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Kapitel 1
ОглавлениеMärchengruß.
Hans Andersen, der Märchendichter,
Nennt man ihn nur, landaus, landein;
Da lachen strahlende Gesichter,
Da jubeln Bub’ und Mägdelein!
Ihm sang und klang, ihm lebt’ und lachte,
Was anderer Ohr und Auge tot,
Das Seelenlose fühlt’ und dachte
Und ward beseelt, — wenn er gebot.
Den er gepflückt im Wunderlande,
Den allerschönsten Märchenstrauß,
Geknüpft mit rot und weißem Bande,
Streut’ einst er in die Welt hinaus.
Und aus dem Strauß die zart’sten Triebe,
Die er bestimmt der Kinderschar,
Sind hier gesammelt euch zuliebe;
Wir bieten sie euch freudig dar.
Längst ist er schon von uns gegangen,
Der Dichter, der den Kindern lieb,
Doch leben noch in Jugendprangen
Die Märchen, die für euch er schrieb. iv
Sie klingen fort und werden klingen
Unsterblich noch in später Zeit,
Und sich wie gold’ne Fäden schlingen
Um Kind und Märchenherrlichkeit.
Des grauen Entleins Abenteuer,
Der Zinnsoldat, auf einem Bein
Standhaft im Wasser und im Feuer,
Die Schwäne und ihr Schwesterlein;
Das Märlein von dem Tannenbaume,
Vom Koffer, der die Luft durchschwirrt,
Vom Sandmann und Klein-Hjalmars Traume,
Vom Tölpelhans, der König wird.
Sie wollen plaudern, wollen scherzen,
Sie wollen bei euch Kindern sein,
Und dringen in die Kinderherzen
Mit ernster Lehre mahnend ein. —
So macht dem luftigen Gelichter
Ein Heim in Herz und Haus bereit,
Und seid gegrüßt vom Märchendichter,
Die ihr ja selber Märchen seid!
Inhalts-Übersicht.
Seite
Däumelieschen 1
Die Störche 8
Der fliegende Koffer 11
Der Schneemann 15
Es ist ein Unterschied 18
Das Feuerzeug 20
Das häßliche Entlein 25
Die Stopfnadel 31
Tölpelhans 33
Fünf in der Schote 36
Das Märchen vom Sandmann 38
Die Theekanne 45
Die Blumen der kleinen Ida 46
Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern 50
Die wilden Schwäne 52
Die glückliche Familie 61
Der Engel 63
Der standhafte Zinnsoldat 65
Des Kaisers Nachtigall 68
Die Schneekönigin 74
Erste Geschichte. Der Zauberspiegel. 74
Zweite Geschichte. Die Nachbarskinder. 74
Dritte Geschichte. Der Blumengarten der Zauberin. 78
Vierte Geschichte. Prinz und Prinzessin. 81
Fünfte Geschichte. Das kleine Räubermädchen. 84
Sechste Geschichte. Die Lappin und die Finnin. 86
Siebente Geschichte. Im Schlosse der Schneekönigin. 88
Fliedermütterchen 91
Der Tannenbaum 97
Das alte Haus 103
Der Buchweizen 107
Die roten Schuhe 109
1
Däumelieschen.
Hilfe suchend kam einmal eine Frau zu einer alten Hexe und fragte sie, ob sie ihr nicht ein
kleines Mädchen verschaffen könnte.
„O ja, das soll nicht schwer halten!“ sagte die Hexe. „Da hast du ein Gerstenkorn; das ist nicht
etwa von der Art, wie es auf einem Bauernfelde wächst, oder womit die Hühner gefüttert
werden. Lege es in einen Blumentopf, dann wirst du etwas zu sehen bekommen!“
„Besten Dank!“ sagte die Frau und gab der Hexe ein Geldstück, ging dann heim, pflanzte das
Gerstenkorn, und sogleich wuchs eine große herrliche Blume hervor, die vollkommen einer
Tulpe glich, aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, als ob sie noch in der Knospe
wären.
„Das ist eine schöne Blume!“ sagte die Frau und küßte sie auf die herrlichen roten und gelben
Blätter, aber wie sie sie noch küßte, that die Blume einen großen Knall und öffnete sich. Es
war, wie man nun sehen konnte, eine wirkliche Tulpe; aber mitten in der Blüte, auf dem
grünen Blumengriffel, saß ein winzig kleines, blondlockiges Mädchen, fein und lieblich. Sie
war nicht größer als ein Daumen, und deswegen wurde sie Däumelieschen genannt.
Eine prächtige, lackirte Wallnußschale erhielt sie zur Wiege, blaue Veilchenblätter waren ihre
Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Darin schlief sie des Nachts, aber am Tage spielte
sie auf dem Tische. Die Frau hatte einen Teller darauf gestellt, um den sie einen ganzen Kranz
Blumen gelegt hatte, deren Stengel in das Wasser reichten. Hier schwamm ein großes
Tulpenblatt und auf diesem durfte Däumelieschen sitzen und von der einen Seite des Tellers
bis zur andern schwimmen. Zum Rudern hatte sie zwei weiße Pferdehaare. Das sah
unbeschreiblich niedlich aus. Sie konnte auch singen, o so fein und lieblich, wie man nie
zuvor gehört hatte.
2 Eines Nachts, als sie in ihrem hübschen Bettchen lag, kam durch das Fenster, in dem eine
Scheibe zerbrochen war, eine häßliche Kröte hereingehüpft; sie hüpfte gerade auf den Tisch
hernieder, wo Däumelieschen lag und unter dem roten Rosenblatte schlief.
„Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!“ sagte die Kröte, und dann ergriff sie die
Wallnußschale, in der Däumelieschen schlief, und hüpfte mit ihr durch die Scheibe in den
Garten hinunter.
Da floß ein großer, breiter Bach; aber dicht am Ufer war es sumpfig und morastig; hier
wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war eben so garstig und häßlich, das ganze
Ebenbild seiner Mutter. „Koax, Koax, breckekekex,“ war alles, was er sagen konnte, als er
das hübsche, kleine Mädchen sah.
