmauern zu beiden Seiten.
Die Negerhütten der Dörfer schienen alle direkt aus »Onkel Toms Hütte« zu stammen. Vier Lattenwände sind durchaus nicht immer gleichmäßig zusammengenagelt worden mit je einer Fensteröffnung ohne Glas und einer Tür an der Vorderseite. Darauf ist ein Wellblechdach gesetzt. Braucht man mehr, um glücklich zu sein?
Im Hause leben Großeltern, Eltern, fünf, neun Kinder – es kommt wirklich nicht auf ein paar mehr oder weniger an. Alle sind froh und heiter. Da mit Petroleum gekocht und vielfach auch beleuchtet wird, geschieht es häufig, daß so ein Holzhaus Feuer fängt. Brennt es ab – wie herrlich, diese Abwechslung! – so zieht die Familie mit Kind und Kegel zu Verwandten. Brennt es nicht ab, löscht die wohlgeübte Feuerwehr, so ist es auch gut – haha! Man zieht mit Kind und Kegel wieder ein.
Die Neger hier lieben die Arbeit nicht, aber am Sonntag wird gefaulenzt. Vor der Haustür, unter einer Palme, unter den Goldbuchstaben eines Denkmals aus der Kolonialzeit, auf einer alten Seeräuberkanone saßen, lagen, hockten, kauerten sie, die Nachfahren schwer arbeitender Sklavengenerationen. Sie schliefen, träumten oder unterhielten sich, wobei sie die entspannte Körperlage hin und wieder fachmännisch wechselten. Zum Abend rafften sie sich auf und holten ihre Musikinstrumente.
»Wovon leben sie?« fragte Elga.
»Sie arbeiten in der Stadt«, sagte Peter, »als Schauerleute, Taxifahrer, Ladengehilfen, Omnibusschaffner, Boten – ach, so alles mögliche. Auf dem Lande arbeiten sie als Plantagenarbeiter. Sie arbeiten, wenn sie Lust haben oder Geld brauchen. Lust haben sie nie, Geld brauchen sie immer.«
»So ging’s mir auch«, sagte ich mit Nachdruck.
»Man kann sich nicht auf sie verlassen«, sagte Peter.
»In welcher Hinsicht?«
»Sie denken anders als wir. Also – ein schwarzer Lagerhalter ist angewiesen, Meldung zu machen, wenn ein Artikel ein bestimmtes Minimum erreicht hat. Es geschieht, daß der Lagerbestand dann doch plötzlich geräumt ist. Zur Rede gestellt, sagt unser großer, schwarzer Lagermeister: ›O mistarr, das ist schrrecklich, ich weiß. Aberr gesterrn warr noch viel zu viel da!« Es handelt sich um einen Artikel, der seit Jahren einen völlig gleichmäßigen Abgang hat.«
»Die Regierung ist schwarz?« fragte ich. »Wie geht denn das Regieren?«
Peter bremste das Auto scharf, weil eine hoffnungsfrohe Negermammy in schneeweißem Kleid und unter einem Federhut riesigen Ausmaßes mit drei schokoladenfarbigen Kleinkindern gravitätisch über die Straße zur Kirche schritt.
Dann sagte er: »Regierungs- und Verwaltungsleute werden in England ausgebildet. Manchmal kommt bei ihrem Regieren und Verwalten etwas heraus, als ob sie zuviel gelernt haben – manchmal, als ob sie alles vergessen haben.«
Weitere Kirchgänger kamen uns entgegen. Die meisten Frauen und Mädchen waren sonntäglich weiß gekleidet. Alle trugen Hut, Schirm, Handtasche und Stöckelschuhe. Dicke Mammies freilich gingen barfuß, trugen aber die viel zu kleinen Schuhe in der Hand. Und alle hatten sorgfältig gesträhntes Haar.
Glattes Haar, wie es weiße Frauen haben, das ist der höchste Wunsch jeder schwarzen Eva. Wenn’s mit Gewalt und Pomade nicht geht – und es geht meist nicht – muß ein Zopf gemacht werden. Und ist das Krusselhaar nicht mit einem Zopf zu bändigen, dann tun es eben mehrere.
»Sieh, sieh bloß!« rief Elga. »Die hat fünf – nein, sieben Zöpfe!« Sie fiel ins Rückenpolster zurück. »Und alle mit kleinen roten Schleifen.«
Was bei den Frauen die Frisur, war bei den Männern der Hut. Es gab keine Farbe und keine Form, die nicht getragen wurde. Der Vielfalt war nichts hinzuzufügen und auch nicht dem Stolz, mit dem diese Hüte getragen wurden.
»Sie sind großartig«, sagte ich. »Ich mag sie!«
»Die Hüte?« fragte Elga und schnappte nach Luft.
»Nein, nein. Die Schwarzen, die Neger. In dieser Schicksalsstunde beginne ich eine tiefe Zuneigung zu farbigen Menschen zu fassen – jawohl!«
Peter seufzte. »Du hast noch nie mit ihnen arbeiten müssen.«
Meine neue Völkerliebe war zu allem bereit. »Na, und?« fragte ich aggressiv. »Ich habe ihre Frisuren und Hüte gesehen. Was ist das schon: mit ihnen arbeiten – mit ihnen lustig sein will ich!«
»Das kannst du haben«, sagte Peter.
»Ich nehme dich beim Wort, Seemann. Wann?«
»Heute abend.«
Wir fuhren durch Zuckerrohrfelder zur Ostküste, wo der Atlantik in riesenhafter Brandung zu stäubender Gischt verdampfte.
Elga starrte ängstlich-fasziniert auf die donnernde See. »Da zu stranden – na, ich danke.«
»Für die Besatzung ein böses Ende, ja«, antwortete Peter. »Gewinn freilich für den, der das Strandgut birgt.«
Wir sahen ihn fragend an.
»Es ist ein Märchen«, erklärte Peter, »ein karibisches Märchen – grausam, piratenhaft, gewinnbringend. – Laßt uns hier picknicken.«
Auf einer Hangwiese verzehrten wir das von Elga vorbereitete Essen. Peter erzählte: »Vor zweihundert Jahren lebte ein Mann namens Sam Lord hier auf der Insel. Er ließ sich ein festungsähnliches Haus an der Südspitze bauen, direkt am Strande hinter dem Cobbler Reef. Er gewann seinen sagenhaften Reichtum dadurch – also, er hatte auch Zuckerrohrplantagen, die großen Gewinn abwarfen. Aber nebenher pflegte er Schiffe mit falschen Feuern aufs Cobbler Reef zu lenken. – Noch heute heißt das Haus Sam Lords Castle. Ein Amerikaner hat es kürzlich gekauft und natürlich ein Luxushotel daraus gemacht.«
Die Südspitze der Insel schob sich flach ins Wasser. Viereckig festungsgleich steht auf ihr ein Haus, in grauen Steinquadern erbaut. Von der Gartenmauer am Strand sahen wir das Riff. Es lag etwa eine Seemeile vor der Küste. Die See tobte über ihm.
Sam Lord vor zweihundert Jahren brauchte nichts weiter zu tun, als hier an Land einige Lichter wie Ankerlaternen von Schiffen aufzuhängen. Bei den groben Navigationsmethoden seiner Zeit genügte das, um das Opfer zumindest unsicher zu machen.
»Mann, merkwürdige Lichter. Gefallen mir nicht«, mag der Kapitän eines zur Carlisle Bay bestimmten Schiffes gesagt haben.
»Es müssen Ankerlichter sein, Sir«, antwortet der Maat. »Die Schiffe liegen ruhig. Das ist bereits im Lee der Insel.«
Die beiden Männer starren in die Nacht.
»Lassen Sie die Bramsegel wegnehmen und schicken Sie einen Mann nach vorn zum Loten«, ordnet der Kapitän an. »Ausguck in den Vortopp! Ja, es scheint der Ankerplatz zu sein.«
Die Segel werden festgemacht. Von vorne klingen bald die ausgesungenen Lotmessungen. Aber das Riff springt steil zur Oberfläche.
»Brecher« brüllt der Ausguck im Vortopp plötzlich. »Brecher voraus!«
»Abfallen, Gott im Himmel!« Der Kapitän mag selbst rasend in das Steuerrad gegriffen haben.
Es ist zu spät. Mit knirschender, splitternder Präzision vollzieht sich die Strandung. Von Land kommen Boote, Sam Lords Boote, um zu bergen, was zu bergen ihnen nach dem Strandrecht zusteht. Menschenleben stehen nicht hoch in Kurs bei diesem Bergungsunternehmen.
In der Halle des Hotels standen wir vor Sams Bild. Es war nicht gut gemalt, aber gerade darum zeigte es primitive Dämonie. Sams Gesicht ist völlig ausdruckslos. Was war er für ein Mensch? Saß er so, wie das Bild ihn zeigt, am Fenster und betrachtete unbewegt die Katastrophe? Sprang er selbst in eines der Boote, um die Beute im geborstenen Laderaum zu prüfen? Wurde sein Treiben niemals durchschaut? Überlebte kein Zeuge die Strandungen?
Die Palmen am Strande beantworten diese Fragen nicht; ebensowenig die See, die sich über dem Riff zu Brechern formt und schäumend zerbricht, was ihr widerstehen will. Unzählige Fragen dieser Art heben sich mit den Brechern, die die Karibische See auf ihre Inseln wirft – Fragen, die in Gier und Mordlust, in Leid und Blut ihren Ursprung haben und ohne Antwort bleiben werden bis zum Jüngsten Tag.
Abends saßen wir in dem Schuppen einer Negerbar und tranken Rum mit Cola. Wir konnten unsere Füße nicht stillhalten, denn der Rhythmus des Kalypso war hinreißend. Er ist Volksgesang in bestimmter Taktfolge, in die hinein der Text vom Sänger improvisiert werden muß. Zu Zeiten des Karnevals werden Sängerkriege zwischen Kalypsosängern ausgetragen, bei denen das Publikum bis zur Raserei mitgeht. King Fighter, Lord Sivers, Big Sir Bell sind die Künstler-, besser Kriegsnamen berühmter Sänger. Glorious Cry war im letzten Jahr unbestrittener Matador gewesen. Ihn erwarteten die Schwarzen hier in schnatternder Ausgelassenheit.
Er kam in grauer Hose, rot-grün karierter Jacke, lila Schlips und mit einem Hut, der seinem jüngsten Sohn zu klein gewesen wäre. Er hatte ein kluges Pferdegesicht und aufmerksame Augen. Er strahlte vor Freude. Das Publikum war bereits von seinem Anblick begeistert.
Glorious Cry sang. Die Zuhörer belohnten ihn mit Toben, Aufspringen, Mitsingen, Tanzen. Wir waren in eine Vorhölle der Freude geraten. Wir lachten und klatschten ebenfalls.
Glorious Cry merkte sehr schnell, was dem Publikum gefiel, und machte es zum Refrain, in den alle einfielen:
Mathildá, Mathildá!
She take me money and go Venezuela!
Die Kapelle lärmte und alle sangen, wir auch, und lachten und tanzten und hüpften. Peter tanzte irgendwie mit Elga, ich tanzte irgendwie mit einer kleinen Schwarzen, alle tanzten irgendwie. Und Trommeln trommelten und Gitarren winselten und Tamburins rasselten und Hölzer schnarrten und gestopfte Trompeten jaulten. Der Schuppen zitterte.
Glorious Cry kam und fragte: »Sie frreuen sich?« Der Barbesitzer kam und fragte: »Sie frreuen sich, mistarr?«
Wir sagten »Ja!«, und die beiden grinsten, wie nur westindische Neger grinsen können.
