Читать книгу Die vier Weltteile - Hanno Millesi - Страница 5
ОглавлениеVornehmen Wächtern vergleichbar flankierten zwei mächtige Türflügel den Übergang von einem Raum in den nächsten, und, als kümmerte sie deren strenges Erscheinungsbild in ihrer Ausgelassenheit kein bisschen, stolperten, tollten und tanzten Konrad und Emily über die von diesen beiden hölzernen Riesen kontrollierte Schwelle, ahnungslos, dass sie damit gut hundert bis hundertfünfzig Jahre hinter sich brachten, über mehrere Grenzen fegten, kulturelle Barrieren in ihrem Gekicher untergehen ließen wie die Regime untergegangen waren, die diese Barrieren hervorgebracht hatten. Verfolgt wurden Konrad und Emily von Iggy, eines seiner dünnen Ärmchen zur Geste eines Anführers all der noch vor ihm liegenden Jahre erhoben, seine widerspenstigen Haare ein fröhliches Chaos, zwei Finger zum Victory-Zeichen ausgestreckt, allerdings verkehrt herum, mit dem Handrücken nach außen, was in den Augen vieler eine obszöne Geste darstellt, wovon andere wiederum, und Iggy – so viel steht für mich fest – unter ihnen, keine Ahnung hatten und haben.
Später, nach der ganzen Geschichte, als diese letzten paar Augenblicke im Zeichen der Unbekümmertheit vor mir abliefen, fiel mir das berüchtigte Bild jener Terroristin aus den 1970er-Jahren dazu ein, die im Anschluss an das Scheitern ihrer Mission, bereits auf der Tragbahre liegend, mit der man sie schwer verletzt abtransportierte, ihren Arm von sich gestreckt hielt, um der Fassungslosigkeit der Welt dieses Symbol des Sieges entgegenzuhalten. Richtig herum, nicht wie Iggy, für viele jedoch zum falschen Zeitpunkt: sich in den Händen jener wissend, die sie sich zu erbitterten Gegnern gemacht hatte, in Anbetracht der von ihr zu verantwortenden Katastrophe, des Leids, der Toten, ihres gerechten Misserfolgs.
Vielleicht bezog sich, habe ich mir damals angesichts der Medienbilder zu unserer Geschichte und im Bewusstsein, dass es sich wahrscheinlich anders verhielt, gedacht, vielleicht bezog sich ihre Geste ja auf den in den Augen so vieler Menschen glücklichen Ausgang dieser Tragödie, für deren Dauer sie in die Rolle einer Schurkin geschlüpft war. Während die Welt aufatmet und sich bestürzt eingestehen muss, dass die Zahl der Toten verhältnismäßig gering ist, wird sie als letzte, als übrig gebliebene Urheberin von der Bühne getragen, der Vorhang über ihren zerschossenen Leib gebreitet, über ihr Gesicht, weil ihr Leben, wie es sich bisher ereignet hat, als verwirkt gelten kann. Und doch lässt sich, was an Menschlichkeit von ihr noch vorhanden ist – dank des brutalen Endes ihrer Mission, endlich befreit –, lässt sie es sich nicht nehmen, dem Triumph über das Böse zu applaudieren.
Ehe diese vage gedankliche Assoziation sich wieder in nichts auflöste, tauchte der Apachenhäuptling Winnetou aus den verworrenen Jagdgründen meines frei schwebenden Denkens auf. Am Schluss einer Freiluft-Inszenierung der Geschichte seines Lebens, das mit seinem gewaltsamen Tod endete, erhob er sich vom Boden und winkte einem in Tränen aufgelösten, in der Mehrzahl sehr jungen Publikum zu, wie um darauf hinzuweisen, dass ihn die ganze Zeit über ein Schauspieler verkörpert habe, dem in Wirklichkeit gar nichts passiert sei. Als hätte der Schauspieler angenommen, unsere Tränen gelten ihm! Dabei vergossen wir sie für den legendären Apachen, bei dem es sich – das hatten wir sehr wohl begriffen – um eine erdachte Figur handelte, die gar nicht erschossen werden konnte, es sei denn, um unseren Träumen gewaltsam ein Ende zu bereiten, um uns in unserer noch vagen Vorstellung von der Welt wehzutun. Wir weinten um das Legendäre in uns, ohne eine Ahnung zu haben, worum genau es sich dabei handelte.
Tessa folgte Emily, Konrad und Iggy in einigem Abstand, hatte sie sich doch für ihre eigene Form der Fortbewegung entschieden. Wie ein versponnener Krebs richtete sie jeden ihrer Schritte schräg versetzt zum vorhergehenden aus und versuchte so, auf keine der zwischen den Parketten verlaufenden Fugen zu treten. Mochte die Richtung auch vorgegeben sein – von den vorneweg laufenden Kindern, von den wachsamen Türflügeln, von uns Erwachsenen –, Tessa bestimmte, wie sie die Strecke zu bewältigen gedachte. Während die anderen durch die Epochen sausten, hatte Tessa sich dafür entschieden, Regeln einzuhalten, zu deren Charakteristika es gehörte, herauszufinden, ob sie sich geschickt genug anstellen würde, diese nicht zu übertreten. Wer nicht bereit war, seinen Weg auf die gleiche Art und Weise zu absolvieren wie sie, existierte vorläufig nicht, bewegte sich in einem Raum-Zeit-Kontinuum, das Tessa aus Gründen der Langeweile vorübergehend verlassen hatte.
Den Blick abwechselnd auf die Kinder vor uns und die Wände um uns herum gerichtet, bewunderte ich Tessa dafür, wie spielerisch es ihr gelang, sich in einer ausschließlich ihr selbst vorbehaltenen Dimension zurechtzufinden. Und doch konnte ich es nicht lassen, musste Tessa ermahnen, nicht zu trödeln, es mit den offenbar nur für sie geltenden Anweisungen nicht zu genau zu nehmen und lieber zu den anderen aufzuschließen. Die vorneweg flitzenden Emily und Konrad hatten mich dazu veranlasst, einer von Wandas ungeduldigen Blicken, wahrscheinlicher aber der Neid, weil ich selbst schon seit einer gefühlten Ewigkeit und unwiderruflich von einer Unzahl von Regeln beherrscht wurde, die andere aufgestellt hatten. Weil ich nicht einmal mehr mein Tempo selbst bestimmte, sondern es auf eine ausgelassene Horde wie Emily, Konrad und Iggy abstimmte.
Glücklicherweise hörte Tessa mich nicht. Die bislang noch nicht ausreichend getrübte Ursprünglichkeit ihrer Fantasie bewahrte sie in ihrer Unaufmerksamkeit davor, sich beim Absolvieren des ihr vorgeschriebenen Parcours von einem wie mir ablenken zu lassen. Schließlich waren wir Erwachsene, Wanda und ich, doch gerade aus dem Grund zu zweit, um uns, falls notwendig, aufteilen zu können.
Ehe es Tessa und mir gelang, Wanda und die anderen Kinder zu erreichen – das bevorstehende Überschreiten der Türschwelle schien, wie das Fingerschnippen eines Magiers, sämtliche der für Tessa geltenden Vorschriften außer Kraft zu setzen –, kamen uns Emily, Konrad und Iggy bereits in einer Stimmung, deren Spektrum von purer Ausgelassenheit (Iggy) bis zu echter Verängstigung (Konrad) reichte, entgegen. Wanda folgte ihnen, blieb jedoch im Türrahmen stehen wie ein Schutzengel mit hölzernen, an Scharnieren befestigten Flügeln.
Sie hätten, stammelte Emily, die sich zur Wortführerin erhoben hatte – wahrscheinlich weil Konrad momentan die Worte fehlten und Iggy, das wussten wir alle, allzu sehr zu Übertreibungen neigte –, sie hätten im anderen Saal ein Krokodil gesehen, das, sein Maul sperrangelweit geöffnet, gerade dabei gewesen wäre, aus dem Wasser – ehe sie Wasser sagte, blickte Emily fragend zu Wanda, deren bloße Erscheinung die Annahme des Kindes zu bestätigen schien –, aus dem Wasser also, herauszukommen.
Der spielerische Schauer, von dem ergriffen sich die drei Kinder zeigten, eine Spielerei, bei der sich die darin Involvierten der Grenzen zur Ernsthaftigkeit – wie an Konrad zu sehen – nicht vollends bewusst waren, zog Tessa unwiderstehlich an, und sie trat, ohne sich erst von der Quelle dieses Schauers zu überzeugen, zu den restlichen Kindern und begann zu schlottern wie unter der kalten Dusche.
Wanda, nach wie vor im Türstock fixiert wie in einem Bilderahmen, lächelte, erklärte mit diesem Lächeln, was gar nicht hätte erklärt werden müssen, und fügte belehrend hinzu, dass das Krokodil im Fluss Nil zu Hause sei. Außerdem erinnerte sie daran, dass die anderen Kinder offenbar keine Angst vor ihm gehabt hatten.