„Schwatz’ nicht so laut, sonst wacht sie auf!“ sagte die alte Kröte, „sie könnte uns sonst noch
entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Eiderflaum! Wir wollen sie in den Bach hinaus auf
eines der breiten Wasserlilienblätter setzen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, wie eine
Insel. Da kann sie nicht entlaufen, während wir den Festsaal unten tief unter dem Sumpfe, wo
ihr wohnen und leben sollt, in Stand setzen.“
Die alte Kröte schwamm nun nach einem der großen, grünen Blätter, welche inmitten des
Baches aus dem Wasser ragten, als ob sie darauf schwämmen, und setzte die Nußschale mit
Däumelieschen auf dasselbe nieder.
Das arme kleine Mädchen erwachte beim ersten Morgengrauen, und da es wahrnahm, wo es
war, fing es gar bitterlich an zu weinen, denn Wasser umgab von allen Seiten das große grüne
Blatt.
Die alte Kröte saß unten im Sumpfe und schmückte ihr Zimmer mit Schilf und gelben
Wasserlilien, denn für die neue Schwiegertochter sollte alles auf das Feinste hergerichtet
werden. Darauf schwamm sie mit dem garstigen Sohne zu dem Blatte hinaus, wo
Däumelieschen stand. Die alte Kröte verneigte sich vor ihr bis tief ins Wasser hinein und
sagte: „Hier stell’ ich dir meinen Sohn vor, der dein Mann werden soll. Ihr werdet unten im
Sumpfe ganz prächtig wohnen.“
„Koax, Koax, breckekekex!“ war alles, was der Sohn sagen konnte. Darauf schwamm die alte
Kröte mit ihrem Sohn fort und sie nahmen Däumelieschens Bett für die neue Ausstattung
gleich mit. Da saß das arme kleine Mädchen und weinte heiße Thränen auf das grüne Blatt
hinab, denn sie wollte weder bei der häßlichen Kröte wohnen, noch ihren häßlichen Sohn zum
Manne haben. Die kleinen Fische, welche unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte
recht wohl gesehen und gehört, was sie sagte. Sie wollten Däumelieschen gern vor der Kröte
und ihrem häßlichen Sohne retten und nagten mit ihren scharfen Zähnen den Stiel des Blattes
ab und nun schwamm das Blatt mit Däumelieschen hinab, weit, weit fort, wohin die Kröte
nicht gelangen konnte.
Däumelieschen segelte an gar vielen Städten vorüber, und die kleinen Vögel saßen in den
Büschen, sahen sie und sangen: „Welch niedliches kleines Mädchen!“ Weiter und immer
weiter schwamm das Blatt mit ihr; so reiste denn Däumelieschen ins Ausland.
Ein allerliebster kleiner Schmetterling wurde nicht müde sie zu umflattern und schwebte
endlich auf das Blatt hernieder, denn er konnte Däumelieschen gar wohl leiden. Diese war
hoch erfreut, denn die Kröte konnte sie jetzt nicht mehr erreichen, und es war köstlich, wo sie
segelte. Die Sonne schien auf das Wasser und dieses glänzte wie schimmerndes Gold. Da
nahm sie ihren Gürtel, schlang das eine Ende desselben um den Schmetterling und befestigte
das andere am Blatte. Das glitt jetzt weit schneller das Wasser hinunter und sie mit, denn sie
stand ja auf dem Blatte.
3 Plötzlich kam ein großer Maikäfer angeflogen, der sie gewahrte und augenblicklich seine
Klauen um ihren schlanken Leib schlug und mit ihr auf einen Baum flog. Aber das grüne
Blatt schwamm den Bach hinab und der Schmetterling flog mit, denn er war an das Blatt
gebunden und konnte sich auch nicht befreien.
Gott, wie sehr erschrak das arme Däumelieschen, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum
hinaufflog! Am meisten betrübte sie jedoch der Gedanke an den schönen, weißen
Schmetterling, den sie an das Blatt gebunden hatte. Konnte er nicht loskommen, mußte er ja
rettungslos verhungern.
Der Maikäfer setzte sich mit Däumelieschen auf das größte Blatt des Baumes, speiste sie mit
dem Blütenhonig und sagte ihr, sie wäre sehr schön, obgleich sie einem Maikäfer in keinem
Stücke ähnelte. Später kamen noch viele Maikäfer zu Besuch; sie beguckten Däumelieschen
von allen Seiten und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und sagten: „Sie hat ja nur
zwei Füße; das sieht doch zu jämmerlich aus!“
„Wie häßlich sie ist!“ sagten auch die alten Maikäferfrauen, und trotzdem war Däumelieschen
so schön. So kam sie auch dem Maikäfer vor, der sie entführt hatte, da aber alle anderen darin
übereinstimmten, sie wäre häßlich, so glaubte er es zuletzt ebenfalls und wollte sie nun gar
nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr vom Baume hinunter und
setzten sie auf ein Gänseblümchen. Da weinte sie, weil sie so häßlich wäre, daß sie nicht
einmal die Maikäfer unter sich dulden wollten.
Während des ganzen Sommers lebte Däumelieschen ganz allein in dem großen Walde. Sie
flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem großen Klettenblatte auf, so daß
sie gegen den Regen geschützt war. Blütenhonig war ihre Speise und ihren Durst stillte sie an
dem Tau, der morgens auf den Blättern stand. So verstrich Sommer und Herbst, aber nun kam
der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die ihr so schön vorgesungen hatten, flogen
ihrer Wege, die Bäume und Blumen welkten dahin; das große Klettenblatt, unter dem sie
gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nur noch ein gelber, vertrockneter
Stengel. Sie 4 fror bitterlich, ihre Kleider waren zerrissen und sie selbst war gar fein und
klein; das arme Däumelieschen mußte erfrieren. Es begann zu schneien und jede
Schneeflocke, die auf sie fiel, that dieselbe Wirkung, als wenn man auf uns eine Schaufel voll
wirft, denn wir sind groß, sie aber war nur einen Daumen lang. Da hüllte sie sich in ein
verwelktes Blatt, aber das erwärmte sie nicht; sie zitterte vor Kälte.