Augen begannen zu rollen. Schweißgeruch breitete sich aus. Tanz, Tanz! Was sonst bleibt den Nachfahren jahrhundertelanger Sklaverei? Götter und Sitten blieben im afrikanischen Busch. Tanz, Tanz! Der Weiße Mann fing sie wie Tiere und brachte sie zu diesen Inseln. Tanz, Tanz! Sie waren entwurzelt und unfrei: Sklavenpeitsche! Tanz! Doch jetzt sind sie frei: Demokratie! Tanz! Sie sind immer noch entwurzelt. Tanztanz! Was der Weiße Mann will, ist das gut gewollt? Tanztanz! Was ihnen bleibt, ist vitale Kraft zum Leben. Tanztanztanz! Sonst nichts – nur Tanz in die Ekstase tiefsten Vergessens.
»Woran denkst du, wenn du tanzt?« fragte ich wie ein Tanzschüler – und wirklich, ich war einer.
»Tanztanztanz!« grinste die kleine Schwarze und tanzte wie eine Feder, die jeder Wind verweht.
Später standen wir schwitzend am Strand hinter dem bebenden Schuppen. Eine sanfte Brandung wisperte. Vollmondschein machte die Dinge ringsum unwirklich.
Peter fragte: »Na, Alter, warst du lustig mit ihnen?«
»Ja-ja-ja!« tanzte ich ihm vor, wie ich gelernt hatte.
»Oh!« entfuhr es Elga.
»Du darfst nur nicht über sie nachdenken dabei«, fügte ich hinzu und stand still. »Aber ich fürchte, das erwarten sie auch nicht von uns.«
Am nächsten Tage verließen wir Barbados. Knapp 24 Stunden später fiel unser Anker hier. Nun ist Weihnachten.
Und wir baden mit gewaltigem Wasserspritzen. Einige Negerkinder – Nackedeis in einem zerbrochenen Ruderboot, das in übergroßen, schiefen Buchstaben den Namen »Miraculous Image« trägt – werden durch unser Treiben angelockt und sehen ihm ehrfürchtig lächelnd aus sicherer Entfernung zu.
Bevor wir am Abend zur »Kinya« hinüberrudern, sitzen wir noch für eine Weile bei uns an Bord. Der Westhimmel beginnt der untergegangenen Sonne nachzuleuchten. Das bewegungslose Wasser der Bucht wird zu himmlischem Spiegel, über dem und in dem erster Sternenschein flimmert. Die Firma, bei der ich in Hamburg tätig war, schickte uns einen kleinen Tannenbaum, dessen Silhouette winzig vor dem großen Glanz von Himmel und Wasser steht.
Es ist Sitte hierzulande, daß Kinder am Heiligen Abend von Haus zu Haus ziehen und vor den Türen Musik machen. Sie dehnen ihre Tournee per »Miraculous Image« zu unserem Ankerplatz aus und spielen uns auf mit Gitarren und Tamburins. Bootsbänke klingen wie Urwaldtrommeln. Welche Sehnsucht, von schwarzen Kinderhänden erzeugt, steigt in die Stille Nacht.
An Land beginnt die Glocke von Port Elizabeth die Weihnacht einzuläuten. Wie bei einem Weihnachtstransparent erleuchten sich die Fenster der Kirche mit goldgelbem Petroleumlicht. Vor ihrem Schein sehen wir die Schwarzen zum Gottesdienst gehen. Schnell verscheppert der Glockenklang im Summen der Zikaden und im Singen der Baumfrösche – ein Geräusch so anhaltend gleichmäßig, daß man es nach einiger Zeit nicht mehr wahrnimmt. Stille umgibt uns.
Der Pfarrer dort drüben erzählt seinen Pfarrkindern nun die Weihnachtsgeschichte. »Es begab sich aber zu der Zeit …« Mit all der Intensität, zu der jeder Neger fähig ist, lauscht die Gemeinde, wie das Christkind in die Krippe gelegt wird. Die Mammies, deren Geburtenfolge ja unaufhörlich ist, bekommen jetzt gewiß schon ganz runde Kulleraugen bei der heiligen Vorstellung, wie schön, wie süß mit rosa Hand- und Fußballen dieses Baby in der Krippe gewesen sein muß. Und die Hütte, in der die Krippe stand, gleicht so sehr ihrer eigenen dort am Hang: vier Holzvvände, Stallaterne, Stroh, Kuh, Esel, Schaf. »Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend …«
Später kommt schwach der Klang eines Chorals zu uns hergeweht. Aha – wir lächeln und machen uns bereit, zur »Kinya« hinüber zu rudern – jetzt dürfen sie singen, laut und mit verhaltenem Taktwiegen des Körpers, ganz erfüllt von der Geschichte, die auch das einfachste Gemüt versteht, und ganz hingegeben dem Takt, den auch der feierlichste Choral hat.
Bong-bong, bing-bang – so klang es schon wenig später vom Ufer her, als die Gemeinde aus der Kirche kam. In den Hütten gingen die Stallaternen an, und Musik, Musik klang über die dunkle Bucht.
Peter segelte am zweiten Weihnachtstage zurück nach Barbados. Auf Antigua wollen wir uns wiedertreffen, wohin er in Geschäften segeln wird. Wir gingen mittags zur Landungsbrücke, wo der Schooner aus Kingstown mit der Steelband erwartet wird.
Auf der Landungsbrücke drängt sich eine aufgeregte, buntgekleidete Menschenmenge. Männer, lässig unter zu kleinem Hut; Mädchen, das Haar: leg dich oder ich pomade dich, das Kleid: hauteng, besonders am Po; Mammies, einem baldigen Ereignis wohlgeschwellt entgegensehend; alte Herren, etwas zerlumpt doch Häuptlingshaltung; dazwischen Kinder, Kinder, sehr liebevoll und sauber angezogen.
Das alles wogt und wallt und schnattert durcheinander. Die Steelband kommt – haha, hoho! Während der Schooner anlegt, spielt die Steelband mit ihren aufgesägten Benzinfässern bereits an Deck. Und an Land beginnt sofort der Tanz. Der Opa tanzt, das Kleinkind tanzt, die Männer vergessen ihre Lässigkeit, die Mädchen die Schönheit ihrer Frisur, die Mammies das baldige Ereignis. In unbändiger Ausgelassenheit zieht die Bevölkerung, voran die Steelband, zum Schuppen des Feuerwehrautos. Der uralte Ford – springt sein Motor nicht mehr an? – wird herausgeschoben und das Fest beginnt.
Während des Krieges gab es keine Musikinstrumente. Leere Benzinfässer jedoch lagen haufenweise herum. Man muß schon ein westindischer Neger sein, um in einem leeren Benzinfaß ein Musikinstrument zu sehen. Sie versuchten es – bongbong! Und siehe: jedes Faß hatte einen anderen Klang – bangbang! Durch Aufschneiden der Fässer in verschiedenen Längen konnten sie jede gewünschte Klangnuance erreichen.
Man kann auf einer Säge geigen. Es gibt einen jaulend-wehmütigen Ton. Diesen Ton stelle man sich getrommelt vor, gleichzeitig auf vielen Fässern verschiedener Klanghöhe. Steelbands machen eine wehmütig-singende Musik, steigern sich zu heulendem Paukenschlag. Trommler und Tanzende werden eins in Rausch und Ekstase.
Abends kommen wir nach einem Spaziergang am Feuerwehrschuppen vorbei. Bongbungbangbuiiim! Sie tanzen. Wir stehen fassungslos.
Gebleckte Zähne, schweißnasse Gesichter, rollende Augen, zuckende Glieder. Unheimlich wirken die Überreste europäischer Kleidung an diesen Körpern. Sie tanzen keinen afrikanischen Buschtanz, keinen westindischen Kalypso, auch keinen amerikanischen Rock’n roll. Sie tanzen das absolute Nichts, um sich zu vergessen. Unsichtbar steht hinter ihnen der Schatten des Weißen Mannes. Denn unsere Vorväter brachten ihre Vorväter in Ketten hierher.
Sie tanzen rasend, gleich werden sie Fackeln entzünden.
Sollen wir uns verstecken hinter dem uralten, nutzlosen Ford? – Wie mutlos.
Sollen wir verächtlich den Kopf schütteln ob dieser barbarischen Tanzerei? – Wie herzlos.
Morgen, die Ruhe vollkommener Erschöpfung wird über das Dorf gefallen sein, müssen wir absegeln.
St. Lucia, im Januar 1965 |
Wir segelten nach Norden an der Insel St. Vincent vorüber, die ihre 1000 Meter hohen Berge dunkel, fast drohend zu den Wolken hob. Wir gingen unsere üblichen Ruderwachen. Die Nacht wurde ruhig mit flauem Ostnordost-Passat. Im Lee der Insel nahmen wir die Maschine zur Hilfe.
Bei Sonnenaufgang standen wir zwischen St. Vincent und St. Lucia. Der Passat frischte auf und schuf einen harten, kurzen Stromseegang. Wir wurden stark nach West versetzt. Die Pitons, zwei steile Bergkegel an der Südwestküste von St. Lucia, färbten sich sonnenbeschienen. Zum Mittag verloren sie alle Farben, als sich Hitze dunstgleißend über die Insel legte.
In Port Castries, dem Hafen von St. Lucia, klarierten wir ein, kauften Proviant und ergänzten Wasser. Wir machten anschließend einen Gang durch die Stadt. Schiefe Negerhütten, moderne Neubauten und wie verfallen wirkende Häuser im Kolonialstil säumten die heißen Straßen. Alles, was wir sahen, wirkte arm und verstaubt. Bunt waren nur die hölzernen Autobusse. Über die schreienden Farben ihrer Karosserien waren großzügig Bilder gemalt mit erklärenden Namen. »Neptun«, »Gliding Star«, »Roaring Lion«.
Ich fragte einen der Busfahrer nach dem Sinn solcher künstlerischen Kraftentfaltung.
»O mistarr«, sagte er und zeigte grinsend sein Raubtiergebiß, »das sind die Bus-Linien. Ich hierr mit ›Flying Crrocodile‹ fahrre zurr Ostküste – zweimal am Tag.«
Während wir auf dem Rückwege diese Errungenschaft gesprächsweise in Hamburg einführten – »Tobender Elefant« nach Blankenese, bitte einsteigen!« – dämmerte uns, daß Busnummern den Schwarzen nichts sagen würden, da sie keinen Sinn für Zahlen haben.
Am nächsten Tage segelten wir in die 5 Seemeilen südlich gelegene Marigot Bay. Ihre Einfahrt liegt schmal zwischen hohen Felsen. Hinter ihnen weitet sich die Bucht, die von einer flach-sandigen Miniaturlandzunge geteilt wird. Der hintere Teil, in dem wir ankern, bildet einen vollkommen geschützten Naturhafen. Er ist von Mangroven umwachsen. Hinter ihrem Dickicht heben sich Palmen. Am inneren Buchtufer liegt ein kleines Hotel auf blumenbunter Hangterrasse.
Als ein englischer Admiral zum Ende des 18. Jahrhunderts auf St. Lucia landete, um die Insel zum soundsovielten Male den bösen Franzosen zu entreißen, geriet er in arge Bedrängnis. Seine Landetruppen kamen nicht voran, und seine Landungsflotte wurde von einem französischen Geschwader hartnäckig attackiert. Man schickte dem »löwenhaft kämpfenden« Admiral ein Verstärkungsgeschwader aus Antigua, das die französischen Schiffe zwar fortlocken konnte, aber den Franzosen ebenfalls nicht gewachsen war. Die Engländer ergriffen die Flucht und wären wohl in Grund und Boden gebohrt worden, hätte ihr Geschwaderkommandant nichts von der Marigot Bay gewußt. Er fand die schmale Einfahrt, ließ einsegeln und im hinteren Teil der Bucht ankern. Die hohen Schiffsmasten wurden mit Palmenwedeln getarnt. Die Franzosen suchten lange nach den »vom Meer verschluckten« Engländern, besannen sich dann auf ihre Hauptaufgabe und kehrten um. Sie kamen zu spät. »Der Löwe von St. Lucia«, befreit von den ihn in den Schwanz zwickenden Kriegsschiffsschwärmen, hatte Port Castries inzwischen erobert. Zum soundsovielten Male sank die Trikolore in den Staub, und der Union Jack begann zu flattern. Er flatterte nicht lange. Die Franzosen kamen wieder.