»Die sind auch mit ihm befreundet«, meldete sich Konrad, noch unentschieden, ob er es Emily und Iggy gleichtun sollte, für die aus der Begegnung mit dem Krokodil mittlerweile, wie es schien, ein Anlass zur Begeisterung geworden war, oder ob er doch lieber seinem Drang zu weinen nachgeben sollte. Immerhin hatte er ein Monster gesehen, das sich nicht davon abhalten lassen würde, ihn den ganzen restlichen Tag lang in seinen Gedanken zu verfolgen. Konrads achteckige Brillengläser begannen schon mal anzulaufen. Dabei fürchtete er, schoss es mir unverzüglich durch den Kopf, gar nicht das Krokodil. Konrad bezog das auf ein ganz allgemeines Bild des Schreckens, dem er heute in der Gestalt eines Reptils begegnet war, eines Schreckens, der sich erhoben hatte, aus dem Wasser gekommen war, um von nun an zu seinem ständigen Begleiter zu werden.
Kurz darauf lachten wir alle schon wieder. Wir lachten über die Situation, über Konrad, über die verrückte Idee einer Freundschaft zwischen Kindern und Krokodilen. Wir lachten über Wanda, die nach wie vor im Türrahmen stand, wie in einem Wetterhäuschen, das zwar über zwei Türflügel, aber bloß über ein Symbol, nämlich jenes für Sonnenschein verfügte. Und Konrad lachte mit uns. Er lachte über seine alberne Angst, als wisse er sich in diesem Lachen mit uns anderen vereint, weshalb er mit dem Schrecken, sollte der sich tatsächlich an seine Fersen geheftet haben, zumindest nicht allein bleiben würde. Und dieses Lachen war, meiner Erinnerung zufolge, das Letzte, was uns verband, ehe sich die Situation gravierend verändern sollte.
Zunächst beschlossen wir umzukehren und unseren Weg in einer anderen Richtung fortzusetzen, vor allem um Konrad eine weitere Begegnung mit dem Krokodil zu ersparen. Seinem Verständnis nach wäre es die erste Begegnung im Anschluss an die vorangegangene erste gewesen. Die erste absichtliche, ungeachtet seines Wunsches, die vorherige erste gleichzeitig die letzte gewesen sein zu lassen. Tessa legte keinen Wert darauf, das Krokodil mit eigenen Augen zu sehen, nicht nach dem erlösenden gemeinsamen Bibbern, dem sie sich zuvor angeschlossen hatte, nicht angesichts des Rückwegs, der ihr erneut die Verstrickung in ein von ihr selbst ersonnenes Regelwerk in Aussicht stellte. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, Tessa angesichts des riesigen vor ihr ausgebreiteten Netzes aus Parketten und Fugen, Horizontalen und Diagonalen leise seufzen zu hören. Ein Seufzen, das jeglichem auf ihr Vorhaben bezogenen Zweifel Gelegenheit gab, ihren kleinen Körper zu verlassen, wie über jene gelben, aufblasbaren Notfallrutschen, die Passagieren eines in Schwierigkeiten geratenen Flugzeugs zur Verfügung stehen. Die fugenlose Form der Fortbewegung hatte sich bewehrt, schließlich war Tessa auf diese Weise die Konfrontation mit einem furchterregenden Wesen erspart geblieben.
Als unsere Karawane – mir kam vor, in ihr fänden sich sämtliche Varianten des Menschseins und Menschwerdens vereint – sich wieder der Richtung zuwandte, aus der wir gekommen waren, stellte sich uns ein Aufseher in den Weg, dem wir bereits zuvor begegnet waren (Tessa: »Das war in dem Raum mit dem Einhorn auf einem Bild«). Ich hatte ihn mir gemerkt, weil er, während wir durch den ihm zugeteilten Saal geschlendert waren, den Eindruck erweckt hatte, jeden unserer Schritte mit Argwohn zu verfolgen. Als hätten wir unaufgefordert einen seiner Privaträume betreten. Jeder einzelne Blick, den wir auf eines der Bilder an den Wänden richteten, zehrte merkbar an seinem Nervenkostüm, als bedienten wir uns an ohnehin knapp bemessenen Vorräten, die ausschließlich ihm zustünden. Als verfüge, was von uns angeschaut wurde, danach geraume Zeit nicht mehr über jenen Glanz, den es in den Augen würdigerer Betrachter üblicherweise zu entfalten vermochte (»Wann spielt das, wenn darin Einhörner vorkommen?«).
Diesmal bemühte sich der Aufseher um keinerlei feindseligen Eindruck. Er wirkte überfordert und gleichzeitig gefasst. Vor uns stand ein Mann, entschlossen, die Fassung zu verlieren, von der Uniform eines Aufsehers daran gehindert und stattdessen dazu gedrängt, sämtliche für einen Ausnahmefall vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen. Ein Ohr an sein Funkgerät gepresst, murmelte er uns, wie beiläufig, etwas von technischen Problemen zu. Sein Murmeln hörte sich jedoch wie eines jener harmlosen Geräusche an, mit denen sich ernstzunehmende Gefahren nur allzu oft ankündigen. Die Schirmkappe seiner Uniform hatte sich der Aufseher vorsichtshalber schon mal in die Stirn geschoben. Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass hier etwas kurz davor stand, außer Kontrolle zu geraten.
Wurde einem die Verantwortung für einen Haufen Kinder übertragen, oder hat man sich gar selbst darum bemüht, eine solche Verantwortung übernehmen zu dürfen, kostet es weit weniger Überwindung, den Anweisungen anderer, mitunter auch solcher, die einem eben noch misstrauisch gegenübergestanden sind, kommentarlos Folge zu leisten. In gewisser Weise ist es das, was man sich – ohne das je auszusprechen – gelegentlich auch für die Kommunikation zwischen sich und den Kindern, für die man verantwortlich ist, wünscht.
»Was ist ein technisches Problem?«, wollte Emily wissen, und während ich noch schmunzelnd mit dem Gedanken beschäftigt war, dass, was immer da passiert sein mochte, uns dem Krokodil geradezu in den Rachen trieb, kam mir Konrad zuvor.
»Ich war schon im Technischen Museum.«
Seine Antwort schien Emily zu genügen.
»Dann kann ich wenigstens das Krokodil sehen«, sagte ich, und mich an Konrad wendend: »Wer von euch möchte es mir denn zeigen?«
Erleichtert, nicht näher auf die Sache mit dem Museum für technische Probleme eingehen zu müssen, fiel Konrad auf meinen Trick herein und entgegnete, mich bei der Hand nehmend: »Ich zeig’s dir.«
Ein kurzer Blickwechsel zwischen Wanda und mir reichte aus, um darin übereinzukommen, dass vorläufig keinerlei Notwendigkeit bestünde, vor den Kindern näher auf die Probleme einzugehen. Ich las das in Wandas Mienenspiel und hatte gleichzeitig den Eindruck, Wanda finde in meinem Gesichtsausdruck die Bestätigung einer solchen Einschätzung ihrerseits. Beeindruckt, wie problemlos ein einziger Nachmittag mit den Kindern ein funktionierendes Team aus uns geformt hatte, dessen Mitglieder ohne Worte miteinander auskamen, übersahen Wanda und ich, dass wir unseren Gesichtern etwas ablasen, das gar nicht in diesen geschrieben stand. Wir bestätigten jeweils den anderen, weil wir selbst Ausschau nach Zustimmung hielten, darauf vertrauend, einer von uns beiden wisse mit Sicherheit, wie es sich in einer solchen Situation zu verhalten gelte.
»Die vier Weltteile«, sagte Wanda.
»Wer hat das gemalt?«, fragte Emily.
»Ein Maler«, antwortete Iggy, während ich noch zu Wanda hinüberschaute, und spätestens da hätte mir auffallen müssen, dass es nichts als ein Ausdruck ihrer Orientierungslosigkeit gewesen war, was ich leichthin für Bestätigung gehalten hatte. Zumindest aber hätte Wanda merken müssen, dass etwas an mir den Anschein von Zustimmung bei ihr erweckt hatte, das sich besser als Hilferuf zu erkennen gegeben hätte, schließlich sahen wir uns angesichts Emilys Frage und Iggys Antwort vergleichbar zurückhaltend an wie gerade eben, hatten wir doch beide keine Ahnung, wie der Name des Malers der Vier Weltteile lautete. Anstatt die vorangegangene Übereinstimmung als Missverständnis zu entlarven, las Wanda seinen Namen von dem Täfelchen mit der Bildbeschreibung ab.
»Peter Paul Rubens.«
»Peter oder Paul«, fragte Iggy und lachte. Emily begann ebenfalls zu lachen, und auch Konrad lachte, ich glaube jedoch, ohne verstanden zu haben, was Iggy zu seiner Frage bewogen haben mochte. Konrad lachte, weil er es angesichts des Krokodils für besser hielt, die anderen Kinder erneut in die von ihnen gewählte Stimmungslage zu begleiten.