Hart am Saume des Waldes, wohin sie jetzt gelangt war, lag ein großes Kornfeld, allein das
Korn war längst eingeerntet, nur die nackten, trockenen Stoppeln ragten aus der gefrorenen
Erde hervor. Ihr kamen sie wie ein großer Wald vor, den sie zu durchwandern hatte, und sie
klapperte nur so vor Kälte. Da kam sie vor die Thür der Feldmaus. Deren ganzes Reich
bestand in einer kleinen Höhle unter den Kornstoppeln. Dort wohnte die Feldmaus geschützt
und behaglich, hatte die ganze Stube voll Korn und eine prächtige Küche und Speisekammer.
Das arme Däumelieschen stellte sich an die Thür, gerade wie jedes andere Bettelmädchen,
und bat um ein kleines Stückchen Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das
Geringste zu essen bekommen.
„Du arme Kleine!“ sagte die Feldmaus, denn es war im Grunde genommen eine gute, alte
Feldmaus, „komm’ in meine warme Stube herein und iß mit mir!“
Da sie nun Gefallen an Däumelieschen fand, sagte sie: „Du kannst getrost den Winter über bei
mir bleiben, aber du mußt mir die Stube hübsch sauber halten und mir Geschichten erzählen,
denn das ist meine Lust!“ Däumelieschen that, was die gute, alte Feldmaus verlangte und
hatte es ganz vortrefflich bei ihr.
„Nun bekommen wir gewiß bald Besuch!“ sagte die Feldmaus. „Mein Nachbar pflegt mich
täglich zu besuchen. Der hat noch mehr vor sich gebracht, als ich, hat große Säle und geht in
einem herrlichen schwarzen Sammetpelze einher. Könntest du den zum Manne bekommen,
dann wärest du gut versorgt.“
Doch Däumelieschen mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf. Er
kam und machte in seinem schwarzen Sammetpelze seine Aufwartung. Er wäre sehr reich und
sehr gelehrt, sagte die Feldmaus. Seine Wohnung war auch in der That zwanzigmal größer als
die der Feldmaus, und Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die herrlichen Blumen
konnte er gar nicht leiden; über sie wußte er nur Schlimmes zu erzählen, weil er sie nie
gesehen hatte.
Er hatte sich vor Kurzem einen langen Gang von seinem bis zu ihrem Hause durch die Erde
gegraben; in ihm durfte die Feldmaus und Däumelieschen mit seiner Erlaubnis nach
Herzenslust spazieren. Er bat sie aber, nicht vor dem toten Vogel zu erschrecken, der im
Gange läge. Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der erst kürzlich beim Beginn
des Winters gestorben sein konnte und nun gerade da begraben war, wo er seinen Gang
angelegt hatte.
Der Maulwurf nahm ein faules Stück Holz in das Maul, weil es im Dunkeln wie Feuer
schimmert, ging dann voran und leuchtete ihnen in dem langen, finsteren Gange. Als sie zu
der Stelle gelangten, wo der tote Vogel lag, drückte der Maulwurf mit seiner breiten Nase
gegen das Gewölbe und stieß die Erde auf, so daß ein großes Loch entstand, durch welches
das Licht hereinschimmerte. Mitten auf dem Boden lag eine tote Schwalbe, die schönen
Flügel fest an die Seite gedrückt, die Beine und den Kopf unter die Federn gezogen. Der arme
Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Däumelieschen hatte inniges Mitleid mit ihr, sie liebte
alle die kleinen Vögel, hatten sie ihr doch den ganzen Sommer hindurch so schön etwas
vorgesungen und vorgezwitschert, aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und
sagte: „Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch jämmerlich sein, als kleiner Vogel geboren zu
werden! Außer seinem „Quivit“ hat ja ein solcher Vogel durchaus nichts und muß im Winter
elendiglich verhungern!“
5 „Ja, das könnt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen!“ entgegnete die Feldmaus. „Was hat
ein Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muß elendiglich verhungern und
erfrieren.“
Däumelieschen sagte nichts, als aber die beiden andern dem Vogel den Rücken wandten,
neigte sie sich hinab, schob die Federn, die über seinem Kopfe lagen, zur Seite und küßte ihn
auf die geschlossenen Augen. „Vielleicht war er es, der mir im Sommer so schön etwas
vorsang,“ dachte sie, „wie viel Freude hat er mir verschafft, der liebe, schöne Vogel.“
Der Maulwurf stopfte nun das Loch, durch welches das Tageslicht hineinschien, wieder zu
und begleitete die Damen nach Hause. Aber in der Nacht konnte Däumelieschen
schlechterdings nicht schlafen. Da erhob sie sich von ihrem Bette und flocht aus Heu einen
großen, schönen Teppich, trug ihn hinunter, breitete ihn über den toten Vogel aus und legte
weiche Baumwolle, die sie im Zimmer der Feldmaus gefunden hatte, dem Vogel zur Seite,
damit er warm liegen möchte in der kalten Erde.
„Lebewohl, du lieber schöner Vogel!“ sagte sie; „Lebewohl und Dank für deinen herrlichen
Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne auf uns so warm hernieder
schien!“ Dann legte sie ihr Köpfchen an des Vogels Brust, fuhr aber sogleich erschrocken
zusammen, denn es war fast, als ob etwas in derselben klopfte. Das war des Vogels Herz. Der
Vogel war nicht tot, er lag nur in einer Betäubung, war jetzt erwärmt worden und bekam
wieder Leben.
Im Herbste fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern, verspätet sich aber eine, so
friert sie so, daß sie wie tot zur Erde fällt und liegen bleibt, wohin sie fällt, und der kalte
Schnee seine Decke über sie breitet.
Däumelieschen schauderte ordentlich, so war sie erschreckt worden, denn der Vogel war ihr
gegenüber, die kaum Daumeslänge hatte, ja so erschrecklich groß, aber sie faßte doch wieder
Mut, legte die Baumwolle dichter um die Schwalbe und holte ein Krausemünzenblatt, dessen
sie sich selbst als Deckbettes bedient hatte, und legte es über den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm hinunter, und nun war er lebendig, aber
so matt, daß er nur einen kurzen Augenblick seine Augen zu öffnen und Däumelieschen
anzusehen vermochte, die, weil sie kein anderes Lämpchen haben konnte, mit einem
Stückchen faulen Holzes in der Hand neben ihm stand.