Auch damals schon war die Banane Hauptexportartikel der Insel. Sie reifte unter dem Union Jack ebensogut wie unter der Trikolore. Die schwarzen Sklaven auf der Insel entwickelten bei dem lärmvollen Wechsel ihrer Herren eine besondere Sprache: ein französisch-englisches Kauderwelsch, das unter dem Union Jack ebensogut verstanden wurde wie unter der Trikolore.
Heute ist die Insel englischer Besitz. Sie soll demnächst unabhängig werden. Banane und Kauderwelsch werden auch das überleben.
Nachmittags rief uns ein Mann aus einem Mahagoni-Motorboot an: »Wenn Sie etwas über Hamburg hören wollen, besuchen Sie mich heute abend!«
Elga faßte sich zuerst. »Sind Sie aus Hamburg? Kommen Sie an Bord!«
»Nein, vielen Dank«, sagte er und ließ seinen Renner vorschnellen. »Ein anderes Mal.«
»Welche Jacht?« rief ich ihm nach.
»›Walanka‹ – dort!«
Wir sahen zu der großen Motorjacht hinüber, die am Vormittag eingelaufen war.
In stolzer Linie hob sich der fleckenlose Bug der »Walanka«. Ihre Brücke schien uns himalayahoch. Am Heck wehte das britische Blue Ensign. Wir ruderten – ruck und ruck – zur Gangway, wo unser Gastgeber lächelnd stand.
»Herzlich willkommen! Mein Name ist S.«. Er trug nun nicht mehr Shorts und Sporthemd wie am Nachmittag, sondern lange Hosen und Hemd mit Schlips.
Wir stellten uns vor. Ich betrachtete heimlich meine Shorts, die etwas fleckig, und meine Füße, die zwar fleckenlos doch nackt waren. Elga war glücklicherweise passender angezogen.
Mr. S. führte uns in den Salon, wo – meine nackten Zehen krallten sich in den dicken Teppich – etwa zwölf Personen in Abendkleidung zu einer Cocktailparty versammelt waren. Ich sagte also etwa zwölfmal »How do you do«. Dann setzte ich mich in einen Sessel, der halb so groß wie unsere Kajüte war und ausgezeichnete Möglichkeit bot, meine Füße unter ihm zu verstecken. Elga wurde von einigen Herren in die Sofaecke mit Stehlampe und Rauchtisch entführt.
»Whisky, please«, flüsterte ich dem lautlos vor mir erschienenen Steward zu.
»Mir auch noch einen!« sagte der alte Kapitän neben mir mit Kommandostimme. In seinen jungen Tagen, wie er mir erzählte, hatte er Rahschiffe um Kap Hoorn gesegelt.
»Well«, sagte er und holte in aller Ruhe seine schwarze Pfeife aus der Tasche, die er auf den Hochglanztisch legte. »Es war manchmal hart da unten, Sie können’s mir glauben. Aber was hatten wir für herrliche Schiffe!«
Er stopfte seine abgewetzte Pfeife. »Ich bin kein Jachtsmann, no, nie gewesen. Sah Ihr Boot, als wir einliefen. Was ich nicht verstehe, ist, wie Sie mit Ihrem Grashopper in schlechtem Wetter klar kommen.«
Ich versuchte, ihm die Seetüchtigkeit einer Hochseejacht zu erklären.
»Well«, sagte er schließlich, »das leuchtet mir ein. Ihre Jacht kann nicht kentern, weil sie entsprechenden Ballast hat. Sie kann nicht vollschlagen, weil sie starke Luken und ein selbstlenzendes Cockpit hat. Das Rigg ist kräftig – well, und der liebe Gott hilft bei allem ein wenig. Aber, Junge, die Bewegungen im Seegang müssen euch ja umbringen.«
»Ja, manchmal«, sagte ich. »Und die Ruderwache ist ein nasser Job.«
Seine Augen schienen durch die Wände des Salons hindurchzublicken und die grauen Seen vor Kap Hoorn zu sehen. »Das war’s bei uns auch. Und im Logis spülte das Wasser manchmal die Matratzen aus den Unterkojen. Bei Ihnen auch, was?«
Ich vergaß meine nackten Füße. »Wir haben noch nie Seewasser im Schiff gehabt«, sagte ich. »So ein kleines Schiff liegt ja im Vergleich zu einem großen viel besser auf der See. Es ist leicht, es weicht aus, es wird gehoben. Die See findet keine Masse, die sie zerschlagen kann. Freilich, wir segeln nicht in solchen Sturmgebieten wie vor Kap Hoorn.«
Mr. S. hatte sich zu uns gesellt. Auch andere sahen zu uns herüber. Meine Füße wanderten wieder unter den Schutz des Sessels.
Der alte Kapitän sah mich interessiert an. »Würden Sie um Kap Hoorn segeln – well, mit Ihrer Jacht?«
»Nein.«
»Es ist gemacht worden, soviel ich weiß«, warf Mr. S. ein.
»Ja«, sagte ich, »verschiedene Male auf kleinen und großen Jachten.«
Der alte Kapitän schmauchte gewaltige Rauchwolken aus seiner Pfeife. Seine harten, blauen Augen blickten mich unverwandt an. »Es gibt drei Grundregeln«, sagte ich zögernd, »nach denen wir unsere Weltumsegelung durchführen wollen: Sicherheit erst, Wohlergehen dann, Schnelligkeit schließlich. Mit einer Jacht vor Kap Hoorn ist jede dieser Regeln infrage gestellt. Da war die Ketsch ›Tzu Hang‹. Ihr Skipper versuchte, das Kap von West nach Ost zu runden. Die Jacht wurde von einer mitlaufenden Sturmsee überrannt und kenterte in Längsrichtung über den Bug. Die ›Tzu Hang‹ war ein bewährtes Seeschiff.«
»Und die Besatzung?«
»Die Frau des Skippers wurde über Bord gewaschen, griff in die Takelage, die nachschleppte, als sich das Schiff mit gebrochenen Masten und eingedrückter Kajüte wieder aufgerichtet hatte. So konnte sie an Bord gelangen. Der Skipper und ein Freund befanden sich unter Deck. Sie brachen sich nicht das Genick. Man konnte die Jacht lenzpumpen und unter Nottakelage nach Südamerika segeln.«
»Großartige Seemannschaft«, sagte der alte Kapitän.
»Unsichere Reise in totaler Erschöpfung auf einem Wrack«, entgegnete ich. »Diese Menschen waren eisenhart. Sie versuchten später, wiederum Kap Hoorn zu bezwingen. Wiederum kenterte die ›Tzu Hang‹, wiederum erreichte man in Müh und Not Südamerika. Die See ist frei, captain, wirklich frei, und jeder segelt auf ihr nach eigenem Willen die Kurse seiner Bestimmung.«
Der alte Kapitän rauchte gedankenverloren. »Wieviele gute Schiffe«, sagte er schließlich mit einer vagen Handbewegung, »… wieviele gute Schiffe machte Kap Hoorn zuschanden.«
Mr. S. sagte herzlich: »Jetzt will ich Ihnen einmal zeigen, wie wir mit der ›Walanka‹ zur See fahren. Und dabei will ich mich mit Ihnen über Hamburg unterhalten. Ich emigrierte in den dreißiger Jahren. Es blieb mir nichts anderes übrig. Aber ich liebe die Stadt immer noch …«
Und während wir durch sein Schiff gingen, erzählte er Hamburger Geschichten. An der Gangway gaben wir uns die Hand. Elga und ich dankten ihm und seiner Frau. Der alte Kapitän qualmte gewaltige Wolken aus seiner schwarzen Pfeife.
Ich ruderte uns – ruck und ruck – aus dem blendenden Schein der Gangwaylampe. Ein Schlauchboot ist kein Salonsessel.
»Haben Sie Ihre Schuhe an Bord vergessen?« rief Mr. S.
»Keine angehabt!« schrie ich zurück.
Er lachte und hob grüßend die Hand.
»Fair winds!« rief der alte Kapitän mit Kommandostimme.
Am nächsten Morgen schickten sie uns einen gekochten Hummer zum Frühstück und die Einladung zu einem Duschbad für den Nachmittag. Wir freuten uns.
Kuchendüfte wehten am Nachmittag des Silvestertages durch die Kajüte bis hinauf zum Deck, wo ich Ausbesserungsarbeiten machte, die unter der ständigen Einwirkung des Tropenklimas sich nun unaufhörlich fortsetzen.
»Na, wird er was?« rief ich neugierig.
»Nicht so laut!« Elga steckte erhitzt den Kopf aus der Luke. »Sonst wird er klitschig.«
Elga hat in ihrer Patent-Deckelpfanne sogar schon Brot gebacken. Die ständige Gefahr bei solchen Unternehmen ist nur, daß nach kunstvollem Backen Brot oder Kuchen zusammenfallen. Wir ließen bisher nichts unversucht, um diese Gefahr zu bannen – von der Hitzeregulierung bis hin zu magischen Beschwörungen. Die letzteren sind meine große Aufgabe.
»Pfanaseisogut – kuchoprobelei«, flüsterte ich und kramte Farbdosen und Werkzeug zusammen, wobei ich mich der Luke näherte. »Wenn er fertig ist, laß mich probieren, gutes Kind – hungroimmaso –« Aber Elgas Kopf war verschwunden. Ich legte mich in den Schatten des Sonnensegels und sah zum sonnengebadeten Ufer hinüber, wo einige weiße Reiher bewegungslos standen. Darüber schlief ich ein.
Nach dem festlichen Abendessen saßen wir im Cockpit und tranken französischen Rotwein. Kurz vor der Dämmerung waren die weißen Reiher aufgeflogen. Als der Abendschimmer im Westen verglomm und das Konzert von Baumfröschen und Grillen begann, setzte im Uferdickicht das Spiel der Glühwürmchen ein. An immer neuen Stellen glühten sternhafte Punkte auf, verweilten sekundenlang und löschten aus.
Wir hörten Musik im Radio, tanzten ein wenig – so klein ist »Kairos« gar nicht – und unterhielten uns. Der Zauber dieser Inseln war ein unerschöpfliches Gesprächsthema für uns.
Columbus glaubte, den westlichen Weg zum reichen Indien gefunden zu haben. Aber er hatte einen neuen Kontinent entdeckt. Er hinterließ seinen Traum vom Golde, an dem er zerbrach, der spanischen Conquista. Mit Wünschelrute, Schwert und Kreuz wurden die »Westindischen« Inseln während des 16. Jahrhunderts durchstöbert, wurde das Festland im Westen der Karibischen See durchsucht und für die spanische Krone in Besitz genommen. Es wurde ein Abenteuer ohne Grenzen, das den Irrtum des Columbus hinsichtlich des entdeckten Kontinents berichtigte: es war nicht Indien. Aber es steigerte seine Phantasterei vom Gold: man fand niemals genug.
Die Spanier blieben nicht allein. Englands Weg zur Seeherrschaft begann in der Karibischen See. Hawkins und Drake kamen und plünderten die spanischen Niederlassungen wie Piraten. Wirbelsturmgleich stießen sie in die Häfen und schossen alles, was dort schwamm, kurz und klein. Phantastisch, was sie in den besetzten Häfen an Reichtum vermuteten. Sie verlangten Millionen an Lösegeldern, und jede Woche sank ein Straßenzug oder ein Häuserblock in Schutt und Asche, wenn ihre Erpressungen nicht erfüllt wurden. Mit einem Bruchteil von Millionen mußten sie sich begnügen, aber rauchende Trümmer ließen sie zurück. Ruhm und Admiralsrang waren ihnen sicher.