»Peter und Paul«, versuchte es Wanda, während ich immer mehr den Eindruck gewann, Konrad lache aus gutem Grund. In gewisser Weise richtete sich die Bedrohung, die von dem Gemälde ausging, an all jene Kinder, die eine Bedrohung darin erkannten – also an Konrad –, wie sie auch auf dem Gemälde niemand anderem als Kindern galt.
Der sich anbahnende Konflikt zwischen einem Krokodil und einer Tigerin – mit kampfbereiter Miene beugte sie sich schützend über ihren Nachwuchs – beherrschte die gesamte untere Zone der Bildfläche, und damit diejenige, die Kinder am besten einsehen konnten. Hinzu kam, dass es sich bei diesem Abschnitt des Geschehens um den einzigen aufsehenerregenden auf der gesamten Bildfläche handelte.
Neben den Jungen der Tigerin, die, sich an den Zitzen ihrer Mutter labend oder mit trotzigen Mienen in den Gesichtchen schlafend, nichts von der sich anbahnenden Gefahr mitbekamen, kümmerten sich drei menschliche Kinder um das furchteinflößende Reptil. Mittels Liebkosungen und spielerischen Anweisungen schienen sie es von seinem abscheulichen Vorhaben, die Tigerjungen zu verspeisen, abhalten zu wollen, wobei sie allerdings nicht gleichermaßen konzentriert bei der Sache waren. Eines der Kinder lächelte aus dem Bild heraus den vor dem Gemälde stehenden Kindern zu, als bemühe es sich mit seiner Fröhlichkeit – nicht gerade erfolgreich – zu versichern, dass es sich im Grunde nur um ein Spiel handle. Ich musste an den Darsteller des Apachenhäuptlings denken. Krokodil und Tigerin hingegen hatten sich über sämtliche Gattungen hinweg als Erwachsene erkannt, und was immer die auf ein friedlich verspieltes Miteinander abzielenden Menschenkinder vorhatten, die beiden ausgewachsenen Tiere würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach darüber hinwegsetzen. Dachten die Kinder allen Ernstes, sie könnten das Krokodil von einem Konflikt mit der Tigerin abhalten?
Andererseits hatten die Kinder auf dem Bild zumindest erkannt, dass man sich einer Bedrohung, die unaufhaltsam näher rückt, in den Weg stellen müsse, anstatt Bestätigungen in Gesichtern zu lesen, in denen gar keine Bestätigung ihren Niederschlag gefunden hat.
Wanda und ich verhielten uns eher wie die menschlichen Erwachsenen auf dem Gemälde der Vier Weltteile. Diese nahmen zwar gut drei Viertel der Leinwand ein, waren allerdings ausschließlich miteinander beschäftigt oder hingen irgendwelchen Gedanken nach, starrten vor sich ins Leere.
»Die vier damals bekannten Weltgegenden und die jeweils wichtigsten Flüsse«, klärte uns Wanda auf, aber das schien im Augenblick niemanden zu interessieren. Mich interessierte es nicht, denn von der Kontroverse, die sich zu ihren Füßen zwischen zwei ihrer Schoßtierchen anbahnte und versprach, ihren eigenen Nachwuchs in Gefahr zu bringen, schienen diese Menschen von Welt nichts zu bemerken. Vier erwachsene Männer mit gepflegtem, wallendem Haar und modischen Rauschebärten sowie vier junge Damen, allesamt leicht bekleidet, zwei von ihnen auf umgestürzte Krüge gelehnt (Iggy: »Die haben sie aber selbst umgeschmissen«, Wanda, deren Hilflosigkeit sich einmal mehr in ihrer Informiertheit bemerkbar machte: »Vielleicht sollen die Krüge auf die Flüsse hinweisen«).
Eine dunkelhäutige Frau, deren Gesicht sich ziemlich genau im Mittelpunkt des Bildes befand, hatte sich von den anderen abgewandt und blickte, im Schatten der Szenerie schwerer auszumachen als der Rest, aus dem Gemälde heraus, durchbrach also zumindest an einer Stelle die Runde des Desinteresses.
»Warum schaut uns die dunkelhäutige Frau an?«, wollte Emily wissen, und Iggy – schlagfertig wie es seine Art war – antwortete ihr.
»Sie schaut gar nicht uns an, sondern jeden, der das Bild betrachtet.«
»Wahrscheinlich ist das Afrika«, versuchte es Wanda, während ich nach wie vor leise Wut empfand, weil die ignoranten Erwachsenen ihre Kinder und Tiere einem kurz bevorstehenden Gewaltakt überließen und diese Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht mit klugen Sprüchen (Mein Gott, Wanda!) wettzumachen versuchten.
»Wieso sollte sie Afrika sein?«
Mir ging es im Augenblick nur darum, Wandas Besserwisserei zu torpedieren.
»Na ja, wenn ich an Vier Weltteile denke, unter denen sich zweifellos auch Afrika befindet, dann ist diese Frau die einzige, von der ich weiß, wo sie hingehört«, antwortete Wanda, ein pfiffiges Grinsen auf ihren Lippen, als spielten wir das alles den Kindern im Rahmen eines Bildungsprogramms bloß vor.
»Liegt darin irgendein Vorteil?«
Ich hätte das selbst nicht zu beantworten gewusst.
»Kyra sieht ebenfalls so aus, und die wohnt nicht in Afrika, sondern auf Stiege 5«, steuerte die tapfere Emily bei – nicht unbedingt um sich damit auf meine Seite zu schlagen, obwohl ich das in diesem Moment gerne geglaubt hätte.
»Ja, natürlich, ich meine ja auch …«
Allmählich dämmerte Wanda, wohin sie ihre Schlauheit gebracht hatte. »Du«, stammelte sie, an Emily gewandt, »sprichst da jetzt von …«
Wanda war endgültig in der Ahnungslosigkeit angekommen.
»Vielleicht ist es auch Stiege 6.«
»Weißt du… damals kannte man die Welt … noch nicht so …«
»Zwischen Stiege 5 und Stiege 6 befindet sich nämlich der Lift, deswegen sind die leicht zu verwechseln.«
Man hätte den Eindruck gewinnen können, das Kind – Emily – spüre, dass sich die Erwachsene – Wanda – selbst in Bedrängnis gebracht hatte, und versuche sie davor zu bewahren, noch tiefer hineinzugeraten, was unweigerlich geschehen würde, würde das Kind der Erwachsenen einfach nur zuhören.
»Ich kann mich noch an die Irmi aus dem Zwergengarten erinnern.«
Das kam von Tessa, die abrupt aufgehört hatte, darauf zu achten, ausschließlich auf die Parketten zu treten, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und damit sämtliche Markierungen auf dem von Tessa imaginierten Spielfeld zum Erlöschen gebracht. Mir fiel ein, dass Tessa sich der Erlösung eines gemeinsamen Schauderns hingegeben hatte, noch bevor sie das Krokodil gesehen hatte.
»Der Ali sieht auch so aus«, sagte Konrad. Der Anblick des Krokodils schien ihm nichts mehr auszumachen.
»Und auf welchem Bild kann man den Ali sehen?«, wollte Iggy wissen.
»In der Pizzeria Roma«, beeilte sich Konrad, stolz, diesmal sogar eine Folgefrage beantwortet zu haben.
»Ist das ebenfalls woanders auf der Welt?«
Das war wieder Iggy, beim Versuch, sich mit dem jüngeren Konrad seinen Spaß zu machen.
»Klar, die Pizzas kommen aus einem anderen Land,« antwortete Konrad voller Begeisterung, weil er sogar einer dritten Prüfung standhielt.