„Herzlichen Dank, du niedliches kleines Kind!“ sagte die kranke Schwalbe zu ihr. „Ich bin
vortrefflich erwärmt! Bald erhalte ich meine Kräfte wieder und kann dann draußen im
warmen Sonnenschein umherfliegen.“
„Ach!“ sagte sie, „es ist draußen gar kalt, es schneit und friert! Bleib’ du in deinem warmen
Bettchen, ich werde dich schon pflegen!“
Darauf brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatte und diese trank und erzählte
ihr, wie sie sich an einem Dornbusche einen ihrer Flügel verletzt hätte, weshalb sie nicht mehr
so schnell wie die andern Schwalben zu fliegen vermochte, als dieselben weit weg nach den
warmen Ländern fortzogen. Endlich war sie auf die Erde gefallen, und was weiteres mit ihr
geschehen, wußte sie nicht.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten und Däumelieschen nahm sich ihrer auf das Beste
an und hatte sie lieb. Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhr das Geringste davon,
weil sie die arme Schwalbe nicht leiden mochten.
Sobald der Frühling kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe
Däumelieschen Lebewohl, die nun das Loch öffnete, welches der Maulwurf in die Decke
gemacht hatte. Die Sonne schien herrlich auf sie hernieder und die Schwalbe fragte, ob sie sie
begleiten wollte, 6 sie könnte ja auf ihrem Rücken sitzen, und dann wollten sie weit hinaus in
den grünen Wald fliegen. Aber Däumelieschen wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben
würde, wenn sie dieselbe auf solche Art verließ.
„Nein, ich kann nicht!“ sagte Däumelieschen. „Lebewohl, lebewohl! du gutes, liebes
Mädchen!“ sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelieschen sah ihr
nach und die Thränen traten ihr in die Augen, denn sie hatte die Schwalbe gar lieb.
„Quivit, quivit!“ sang der Vogel und flog hinein in den grünen Wald.
Däumelieschen war sehr betrübt. Sie erhielt nie Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein
hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Acker über dem Hause der Feldmaus ausgesäet war,
wuchs auch hoch in die Luft empor; für das arme kleine Mädchen, das kaum Daumeslänge
hatte, war es ein völlig undurchdringlicher Wald.
„Während des Sommers sollst du nun an deiner Aussteuer nähen!“ sagte die Feldmaus zu ihr,
denn nun hatte der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Sammetpelze, sich
um sie beworben.
Däumelieschen mußte nun die Spindel drehen und die Feldmaus nahm vier Spinnen in Lohn,
die Tag und Nacht spinnen und weben mußten. Jeden Abend kam der Maulwurf auf Besuch
und sprach nur immer davon, daß, wenn der Sommer vergangen, die Sonne nicht mehr so
warm scheinen würde, dann wollte er mit Däumelieschen Hochzeit feiern. Sie war aber gar
nicht vergnügt, denn sie hatte den langweiligen Maulwurf keineswegs lieb. Jeden Morgen,
wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, schlich sie sich zur Thür
hinaus, und sobald der Wind die Kornähren auseinander wehte, daß sie den blauen Himmel
sehen konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen wäre, und wünschte so
sehr, die liebe Schwalbe wiederzusehen; aber die kam nie wieder, die war gewiß weit fort in
den schönen grünen Wald geflogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelieschen ihre ganze Aussteuer fertig.
„In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!“ sagte die Feldmaus zu ihr. Aber Däumelieschen
weinte und sagte, sie wollte den langweiligen Maulwurf nicht haben.
„Schnickschnack!“ sagte die Feldmaus, „sei nur nicht widerspenstig, sonst muß ich dich mit
meinen weißen Zähnen beißen.“
Nun sollte Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelieschen zu holen.
„Lebewohl, du klarer Sonnenstrahl!“ sagte sie und streckte die Ärmchen hoch empor und ging
auch eine kurze Strecke vom Hause der Feldmaus fort, denn nun war das Korn geerntet und
nur die dürren Stoppeln standen noch da. „Lebewohl, Lebewohl!“ sagte sie und schlang ihre
Ärmchen um eine kleine rote Blume, die daneben stand. „Grüße die liebe Schwalbe von mir,
wenn du sie zu sehen bekommst!“
„Quivit, quivit!“ ertönte es in demselben Augenblicke über ihrem Kopfe. Sie blickte auf, es
war die Schwalbe, die gerade vorüberflog. Sobald sie Däumelieschen gewahrte, wurde sie
sehr froh, sie erzählte derselben, wie ungern sie den garstigen Maulwurf zum Manne nähme
und daß sie nun tief unter der Erde wohnen sollte, wo das Sonnenlicht nie hineinschiene.
„Nun kommt der kalte Winter,“ sagte die Schwalbe, „ich fliege nach den warmen Ländern
fort. Willst du mich begleiten? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Fliege nur mit mir, du
süßes kleines Däumelieschen, die du mir das Leben gerettet hast, als ich erfroren in dem
finstern Schooße der Erde lag!“
„Ja, ich ziehe mit dir,“ sagte Däumelieschen, und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den
Füßen auf seine ausgebreiteten Flügel, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, 7
und nun erhob sich die Schwalbe hoch in die Lüfte, über Wälder und Seen, hoch hinauf über
die großen Gebirge, wo immer Schnee liegt.
Endlich kamen sie nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit heller als hier, der
Himmel war doppelt so hoch und an den Gräben und Hecken wuchsen die herrlichsten grünen
und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen; Myrthen und
Krausemünzen erfüllten alles mit ihrem Duft. Aber die Schwalbe flog immer noch weiter und
es wurde schöner und schöner. Unter den prachtvollsten grünen Bäumen an dem blauen See
stand seit alten Zeiten ein weißes Marmorschloß. Weinreben rankten sich um hohe Säulen; an
der äußersten Spitze waren viele Schwalbennester und in einem derselben wohnte die
Schwalbe, welche Däumelieschen trug.