Frankreich durfte nicht zurückstehen. Nicht weniger maßlos als die Engländer handhabte der Pirat Florentin das Geschäft. Holländer und Dänen folgten in Bescheidenheit.
Die Ureinwohner, Kariben und Indios, überlebten den wüsten Einzug des Weißen Mannes nicht. Ihre Arbeitskraft fehlte bald auf den Plantagen. So fingen die Piraten Neger an den Küsten Afrikas und verkauften sie zu lohnenden Preisen, bevor sie brandschatzten und kaperten. Reichtum und Ruhm waren für Flibustier in jenen Tagen ebenso schnell zu gewinnen wie Untergang und Tod.
Weder Blut noch Pulverqualm vermochten den Zauber der Inseln auszulöschen. Ihre Namen sprechen von Träumen und Hoffnungen – Trinidad, Granada, Montserrat, Iles des Saintes, Virgin Islands. Eine Säbelscheide voll Frömmigkeit und ein Pulverhorn voll Romantik schenkten die Räuber und Schmuggler den Inseln ebenso wie tödliche Breitseiten.
Im 17. Jahrhundert werden aus diesen Piraten und Schmugglern Regierungsbeamte und Gouverneure. Die europäischen Mächte wollen verwalten und kolonisieren, was Seeräuber eroberten. Als Gouverneur von Jamaica, geadelt, gut ernährt, mit Richtlinien des Philosophen John Locke für die Verwaltung, die später in der nordamerikanischen Verfassung wiederzufinden sein werden, stirbt Sir Henry Morgan. Als Captain Morgan hing er gefangene Spanier an den Daumen auf, bis sie starben, und die Stadt Panama löschte er mit Schwert und Feuer so gründlich aus, daß sie nur neben den Trümmern neu erbaut werden konnte.
Ein Mäntelchen von Menschlichkeit sollte nun alles haben, einen diplomatischen Hintergrund. So gründet der Franzose d’Esnambuc zunächst eine Regierungsgesellschaft »der Herren der amerikanischen Inseln«, bevor er im Namen Frankreichs kolonisiert – kapert und plündert. Zu Gouverneuren und Regierungsbevollmächtigten gesellen sich die Pflanzer. Ihr Reichtum wird von den Negersklaven erarbeitet, die nun nicht mehr von Piraten sondern von Händlern angeboten werden.
Limbo heißt Vorhölle. Limbo nannten die Sklaven den Tanz, den sie dem Weißen Mann zur Unterhaltung während seiner Abendlangeweile vortanzen durften. Auch heute noch wird er Touristen vorgetanzt. Seine grausige Vergangenheit ist auf Hoteltanzböden vergessen.
Um die Tanzekstase zu steigern, wurde dem besten Tänzer die Freiheit versprochen. Und um ihm die Freiheit nicht geben zu müssen, wird der Tanz vom Weißen Mann zu einer fast unlösbaren Aufgabe gemacht. Zwei senkrechte Holzstangen tragen eine waagerechte. Sie werden das Tor zur Freiheit, wenn der Neger unter ihnen hindurchzutanzen vermag, ohne mit anderen Körperteilen als den tanzenden Füßen die Erde zu berühren und ohne die waagerechte Stange zu werfen. Sie liegt 30 Zentimeter über dem Erdboden!
Tanz, Nigger, tanz! Im Takt rasender Trommeln, mit vorgeschobenen Knien, zuckend den schweißüberströmten Körper hintüber gebeugt – tanz, Nigger, tanz! – schlangengleich die balancierenden Arme nach hinten gestreckt, in konvulsivischem Zittern, den Hinterkopf fast auf dem Boden – tanztanztanz! – gelingt es kaum einem, unter der Stange hindurchzutanzen. In die Freiheit?
Die Inseln sind heute die Inseln von Schwarzen. Aber welchen Preis mußten sie dafür zahlen, die Neger, die nie an Eroberung dachten. Gewiß, sie versuchen in Sklavenaufständen ihr Schicksal zu ändern. Herrenhäuser und Zuckerrohrfelder brennen. Von tanzenden schwarzen Teufeln werden weiße Männer, Frauen und Kinder buchstäblich in Stücke zerrissen. Aber es ist nur ein Aufzucken. Die Blutströme des Aufruhrs werden in Blutströmen der Unterdrückung erstickt. Von marschierenden weißen Teufeln werden schwarze Männer, Frauen und Kinder buchstäblich zu Hackfleisch bombardiert.
Das 19. Jahrhundert bringt die Abschaffung der Sklaverei. Freiheit: man läßt die Schwarzen laufen. Damit die Entwurzelten nicht ins Ausweglose laufen, gibt man ihnen ärztliche Hilfe, Schulunterricht, immer mehr politische Rechte. Die europäischen Regierungen beginnen, unter der wachsenden finanziellen Belastung zu stöhnen. Die Schwarzen, einst billiges Arbeitsvieh, werden jetzt eine teure Nutzlosigkeit. Zum Teufel mit ihnen!
Immerhin ist die Karibische See nun kein europäisches Schlachtfeld mehr. In Südamerika kämpfen die spanischen Kolonien unter Bolivar um ihre Unabhängigkeit und gewinnen sie. Im Krieg gegen die Vereinigten Staaten verliert Spanien seine letzte »westindische« Besitzung, Kuba.
So bleibt im 20. Jahrhundert von Spaniens einstiger Herrlichkeit nichts, von Frankreichs Ruhm nur ein paar zu »französischen Provinzen« erklärte Inseln, von Englands Seeherrschaft nur der unsichere Versuch, Urenkel afrikanischer Sklaven zu guten Demokraten zu machen.
Unsere Borduhr schlug 8 Glasen: Mitternacht! Das neue Jahr lag vor uns. Wir nahmen uns in die Arme.
Ich sagte nach einer Weile: »Du weißt, daß mein Urgroßvater im nordamerikanischen Bürgerkrieg für die Befreiung der Sklaven kämpfte. Mein Großvater erzählte mir von ihm und sagte dabei: ›Junge, eines Tages steht auch dir die Welt offen!‹ Ich denke jetzt oft daran – weniger an den idealistischen Reitersmann, der seinen Idealismus übrigens mit einem weggeschossenen Unterkiefer bezahlte, als vielmehr an das Wort meines Großvaters. Er wußte, daß man in die Welt hinausgehen und etwas wagen muß. Wir tun es und haben immer noch Angst. Lösen wir uns doch endlich von dieser Angst.«
Antigua, im Januar 1965 |
Es sind nur 40 Seemeilen von der Marigot Bay auf der englischen Insel St. Lucia nach Fort de France auf der französischen Insel Martinique.
Während des ganzen Tages sahen wir die Vulkankegel von Martinique voraus. Als nachmittags die Sonne niedrig stand, begannen sie zinkgrün zu leuchten. Als abends die Sonne sank, glühten die Wolken über ihren Gipfeln rot auf, die Lavahänge färbten sich stahlblau, ohne jedoch den zinkgrünen Unterton zu verlieren.
Weit im Norden hob sich der Mont Pelée, davor stieß der Doppelkegel der Pitons de Carbet in die blutigen Wolken. 1300 Meter hochgetürmte Lavamassen grüßten zu uns herüber in einem Farbenspiel, das durchaus der schaurigen Vergangenheit dieser Vulkane entsprach. Manchmal gaben die Wolken die Kraterränder frei: es war, als zeige ein Untier im Schlaf die Zähne. Außer daß in ihren Schluchten Schwefeldämpfe quellen, schweigen die Ungeheuer zur Zeit. Das Grün der Vegetation reicht zu ihren Kraterrändern. Am Fuße der Berge konnten wir menschliche Siedlungen erkennen.
Ein Schauer, der über uns entstanden war, verdunkelte Teile des Meeres und des Himmels in Sintfluten. Der Passat frischte heftig auf und änderte die Richtung, so daß wir in die Baie du Fort de France kreuzen mußten.
Wilde Bergformen, wilde Wolkenbildungen, wilder Seegang – »Kairos« segelte schwer geneigt in diese Urwelt hinein, deren einziger Trost die menschlichen Zeichen waren: zur Nacht aufleuchtende Lichter und das Leuchtfeuer des Hafens. Ohne sie hätten wir uns gefürchtet, diese Insel anzulaufen.
Spät in der Nacht fiel unser Anker im Hafen.
Der nächste Morgen kam klar und friedlich. Die Stadt, sonnenweiß am Ufer, sandte Geräuschfetzen ihres lärmenden Lebens zu unserem Ankerplatz unterhalb des alten Forts.
Wir hatten die Flagge »Q« gesetzt – »an Bord ist alles wohl, erbitte freie Verkehrserlaubnis« – doch kein Beamter ließ sich sehen. Wir warteten den halben Vormittag, dann ruderte ich zu der französischen Jacht dicht neben uns. Ich fragte den Skipper, wie es seine Landsleute mit den Hafenformalitäten hielten.
Er lächelte entgegenkommend und sagte: »Oh, monsieur, beunruhigen Sie sich nicht ganz unnötig! Gehen Sie an Land. Irgendwann kommt jemand zu Ihnen. C’est la France!«
Wir beunruhigten uns also nicht unnötig, ruderten an Land und bummelten durch die Straßen. Vom tiefsten Schwarz bis zum leichtesten Gelb zeigten die Menschen alle Hautschattierungen. Sie schienen selbstsicherer und klüger als die tragikomischen Neger, die wir auf den englischen Inseln trafen. Es fehlte ihnen diese zukunftslose und darum unheimliche Clownhaftigkeit. Die Männer waren in ihrem Frohsinn ernsthafter. Die Frauen zeigten etwas wie französischen Chic, den ihr betäubender Parfumduft freilich an die Grenze des Erträglichen brachte.
»Halt mich fest, Liebste!« bat ich Elga.
»Du findest sie chic, nicht wahr?« sagte Elga.
»Du findest mich ohnmächtig, sehr bald«, sagte ich.
Wir gingen zum Platz mit den Bushaltestellen und erkundigten uns nach Rundfahrtmöglichkeiten. »St. Pierre« lasen wir an einem der grün-gelben Fahrzeuge. »Das ist die Stadt«, sagte ich, »die der Mont Pelée vernichtete.«
Vom Städtchen Morne-Rouge hatten wir am nächsten Tage einen umfassenden Blick auf das Mont-Pelée-Massiv. Sein Krater war wolkenverhüllt. Wie erstarrte Gletscher führten die Hänge aus Lava zum Meer. Auch in ihrer erloschenen Bewegungslosigkeit war Drohung. Felder und Anpflanzungen waren angelegt, wo irgend nur die Möglichkeit bestand zu pflanzen und zu ernten. Wie lächerlich betriebsam sind wir Menschen doch – oder ist es heroisch unbeugsam?
Der Bus fuhr zur Küste hinab. Wir stiegen aus – in die Stille einer vernichteten Stadt.
Vor 63 Jahren war nicht Fort de France das Handelszentrum der Insel, es war St. Pierre – eine Stadt, wie sie nur Franzosen gründen können: bunt, lebhaft, heiter, überschäumend. Am 8. Mai 1902 brüllte der Mont Pelée auf. Eine Wolke giftigen, entzündlichen Erdgases wälzte sich über die Stadt. Die Vernichtung kam so schnell, wie sich dieses liest. Eine explosionsartige Feuersbrunst flammte auf. Mehr als 30000 Menschen erstickten und verbrannten. Sechzehn Schiffe auf der Reede sanken. Bis auf den Nordteil lag die Stadt vernichtet.