Iggy: »Sind das Menschen?«
Ich: »Menschen aus Afrika?«
Die kluge Wanda: »Aber das ist doch eine Stadt.«
Mehr oder weniger wir alle: »Pizza?«
»Roma.«
Wanda war gerade mitsamt ihrem Wissen der herrlichsten Missverständlichkeit auf den Leim gegangen, als eine Frau den Saal mit den Vier Weltteilen betrat, der – ohne dass einem von uns Betrachtern klar gewesen wäre, woran nun genau – eine viel tiefer sitzende Verwirrung anzusehen war. Ich sah ihr diese Verwirrung an, Wanda sah sie und erkannte darin wohl eine Möglichkeit, den Holzweg, auf den sie sich begeben hatte, gleich wieder zu verlassen. Emily sah die Verwirrung der vielleicht vierzigjährigen, vielleicht aber auch schon älteren Frau – das ließ sich nicht so genau sagen, als wäre selbst ihr Alter durcheinandergeraten. Natürlich wusste Emily nicht, was sie der Frau da ansah. Konrad sah die Verwirrung, Tessa sah sie und Iggy, dem, stellvertretend für alle Kinder, am ehesten zuzutrauen war, eine Ahnung davon zu haben, dass das, was die Frau verwirrte, sie von den Erwachsenen abrücken ließ und den Kindern ein Stückchen näher brachte. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrer üblicherweise – da gab es gar keinen Zweifel – perfekt sitzenden Frisur gelöst und baumelten ihr wie lose Kabel in die Stirn. Etwas Farbe war aus dem Verlauf einer Augenbraue ausgebrochen und ließ mich, ganz im Bann der Kinder, daran denken, dass die verwirrte Frau vielleicht ebenso nur hierhergemalt war wie die Figuren auf den Gemälden. Ihre Handtasche hing eher an ihrer Hand als dass sie von dieser gehalten wurde und stand überdies offen, als wolle sie etwas sagen, was die verwirrte Frau, an der die Tasche hing, zu sagen nicht imstande war. Deutlicher als an diesen zugegebenermaßen geringfügigen Mängeln ihrer äußeren Erscheinung war der Frau die Verwirrung an ihren Blicken abzulesen. Anscheinend ziellos sandte sie diese aus, als weise der Raum, in dem sie sich zu befinden glaubte, eine ganz andere Struktur auf als der Schausaal mit den Vier Weltteilen, in den sie sich verirrt hatte. Vielleicht, dachte ich, in diesem Moment wieder erwachsen geworden, hielt sie sich im Geiste noch in jenem Raum auf, in dem sie von der Verwirrung erfasst worden war. Instinktiv musste ich an die technischen Probleme denken und daran, dass wir möglicherweise ebenso verwirrt wären, hätten wir gesehen, was diese Frau gesehen hatte.
Keiner von uns interessierte sich noch für die Vier Weltteile, fasziniert schauten wir auf die mal hierhin, mal dorthin ausscherenden Schritte der verwirrten Frau, die den Anschein erweckten, sie wolle gleichzeitig in verschiedene Richtungen gehen. Während sie auf uns zusteuerte, trieb etwas sie von uns weg, und obwohl uns einige ihrer Blicke erreichten, hatte ich den Eindruck, sie sehe durch uns hindurch. Als Wanda ihr einen Schritt entgegenkam, blieb die Frau stehen und sagte etwas von einem Anschlag, einem Attentat, richtete ihre Worte allerdings eher an die Figuren auf den Vier Weltteilen als an einen von uns, vielleicht weil etwas ihr durch ihre Verwirrung hindurch riet, sich Kindern gegenüber in Zurückhaltung zu üben. Auf den Vier Weltteilen tummelten sich zwar ebenfalls Kinder, allerdings bestanden die nur aus Pinselstrichen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte keiner von uns eine Ahnung, dass kurz zuvor im Foyer des Museums, gerade mal ein Stockwerk unter uns, ein bewaffneter Kampf stattgefunden hatte, aus dem zwei Menschen schwer verletzt hervorgegangen waren.
Als wir der Frau vor dem Gemälde mit den Vier Weltteilen begegneten, dürfte dieses Ereignis kaum mehr als ein paar Minuten alt gewesen sein, weshalb es bisher nur gerüchtehalber, zaghaft als technisches Problem verkleidet, bei uns hier oben angekommen war. Später sollte offiziell verlautbart werden, dass ein Mann mit einem Messer – einige würden behaupten, einen orientalischen Dolch erkannt zu haben – auf einen mit dem Schutz des Museums beauftragten Polizeibeamten losgegangen wäre, nachdem dieser darauf bestanden hätte, einen Blick in den Rucksack des Mannes zu werfen. Ein zweiter Polizist hätte daraufhin auf den Angreifer geschossen und ihn an drei Stellen seines Körpers (darunter, als schwerste Verwundung, in den Bauch) getroffen. Der Beamte, den der Attentäter angegriffen hatte, trug mehrere Stichverletzungen davon, in denen ein hinzugezogener Psychologe später die Handschrift der Ziellosigkeit eines in Panik geratenen Menschen wiedererkennen sollte.
Ungeachtet der Tatsache, dass wir uns die ganze Zeit über in jenem Gebäude befunden hatten, in dem diese Ereignisse stattfanden, erfuhren wir, nicht anders als die Mehrheit der Bevölkerung, erst im Nachhinein aus den Zeitungen und in Nachrichtensendungen Genaueres darüber, so zum Beispiel, dass der Mann bis zu seiner brutalen Attacke nicht den geringsten Anlass zu einer Verdächtigung gegeben hätte. Einem pensionierten Lehrer, der in unmittelbarer Nähe des Ticketschalters eine Zeit lang neben ihm verbracht haben wollte (»Mich interessieren Menschen nun mal mehr als Bilder«), waren keinerlei Anzeichen einer bevorstehenden Eskalation aufgefallen (»Er sah aus wie jemand, der eine strapaziöse Reise hinter sich gebracht hat, um die Kunstwerke in diesem Museum zu sehen«). Keine Spur von Nervosität oder gar einer unterdrückten Wut, wie sie Gewalttätern laut Psychologen unmittelbar vor einer Aggression mitunter anzusehen sind. Wenn überhaupt etwas, würde der pensionierte Lehrer später einem Reporter gegenüber zugeben, dann habe er eine gewisse Traurigkeit an dem Mann festgestellt. Am Tag nach den Ereignissen sollte die Ticketverkäuferin mit ähnlichen Worten zitiert werden. Sie habe den Eindruck gehabt, in den Augen des Mannes die Traurigkeit einer ganzen Nation erblickt zu haben, was ein Boulevardblatt übrigens zum Anlass nehmen sollte, der Angestellten des Museums – anders als dem pensionierten Lehrer – ein Naheverhältnis zu jener Ideologie zu unterstellen, die den Mann, seiner eigenen, späteren Aussage zufolge, zumindest indirekt dazu gebracht hatte, auf die Sicherheitskraft loszugehen.
Damals – da bin ich mir hundertprozentig sicher – hatte die verwirrte Frau, die angesichts der Vier Weltteile etwas von einem Attentat stammelte, keine Ahnung, was wirklich im Foyer des Museums vor sich ging oder soeben vor sich gegangen war. Nicht einmal der Aufseher war informiert worden. Seine Vorgesetzten hatten ihn mit dem Hinweis auf ein technisches Problem abgespeist, weshalb seine Aufgabe, genauso wie die seiner Kollegen, darin bestand, sämtliche Ein- und Ausgänge der Schausäle im oberen Stockwerk abzuriegeln und die Museumsbesucher um Geduld zu bitten. Zwischen Wanda und mir verursachte der Hinweis auf einen Anschlag, mochte er auch einer wirren Ahnung entsprungen sein, dennoch ein betretenes Schweigen, dem sich, als fänden sie das zur Abwechslung ganz lustig, auch die Kinder anschlossen. Zumindest so lange, bis Konrad, der, von uns unbemerkt, in den nächsten Saal voraus gelaufen war, im Türrahmen erschien.
»Das müsst ihr euch unbedingt ansehen, das bricht jeden Moment in sich zusammen.«
Erschrocken blickten wir – ich jedenfalls – zu ihm hin, und kurz meinte ich, in Konrads so unerwartet auftauchendem Gesicht, einer grauen Haarsträhne auf einem Kinderkopf vergleichbar, die Zukunft auf uns zurückblicken zu sehen.
Unverzüglich setzten wir uns in Bewegung, diesmal ich voran, vor Schreck ganz bleich – ich glaube, ich sah mein bleiches Gesicht während der paar Schritte in den anderen Saal vor mir wie morgens nach einer durchwachten Nacht in meinem Badezimmerspiegel –, dahinter Iggy johlend, als wäre er nach dem Schweigen, das er, ohne so recht zu wissen warum, mit den anderen geteilt hatte, der Stille doppelt so viel schuldig, und Emily, die Tessa bei der Hand genommen hatte, damit Tessa gar nicht erst auf die Idee komme, dem, was Konrad uns zeigen wollte, durch ihre umständliche Art der Fortbewegung etwas von seiner dramatischen Wirkung zu nehmen. Wanda bildete diesmal die Nachhut, als wäre, was sie da drüben zu sehen befürchtete, so lange nicht weiter schlimm, bis jemand sie dazu brächte, es sich anzuschauen. Obwohl selbst beinahe schon im anderen Saal musste ich bei Wandas Geziertheit an Konrad und das Krokodil denken. Wie sich herausstellen sollte, bildete Wanda übrigens gar nicht die Nachhut, das tat die verwirrte Frau. Als hätte die Dynamik unseres Aufbruchs ihren vom Weg abgekommenen Schritten eine neue Orientierung gegeben, schloss sie sich uns unaufgefordert an.
Konrad erwartete uns im benachbarten Saal wie an den Gestaden eines soeben von ihm entdeckten Eilands, und ich muss gestehen, dass ich ihn noch nie zuvor mit annähernd so stolzem Ausdruck in seinen Augen hinter den Brillengläsern gesehen hatte. Die Besorgnis, mit der er eben noch aus dem Saal, in den er als erster aus unserer Gruppe vorgedrungen war, herübergeschaut hatte, war jeder Menge triumphaler Euphorie gewichen.