„Hier ist mein Haus!“ sagte die Schwalbe. „Suche dir aber selbst eine der prächtigsten
Blumen aus, die da unten wachsen, und ich will dich dann hinaufsetzen, und dein Los wird so
glücklich sein, als du nur irgend wünschen kannst!“
„O wie herrlich!“ sagte Däumelieschen und klatschte in die kleinen Händchen.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, welche zur Erde gesunken und in drei Stück
zerborsten war, zwischen ihnen aber wuchsen die schönsten großen weißen Blumen. Die
Schwalbe flog mit Däumelieschen hinunter und setzte sie auf eines der breiten Blätter. Aber
wer malt ihr Erstaunen: mitten in der Blume saß ein kleiner Mann, so weiß und durchsichtig,
wie wenn er von Glas wäre. Die niedlichste goldene Krone hatte er auf dem Kopfe und die
prächtigsten hellen Flügel auf den Schultern. Er selbst war nicht größer als Däumelieschen. Es
war der Engel der Blumen. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, dieser
aber war der König über alle.
Der kleine Prinz erschrak gewaltig vor der Schwalbe, denn gegen ihn, der so klein und fein
war, schien sie ein wahrer Riesenvogel zu sein. Als er aber Däumelieschen gewahrte, ward er
gar froh, war sie doch das allerschönste Mädchen, das er bis jetzt gesehen hatte. Deshalb
nahm er die Goldkrone von seinem Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie hieße und ob
sie seine Gemahlin sein wollte, dann sollte sie Königin über alle Blumen werden.
Däumelieschen gab dem schönen Prinzen das Jawort, und von jeder Blume kam eine Dame,
oder ein Herr, so allerliebst, daß es eine Lust war. Jedes brachte Däumelieschen ein
Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen weißen
Fliege. Sie wurden Däumelieschen am Rücken befestigt und nun konnte auch sie von Blume
zu Blume fliegen. Überall herrschte darüber Freude und die Schwalbe saß oben in ihrem
Neste und sang ihnen etwas vor, so gut sie vermochte, aber im Herzen war sie gleichwohl
betrübt, denn sie hatte Däumelieschen gar lieb und würde sich nie von ihr getrennt haben.
„Du sollst fortan nicht mehr Däumelieschen heißen!“ sagte der Engel der Blumen zu ihr, „das
ist ein häßlicher Name und du bist so schön. Wir wollen dich Maja nennen!“
„Lebewohl, lebewohl!“ sagte die Schwalbe, und zog wieder fort aus den warmen Ländern,
weit fort nach unserem kalten Himmelsstriche. Dort hatte sie ein kleines Nest oben an dem
Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Dem sang sie ihr „Quivit, quivit,“
vor. Davon haben wir die ganze Geschichte.
8
Die Störche.
Auf dem letzten Hause eines kleinen Dörfchens befand sich ein Storchnest. Die Storchmutter
saß im Neste bei ihren vier Jungen, welche den Kopf mit dem kleinen schwarzen Schnabel,
denn er war noch nicht rot geworden, hervorstreckten. Ein Stückchen davon stand auf der
Dachfirste starr und steif der Storchvater. Man hätte meinen können, er wäre aus Holz
gedrechselt, so stille stand er. „Gewiß sieht es recht vornehm aus, daß meine Frau eine
Schildwache bei dem Neste hat!“ dachte er. Und er stand unermüdlich auf einem Beine.
Unten auf der Straße spielte eine Schar Kinder und als sie die Störche erblickten, sang einer
der dreistesten Knaben und allmählich alle zusammen einen Vers aus einem alten Storchliede,
so gut sie sich dessen erinnern konnten:
Störchlein, Störchlein, fliege,
Damit ich dich nicht kriege,
Deine Frau, die liegt im Neste dein
Bei deinen lieben Kindelein:
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt,
Das dritte wird verbrannt,
Das vierte dir entwandt!
„Höre nur, was die Jungen singen!“ sagten die kleinen Storchkinder. „Sie sagen, wir sollen
gebraten und verbrannt werden!“
„Daraus braucht ihr euch nichts zu machen!“ sagte die Storchmutter.
Aber die Knaben wiederholten es immer von Neuem und wiesen mit Fingern nach dem
Storche. Nur ein Knabe, Peter mit Namen, sagte, es wäre eine Sünde und Schande, sich über
die Tiere lustig zu machen, und nahm an ihrem Unfug nicht Teil. Die Storchmutter tröstete
ihre Kinder: „Kümmert euch nicht darum!“ sagte sie; „seht nur, wie ruhig und unbekümmert
euer Vater dasteht, und zwar auf einem Beine!“
„Uns ist so bange!“ sagten die Jungen und zogen ihre Köpfe in das Nest zurück.
9 Als am nächsten Tage die Kinder wieder zum Spielen zusammenkamen und die Störche
erblickten, begannen sie wieder ihr altes Lied:
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt! —
„Werden wir wohl gepfählt und verbrannt?“ fragten die Storchkinder.
„Nein, sicher nicht!“ erwiderte die Mutter. „Ihr sollt fliegen lernen; ich werde euch schon
einüben! Dann geht es hinaus auf die Wiese und auf Besuch zu den Fröschen. Das wird eine
Lust werden!“
„Und was dann?“ fragten die Storchkinder.
„Dann versammeln sich alle Störche, die hier im Lande wohnen und darauf beginnt die große
Herbstübung. Da muß man gut fliegen, das ist von großer Wichtigkeit, denn wer nicht fliegen
kann, wird von dem General mit seinem Schnabel totgestochen. Lernt deshalb nur fliegen,
wenn der Unterricht beginnt!“
„Dann werden wir aber doch gepfählt, wie die Knaben behaupteten, und höre nur, jetzt sagen
sie es schon wieder!“
„Hört auf mich und nicht auf sie!“ sagte die Storchmutter. „Nach der großen Übung fliegen
wir nach den warmen Ländern, weit fort von hier, über Berge und Wälder. Nach Ägypten
fliegen wir, wo es dreieckige Steinhäuser giebt, die in einer Spitze zusammenlaufen und bis
über die Wolken ragen. Da ist auch ein Fluß, der aus seinen Ufern tritt und das ganze Land
mit Schlamm bedeckt. Man geht im Schlamm und ißt Frösche.“
„O!“ riefen alle Jungen.
„Ja, da ist es wunderbar schön! Man thut den ganzen Tag nichts Anderes als essen. Und
während wir es so gut haben, ist hier zu Lande nicht ein grünes Blatt auf den Bäumen. Hier ist
es so kalt, daß die Wolken in Stücke gefrieren und in kleinen weißen Läppchen
herniederfallen, was dann die Menschen Schnee nennen.“
„Zerfrieren denn auch die unartigen Knaben in lauter Stücke?“ fragten die Storchkinder.