Für diesen nördlichen Stadtteil brauchte der Berg ein Atemholen. Am 20. Mai fegte er ihn mit einer kochenden Schlammflut hinweg. Dann deckte er Trümmer und Leichen mit einem Stein- und Aschenregen zu.
Man versuchte, die Stadt wieder aufzubauen. Es wurde nicht mehr als ein Fischerdorf daraus, das wie in einer anderen Welt steht.
Zwischen den kleinen, in großer Hoffnung bunt gemalten Hütten und Häusern, duckten sich die Ruinen so schwarz, als wäre die Vernichtung gestern über sie hereingebrochen. Die heiße Ruhe des tropischen Mittags flimmerte in öden Straßen. Kein Laut ringsum.
Fischernetze waren über dem stumpfen Sande des Ufers zum Trocknen ausgespannt. Aufs Land gezogen, warteten unter Palmendächern Fischerboote auf die abendliche Ausfahrt. Ihre Namen »Talion«∗, »Bon Garçon«, »Madonna« wirkten wie stumme Hilferufe vor den Hängen des Vulkans.
Fischer in zerlumpten Hosen und breitrandigen Strohhüten reparierten den Motor eines Bootes. Eine Mulattin wusch im gebänderten Schatten der Netze ihre Wäsche. Und ein paar nackte Kinder spielten im Lavasand.
Das geschah alles leise, weil man auf Gräbern nicht singt und schreit noch lacht. Wir grüßten. Der Gegengruß kam wie aus einer anderen Welt.
Am Abend kehrten wir nach Fort de France zurück. Schrill grüßte uns die Unbekümmertheit dieser Welt. Am Denkmal d’Esnambucs vorbei gingen wir zum Landesteg. Wir ruderten zu unserem Ankerplatz. Die Stadt zeigte ein stolzes Lichtermeer und lärmte unter den Lavakegeln der Pitons de Carbet. Auf der Reede ankerten sechzehn Schiffe.
Sodom, Gomorrha, Atlantis, Pompeji, St. Pierre – wo beginnt jene andere Welt, wo endet diese Welt? In Fort de France? Wie Seiltänzer leben wir inmitten unserer perfekten Zivilisation.
Ich baute das undicht gewordene Auspuffrohr unseres Motors aus. Es mußte an Land geschweißt werden. Als wir nach einigen Tagen zum Auslaufen klar waren, kamen die Hafenbeamten zum Einklarieren.
»C’est la France«, sagte ich wissend.
Aber sie schüttelten weise die Köpfe und sagten:
»Non, monsieur, zuviel Arbeit – c’est la vie!«
Wir segelten »Kairos« nach Norden von Insel zu Insel. Dominica sandte uns Schwefeldämpfe herüber. Die Isles des Saintes boten uns den Schutz ihres Inselringes. Dieser Naturhafen war einst Stützpunkt der französischen Westindienflotte; hier glättete der Gallische Hahn seine zerrupften Federn. Gouadeloupe bedachte uns mit heftigen Fallböen, bevor es uns die Schönheit seiner Buchten schenkte.
Schönheit überall mit den Spuren der Vergangenheit und den Zeichen der Gegenwart: immer wieder mußten wir uns zum Abschied zwingen. Auf dem Kartentisch lag unter der jeweils zu wechselnden Inselkarte die Seekarte des Großen Ozeans. Wir sahen sie immer wieder.
Unsere letzte Fahrt zwischen den Inseln führte nach Antigua. Wir liefen um Mitternacht von der Bucht Deshayes auf Gouadeloupe aus, um English Harbour hier auf Antigua am nächsten Nachmittag zu erreichen. Der Passat wehte aus Ost mit Stärke 5. Es gab viele Schauerböen. Zwischen den Inseln stand, wie gewöhnlich, unruhige See. Wir teilten den Rest der Nacht in zweistündige Ruderwachen ein.
In der Kajüte war es stickig. Die Luken konnten nicht geöffnet werden. Schwitzend lag ich im Halbschlaf und träumte, daß das Schiff sich neigt und neigt – neigt und nie wieder sich aufrichtet. Poltern, Krachen!
Ich erwache in einem Wasserstrahl, der breit durch die Ritze der Luke strömt. Ich arbeite mich zu Tode erschrocken aus der aufgestellten Koje und werde gegen den Niedergang geschleudert, als sich »Kairos« endlich wieder aufrichtet. Ich stolpere an Deck.
Das Cockpit ist wassergefüllt. Seine Abflußrohre geben schmatzende Geräusche. Elga sitzt an der Pinne mit einem mondscheinspiegelnden, marmorierten, riesenhaften Wellenrücken hinter sich. »Ich hab’ sie nicht gesehen, diese See!« sagt sie. »Sie war plötzlich da – wie aus dem Nichts. Sie hat das ganze Schiff überflutet. Da!« Das gereffte Großsegel ist bis zur halben Höhe durchnäßt, das Petroleumlicht der Hecklaterne 2 Meter über Deck ausgelöscht, ebenso das der Positionslaternen. Ich sehe benommen nach Luv. Die See im Mondschein läuft hart mit Brechern, aber da ist nichts Ungewöhnliches.
Plötzlich begreife ich. »Mein Gott – Elga!«
»Ich war angebunden«, sagt sie. »Und jetzt bin ich naß.«
»Geh gleich ’runter und zieh dich um.«
Es muß ein Roller gewesen sein, eine von diesen Gewaltseen, die entstehen können, wenn alle wellenbildenden Momente besonders günstig zusammenfallen: Wind, Strom, Dünung, Windseegang. Sie sind selten, doch gefährlich, weil sie ohne Vorzeichen kommen.
Nachdem Elga sich umgezogen hatte, zurrte ich das während der Inselsegelei längst vergessene Persennig über die Luke und setzte die Laternen wieder unter Licht. Den Rest meiner Freiwache verbrachte ich damit, den Inhalt der aufgesprungenen Schrankfächer aus allen Winkeln der Kajüte zu sammeln und wieder einzupacken. Als ich Elga anschließend am Ruder ablöste, fühlte ich mich wie ein pensionierter Akrobat.
Zauberhaft zart in der rosaroten Morgendämmerung kamen Backbord voraus die Umrisse der Insel Antigua, Backbord querab die von Montserrat in Sicht. Von Osten zog blau-schwarz eine Schauerbö herauf, die uns während des ganzen Vormittags zu schaffen machte und die Ansteuerung der im Regen verschwundenen Insel Antigua erschwerte. Wir hielten mit 20° ostwärts vor, da wir den westwärts setzenden Strom aussegeln mußten. Unter keinen Umständen wollten wir westlich von English Harbour an die Küste kommen, da wir dann hätten aufkreuzen müssen. Die Einfahrt von English Harbour ist außerdem sehr schwer zu finden. Sie liegt zwischen zwei Felsenkaps, die sich überlappen.
Mittags kam die Sonne durch. Der Passat wehte mit Stärke 6 nun, immer noch aus Ost. Wir segelten bis dicht unter die Küste und fielen ab. Trotz der mehrmals im Handbuch gelesenen Küstenbeschreibung konnten wir die Einfahrt nicht entdecken. Wir segelten an den schroffen Shirley Heights vorbei. Da sollten alte Kasernen stehen – zu sehen war nichts von ihnen.
»Hier, Herr Admiral!« rief Elga plötzlich. »Da ist Fort Charlotte! Und da die Batterie auf Barclay Point!« Es waren graue Ruinen aus Nelsons Tagen.
»Sehr gut«, sagte ich, »a-hm – bringen Sie mir Dreispitz, Fernrohr und Entermesser.«
Da lag die Einfahrt. Wir setzten unsere Flaggen und liefen ein. Die Bucht ist schmal und gewunden in ihrem Verlauf nach Norden. Das schützt sie vor Winden aus allen Richtungen und macht sie hurrikansicher. Mit Festungen an beiden Seiten gab sie in alten Tagen der englischen Westindienflotte einen guten Hafen. Hier pflegte der Britische Löwe seine Wunden, wenn ihm das Fell zerzaust worden war. Heute ist English Harbour Stützpunkt einer internationalen Jachtflotte von Atlantikseglern.
Wir ankern im hinteren Teil der Bucht, nicht weit von der Pier entfernt. Etwa 25 Jachten aller Größen und Takelungsarten liegen dort mit ausgebrachten Bugankern, die Heckleinen belegt auf senkrecht in die Pier gerammten Kanonenrohren. Da sind auch jene, die wir bereits an Spaniens Küsten, auf Madeira oder in Las Palmas getroffen haben. Nach der Einklarierung, als Flagge »Q« bei uns niedergeht, besuchen uns die Freunde.
Bryan mit Frau und Töchterchen kommt als erster von seiner »Askadil« herübergerudert.
»Hallo, wie geht’s euch?«
»Sehr gut. Und euch?«
»Gut, danke. Wie lange?«
»30 Tage von Las Palmas nach Barbados.«
»Wir haben’s in 26 Tagen geschafft. Kinder, ich sag’ euch, ›Askadil‹ ist gelaufen! Und der Passat war gleichmaßig und stark.«
»Wir hatten 8 Tage nur umlaufende schwache Winde. Es war eine ziemliche Quälerei.«
»Wo?«
»1000 Seemeilen ostnordöstlich von Barbados begann es.«
»Sieh an, da lag auch die ›Slocum‹ fest. Ihr habt zu weit südlich gestanden.«
Während die Frauen ihre Verpflegungs- und Stauprobleme besprechen, hängen Bryan und ich bald über der Atlantikkarte und diskutieren.
»Nicht zu weit südlich, Bryan. Wir lagen auf der gleichen Route, die Hiscock zweimal segelte …«
So weben sich Geschichten über den Ozean. Sie werden für Jachtsegler zum Bestandteil der See wie Wind, Strömung und Wolkenzug. Sie sagen nüchtern, was Segler auf kleinen Schiffen richtig und was sie falsch machten. Glück oder Unglück heben sich aus persönlicher Freude oder subjektivem Leid zum Besitz aller, die auf gleichen Kursen segeln.
Man sagt heute allgemein, daß Segel von den Weltmeeren verschwunden sind. Das ist nur richtig in Hinsicht auf die moderne Berufsseefahrt. Mehr Jachten denn je kreuzen in langen Distanzen die Weltmeere.
In diesen Reisen liegt kein Profit, sie dienen keinem Zweck im üblichen Sinne. Sie werden oft mit bescheidensten Geldmitteln, mühsam erspart, und immer mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit durchgeführt. Gewiß, sie reichen manchmal an die Grenzen des sinnlos Phantastischen. Eine Skala, die von krankhaftem Ehrgeiz bis zu weltfremder Träumerei reicht, liefert unzählige Motive. Sie enden mehr als einmal in Untergang, Strandung und Schiffbruch. Aber von der Mehrzahl wird auf diesen zwecklosen Reisen nüchterne, saubere Seemannschaft betrieben. Es werden Leistungen vollbracht, die ohne Zuschauertribünen und ohne johlendes Massenpublikum nach nichts weiter fragen als nach der Bewährung von Jacht und Mannschaft.
»Wo ist die ›Takebora‹ mit ihrem Einhandskipper?«
»Frag mich nicht«, sagt Bryan. »Irgendwo westwärts. Der Junge hat’s wirklich eilig.«
»Wann wollt ihr weiter?«
»Gar nicht.«
»Was? Aber –«
Bryan winkt ab. »Gil bekommt ein Baby. Wir wollen die ›Askadil‹ verkaufen und nach Sydney fliegen. Dort werde ich wieder eine Praxis eröffnen und – weißt du, wir segeln dann eben später von der anderen Seite in den Pazifik. Wenn die Kinder größer sind …« Er zuckt hilflos mit den Schultern.