»Der ist schon kaputt, ehe sie ihn fertig gebaut haben.«
Konrad zeigte auf ein Gemälde, das den Turmbau zu Babel darstellte und mir, da es zu den berühmtesten der Sammlung dieses Museums gehörte, recht gut bekannt war.
Ein monströses Bauwerk schraubte sich schwerfällig in die Höhe, schien an manchen Stellen bereits vollendet, während woanders noch der Felsen zu erkennen war, aus dem nicht nur die Grundstruktur der Architektur, sondern auch das Material der Ziegel für ihre Verfeinerung gehauen wurden. Die Arbeit schien sich auf verschiedene Baustellen verteilt zu haben, die unabhängig voneinander ihr Soll zu erfüllen trachteten. Der Turm, den man in unmittelbarer Nähe eines Gewässers errichtete, wirkte nicht nur schief, sondern – wie Konrad treffend bemerkt hatte – bereits bei seiner Entstehung von seinem Verfall gekennzeichnet. In der obersten Etage, mit welcher der Turm die Höhe der Wolken erreicht hatte, schälte sich allem Anschein nach noch ein weiteres Gebäude aus seinem Inneren. Seine innere Struktur wiederum, in das die unvollständige Ummantelung zahlreiche Einblicke gewährte, mutete unüberschaubar an. Obgleich die Bautätigkeit auf dem Gemälde zum Stillstand gekommen war, meinte man zu begreifen, dass jedes Stück Fassade, das geschlossen wurde, woanders unweigerlich eine Lücke verursachen würde.
»Der Turmbau zu Babel«, sagte ich mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme, weil Konrad das Bild gemeint hatte und nicht etwa einen im Zusammenbruch begriffenen Flügel jenes Gebäudes, in dem wir offenbar vorläufig festsaßen.
»Das nenne ich technische Probleme«, meinte Iggy, bei dem die detailliert geschilderte Baufälligkeit erneut ein Gefühl von Ausgelassenheit hervorzurufen schien. Vielleicht, dachte ich mir, ehe ich dazu ansetzte, ein paar Worte über die Legende hinter dem abgebildeten Bauwerk zu sagen, vielleicht weil hier etwas aus der ihm, Iggy, zugeschriebenen Welt des Chaos, der Unordnung und Unaufgeräumtheit, des Nichtbeachtens von Regeln und Außer-Acht-Lassens von Pflichten in einem Bild thematisiert wurde, dem Erwachsene ihre Bewunderung zollten. Für Iggy war eine solche Darstellung des Misslingens offenbar mit einer gewissen Hoffnung verbunden, dass auch für einen wie ihn, der wesentlich häufiger gemaßregelt als gelobt wurde, die Chance bestünde, einmal etwas Eindrucksvolles zustande zu bringen.
Nachdem alle, inklusive der verwirrten Frau, vor dem Turmbau zu Babel angekommen waren, erklärte ich den Kindern, was sie hier sahen.
»Mit diesem Turm, der bis in den Himmel reichen sollte, versuchten die Menschen es mit Gott aufzunehmen.«
»Wollten sie ihn besuchen?«, fragte Emily.
»Nicht unbedingt, sie wollten ihm zeigen, dass sie zu ebenso beachtenswerten Leistungen imstande sind wie er.«
Wandas Blick verriet mir, sofern ich ihn diesmal richtig deutete, dass sie es für keine gute Idee hielt, die Kinder ausgerechnet mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel von der Frage nach dem technischen Problem und dem Auftauchen der verwirrten Frau und ihrem Gefasel abzulenken.
»Sind die Menschen jetzt wie er?«
Schwer zu sagen, ob Emily diese zweite Frage aus ehrlichem Interesse stellte oder weil ihr kindliches Gemüt sich daran gewöhnt hatte, Erwachsene um eine Fortsetzung ihrer Ausführungen zu bitten.
»Das weiß ich nicht. Über den Versuch, einen solchen Turm zu bauen, war Gott jedenfalls alles andere als erfreut. Er bestrafte die Menschen, indem er sie zwang, fortan verschiedene Sprachen zu sprechen und sich über die ganze Welt zu verteilen.«
»Blabla.«
Das kam von Iggy und drückte nicht so sehr seine Enttäuschung darüber aus, dass etwas, das gerade noch imstande war, ihn zu begeistern, einmal mehr mit einer Bestrafung geendet hatte, sondern sollte wohl eine Kostprobe jener durch Dreistigkeit erreichten Vielfalt der Ausdrucksweise abgeben.
Wandas Miene hingegen war für mich unleserlich geworden. Mit Blicken versuchte ich in Erfahrung zu bringen, ob sie mir etwas mitzuteilen habe, das nicht für die Kinder und eventuell auch nicht für die verwirrte Frau bestimmt sei. Wanda jedoch antwortete so, dass alle es hören konnten.
»Ich kenne zu diesem Bild eine ganz andere Geschichte. Meiner Version zufolge sollte der Turm in den Himmel reichen, um einem, dem einen Gott die Möglichkeit zu geben, auf die Erde herunterzusteigen.«
Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Wandas Besserwisserei hatte meine Geduld allerdings zuvor schon auf eine harte Probe gestellt.
»Dann setzte es die Strafe wohl dafür, überhaupt einen Gott auf diese Art und Weise zu verehren.«
Wanda senkte ihren Blick, als hätte sie sich zwar damit abgefunden, aus Gründen der Ablenkung vor den Kindern über derartige Belange mit mir zu sprechen, lehne es jedoch ab, über einen damit verbundenen Inhalt zu debattieren.
»Im Vordergrund sucht der König die einzelnen Steine aus.«
Wie ein erfahrener Moderator hatte Emily begriffen, dass dies der richtige Zeitpunkt für eine Neuausrichtung der Thematik war. Ihre Worte bezogen sich auf eine eindeutig als Herrscher zu identifizierende Figur, vor der Arbeiter, die offenbar damit beschäftigt waren, Steinblöcke für den Bau vorzubereiten, auf die Knie gefallen waren.
»Oder das ist Gott, der ihnen erklärt, dass sie damit aufhören sollen.«
Tessa wurde von Emily immer noch an der Hand gehalten, weshalb sie sich möglicherweise aufgefordert fühlte, ihrem Vorschlag einen eigenen hinzuzufügen.
Wanda hatte sich indes dem Durchgang zum benachbarten Schausaal zugewandt, durch den soeben drei Personen, ein Mann, eine Frau und ein Kind – das Kind etwa acht oder neun Jahre alt – den Raum mit dem Turmbau zu Babel betreten hatten. Von einer Besorgnis aufgrund der kolportierten Unregelmäßigkeiten, der sogenannten technischen Probleme, war den dreien nicht das Geringste anzumerken. Ehrfurchtsvoll schritten sie, spärlich gefüllte Rucksäcke auf ihren Rücken, durch den Saal voll hochkarätiger Gemälde, wie demütige Studienanfänger über den steinernen Boden der gigantischen Kathedrale abendländischer Bildung tapsen. Wie die Figuren auf dem Turmbau zu Babel, fiel mir ein, und ich wünschte mir, einen Moment lang ein Kind zu sein, dem niemand eine solche Bemerkung übel nehmen würde.
Vielleicht wussten die drei bereits mehr als wir und verhielten sich, solange noch nichts über eine konkrete Bedrohung bekannt gegeben wurde, einfach nur so, wie man es von ihnen erwartete.
Als Konrad und Iggy mich aufforderten, sie gedanklich in das links von dem Turm detailreich dargestellte Städtchen sowie in die Hafenanlage rechts, in der man Schiffe an- und ablegen sehen konnte, zu begleiten, wurde mir neuerlich bewusst, dass vorläufig kein Mensch aus dem Bereich des Gebäudes, in dem wir uns befanden, herauskommen konnte. Bisher war zwar noch niemand mit Gewalt daran gehindert worden, aber das lag nur daran, dass sich in unserer Gegenwart noch keiner über diese Anweisung hinweggesetzt hatte. Ob die dreiköpfige Familie froh darüber war, sich unter diesen Umständen der Malerei widmen zu können, ohne von jemandem dabei gestört zu werden? Wanda hatte sich ihnen inzwischen wie zufällig genähert, sich dabei jedoch so ungeschickt angestellt, dass selbst mir das nicht entgangen war, obwohl ich mich in Konrads Gesellschaft in einer mittelalterlichen Stadt herumtrieb und gleichzeitig mit Iggy in See stach. Die beiden Buben wollten einfach nur weg, von dem Turm, aus dem Museum, ob nun durch enges Gassengewirr oder zu Wasser. Vielleicht ahnte ihr kindlicher Instinkt inzwischen, dass eine Bedrohung aufgetaucht war, angesichts der selbst wir Erwachsene nicht weiterwussten. Aus diesem Grund liefen sie vorerst auch nicht einfach in den nächsten Saal voraus, sondern probierten es mit einem Schritt in die vor ihnen ausgebreitete Bildlandschaft, die erkennen ließ, dass sie sich seit sehr langer Zeit nicht verändert hatte. Einzig Iggy traute ich zu, die Zwangslage, in der wir uns befanden, in Hinblick auf ihr Potenzial als Abenteuer zu betrachten, ähnlich wie ich das ungerechtfertigterweise dem Pärchen mit ihrem Kind angedichtet hatte.
