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ОглавлениеBeginn der Arbeit in der MUK / Vergewaltigung mit Bissspuren
Am ersten Tag in meiner neuen Dienststelle der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Halle wurde ich in einer Dienstversammlung den anderen Offizieren der Abteilung Kriminalpolizei als neuer Mitarbeiter der Morduntersuchungskommission vorgestellt. Alle waren mir unbekannt.
Mein künftiger unmittelbarer Vorgesetzter war Hauptmann Helmut Grothe. Er war zwanzig Jahre älter als ich und hatte bereits viele Jahre bei der Kriminalpolizei verbracht.
Er erläuterte mir die Funktionsweise und die Aufgaben einer Morduntersuchungskommission und stellte mir auch den Kriminaltechniker Oberleutnant Hecht sowie den Kraftfahrer Hans Dehn vor. Zwischen uns beiden stimmte auf Anhieb die Chemie und das sollte auch die nächsten Jahre so bleiben. Wir hatten nie Probleme miteinander. In den nächsten Tagen fuhr er mit mir zum Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin Halle. Er stellte mich überall als neuen Mitarbeiter der MUK vor, und nach einer kleinen Gesprächsrunde wussten sie nun, dass ich »der Neue« im Personalstand der MUK Halle war. Diese Vorstellung hielt er für sehr wichtig, um vor einer erforderlichen Zusammenarbeit im konkreten Fall Vertrauen zueinander aufzubauen. Es dauerte nicht lange, da hatten wir einen Fall zu untersuchen, welcher ohne den Direktor der Zahnklinik Halle nicht zu lösen war.
Eine junge Studentin war offenbar im Zusammenhang mit einer Vergewaltigung durch Erwürgen zu Tode gekommen. Die Situation am Fundort der Leiche entsprach der einer »klassischen« Vergewaltigung. Das Opfer hatte sich kräftig gewehrt, dabei war ihre Oberbekleidung verrutscht und auf der nun freiliegenden Brust hatte der Täter einen kräftigen Abdruck der Zähne durch einen so genannten Lustbiss hinterlassen.
Zunächst hatten wir keinen Anhaltspunkt zum Täter, aber Hauptmann Grothe meldete uns beim Direktor der Zahnklinik Halle, Prof. Taats an. Obwohl Hauptmann Grothe keinen solchen Fall jemals davor zu untersuchen hatte, und ich gleich gar nicht, wollte mein Vorgesetzter wissen, ob ein Vergleich der stomatologischen Befunde eines Tatverdächtigen mit der Bissspur an der Leiche möglich sei. Er hatte zuvor ein Gespräch mit dem damaligen Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin anberaumt. Aber Oberarzt Simon kannte einen solchen Vergleich aus seiner Tätigkeit bis dahin nicht, sondern nur als Abbildung in wissenschaftlichen Lehrbüchern.
So fuhren wir also mit dem großflächigen Präparat der Bissspur zu Prof. Taats. Er hielt einen stomatologischen Vergleich zwischen dem Gebiss eines Tatverdächtigen und der Bissspur durchaus für möglich, betonte aber auch, über keine eigenen Erfahrungen zu verfügen. Zunächst schien ja alles graue Theorie zu sein. Aber warum sollte ein solcher Vergleich, welchen die Fachleute noch nie durchgeführt hatten, nicht möglich sein? Was war nicht schon alles durch Gutachter verglichen und als zueinander zugehörig befunden worden? Es eilte erst einmal nicht, wir hatten schließlich noch keinen Tatverdächtigen ermittelt.
Im VPKA Halle wurden die erforderlichen Maßnahmen zur Ergreifung des Täters oder wenigstens eines Tatverdächtigen unter unserer Leitung und Einbeziehung der Bevölkerung durchgeführt. Doch es vergingen mehrere Tage, ohne dass wir einen Hinweis ermitteln konnten. Doch dann ging alles sehr schnell. Aus der Bevölkerung war ein Hinweis auf einen jungen Mann gekommen, welcher frische Kratzspuren im Gesicht und an den Händen hätte. Nach einigen Tagen hatten wir ihn ermittelt und als Tatverdächtigen inhaftiert. Er bestritt eine Täterschaft und verhielt sich unzugänglich. Nun aber hatten wir eine Vergleichsmöglichkeit zwischen den Spuren des Täters an der Leiche und den stomatologischen Befunden des Verdächtigen.