„Nein, in Stücke zerfrieren sie nicht, aber es fehlt nicht viel daran und sie müssen in der
dunklen Stube und hinter dem Ofen sitzen.“
Inzwischen war schon einige Zeit verstrichen, und die Jungen waren so groß, daß sie im Neste
aufrecht stehen und sich weit umschauen konnten. Der Storchvater kam jeden Tag mit
wohlschmeckenden Fröschen, kleinen Schlangen und allen auffindbaren Storchleckereien
geflogen.
„Hört, nun müßt ihr fliegen lernen!“ sagte eines Tages die Storchmutter, und dann mußten
alle vier Junge auf die Dachfirste hinaus. O, wie sie schwankten! Wie sie suchten, sich mit
den Flügeln im Gleichgewicht zu erhalten, und doch nahe daran waren, hinunter zu fallen.
„Seht nun auf mich!“ sagte die Mutter. „So müßt ihr den Kopf halten! So müßt ihr die Beine
setzen! Eins, zwei! eins, zwei! Das wird euch in der Welt vorwärts bringen!“ Darauf flog sie
eine kurze Strecke und die Jungen machten einen kleinen plumpen Satz. Bums! da lagen sie,
denn sie waren noch zu schwerfällig.
„Ich will nicht fliegen!“ sagte das eine Junge und kroch wieder in das Nest hinein. „Ich mache
mir nichts daraus, nach den warmen Ländern zu kommen.“
„So willst du also hier im Winter erfrieren? Sollen etwa die Knaben kommen und dich
pfählen, abkehlen und verbrennen? Dann will ich sie rufen!“
„O nein!“ sagte das Storchkind und hüpfte dann wieder auf das Dach zu den andern. Den
dritten Tag konnten sie schon ordentlich ein wenig fliegen, und nun meinten sie auch in der
Luft schweben zu können.
10 „Seht, das war sehr gut!“ sagte die Storchmutter; „Ihr sollt morgen mit mir in den Sumpf
fliegen. Dort kommen mehrere nette Storchfamilien mit ihren Kindern zusammen.“
„Aber sollen wir denn an den unartigen Knaben keine Rache nehmen?“ fragten die
Storchjungen.
„Laßt sie schreien, was sie wollen! Ihr erhebt euch doch zu den Wolken und kommt nach dem
Lande der Pyramiden, während sie frieren müssen und kein grünes Blatt noch einen süßen
Apfel haben!“
„Ja, wir wollen uns rächen!“ flüsterten sie einander zu und dann wurde wieder fleißig geübt.
Von allen Knaben auf der Gasse war keiner ärger, das Spottlied zu singen, als gerade der,
welcher es zuerst angestimmt hatte, und das war ein ganz kleiner Bursche, denn er zählte
sicher nicht mehr als sechs Jahre. Die Storchkinder meinten freilich, er wäre hundert Jahre,
weil er so viel größer als ihre Mutter und ihr Vater war. Was wußten sie davon, wie alt kleine
und große Kinder sein könnten. Ihre ganze Rache sollte sich über diesen Knaben ergießen; er
hatte ja mit dem Liede den Anfang gemacht und war dessen noch nicht müde geworden. Die
jungen Störche waren sehr aufgebracht und je größer sie wurden, desto weniger wollten sie es
leiden.
Nun kam der Herbst. Alle Störche versammelten sich allmählich, um gegen Winter nach den
warmen Ländern zu fliegen. Was für eine Übung ging voraus! Über Wälder und Städte
mußten sie, nur um zu sehen, wie gut sie fliegen könnten, denn es war ja eine große Reise,
welche bevorstand. Unsere jungen Störche machten ihre Sache so hübsch, daß sie die Zensur:
„Ausgezeichnet gut mit Frosch und Schlange“ erhielten. Das war das allerbeste Zeugnis und
den Frosch und die Schlange durften sie essen, und thaten es auch.
„Nun müssen wir uns rächen!“ sagten sie.
„Jawohl!“ sagte die Storchmutter. „Was ich mir ausgedacht habe, das ist gerade das Richtige!
Ich weiß, wo der Teich ist, in dem alle die kleinen Menschenkinder liegen, bis der Storch
kommt und sie ihren Eltern bringt. Die niedlichen kleinen Kinder schlafen und träumen so
süß, wie sie nachher nie mehr träumen. Alle Eltern wollen gern so ein kleines Kind haben,
und alle Kinder wollen eine Schwester oder einen Bruder haben. Nun wollen wir nach dem
Teiche hinfliegen und für jedes der Kinder eins holen, welche das arge Lied nicht gesungen
und sich über die Störche nicht lustig gemacht haben!“
„Aber jener schlimme, häßliche Junge, welcher es zu singen angefangen hat, was machen wir
mit ihm?“
„Im Teiche dort liegt ein kleines, totes Kind, welches sich tot geträumt hat. Das wollen wir zu
ihm hintragen, dann muß er weinen, weil wir ihm ein totes Brüderchen gebracht haben. Allein
dem guten Knaben, den ihr gewiß noch nicht vergessen habt, dem, welcher meinte: Es ist eine
Sünde und Schande, sich über die Tiere lustig zu machen, dem wollen wir sowohl ein
Brüderlein, als auch ein Schwesterlein bringen, und da der Knabe Peter heißt, so sollt ihr
sämtlich Peter gerufen werden!“
Und wie sie es gesagt hatte, geschah es. Seitdem hießen alle Störche Peter und werden noch
heute so genannt.
11
Der fliegende Koffer.
Es war einmal ein Kaufmann, der so reich war, daß er die ganze Straße und beinahe noch ein
Seitengäßchen mit lauter harten Thalern pflastern konnte. Allein das that er nicht, er wußte
sein Geld anders anzuwenden. Gab er einen Dreier aus, bekam er einen Thaler wieder. Aber
er mußte doch sterben und sein Sohn bekam nun all dies Geld und er lebte lustig, ging jede
Nacht auf Maskenbälle, machte Papierdrachen aus Thalerscheinen und so konnte das Geld
schon abnehmen und that es auch.