Als Wanda ein paar Worte an die beiden Erwachsenen richtete, lächelten diese nur, nickten mit den Köpfen – synchron wie zwei Besucher eines Rockkonzerts – und deuteten auf das Schildchen, auf dem ein paar Informationen zu Pieter Bruegels Bild, dem Turmbau zu Babel, vermerkt waren. Offenbar konnten sie kein Wort von dem, was Wanda zu ihnen gesagt hatte, verstehen. Gäste aus einem anderen Land, die wohl auch dem Gemurmel des Aufsehers keine besondere Bedeutung beigemessen hatten. Touristen, die, seit sie heute Morgen von ihrer Pension aufgebrochen waren, noch keinen Grund gesehen hatten, sich in dem, was für diesen Tag auf ihrem Programm stand, beeinträchtigen zu lassen. In ihrer Herberge befand sich wahrscheinlich auch der restliche Inhalt ihrer Rucksäcke.
Wanda nahm, ihre Lippen zum Zeichen des Wohlwollens trotz allem aufeinandergepresst, von einem erneuten Versuch Abstand, und während Iggy den Plan schmiedete, fortan auf einem der Schiffe, das er auf den Namen Blabla taufen wollte, von der Piraterie zu leben, fragte ich mich, ob es nicht unsere Pflicht sei, die drei ahnungslosen Touristen über allfällige Sprachbarrieren hinweg auf den neuesten Stand zu bringen. Oder würden wir in diesem Fall etwa so auf sie wirken wie die verwirrte Frau kurz zuvor auf uns? Mein eben erst aufgeflammter Groll auf Wanda, weil diese beim leisesten Anzeichen von Schwierigkeiten, ein gegenseitiges Verstehen betreffend, unverzüglich zurückgewichen war wie eine Katze vor dem geringsten Luftzug, erlosch gleich wieder bei dem Gedanken, wir würden die ganz der Malerei hingegebenen Reisenden wohl nur unnötig aufschrecken. Vielleicht waren sie, unseren beiden Buben vergleichbar, in gemalten Versionen der Welt vorläufig ohnedies besser aufgehoben, und ihr Hinweis auf die Informationen zu dem Bild sollte uns auffordern, sie in die Malerei zu begleiten, wo wir alle uns, ungeachtet unserer jeweiligen Mundart, untereinander verständigen könnten.
Andächtig traten die Touristen vor den Turmbau, vor dem auch die kurz zuvor noch reichlich verwirrte Frau stand. Während der letzten in unserer Gesellschaft verbrachten Minuten schien sie sich einigermaßen beruhigt zu haben. Anstatt uns von ihr aufscheuchen zu lassen, war es uns offenbar gelungen, sie einigermaßen zur Räson zu bringen. Beinahe gelassen wandte sie sich jetzt dem Familienvater zu und nannte ihn einen Märtyrer. Zumindest sprach sie dieses Wort aus und starrte den Mann, bei dem sie damit ein interessiertes Stirnrunzeln auslöste, an, vielleicht ja, weil Wanda und ich uns ihren vorangegangenen Warnungen gegenüber nicht im gewünschten Maße empfänglich gezeigt hatten. Das Wort Märtyrer hatte also nicht unbedingt etwas von einer Anschuldigung, eher von einem Hinweis darauf, wer sich ihrer Meinung nach hinter den technischen Problemen verstecke.
Bei Wanda und mir läuteten einmal mehr die Alarmglocken. Ich blickte zu Wanda hinüber, die entsetzt die drei Rucksäcke fixierte. Daran hatte ich, zu sehr damit beschäftigt, mich über die neuerliche Panikmache zu echauffieren, überhaupt noch nicht gedacht. Als Wandas Blick schließlich den meinen traf, meinte ich, ihr ansehen zu können, dass sie in einer Situation, wie diese eine zu werden versprach, zwar lieber mit jemandes anderen Blick kommuniziert hätte, mangels einer Alternative allerdings entschlossen war, mit dem meinen vorlieb zu nehmen. Ihre Courage bestärkte mich, obgleich mir mein Gefühl eher riet, die harmlosen Touristen von der verwirrten Frau, für die ich mich offenbar bereits verantwortlich fühlte, abzuschirmen. Wanda und ich würden, so viel stand fest, an ein und demselben Strang ziehen, unklar war bloß noch, welcher das sein sollte.
Emily, Tessa und Konrad war nicht entgangen, dass die Frau etwas zu dem Mann gesagt hatte. Erwartungsvoll blickten sie den Familienvater an. Nur Iggy hatte sich vollständig in das Gemälde vertieft. Er war bestrebt herauszufinden, ob mehr von dem Gewässer, auf dem er seine Laufbahn als Pirat beginnen wollte, zu sehen sein würde, sofern es ihm gelänge, in die Leinwand hinein und im Bildraum ums Eck zu schauen.
Da ich nun mal nicht über die Autorität verfügte, der verwirrten Frau den Mund zu verbieten – schließlich unterstand sie noch nicht einmal vorübergehend meiner Aufsicht –, nahm ich mir im Auftrag einer Beschwichtigung der allgemeinen Situation vor, den drei Touristen mit einer die Verwirrte nicht unbedingt herabwürdigenden, wohl aber über sämtliche Sprachen hinweg unmissverständlichen Geste zu verstehen zu geben, dass sie nicht ganz bei Trost sei. Die Kinder würde ich, wie um meinen Hinweis zu unterstreichen, demonstrativ von ihr entfernen. Iggy müsste zwar einmal mehr am Kragen gepackt und weggezerrt werden, ausgerechnet in einem störrischen Verhalten wie dem seinen schien mir allerdings ein Schlüssel dazu zu liegen, die gesamte Atmosphäre in die herbeigesehnte Alltäglichkeit zu überführen.
Ehe ich noch daran gehen konnte, die Aufmerksamkeit des Touristenpärchens auf mich zu lenken und mit der zu mir gewandten Handfläche ein paar Sekunden lang Wischbewegungen vor meinem Gesicht anzudeuten, stellte sich mir die Frage in den Weg, wann ich selbst eigentlich das letzte, das entscheidende Mal von der Hand eines Erwachsenen aus meinen Träumen gerissen worden war. Geschah das damals auch bloß, um die Glaubwürdigkeit dessen, was dieser Erwachsene einem anderen Erwachsenen zu signalisieren gedachte, zu unterstreichen? Würde ich, indem ich Iggy sinnbildlich aus dem Wasser fischen oder, noch sinnbildlicher, von einer Laufbahn als Seeräuber abhalten würde, meine Gesten zu einem Knäuel von Fäden verwickeln, an denen ein Heranwachsender – Iggy nämlich – wie eine Marionette zu hängen käme?
Zu meiner Überraschung antwortete der Tourist der verwirrten Frau – offenbar ohne deren Verwirrung zu bemerken – mit einem Kopfnicken, ähnlich dem von vorhin, in das auch seine Begleiterin prompt wieder einfiel. Während ich mich immer hoffnungsloser in die Stränge der von mir geplanten Manipulation verstrickte, zeigte der Mann auf den Durchgang in den angrenzenden Saal und gab, indem er die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger mehrfach anhob und wieder sinken ließ, mit verblüffend eloquenten Bewegungen zu verstehen, dass er einen Ort ein paar Säle weiter meinte.
Anders als für Wanda, die, wie sich später herausstellen sollte, annahm, die drei wären vor einem Märtyrer geflüchtet, der ein paar Säle, von dem, in dem wir uns befanden, entfernt in Erscheinung getreten sei – was für ein absurder Gedanke! –, stand für mich außer Frage, dass eben dort, ziemlich weit weg, ein solcher entdeckt und festgesetzt worden sei, woraus sich auch erklärte, weshalb das Stockwerk nach wie vor abgeriegelt, jedoch weder unter Tränengas gesetzt noch von einer Abteilung Einsatzkräfte in voller Montur gestürmt worden sei. Während Wanda und ich also erneut aneinander vorbeischauten, rannten Emily, Konrad und Iggy – der seine Piratenkarriere zugunsten weiterer Berufsanregungen, die er sich jetzt, da er über den Blick dafür verfügte, von den Bildern in diesem Museum versprach, aus eigenen Stücken verschoben zu haben schien – in die Richtung, die der Tourist ausgerechnet der verwirrten Frau als Antwort auf ihr Gestammel gewiesen hatte. Tessa stapfte deutlich langsamer, jedoch entschieden unaufhaltsam hinterher, und einen Moment lang kam es mir so vor, als lege sie es diesmal darauf an, auf so viele Fugen wie möglich zu treten, als revanchiere sie sich damit für die Geduld, die es sie zuvor gekostet hatte, ihnen auszuweichen.