So fuhren wir wieder zu Prof. Taats. Zunächst erklärte er uns wieder, keine eigenen Erfahrungen zu diesem schwierigen Gutachten zu haben, bemerkte jedoch: »Ich fliege in wenigen Tagen zu einer wissenschaftlichen stomatologischen Konferenz nach Schweden und könnte dort mit einem guten Freund das Problem bereden«. Als Hauptproblem hatte er stets die Veränderungen des biologischen Materials durch Austrocknung mit der damit einhergehenden Verkleinerung gesehen.
Seine Reise nach Schweden und die dort mögliche Besprechung unter Fachleuten wäre eine schöne Sache gewesen, wenn wir nicht dienstlicherseits ein totales Verbot für eine Zusammenarbeit mit ausländischen Wissenschaftlern und vor allem solchen aus dem kapitalistischen Ausland verordnet gehabt hätten.
Aber Hauptmann Grothe und ich hatten jetzt eine Spur aufgenommen. Sollten wir diese günstige Gelegenheit verstreichen lassen? Wir erklärten Prof. Taats unsere Bauchschmerzen und wurden mit ihm einig, dass er das Präparat der Bissspur und die stomatologischen Abdrücke unseres Tatverdächtigen nur unter der Bedingung mit nach Schweden nehmen konnte, dass er unser Problem nur mit einer einzigen Vertrauensperson besprechen würde.
Wir ließen in den nächsten Tagen durch den behandelnden Zahnarzt der Untersuchungshaftanstalt (UHA) Abdrücke vom Ober- und Unterkiefer des Verdächtigen anfertigen und übergaben beide Prof. Taats. Über mögliche disziplinarische Konsequenzen wegen unserer Kontaktaufnahme zu ausländischen Wissenschaftlern haben wir damals nicht nachgedacht. Zu dieser Zeit, 1963, war auch innerhalb der Kriminalpolizei die Angst vor einer Berührung mit dem »Klassenfeind« noch nicht so ausgeprägt, wie ich es später nach meinem Wechsel in das MfS kennenlernte.
Nach etwa einer Woche meldete sich Prof. Taats von seiner Reise zurück und wir fuhren sofort zu ihm. Nach der Schilderung seiner Reiseeindrücke kam er auf unser Problem zu sprechen. Nach Meinung seines schwedischen Kollegen bestand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Übereinstimmung zwischen der Täterspur und den angefertigten Abdrücken.
Wir waren hocherfreut und verließen Prof. Taats mit vielem Dank für seine Hilfe. Uns war aber bewusst, dass wir diese illegal gewonnenen Informationen in keiner Weise irgendwie verwenden konnten. Aber sie stützten unsere Bemühungen um die Ergreifung eines brutalen Mörders.
Als nächstes ließen wir unseren Tatverdächtigen mit einem anderen Häftling zusammenlegen. Dass dieser Häftling in unserem Auftrag als Zelleninformator (ZI) tätig war, blieb natürlich unser Geheimnis. Wir suchten dann auch mehrere Tage nach einem geeigneten ZI, denn dieser musste eine Grundbedingung erfüllen: er musste zum Zeitpunkt des Verbrechens schon in Haft gewesen sein und konnte somit, wenn überhaupt, jedwede Information über die Tat nur von unserem Verdächtigen bekommen. Wir schufen noch eine weitere Sicherung. Wir sperrten den Besucherverkehr unseres ZI mit seinen Verwandten. Wir waren überzeugt, alles getan zu haben, um die Wahrheitsfindung in unserem Fall voranzutreiben.