Zuletzt besaß er nicht mehr als wenige Groschen und hatte keine andern Kleider als ein Paar
Pantoffeln und einen alten Schlafrock. Nun bekümmerten sich seine Freunde nicht länger um
ihn, da sie sich ja mit ihm zusammen nicht auf der Straße sehen lassen konnten; nur einer von
ihnen, ein gutmütiger Mensch, sandte ihm einen alten Koffer und ließ ihm sagen: „Pack ein!“
Ja, das war nun wohl recht gut, aber er hatte nichts einzupacken und deshalb setzte er sich
selbst in den Koffer.
Das war ein absonderlicher Koffer. Sobald man an das Schloß drückte, konnte er fliegen. Er
that es und husch! flog er mit ihm durch den Schornstein, über die Stadt hinweg, hoch hinauf
bis über die Wolken, weiter und immer weiter fort.
Endlich kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Walde unter dürren
Blättern und ging dann in die Stadt hinein. Das konnte er recht wohl thun, denn bei den
Türken ging ja alles wie er in Schlafrock und Pantoffeln. Da begegnete er einer Frau und
fragte sie: „Was ist das für ein großes Schloß hier unmittelbar bei der Stadt, dessen Fenster so
hoch sitzen?“
12 „Dort wohnt die Tochter des Königs!“ sagte sie, „es ist ihr geweissagt worden, daß sie
einstmals über ihren Bräutigam sehr unglücklich werden würde und deshalb darf niemand zu
ihr kommen, wenn nicht der König und die Königin zugegen sind!“
„Ich danke!“ sagte der Kaufmannssohn und dann ging er in den Wald hinaus, setzte sich in
seinen Koffer, flog auf das Dach des Schlosses und kroch durch das Fenster zur Prinzessin
hinein.
Sie lag auf dem Sofa und schlief; sie war so lieblich, daß er sie küssen mußte. Sie erwachte
und erschrack heftig, er aber sagte, er wäre der Türkengott, der durch die Luft zu ihr
gekommen wäre und das schmeichelte ihr.
Da saßen sie nun Seite an Seite und er erzählte ihr Märchen und Geschichten.
Ja, das waren herrliche Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin und sie sagte
sogleich ja.
„Aber Sie müssen den Sonnabend herkommen, da ist der König und die Königin bei mir zum
Thee. Sie werden sehr stolz darauf sein, daß ich den Türkengott bekomme. Aber sorgen Sie
dafür, daß Sie ein recht schönes Märchen erzählen können, denn das gewährt meinen Eltern
die angenehmste Unterhaltung. Meine Mutter hört gern ernste und vornehme, und mein Vater
lustige, über die man lachen kann.“
„Ja, ich bringe keine andere Brautgabe, als ein Märchen!“ und dann trennten sie sich; aber die
Prinzessin gab ihm einen mit Goldstücken besetzten Säbel, und die Goldstücke konnte er
besonders gebrauchen.
Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock, ließ seinen Koffer recht schön
herrichten, setzte sich dann draußen in den Wald und dichtete ein Märchen. Das sollte bis zum
Sonnabend fertig sein und das war nicht so leicht. Als es nun fertig war, siehe da war es
gerade Sonnabend.
Der König, die Königin und der ganze Hof warteten bei der Prinzessin mit dem Thee. Als der
Kaufmannssohn nun angeflogen kam, wurde er sehr freundlich empfangen.
„Wollen Sie nun ein Märchen erzählen!“ sagte die Königin, „eins, welches tiefsinnig und
belehrend ist!“
„Aber worüber man auch lachen kann!“ sagte der König.
„Jawohl!“ sagte er und erzählte nun folgendes:
„ Es war einmal ein Bund Schwefelhölzer, die sich auf ihre hohe Abkunft was einbildeten. Ihr
Stammbaum, das heißt die große Fichte, von der jedes ein kleines, kleines Stückchen war,
stand als ein großer alter Baum im Walde. Die Schwefelhölzer lagen nun auf dem Gesimse
zwischen einem Feuerzeuge und einem alten eisernen Topfe und diesen erzählten sie von
ihrer Jugend. „Ja, als wir auf dem grünen Zweige waren,“ sagten sie, „da waren wir wahrlich
auf einem grünen Zweige. Jeden Abend und Morgen gab es Diamantthee, das war der Tau,
den ganzen Tag hatten wir Sonnenschein, wenn nämlich die Sonne schien und alle die kleinen
Vögel mußten uns Geschichten erzählen. Wir konnten recht gut merken, daß wir auch reich
waren, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie hatte die
Mittel, für Sommer und Winter grüne Kleider anzuschaffen. Nun aber kamen Holzhauer und
es entstand eine große Umwälzung; unsere ganze Familie zersplitterte sich. Der Stammherr
erhielt als Hauptmast Platz auf einem prächtigen Schiffe, das die Welt umsegeln konnte, wenn
es wollte. Den anderen Zweigen wurden andere Stellen eingeräumt und wir haben nun die
Aufgabe, der niederen Menge das Licht anzuzünden.“
„Ich weiß ein anderes Lied zu singen!“ sagte der Eisentopf, an dessen Seite die
Schwefelhölzer lagen. „Seit ich das Licht der Welt erblickte, bin ich viele mal gescheuert und
gekocht worden. Ich sorge für das Dauerhafte und bin, eigentlich gesprochen, der erste hier
im Hause. Meine einzige Freude ist, nach Tische rein und fein auf dem Gesimse zu liegen und
mit den 13 Kameraden vernünftig zu plaudern. Nehme ich aber den Wassereimer aus, der
doch bisweilen auf den Hof hinunter kommt, so leben wir hier immer hinter zugemachten
Thüren. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der redet zu aufrührerisch über
die Regierung und das Volk.“
„Nun sprichst du zu viel!“ sagte das Feuerzeug und der Stahl schlug gegen den Feuerstein,
daß Funken sprühten. „Wollen wir uns nicht einen lustigen Abend machen?“
„Ja, lasset uns davon sprechen, wer der Vornehmste ist!“ sagten die Schwefelhölzer.