Ich weiß, wie sehr dieser Mann an seinem Plan hing, die pazifischen Inseln segelnd zu besuchen. Ich weiß, mit welcher Hartnäckigkeit er alle Schwierigkeiten überwand. Und ich bewundere, mit welchem Können er seine »Askadil« segelt. Bei uns an Bord können wir alles mehr oder weniger teilen – bei ihm an Bord muß Gil, seine Frau, in erster Linie für das Kind da sein.
»Ihr könnt unsere Seekarten haben«, sagt er nach einem Schweigen. »Du sagtest mir mal, daß ihr in Panama die Karten für den Pazifik kaufen wollt. Ihr habt doch Australien eingeplant?«
»Ja.«
»Gut, dann gebt ihr mir die Karten in Sydney zurück.«
»Das ist eine große Hilfe. Vielen Dank, Bryan. Wir hörten inzwischen, daß die Lieferung von Seekarten in Panama äußerst ungewiß sein soll – übrigens auch in der US-Canal-Zone.«
»Kommt morgen ’rüber und sucht euch aus, was ihr braucht. Ihr spart ’ne Menge Porto.«
»Und Zeit, wenn das alles von England kommen muß.«
Am nächsten Tag holten wir uns fast 100 Seekarten, Spezialkarten und dazugehörige Handbücher von unseren Freunden. Unsere Freude wurde nur getrübt durch ihre Niedergeschlagenheit über das vorzeitige Ende ihrer Pläne.
English Harbour gab die erinnerungsreiche Kulisse zu unseren Vorbereitungsarbeiten für die Karibische See. Wenn ich in der Takelage hing, blickte ich oft zu den alten Hafengebäuden hinüber.
Hier waren die Großsegler eines Volkes repariert und ausgerüstet worden, das wie kein anderes die Weltmeere befuhr und Männer groß werden ließ, die kühl, sachlich und wirklichkeitsnah die Hohe Schule der Segelschiffahrt entwickelten.
Es lebt in den seefahrenden Völkern die Erinnerung an die Kunst dieser Segelschiffahrt und ebenso der Wunsch, sie nicht zu verlieren – sie, die dem Industrieunternehmen der Maschinenfahrt weichen mußte, nachdem sie in Jahrhunderten unter schwersten Erfahrungen entwickelt wurde. So segelt auf jeder Jacht ein Bruchteil Erinnerung mit, auch ein Bruchteil Gewissen. Es weiß um die Vollkommenheit, die der Mensch mit seinen großen Segelschiffen erreichte: mit eigenem Geschick Materie zu bilden und in eigener Entscheidung den Gesetzen der Natur zu gehorchen. Das ist der Einklang, den der wagende, sich mit dieser Erde auseinandersetzende Mensch erreichen muß – der Einklang von Materie und Geist und Freiheit. Ein Weg dorthin führt auf kleiner Jacht mit richtigem Kurs über die Weltmeere.
»Wir müssen eine bessere Wacheinteilung finden«, sagte Elga heute am Vorabend unseres Auslaufens. »Dieser Vier-um-vier-Stunden-Törn ist mörderisch.«
»Wie wär’s, wenn jeder während der Nacht zweimal 3 Stunden geht?« schlug ich vor. Das hörte sich im Hafen wundervoll an.
»3 Stunden sind als Wachzeit gut, als Schlafenszeit aber zu kurz«, gab Elga zu bedenken. Wir rechneten hin und her.
Schließlich hatte ich eine Idee. »Wir rechnen die Nacht immer mit 12 Stunden. Paß auf, Schlafmütze, wir machen die Nacht jetzt eine Stunde länger.« Und ich erklärte, was mir vorschwebte.
»Verstanden?« fragte ich dann.
»Nein.«
»Also – hier.« Ich malte auf eine alte Seekarte:
»Die Nacht hat nun 13 Stunden. Wir haben anfangs jeder 4 Stunden Schlaf. Du kannst sogar eine noch längere Freiwache haben, wenn du nach dem rechtzeitigen Abendessen vor 19 Uhr in die Koje kommst. Während des Tages teilen wir die Zeit zum Schlafen so, wie es Segelmanöver, Arbeit und Navigation zulassen.«
»Ja«, sagte Elga, »laß uns das ausprobieren.«
Nach dem Abendbrot ruderten wir zur »Bella Donna« hinüber. Bob und Sheila wollen in diesem Jahr über die Bahamas, Bermuda und die Azoren nach England zurücksegeln.
»Wer geht denn außer uns noch in den Großen Ozean?« fragte ich, als wir mit den beiden im Cockpit saßen, jeder mit einem großen Glas Rum-Cocktail, dessen Mixen Bobs anerkannte Spezialität war.
»Die ›Shireen‹, die ›Takebora‹ – ja, und ihr. Da ist auch noch die ›Posh‹«, sagte Bob. »Sie sind alle schon unterwegs Richtung Panama.«
»Wir sind also die Nachhut von vier Pazifikjachten. Erinnert ihr euch: in Las Palmas waren wir fünfzehn für den Atlantik. Es werden weniger und weniger, je weiter wir von Europa fortkommen.«
»Schreibt ihr uns?« fragte Sheila. »Es wäre schön, von Sonne und Segeln zu hören, wenn wir im Herbst wieder im Nebel sitzen.« Wir saßen und sprachen – sprachen bald über Winde und Kurse und Jachten. Wir wußten, daß dies unser letztes Gespräch für Jahre, vielleicht für immer war.
Dann nahmen wir Abschied.
Jetzt sitze ich in unserer Kajüte. Elga schläft bereits. Ich denke über die Freundschaft zwischen uns Jachtseglern nach. Sie ist intensiv und ehrlich – grenzenlos in Hilfsbereitschaft und Gedankenaustausch. Den gemeinsamen Stunden im Hafen folgen einsame Monate auf See. Dann hört man voneinander – durch andere Freunde, durch einen Brief. Und sieht man sich wieder: Jahre und Weltmeere liegen dazwischen. Die Freundschaft ist tiefer geworden.
So lebt zwischen den Kontinenten mit ihren staatlichen Grenzen eine kleine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Sie kennen keine Sprach- und Grenzschwierigkeiten, keine Farb- und Rassenunterschiede. Politik ist für sie eine längst überwundene Kinderkrankheit. Stets ist ihre erste Reaktion: Unbekanntes verstehen zu lernen, das hat die See sie gelehrt – ihre zweite: zu helfen, wenn es notwendig ist. Sie kommen von überall her und gehen nach überall hin – auf kleinen Schiffen über das Meer, das ihr Leben und Denken formt.
Balboa, Panama Canal Zone, im Februar 1965 |
Unsere Freunde standen am Ufer oder auf den Kajüten ihrer Jachren und winkten. Einige sprangen auf die alten Kanonen, andere kletterten in die Wanten der Mäste. Sie riefen alle: »Farewell!«
»Kairos« segelte aus der Bucht von English Harbour. Elga weinte. Ich schluckte. Die winkenden Gestalten wurden klein und verschwanden hinter den Ruinen der Battery auf Barclay Point. Wir waren plötzlich allein.
»Kurs 259 … Grad … am Kompaß«, sagte Elga vom Kartentisch. »Er führt genau … zwischen … Montserrat und … Redonde hindurch.«
Heiser sagte ich: »Es ist schön, immer wieder Abschied zu nehmen.«
Elga schüttelte den Kopf.
»Doch«, fuhr ich fort, »nach jedem Abschied brauchen wir uns um so mehr.«
Der atlantische Nordost-Passat ist ein Seewind, dessen blaues Wasser- und Himmelreich durch den Riegel der Westindischen Inseln erheblich gestört wird. Bevor er über den Cordilleren und Mangrovensümpfen des amerikanischen Festlandes enden muß, rafft er noch einmal alle Kraft zusammen und weht mit stürmischer Heftigkeit.
Unzählige Regenböen kamen. In breiter Front zogen sie über den Horizont: schwarze Regenwände, gekrönt von weißen Kumuluswolken. Während der vorige Schauer noch die Kimm voraus unsichtbar machte, fiel schon der nächste über uns her. Die zwischenzeitlichen Sonnenperioden reichten nicht aus, unsere Kleidung zu trocknen. So müßten wir Ölzeug tragen. Von außen regennaß, von innen schweißnaß – es war unerträglich. Aber wir wollten uns keine Lungenentzündung holen.
Der Wind war böig-unruhig. Ein Segelmanöver folgte dem anderen. Die Feuchtigkeit weichte die Haut der Hände auf. Blasen entstanden, entzündeten sich. Jeder Griff schmerzte, wenn die lahmen Finger sich ins Segeltuch krallten.
Erschöpft krochen wir in unsere Kojen. Unlustig quälten wir uns wieder an Deck. Wir verfluchten die Seefahrt.
Dann wurde das Wetter schön. Für vier Tage wehte der Passat gleichmäßig aus Nordost. Unser Bordleben nahm erträgliche Formen an. Der Abschiedsschmerz wich. Wir setzten die Passatsegel, gingen aber unsere Ruderwachen weiter, da wir wegen starken Schiffsverkehrs »Kairos« nicht sich selbst steuern lassen wollten. Unsere neue Wacheinteilung bewährte sich gut.
Wir hatten uns gerade wieder ans Leben auf See gewöhnt, als eine magische Klarheit über den Horizont stieg. Die Passatwolken, leichte Schönwetterwolken, wurden von ihr aufgesogen. Trotzdem wurde die Luft klebrig-feucht. Ein Schooner, der von achteraus langsam aufgeholt hatte, reffte Segel und drehte nach Süd ab. Wir segelten weiter.
Nachmittags 16 Uhr wehte es aus Ostnordost Stärke 6. Um 18 Uhr war es Windstärke 7 aus gleicher Richtung. Das Barometer zeigte nichts Außergewöhnliches. Ich reffte beide Passatsegel. Sie haben ein Bindereff und müssen zum Reffen heruntergenommen werden. Bei den heftigen Schiffsbewegungen war es ein langwieriges Unternehmen. Elga steuerte. Als die Sonne unterging, sahen wir vor ihrem roten Ball eine aufgewehte, feine Wasserstaubschicht über der groben See. Um 22 Uhr wehte es mit 8.
»Kairos« kam nun von den Wellenkämmen nicht mehr frei. Seine Fahrt war zu groß. Die mitlaufenden Seen versuchten ihn querzudrücken. Der Rudergänger arbeitete mit ganzer Kraft. Ich barg das Backbord-Passatsegel. Jetzt machte das Schiff wieder sichere Fahrt durch die Seen. Der Wind nahm weiter zu, er jaulte im Rigg. Der Seegang wuchs und lärmte wie ein Güterzug. Der Himmel zeigte klare Sternenpracht.
»Kairos« entfaltete eine uns bisher noch nicht bekannte Kraft. Da kamen diese Seen aus der Dunkelheit, steilten sich hinter dem Schiff auf. Das Heck wurde gehoben. Die See griff zu – Gegenruder jetzt! – der Bug kam hoch. Der Wellenrücken bildete kochende Kaskaden zu beiden Seiten des Schiffes und zog, während das Heck abwärts fiel, als solide, weiß-gefleckte Wand in die Nacht. »Kairos« schüttelte sich und warf das Wasser ab. Die nächste See kam rollend.
Manchmal brach sich der Seegang direkt hinter dem Heck. Wie mit einer Faust geschah der Schlag. Wasserhände griffen ins Cockpit, Gischtfinger umklammerten den festgelaschten Rudergänger, der plötzlich in reißendem Wasser saß und den Kurs nach der tanzenden Kompaßrose steuerte.
Es war ein wilder, nicht endenwollender Kampf.
In der Kajüte blieb es, abgesehen von den Rollbewegungen, bemerkenswert ruhig und still. Kamen wir hinunter, umgab uns die vertraute Umwelt so selbstverständlich und sicher, daß wir das Chaos oben vergessen und schlafen konnten.