Gleichzeitig versuchten wir aber auch in mehreren Vernehmungen von unserem Tatverdächtigen ein Geständnis zu bekommen. Wir redeten dabei auch über die Spurenlage, um ihm zu zeigen, dass wir ihn für den Mörder der jungen Frau hielten. Dabei könnten wir aber etwas falsch gemacht haben und zu sehr auf den Zusammenhang zwischen seinem Gebiss und der Bissspur an der Leiche hingewiesen haben. Vielleicht hatte er aber auch begriffen, wie gefährlich diese Übereinstimmung für ihn war. Wir haben allerdings nicht mitbekommen, dass er sich über diesen Zusammenhang stundenlang eigene Gedanken gemacht hatte, um aus dieser gefährlichen Situation heraus zu kommen.
Der ZI konnte nichts Wertvolles berichten, außer der Tatsache, dass unser Tatverdächtiger stundenlang schweigend in der Zelle hin- und herlief. Er war immer zu seiner Freistunde auf den Hof gegangen, jedoch hatte sich kein intensives Gespräch zwischen beiden Männern ergeben.
Und dann nahm alles einen dramatischen Verlauf. Eines Tages, gleich zu Dienstbeginn gegen 8.00 Uhr, wurden wir durch den Bezirks-K-Leiter in Kenntnis gesetzt, dass die Leitung der Untersuchungshaftanstalt beim Operativen Diensthabenden in der Nacht angerufen hatte und um baldiges Erscheinen der Offiziere der MUK gebeten hatte. Ein Grund war nicht benannt worden. Wir fuhren sofort zur UHA. Was wir dort erfuhren, hatte selbst Hauptmann Grothe in seiner langen Dienstzeit bei der Kriminalpolizei und der MUK noch nie gehört: Unser Tatverdächtiger hatte sich in der Nacht mit einer Zange einen Zahn gezogen, der ZI hatte zwar Alarm geschlagen und an die Tür getrommelt, aber wie das eben nachts in einer mehrfach verschlossenen Haftanstalt so ist, war eine längere Zeit vergangen, bis das Personal die Trommelei an der Tür gehört und darauf reagiert hatte. Während wir die ersten Gespräche mit der Leitung der UHA führten, war unser Verdächtiger in zahnärztlicher Behandlung. Wie oft stellten wir uns die Frage, wie er in den Besitz einer Zange kommen konnte!
Später erfuhren wir von ihm selbst, dass er die Zange auf dem Weg durch endlose Korridore in die Freistunde irgendwo an einem Fenster habe liegen sehen. Er sei zu diesem Zeitpunkt bereits mit Möglichkeiten des Zahnziehens beschäftigt gewesen und habe sofort zugegriffen. Wahrscheinlich war, dass irgendein anderer Häftling aus einem Arbeitskommando die Zange dort hingelegt und vergessen hatte.
Damit hatte sich unsere mühevoll aufgebaute Beweismöglichkeit in Luft aufgelöst. Als wir später Prof. Taats von dieser vermaledeiten Geschichte erzählten, lachte er laut.
Hauptmann Grothe und ich reagierten sehr kleinlaut, hatten uns aber vorgenommen, bei der zu erwartenden Befragung durch den Bezirks-K-Leiter unsere Schwedenaktion zu verschweigen, da sie ja nun ohnehin für uns wertlos war.
Dank unseres ZI nahm letzten Endes doch alles noch einen guten Ausgang: Unser Häftling hatte sich in völliger Verkennung der Situation bei seinem Mitinsassen freudig darüber geäußert, dass nunmehr, wo dieser Zahn im Gebissschema fehlte, die Polizei ihm nichts mehr anhängen könne. Er war dann, nach den Aussagen des ZI und durch eine Reihe anderer Beweismittel, die wir gesammelt hatten, doch geständig. Er hatte die allein laufende Frau, die ihm weitläufig bekannt war, in der Nacht zufällig getroffen, dann vergewaltigt und erwürgt. Er wurde vom Bezirksgericht Halle zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.