Obwohl Wanda und ich – das stand für mich fest – der Situation ein unterschiedliches Maß an Bedrohung beimaßen, kam es uns beiden wie eine denkbar schlechte Entscheidung vor, ausgerechnet dorthin aufzubrechen, wo es etwas gab, das, wie immer man es verstehen wollte, nicht gerade den Eindruck erweckte, der richtige Ort für Kinder und friedliebende Erwachsene zu sein. Die paar Momente, die wir für eine Reaktion benötigten und die den Kindern einen gewissen Vorsprung einräumten, lagen also meiner Meinung nach eher darin begründet, dass sowohl Wanda als auch ich, die ebenso spontan gestellte wie unausweichliche Frage, wessen Schuld das nun wieder sei, an uns abprallen und ohne großes Zutun dem jeweils anderen – ich Wanda und Wanda mir – zufallen lassen wollten, wobei jedoch keiner von uns beiden daran dachte, dabei mit Entschiedenheit vorzugehen. Ping-Pong-Schlägern vergleichbar, die einen Ball so lange zurück zum Gegner befördern, solange er wie zufällig genau auf ihre jeweilige Schlägerfläche trifft.
Schließlich aber heftete ich mich im Anschluss an einen in höchster Dringlichkeit ausgesandten Blick Richtung Wanda, den trotz allen Unverständnisses – über das nachher noch zu reden sein würde – akute Einigkeit geschärft hatte, den Kindern an die Fersen und spürte, wie Wanda in meinem Rücken, augenscheinlich von den gleichen Gefühlen geleitet, sich ebenfalls auf den Weg machte. Einen Saal weiter hatten wir Tessa zwar bereits überholt, Iggy und Konrad waren in unserem Blickfeld aufgetaucht – Iggy, der größere, drehte sich immer wieder um und lief ein paar Schritte lang rückwärts, als empfange er den langsameren Konrad mit offenen Armen –, Emily jedoch schien bereits den daran angrenzenden Saal erreicht zu haben.
Ein Gemäldezyklus, der offenbar den Jahreszeiten oder einzelnen Monaten gewidmet war, und von mir ungeachtet der sich womöglich zuspitzenden Gefahr im Vorbeilaufen aus dem Augenwinkel heraus betrachtet wurde, vervollständigte die sonderbare Stimmung, die sich aus einer Mischung aus Ausgelassenheit und Bedrohung zusammensetzte, wie das Bühnenbild einer komischen Oper. Auf eine solche, eine Choreographie der Merkwürdigkeit, war es wohl auch zurückzuführen, dass weder Wanda noch ich allzu laut nach den Kindern riefen. Im ersten Moment dachte ich, das habe etwas mit der Hemmung zu tun, in derart Ehrfurcht einflößenden Räumen zu brüllen, es kann jedoch auch sein, dass das an dem Bedürfnis lag, möglichst niemanden auf uns aufmerksam zu machen.
Der Vollständigkeit halber halte ich hier fest, was ich aus dem Augenwinkel heraus auf dem Jahreszeiten-Bild sah: Bauern und Bäuerinnen waren in einer sommerlichen Landschaft beim Picknicken (im Vordergrund links) sowie bei der Arbeit mit mächtigen Sensen in einem Kornfeld (rechts und, soweit ich mich erinnere, in der Mitte im Hintergrund) dargestellt. Insgesamt dominierten das Leben bejahende Fröhlichkeit und verbindliche Wärme die Bildfläche. Beides erstreckte sich bis in die prallen Formen der Menschen und satten Farben der Pflanzen und bezog sich sowohl auf die Mahlzeit als auch auf die Arbeit. Für so ein Bild kam nur ein Maler infrage, der einer völlig anderen Gesellschaftsschicht entstammte als das Bauernvolk und der beim Malen dieses Bildes die Ausgelassenheit im Salon seines vornehmen Auftraggebers vor Augen gehabt haben musste. Ein Moment der Flüchtigkeit, das meinem hurtigen Tempo geschuldet war, passte übrigens recht gut zum übergeordneten Thema des Gemäldes, das einen sich mehr oder weniger auf die gleiche Weise wiederholenden Augenblick im Ablauf eines Jahres abbilden wollte. Etwas, das vorbeiging und wiederkehren würde.
Bereits im darauffolgenden Saal stießen wir auf Emily und wären beinahe einer von hinten in den anderen gekracht, denn Emily war – wie in einem Slapstick-Film, dachte ich – unmittelbar jenseits der Schwelle stehen geblieben.
Unter den Gemälden, die in diesem Saal ausgestellt waren, stach ein hochformatiges Bild hervor, das einen jungen Mann zeigte, der mit nichts als einem Lendenschurz bekleidet war. Der aufwändige Knoten, von dem das verhältnismäßig knappe Stück Stoff zusammengehalten wurde, entschädigte mit seinem Faltenreichtum in mancherlei Hinsicht für die fehlende Farbigkeit und die Oberflächengestaltung sonstiger Kleidungsstücke. In der Darstellung ging es jedoch eindeutig um die muskulöse Nacktheit des Jünglings, die er, verstohlen gen Himmel blickend, mit der Eleganz einer seinem Körper eingeschriebenen S-Kurve präsentierte.
Ein zweiter Blick offenbarte nicht nur, dass der Jüngling gar nicht leger an ein paar architektonischen Überresten, genauer gesagt an einer Säule lehnte, sondern an dieselbe gefesselt war, und eine Unmenge von Pfeilen seinen Körper an diversen Stellen durchbohrte. Jemand musste ihn hier angebunden – unweigerlich fiel mir unsere Situation in den herrschaftlich anmutenden Räumlichkeiten des Museums ein – und als Zielscheibe benutzt haben, wobei es eher um ein gleichmäßiges Verteilen der Pfeile, weniger um das Treffen einer bestimmten Körperstelle gegangen sein dürfte.
»Dreizehn Pfeile«, sagte Emily, wie um Rechenschaft darüber abzulegen, was sie gemacht hatte, bis wir anderen sie eingeholt hatten.
»Vierzehn«, verbesserte Iggy sie, obwohl er kaum Zeit gehabt hatte, nachzuzählen. Mir schien, Iggy ging es lediglich darum, etwas hinzuzufügen, als vergrößere sich die Zahl der Pfeile mit jedem, der zusätzlich in diesem Saal eintraf, wie sich mit jedem Pfeil das Leid des Mannes vergrößert haben musste, woran schließlich der Reiz der Darstellung gewachsen sein dürfte.
»Dreizehn«, wiederholte Emily, als beharre sie darauf, dass sie das Bild schließlich als erste von uns gesehen hatte.
»Aber einer steckt doch in seinem Kopf«, sagte Iggy erstaunlich ruhig.
Tatsächlich ging ein Pfeil, der prominenteste, was Größe und Sichtbarkeit betraf, durch den Schädel des Jünglings. Er war seitlich zwischen Hals und Kinn eingedrungen und mitten auf der Stirn wieder ausgetreten. Iggys Rechnung stimmte, vielleicht war es die Länge des Pfeils, die vom leidenden Blick des jungen Mannes, der nicht tot zu sein schien, unterbrochen wurde, die Emily veranlasst hatte, ihn nicht mitzuzählen.
»Und der Kopf gehört schließlich auch zum Körper.«
Anstatt hervorzukehren, dass er recht behalten hatte, stellte Iggy das mit einer merkwürdigen Gelehrigkeit in der Stimme fest, als mache er eine kluge Persönlichkeit nach, oder eine solche, die erst noch aus ihm werden müsste, spreche schon mal probehalber aus einem, ihm selbst nur fallweise zugänglichen Bereich seines Innersten.
»Ist das ein Märtyrer?«
Konrads Frage überraschte mich, und zwar weil es kurz den Anschein hatte, als stelle er sie jenem imaginären Weisen, der sich eben aus Iggy gemeldet hatte, und nicht mir, dem Erwachsenen, geschweige denn der klugen Wanda.
»Das ist der Heilige Sebastian«, antwortete ich und begriff, warum es Konrad in manchen Momenten vorzog, die Welt von dem bloß ein paar Jahre älteren Iggy erklärt zu bekommen anstatt von einem Erwachsenen. Gewisse Inhalte hören sich, wenn sie erläutert werden, aus erwachsenen Mündern in Kinderohren gelegentlich wohl wie aus einer unüberbrückbaren Entfernung gesprochen an.
»Se-bas-sti-an«, skandierte Tessa, die inzwischen ebenfalls eingetroffen war, und trat bei jeder Silbe auf eine Fuge wie bei einem rustikalen Tanz, der mir die Bauern in Erinnerung rief, an denen ich eben vorbeigelaufen war.