Als die Sonne aufging, erreichten die Böen Stärke 9. Die See war weiß von Gischt, die Wellenhöhe betrug 6 Meter, manchmal mehr. Sturm war das. Unter den noch stehenden 8 Quadratmetern Segelfläche lief »Kairos« 141 Seemeilen von Mittag zu Mittag.
Es begegnete uns in 500 Meter Abstand ein 5000-t-Frachter. Bis zum Deck tauchte der Bug ein, warf stäubendes Wasser bis über die Brücke, bevor er sich triefend und schwerfällig hob. Auch bei der Großschiffahrt ging es nicht mehr friedlich zu.
»Da bekommt der Käpt’n ja’n ganz nassen Hut, wenn er auf die Brücke geht!« schrie Elga kopfschüttelnd. »Und diese entsetzlichen Bewegungen!« Ihr Kopfschütteln ging auf den ganzen Körper über. »Ich wäre in zwei Minuten seekrank.«
Es war schade, daß wir nicht hören konnten, was da drüben über uns gesagt wurde. Sicherlich schüttelten sie sich auch.
Abends ließ der Wind nach. Windstärke 6 bis 7 aus Nordost. Ich setzte das zweite Passatsegel gerefft. Doch »Kairos« lag mit ihm schlecht in der steilen See. So barg ich es wieder.
In der Nacht kreuzten zwei Dampfer unseren Kurs. Der eine kam so dicht, daß Elga mich weckte. Die Peilung zu ihm stand. Es drohte Kollisionsgefahr. Offensichtlich konnte man unsere Positionslichter wegen des Seegangs nicht sehen. Unter dem einen Passatsegel waren wir kaum manövrierfähig. Nach der Seestraßenordnung haben Dampfer Segelschiffen auszuweichen. Doch hier? Wir luvten an, so gut und so viel es ging. Wir kamen klar. Unheimlich stampfend klangen die Maschinengeräusche des Riesen herüber. Sein Hecklicht starrte wie ein bewegungsloses Auge. Die Gefahr war vorüber. Uns war übel vor Angst.
Nordost 6 – tagelang. Unser Ziel war dieses Mal keine Insel, in deren Lee wir gemütlich zum Ankerplatz segeln konnten. Unser Ansteuerungspunkt war die Punta Manzanillo, ein 500 Meter hohes Kap an der flachen Küste eines Kontinents, 25 Seemeilen nordöstlich des Hafens Cristóbal.
Ich fühlte Unbehagen. Es ist eine riskante Sache, vor starkem Wind und vor hoher See eine unbekannte Küste anzulaufen. Der Wind konnte zu dieser Jahreszeit jeden Augenblick wieder auffrischen. Dann würde Manövrieren vor der Küste sehr schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Wir mußten das Ziel auf den Kopf treffen. Jedesmal, wenn ich den Sextanten zur Hand nahm, tat ich ein stilles Gebet.
Am Tage unseres Landfalls ließ der Wind jedoch noch weiter nach. Bei Nordost 4 bis 5 setzten wir das Großsegel und die Fock 1.
Voraus, wo heute mittag die Küste in Sicht kommen mußte, standen Kumuluswolken. Es wurde diesig. Aus der brechenden See wurde schnell eine lange Dünung. Nach der Vormittagsbeobachtung der Sonne legte ich mich schlafen.
Es wurde ein erquickender Schlaf. Die Luken standen weit geöffnet. Wir trugen Segel, die uns voll manövrierfähig machten. Das Wetter war handig. Alle Umstände machten das Leben behaglich.
Als ich erwache, zeigt meine Uhr weit nach Mittag. Elga hat mich nicht zur Mittagsbeobachtung geweckt! Ich stürze sehr unbekleidet an Deck.
Dort sitzt Elga. »Wenn du dich jetzt umdrehst«, sagt sie heiter, »wirst du Amerika sehen – bitte!«
Ich wende mich um. Es versetzt mir einen Schlag: in 6 Seemeilen Entfernung, genau auf der Linie unseres Kurses liegt Punta Manzanillo. Ich erkenne den Sattelberg sofort, wie er im Handbuch beschrieben ist.
»Mensch! Elga!« schreie ich los. »Amerika! Stell dir vor, das ist Amerika!«
Ich konnte mich nicht beruhigen. Amerika, einst von Columbus irrend gefunden und seitdem als Zauber von Ferne, von Gold, von Freiheit immer wieder in unsere Europäerseelen gesenkt.
Nach dem Mittagessen hat sich Elga schlafen gelegt. Wir segeln nun auf neu abgesetztem Kurs entlang der Küste nach Cristóbal. Ich steuere und fühle, wie mein Herz schlägt. Du bist verrückt, Junge, sage ich mir, es ist eine Küste wie jede andere auch.
Aber so wie wir jetzt: heiß, feucht, dunstverhangen, so müssen auch die Spanier diese Küste gesehen haben. Das liegt 460 Jahre zurück. Was sind 460 Jahre für eine Ozeanküste? Nicht genug, um sie überhaupt zu verändern.
Wie eine Barriere legte sich damals die Küste vor grenzenlose Träume von Gold und Reichtum. Oder gab es Gold hinter ihren Dschungeln?
Der Mann, dem diese Frage keine Ruhe ließ, hieß Vasco Nuñez de Balboa. Er war ein verschuldeter Soldat, der mit der Conquista sein Glück in der Neuen Welt suchen wollte. Maßloser Ehrgeiz, bedenkenlose Kühnheit, blitzschnelle Entschlußkraft, eisernes Durchstehvermögen, das sind die Eigenschaften dieses Mannes.
Es gelingt ihm mit Versprechungen von Gold, das er zu finden hofft, sich einen Gouverneursposten an dem fieberverseuchten Küstenstrich zu erhandeln. Von einem gefangenen Indianer erfährt er dann, daß »nicht weit« zum Sonnenuntergang hin ein Meer mit »goldenen Küsten« liege. Das genügt.
Gold! Goldene Küsten! Mit einer Schar Abenteurer bricht er auf. Sie dringen in den Dschungel ein, hacken sich einen Pfad durch die grüne Hölle. Die meisten sterben am Fieber, an den Pocken, an Schlangenbissen. Kein Sterben in Frieden: es ist Aufbäumen, Qual, Verdursten und Verrotten, bis sich die Seele aus der verquollenen Kehle herausgeröchelt hat. Doch mit Ungestüm dringen die Überlebenden weiter vor – ein paar Meilen jeden Tag.
Allen voraus ist Balboa. Wo sind diese goldenen Küsten? Madonna, wo?
Am 3. Oktober 1513 erreichen sie das unbekannte Meer. Vor ihren fiebernden Augen breitet es sich nach Süden aus. Südsee nennen sie es deshalb. Golden funkelt die Sonne auf den Küstenwellen. Balboa watet bis zu den Knien in den Goldschimmer hinein und ruft mit pathetisch erhobenen Armen: »Im Namen der Königskrone von Kastilien ergreife ich von diesen Gewässern, Ländern, Küsten, Häfen und südlichen Eilanden Besitz!«
Der Große Ozean ist entdeckt. Er schenkt Balboa außer Sonnenglanz kein Gold. Nach seiner Rückkehr gerät er darum in eine endlose Kette von Intrigen und wird schließlich enthauptet. Der das Todesurteil verlesende Offizier heißt Francesco Pizarro. Mit ihm löst sich die Suche nach Gold vom Atlantischen Ozean, wird in den südamerikanischen Kontinent getragen und dann in den Großen Ozean, in die Südsee.
Bereits eine halbe Seemeile vor den Wellenbrechern des Außenhafens von Cristóbal nahm uns US-amerikanische Organisation liebevoll in ihre perfekten Arme. Ein riesiger Scheinwerfer flammte auf und erfaßte uns. Er leuchtete gerade so lange, um uns identifizieren zu können.
»Wir sind wie Steinzeitmenschen für sie«, sagte ich.
»Wieso?«
»Weil wir keine Radiotelefonie haben, um uns anzumelden.« Mit den grünen Richtfeuern auf der Gatunschleuse in Linie liefen wir schlingernd in den Außenhafen. 46 Seemeilen Kanalfahrt trennten uns noch vom Großen Ozean.
Eine Hafenbarkasse mit dem Namen »US Gesundheit« kam angeprescht. »Let go anchor!« rief man uns zu. Und während unser Anker noch in ungeahnte Tiefen sank – ich hätte viel lieber im flachen Innenhafen geankert – sprang ein alerter Mann bereits an Bord. Die schienen es hier mächtig eilig zu haben.
Der Mann trug am Hemd ein Namensschild »John Frost« und in der Hand eine Tasche, sehr groß, mit Formularen und einer Spritze für Insektenpulver. In der Brusttasche des Hemdes stak säuberlich eine endlose Reihe von Kugelschreibern in allen Farben. Am Gürtel war eine Klein-Tasche befestigt mit Injektionsspritze und Ampullen – sicherlich für »akute Fälle«.
»Hello!« rief Mr. John Frost. »Fein, daß ihr Leute da seid! Mache hier die Einklarierung. Können unseren job jetzt gleich tun, dann brauchen wir’s morgen nicht zu tun. Guten Trip gehabt? Fein! Immer ’ne Menge Wind jetzt in der Karibe.«
Während wir ein wenig fassungslos dieses US-Wunder anstarrten, kletterte Mr. John Frost in die Kajüte. Dort ließ er sich nieder und begann, Formulare um sich zu verbreiten. Wir waren schüchtern gefolgt.
»Na, alles gesund an Bord? Fein! Nennt mich John. Haben euch schon gestern erwartet.«
»Erwartet?« fragte ich.
John freute sich. »Ja, denkt ihr Leute denn, wir wissen nicht, was in der Karibe ’rumfährt? Wir wissen’s!«
»Ach so«, sagte ich.
Wir füllten hungrig, müde, mit brennenden Augen die Formulare aus. Dann wurde das Schiff vermessen – richtig mit Zentimeterband: Vorschiff, Achterschiff, Mittelschiff, Maschinenraum. Wir schwitzten alle heftig, aber es half nichts. Die Ergebnisse wurden fein säuberlich in Tabellen eingetragen.
»Danach wird die Gebühr errechnet«, erklärte John.
»Wie umständlich für eine Jacht«, meinte Elga. »Ein Frachtdampfer hat das alles sicherlich in seinen Schiffspapieren. Nehmen Sie doch für Jachten eine einheitliche Gebühr, John.«
John lachte. »Das ist nicht mein job, Leute. Ich vermesse. Wenn ihr mal wieder des Weges kommt, haben wir euch in unseren Akten. Dann kommt ein anderer an Bord. Wir sind alle spezialisiert.«
»Ach so«, sagte ich.
Um 23 Uhr, nach drei Stunden Arbeit, waren wir fertig – richtig fertig. John bekam einen männermordenden Gordon’s Gin eingeschenkt und zeigte sich erstaunt, daß wir noch kein Abendbrot gegessen hatten. Nachdem er uns mehrere Male eingeschärft hatte, mit welchen Papieren wir zu welchen Behörden morgen zu gehen hätten, verschwand er strahlend und winkend auf »US Gesundheit« im Lichtdunkel des großen Hafens.
Lautes Schlagen an Deck weckte uns am nächsten Morgen. Vollkommen verschlafen, nur mit einer Turnhose bekleidet, stürze ich an Deck. »US Gesundheit« liegt längsseits. Ein panamesischer Bootsmann donnert mit dem Bootshaken aufs Kajütsdach.
»Hölle!« fahre ich den Bootsmann an. »Hau ab!«
Er grinst amerikanisch, strahlend also.