„Nein, ich spreche nicht gern von mir selber!“ versetzte der Thontopf. „Ich schlage eine
Abendunterhaltung vor. Ich will den Anfang machen und etwas erzählen; jeder teilt mit, was
er erlebt hat. Da kann man sich so trefflich hineinfinden und es ist sehr lustig! Also hört: An
der Ostsee bei den dänischen Buchten brachte ich meine Jugend bei einer stillen Familie zu;
die Möbel wurden poliert, der Fußboden aufgewischt und alle vierzehn Tage wurden neue
Vorhänge aufgesteckt!“
„Wie anschaulich Sie doch erzählen!“ sagte der Haarbesen. „Man kann gleich hören, daß ein
Frauenzimmer erzählt; es zieht sich etwas Reinliches hindurch!“
„Ja, das fühlt man!“ sagte der Wassereimer und machte einen Satz, daß es auf dem Boden nur
so klatschte!
Der Topf fuhr fort zu erzählen und das Ende entsprach dem Anfange.
Alle Teller klirrten vor Freude und der Haarbesen zog grüne Petersilie aus dem Sandloche
und bekränzte den Topf, weil er wußte, er würde die andern dadurch ärgern und „bekränze ich
ihn heute,“ dachte er, „so bekränzt er mich morgen!“
„Nun will ich tanzen!“ sagte die Feuerzange und tanzte. „Werde ich nun auch bekränzt?“
fragte die Feuerzange und sie wurde es.
„Das ist doch nur Pöbel!“ dachten die Schwefelhölzer.
Nun sollte die Theemaschine singen, aber sie entschuldigte sich mit Erkältung; auch könnte
sie nur in kochendem Zustande singen, aber es geschah eigentlich aus lauter Vornehmthuerei;
sie wollte nur auf dem Tisch drinnen bei der Herrschaft singen.
Im Fenster saß eine alte Feder, mit der die Magd zu schreiben pflegte. Es war nichts
Bemerkenswertes an ihr, ausgenommen, daß sie zu tief in das Tintenfaß getaucht war, aber
gerade darauf that sie sich etwas zu Gute. „Will die Theemaschine nicht singen,“ sagte sie,
„so mag sie es bleiben lassen. Draußen sitzt im Bauer eine Nachtigall, die singen kann; sie hat
zwar nichts gelernt, aber gleichwohl wollen wir ihr das heute Abend nicht übel auslegen!“
„Ich finde es im höchsten Grade unpassend,“ äußerte der Theekessel, der das Amt eines
Küchensängers bekleidete und ein Halbbruder der Theemaschine war, „daß ein fremder Vogel
angehört werden soll. Ist das patriotisch? Ich fordere den Marktkorb auf, darüber sein Urteil
abzugeben!“
„Ich ärgere mich nur!“ sagte der Marktkorb, „ich ärgere mich so sehr, wie es sich niemand
vorstellen kann! Würde es nicht weit vernünftiger sein, das ganze Haus einmal auf den
rechten Fleck zu setzen? Jeder sollte dann schon den ihm gebührenden Platz erhalten, und ich
würde die ganzen Anordnungen treffen!“
„Ja, laßt uns Lärm machen!“ riefen sie sämtlich. Plötzlich ging die Thüre auf. Es war das
Dienstmädchen, und nun standen sie still und wagten nicht Muck zu sagen. Aber da war kein
Topf, der nicht ein Gefühl seiner Macht und Würde gehabt hätte. „Ja, wenn ich nur gewollt
hätte,“ dachte ein jeder, „dann würde es sicher einen lustigen Abend gegeben haben!“
Das Dienstmädchen nahm die Schwefelhölzer und machte Feuer mit ihnen an — Gott
bewahre uns, wie sie sprühten und aufflammten.
14 „Nun kann ein jeder sehen, daß wir die ersten sind!“ dachten sie. „Welchen Glanz, welches
Licht wir haben!“ — und nun waren sie ausgebrannt. Und nun ist auch meine Geschichte
aus.“
„Das war ein herrliches Märchen!“ sagte die Königin. „Ich fühlte mich im Geiste ganz zu den
Schwefelhölzern in die Küche versetzt. Ja, nun sollst du unsere Tochter haben!“
„Jawohl!“ sagte der König, „du sollst unsere Tochter den Montag bekommen!“ denn nun
sagte er zu ihm, als zu einem künftigen Familiengliede, „du“.
Die Hochzeit war also festgesetzt und den Abend vorher wurde die ganze Stadt erleuchtet; es
war außerordentlich prachtvoll.
„Ich muß wohl auch daran denken, mein Scherflein zu den Feierlichkeiten beizutragen!“
dachte der Kaufmannssohn, und nun kaufte er Raketen, Knallerbsen und alles erdenkliche
Feuerwerk, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft empor.
Rutsch! ging es in die Höhe und verpuffte unter vielem Lärm.
Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, daß ihnen die Pantoffeln um die Ohren fuhren.
Dergleichen Lufterscheinungen hatten sie niemals gesehen. Nun sahen sie ein, daß es der
Türkengott selber war, der die Prinzessin bekommen sollte.
Sobald sich der Kaufmannssohn mit seinem Koffer wieder in den Wald hinabgelassen hatte,
dachte er: „Ich will doch in die Stadt gehen, um mir berichten zu lassen, wie es sich
ausgenommen hat.“ Man kann sich wohl zusammenreimen, daß er Lust dazu hatte.
Nein, was ihm die Leute doch alles erzählten! Ein jeder, bei dem er sich erkundigte, hatte es
in seiner Weise gesehen, aber einen prächtigen Eindruck hatte es auf alle gemacht.
„Ich sah den Türkengott selbst!“ erzählte der eine, „er hatte Augen wie blitzende Sterne und
einen Bart wie schäumendes Wasser!“
„Er flog in einem feurigen Mantel,“ berichtete ein anderer.
Ja, das waren vortreffliche Sachen, die er zu hören bekam, und den Tag darauf sollte er
Hochzeit haben.
Nun ging er nach dem Walde zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen — aber wo war der?
Der Koffer war verbrannt. Ein Funke war von dem Feuerwerk zurückgeblieben, der Feuer
gefangen und den Koffer in Asche gelegt hatte. Er konnte nicht mehr fliegen, nicht mehr zu
seiner Braut gelangen.
Sie aber stand den ganzen Tag auf dem Dache und harrte seiner. Sie wartet noch, er aber
durchzieht die Welt und erzählt Märchen, die jedoch nicht mehr so lustig sind, wie das von
den Schwefelhölzchen.
15