»Das war ein römischer Soldat, der zum Tode verurteilt wurde, weil er in den Augen des Königs der falschen Religionsgemeinschaft angehörte.«
Emily: »Welche Religion war das?«
»Das spielt im Grunde keine Rolle«, antwortete ich, obwohl mir klar sein musste, dass das ganz danach aussah, als wüsste ich es nicht.
»Und warum ließ der König ihn dann mit den Pfeilen beschießen?«, wollte Konrad wissen.
»Weil Sebastian sich nicht bereit erklärt hat, zuzugeben, dass er falsch lag.«
»Nur deshalb?«
Ich fragte mich, ob Konrad das Beharren auf einem Standpunkt, zumal er von seiner Richtigkeit gar nicht hundertprozentig überzeugt zu sein schien, für eine Art Schutzmechanismus hielt – zumindest soweit es ihn als Kind betraf.
»Und weil er seine Freunde und Freundinnen nicht hatte verraten wollen.«
»Dafür hat er den Tod verdient«, kommentierte Iggy, und die eigenartige Aura, die seine vorangegangenen Worte umgeben hatte, sorgte dafür, dass mir nicht ganz klar war, ob das ein Kompliment in Richtung des Protagonisten des Bildes sein sollte oder ob Iggy tatsächlich der Meinung war, unter diesen Umständen handle es sich um eine gerechte Strafe.
»Hat ihn das zum Märtyrer gemacht?«
Ich bewunderte Konrad für die Hartnäckigkeit, mit der er entschieden hatte, einem Begriff, den er in letzter Zeit öfter gehört haben dürfte, bei dieser Gelegenheit auf den Grund zu gehen, und nunmehr an diesem Beschluss festhielt. Hier und jetzt war für Konrad der Moment gekommen, ein Rätsel zu lösen, auf das angesprochen Erwachsene bisher zumeist hinter vagen Andeutungen in Deckung gegangen waren, älteren Kindern vergleichbar, wenn einer wie Konrad von ihnen die Bedeutung von Begriffen wie Shoppen, Sex oder Komaglotzen hätte wissen wollen.
»Ja, in gewisser Weise hat ihn das dazu gemacht.«
»Was denn, dass man mit Pfeilen auf ihn geschossen hat?«
Tessa hatte offenbar sämtliche Fugen in ihrer Umgebung zu Tode getrampelt.
Überraschend meldete sich Emily zu Wort: »Nein, weil er sich nicht gewehrt hat, als man ihm das angetan hat.«
Ich hatte befürchtet, dass das nicht einfach werden würde.
»Nicht direkt, sondern eher, dass er nicht bereit war, bestimmten Überzeugungen zuwiderzuhandeln, obwohl ihm diese Strafe angedroht wurde.«
Ich hatte den Eindruck, diese Erklärung wäre mir einigermaßen gut gelungen.
»Bestimmten was …?«
Diese Frage kam von Wanda, deren Häme sich ein unschuldiges Gesichtchen aufgesetzt hatte, als räche Wanda sich für ihre eigene Feigheit in derart brenzligen Situationen. Da ich es nun mal gewagt hatte, vor den Fragen der Kinder nicht davonzulaufen, sollte ich sie gefälligst auch bis ans Ende des Weges begleiten. Meinetwegen.
»Überzeugungen, wie es beispielsweise unsere Überzeugung ist, die Anweisungen des Sicherheitspersonals zu befolgen.«
Das mochte nun, zugegebenermaßen, nicht gerade überzeugend ausgefallen sein, reichte jedoch aus, um anzudeuten, dass ich entschlossen war, das Beste aus der gegenwärtigen Situation zu machen.
»Warum haben sie ihn an eine Säule gebunden und nicht an einen Marterpfahl, wie das bei den Indianern üblich ist?«, wollte Konrad wissen, und obwohl eigentlich ich für Indianerangelegenheiten zuständig war, ergriff Emily das Wort.
»Das hat damit zu tun, dass wir in einem Museum sind und nicht im Wilden Westen. In einem Museum muss es eine Säule sein.«
»Ist diese Säule das Überbleibsel eines Museums?«, bohrte Konrad weiter.
Iggy kicherte.
»Ich wäre lieber einer der beiden Männer da hinten auf der Straße«, sagte Tessa und stampfte ein paar Mal auf, als hätte sich unter ihrer Fußsohle eine Fuge geregt. Am linken Rand des Gemäldes waren zwei winzige Figuren als Rückenansichten dargestellt, die sich in einiger Entfernung zu Sebastian befanden und auf ein im Hintergrund sichtbares Gewässer zugingen.
»Das sind doch mit Sicherheit die, die auf ihn geschossen haben«, gab Iggy zu bedenken.
Tatsächlich konnte man bei genauerem Hinsehen erkennen, dass die beiden mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren. Tessa war das gar nicht aufgefallen, sie dachte offenbar nur daran, das Museum hinter sich zu lassen. Das, was sie als die Ruine eines Museums auf dem Gemälde identifiziert zu haben glaubte, sowie jenes Museum, in dem wir – so viel schien sie mittlerweile verstanden zu haben – vorläufig festsaßen.
»Die zwei sehen aber trotz Pfeil und Bogen nicht aus wie Indianer«, stellte Konrad fest.
»Sebastian soll das übrigens überlebt haben«, sagte ich, um unser Gespräch auf etwas Positives zu lenken.
»War das seine Belohnung?«
Gegen ein Happy End hätte Emily, hätten wir alle nichts einzuwenden gehabt.
»Im Gegenteil«, das war Wanda, »Dieser Märtyrer ist vor den König getreten und hat ihm eine lange Nase gezeigt …«
An dieser Stelle wurde Wanda von Emily unterbrochen (»Der mit dem Turm?«), schüttelte jedoch bloß den Kopf und fuhr fort: »… woraufhin der König ihn ein weiteres Mal zu töten versuchte, und zwar mit Knüppeln.«
Diese Geschichte kannte ich gar nicht. Ich fragte mich, ob Wanda sie nicht eben erst erfunden hatte, um den Kindern eine bittere Lektion in Sachen Wirklichkeit zu erteilen.
»Der Mann hat regelrecht darauf bestanden, getötet zu werden. Das erst ließ einen Märtyrer aus ihm werden.«
»Warum hat er eigentlich nichts an?«
Emily fragte das niemand Bestimmten. Sie fragte in unser aller Namen und – nahm ich an – in der Absicht, Wanda vom Thema Töten und Getötet-Werden abzubringen.
»Er ist mit seinen Wunden bekleidet.«
Intuitiv hatte Tessa verstanden, worauf Emily hinauswollte.
»Damit jeder sehen kann, was er über sich hat ergehen lassen.«
Wanda schien entschlossen, so gut wie alles gegen den Heiligen zu verwenden.
»Mit den Knüppeln hat es dann schließlich auch geklappt. Zuallerletzt wurde Sebastians Leichnam in den Abwasserkanal geworfen.«
»Pfui!«
Konrad verhielt sich als einziger von uns Wanda gegenüber wie ein dankbares Publikum. Ich hingegen machte mir ernsthafte Sorgen, ob nicht etwa eine Todesahnung von Wanda Besitz ergriffen hatte, mit der früher oder später unangenehme Folgen für unsere gesamte Gruppe verbunden sein könnten. Etwas Düsteres war über ihrer Gesichtslandschaft aufgegangen wie ein finsterer Mond.
»Märtyrer, müsst ihr wissen, veranstalteten damals so eine Art Wettbewerb, wer sich darauf verstand, die schlimmere Strafe für sich herauszuschlagen.«
Zu allem Überdruss betrat in diesem Moment die verwirrte Frau von vorhin den Saal mit dem Heiligen Sebastian und murmelte etwas von Selbstmordanschlag und Todesfalle vor sich hin. Auf der Suche nach einem Ausweg stieß mein Blick auf einen uniformierten Aufseher, der einige Gemälde entfernt – jedes einzelne von ihnen einem eigenen Entwurf der Welt gewidmet – eine verschlossene Türe, die sich in seinem Rücken befand, bewachte. Von uns oder der verwirrten Frau und ihrem Gemurmel schien er keinerlei Notiz zu nehmen, sondern drückte und drehte an seinem Funkgerät herum, als spiele sich alles Wichtige ausschließlich auf dem Display dieses Gerätes ab und einem wie ihm wäre es, die verschiedenen Regler manipulierend, möglich, daran teilzunehmen. Unmittelbar neben ihm hing das Porträt eines Lautenspielers, der sein Instrument stimmte. Der Aufseher erinnerte mich an ein Kind, das ein technisch anspruchvolles Gerät seiner Eltern in die Finger bekommen hat. Wie ein solches, ein längst erwachsenes Kind, das weiß, was von ihm erwartet wird, allerdings keine Ahnung hat warum, hätte der Aufseher uns – da bin ich ganz sicher – daran gehindert, den Saal durch die Türe hinter ihm, die möglicherweise zu einem Stiegenabgang führte, zu verlassen und uns stattdessen mit der ihm zur Verfügung stehenden Höflichkeit um Geduld gebeten.