Ein alerter Mann springt an Bord – am Hemd ein Namensschild »John Brians«, in der Hand eine Tasche, sehr groß, mit Formularen und einer Spritze für Insektenpulver. In der Brusttasche des Hemdes steckt säuberlich eine endlose Reihe von Kugelschreibern aller Farben. Am Gürtel ist eine Klein-Tasche befestigt mit Injektionsspritze und Ampullen für »akute Fälle«.
»Hello!« ruft er. »Fein, daß ihr Leute da seid! Mache hier die Einklarierung. Tun wir’s gleich, dann brauchen wir’s später nicht zu tun. Guten Trip gehabt? Fein! Immer ’ne Menge Wind jetzt in der Karibe.«
Ich erkläre verwirrt, daß gestern John I …
»Ja, John!« ruft John II, »feiner Junge das! Aber er hat ’nen job auf’m Tanker jetzt. Und da bin ich eben zu euch gekommen. Nennt mich John.«
Wir werden also vermessen. Warum auch nicht? Vorschiff und Achterschiff. Wieviel Ladeluken? Wieviel Särge? Welche Häfen seit Beginn der Reise? Wann wurde das Schiff zum letzten Mal entrattet?
»Entrattet?« frage ich.
»Entrattet«, sagt John II geduldig, als spräche er zu Steinzeitmenschen. »Entrattet – also – von Ratte – wie große Maus.« Er zwinkert mit den Augen. »Sehe schon, keine Ratten an Bord. Würde das Schiffchen ja auch gar nicht tragen können.«
Dann erklärt er uns, mit welchen Formularen wir zu welchen Behörden heute gehen müssen. Und dann ist er ganz erstaunt, daß wir noch kein Frühstück gehabt haben. Und schließlich entschwindet er strahlend und winkend auf »US Gesundheit« in die lichtgebadete Sonnenweite des großen Hafens.
In der Stadt liefen wir uns die Absätze krumm an diesem Tage. Doch allerorten war man von überwältigender Freundlichkeit.
Wir hatten unser kleines, rotes Schlauchboot ganz in der Ecke des Hafenbeckens festgemacht. Als wir am Nachmittag zurückkehrten, fürchteten wir schon in der Ferne das Schlimmste. Der Bug eines Flugzeugträgers ragte über die Dächer der Schuppen. Wenn ich etwas nicht mag, dann, daß Flugzeugträger neben unserem kleinen, roten Schlauchboot festmachen – besonders seitdem es nicht mehr ganz neu ist und Flickstellen hat. Wir eilten zur Pier.
Aber es war alles in Ordnung. Das Schlauchboot lag klein und rot in der Hafenecke und rieb seine Nase vertrauensvoll an dem grauen Riesenbug. Seht mal, schien es zu sagen, womit ich heute spielen darf!
Wir verholten »Kairos« zum Jachtclub, dessen Gebäude am alten Französischen Canal liegt. Dort machten wir am Steg fest. Die »Posh« aus Los Angeles und die »Coaster« aus Seattle lagen dort. Die Skipper Bob und Don lebten mit ihren Familien an Bord. Sie wollten ebenfalls durch den Kanal – die »Posh« dann weiter nach Los Angeles, die »Coaster« nach Hawaii.
Sie begrüßten uns mit einem Willkommenstrunk, der lustig zum Abend in ein Barbecue auf dem Clubsteg überging.
»Fein, Leute!« sagte ich schließlich gesättigt und konnte, von einer Menge Whisky zu sozialem Denken gebracht, meine Erfahrungen des Tages zusammenfassen: »Fein, daß ihr Leute und wir Leute – daß wir alle da sind.«
Die Panama Canal Zone ist Territorium der USA. Sie umfaßt einen Streifen Land von 5 Meilen zu jeder Seite des Kanals, eingeschlossen die Seen des Inlandes, den Gatun See, den Miraflores See und den Madden Stausee. Letzterer gewährleistet das Füllen der Schleusen. Die Grenze zur Republik Panama ist durch keine Schlagbäume gekennzeichnet. Doch wo die wie keimfrei wirkenden Häuser, die sauberen Straßen, die gepflegten Rasen aufhören und überfüllte Kehrichttonnen, verwahrloste Häuser und schmutzige Gossen beginnen, da verläuft augenfällig die Grenze.
1889 mußten die Franzosen die Arbeiten an dem von Ferdinand Lesseps geplanten Kanal einstellen. Milliarden an Geld, zehntausende an Menschenleben hatte dieser schmale Streifen Festland gekostet, der zwei Weltmeere trennt und zwei Landmassen zu einem Kontinent verbindet. Mit Gelbfieber, Malaria, Seuchen, mit Sumpf, Dschungel und granitenen Bergen hatte er Kapitalkraft, Ingenieurkunst, Organisationstalent zuschanden gemacht – acht Jahre vergeblichen Mühens.
Zu einem Spottpreis kauften die Amerikaner die Rechte auf. Sie vollendeten den Kanal nicht mit Spaten und Bulldozer. Sie taten es mit Petroleum und Feuer. Sümpfe und Dickichte, die Brutplätze der krankheitsübertragenden Moskitos, wurden mit Petroleum übergossen und niedergebrannt. Jetzt konnte der Kanal in einem fieberfreien Gebiet zu Ende gebaut werden. Seitdem haben es die Amerikaner verstanden, ihre Canal Zone gesund zu halten. An der atlantischen Seite liegt der Hafen Cristóbal, an der pazifischen der Hafen Balboa. Die entsprechenden panamesischen Städte heißen Colón und Panama.
Wir rüsteten uns in Cristóbal aus. »Kairos« mußte noch weit mehr als bei unserer Ausreise von Hamburg beladen werden. Denn wir wußten nicht, was es auf den Pazifik Inseln außer den ortsüblichen Lebensmitteln zu kaufen geben würde.
Wir verfertigten wieder endlose Listen, tätigten endlose Einkäufe und schleppten alles im Schweiße unseres Angesichts an Bord. Schwierigkeiten bereitete die Beschaffung von Knäckebrot, wir mußten mit amerikanischen Biskuits vorliebnehmen. Sie schmecken pappig. Schön war der Erwerb von Salzwasserseife, mein morgendliches Duschbad auf dem Vorschiff würde im Zeichen schäumenden Genusses stehen.
Abends saßen wir über Seekarten und Handbüchern. Im Großen Ozean waren die Galapagos Inseln unser erstes Ziel. Flauten, Gewitterböen, starke Strömungen herrschen dort. Aus den Erfahrungen unendlich vieler Segelreisen sind in den Handbüchern günstige Kurse über See beschrieben. Wir lasen, machten Punkte auf die Karten, legten Kurse fest, die bald das Abenteuer der Verwirklichung finden sollen.
Mit Bob und Don besprachen wir die Kanaldurchfahrten unserer Jachten. Sie wollten uns bei unserer Durchfahrt helfen, wir ihnen bei der ihrigen.
Drei Schleusen, als Schleusentreppe eine hinter die andere gebaut, heben die Schiffe zum Kanal. Durch ebensoviele geschieht das Abschleusen im Westen. Das Aufschleusen ist für Jachten nicht ohne Risiko, da das Füllen der Kammern vermittels Falldruck aus dem Stausee erfolgt. Das Wasser strömt aus meterdicken Bodenrohren ein. Es bilden sich starke Wasserwirbel. Dampfer werden von vier Dieselloks, die jeweils zwei Bug- und zwei Heckleinen übernehmen, in die Schleusen gezogen und während des Schleusens frei von den Mauern gehalten. Jachten werden ebenso wie die Dampfer, jedoch ohne Dieselloks, an vier Leinen in die Mitte der Kammern gelegt. Von Schleuse zu Schleuse fährt die Jacht unter eigener Motorkraft.
Wir bezahlten unsere Gebühren im Verwaltungsgebäude. Das Ergebnis der vereinten Meßkünste unserer Johns betrug US-Dollar 2,88. Die Kosten für den Lotsen, den die Kanalordnung vorschreibt, waren darin bereits berücksichtigt.
Früh am Morgen kam der Lotse. Es war das erste Mal, daß eine so kompetente seemännische Persönlichkeit unser Deck betrat. Bob, Don, Elga und ich standen achtungsvoll auf den nunmehr überfüllten Decks.
Er begrüßte uns jovial: »Hello! Fein, daß ihr Leute klar seid! Na, werft man los. Wollen sehen, daß wir diesen Floh schnell durchkriegen. Wie lang sind die Leinen? Wie stark ist die Maschine? Deutsches Schiff? Ha! Wo ist das Bier?«
Nun – die vier 50-Meter-Leinen hatten wir bereits in Hamburg gekauft, die Maschine lief, nur Bier hatten wir nicht. Aber Whisky tat es schließlich auch.
»Nennt mich Tim«, sagte unser Lotse.
Hinter einem 9000-t-Dampfer liefen wir in die erste Schleuse. Die Männer an Land schleuderten die Wurfleinen. Mit ihnen wurden unsere Festmacher aufgeholt und an den Pollern hoch oben auf der Mauer belegt. Fest? Fest! Das Wasser begann einzuströmen und zu wirbeln.
Um das Schiff freizuhalten, mußten die Leinen bei schnell steigendem Wasser laufend eingeholt werden. Schwitzend arbeiteten wir, hol ein, hol ein! Wurde das Schiff seitwärts gedrückt, wurden die Leinen blitzschnell festgelegt. Innerhalb von 8 Minuten hatte sich der Wasserstand um 9 Meter gehoben.
Die Tore zur nächsten Schleuse öffneten sich. Noch einmal gab es eine Belastung, als der vor uns liegende Dampfer den anziehenden Diesellokomotiven mit einem Stoß seiner Schraube Unterstützung gab. Unsere Leinen knirschten und zitterten.
»Go on!« schrie Tim und winkte wie ein Feldherr den Männern auf der Mauer, unsere Leinen zu lösen. »Go on! Gib ihr Saft, Junge! Teufel, hab noch nie so’n kleines Schiff gelotst.« Noch zweimal wiederholte sich der Vorgang, dann befanden wir uns 27 Meter über dem Spiegel der Weltmeere.
Auf dem Gatun See liefen wir unter Maschine und Segel schnelle Fahrt. Im schmalen Gaillard Durchstich glühte die Sonne. Wir bargen die Segel. Ein deutscher Bananendampfer begegnete uns.
Das Abschleusen war sehr viel weniger atemberaubend. Es entstehen dabei keine Wasserwirbel. Wieder hatten wir alle Hände voll zu tun – diesmal um Leine zu stecken, fier weg!
Dann öffnete sich das letzte Schleusentor. Es war dunkel geworden, als wir unter Tims Weisungen zur Reede des Balboa Yacht Club steuerten. So konnten wir den großen Ozean an diesem Tage nicht mehr sehen. Aber wir spürten ihn: mit der einsetzenden Flut begann seine Dünung in die Bucht zu laufen. Aus welcher Weite kam sie?
Ich brachte »Kairos« an die Boje.
»Stop it!« rief Tim. »Hier sind wir – okay!«
»Boje fest!« riefen Bob und Don vom Vorschiff.
Elga stellte die Maschine ab. In der plötzlichen Stille schwiegen alle.
Ich stieß Elga unbemerkt an. Wir fühlten: die Atlantische Welt lag hinter uns. Nur 46 Seemeilen?
Hier war die Stadt Balboa. Hier hatte der Mann Balboa gestanden und mit geöffneten Armen gerufen: »Ergreife ich Besitz von diesen Gewässern, Ländern, Küsten, Häfen und südlichen Eilanden.«
Nun gab es für uns nur noch einen Weg nach Hause – westwärts um die Erde herum.
∗ Eine Windfahnen-Steuereinrichtung war 1964 in Deutschland noch nicht zu erhalten – und in England zu teuer. – Anm. d. Verf.
∗∗ Talion: mosaische Vergeltung