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Оглавление1. Der kluge und der primitive Materialismus
Es gibt einen klugen und einen primitiven Materialismus. Zunächst wollen wir uns auf den durchaus klugen Materialismus beziehen, um von vornherein den Verdacht auszuräumen, wir hielten den Materialismus ipso facto für primitiv und schlecht. Gläubige Menschen unterschätzen oft die Wucht des Negativen in der Welt, das doch eine mächtige Instanz gegen ihre Überzeugungen darstellt. Es ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, angesichts von Auschwitz und Birkenau, angesichts der Gräuel von Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot oder angesichts von Hiroshima und Nagasaki immer noch an einen gütigen Gott zu glauben. Nicht dass ich es für unmöglich hielte, aber das Elend dieser Welt ist offenkundig eine furchtbare Zumutung für den Glauben, und wer sich zu einem solchen Glauben nicht entschließen kann, der hat womöglich seine guten Gründe und mag im Übrigen ein durchaus guter Mensch sein. Wir haben uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass der Glaube etwas Selbstverständliches sein sollte.
In der zweiten Hälfte dieses Kapitels soll also auch über den Primitivmaterialismus gehandelt werden, der auf der Illusion beruht, wir würden nur gewinnen, wenn wir die Religion im Mülleimer der Geschichte verschwinden lassen. Das ist nicht nur böswillig, sondern töricht. Der Verlust der Religion ist zugleich mit einem Verlust an existenzieller und moralischer Substanz verbunden, wobei man bis heute nicht sehen kann, was diesen Verlust kompensieren könnte. Diese durchaus wertvolle Substanz des Christlichen können wir in einen gesellschaftlichen und in einen individuellen Aspekt aufteilen. In beiden Bereichen hinterlässt der Verlust des Glaubens eine empfindliche Lücke, und diejenigen, die nicht einfach nur von Hass gegen die Religion erfüllt sind, haben diesen Verlust erkannt. Es sind dies die klugen Atheisten, und sie sind oft traurig über das Verlorengegangene. Karl Rahner unterschied schon vor 50 Jahren die triumphalistischen von den traurigen Atheisten. Letztere sind unsere eigentlichen Gesprächspartner.
a. Der kluge Materialismus
Im Jahr 2004 fand in der Katholischen Akademie in München ein Gespräch zwischen dem Philosophen Jürgen Habermas und Josef Ratzinger, damals noch Kardinal, statt. Das Gespräch wurde als sensationell, von manchen auch als Anstoß erregend empfunden, weil Habermas immer als der Repräsentant einer links-aufgeklärten – selbstverständlich glaubenslosen – Vernunft galt, während man Ratzinger eher zum konservativen Flügel der Kirche rechnete.
Was wollten die beiden voneinander? Eine leicht zynische Lesart würde so lauten: Da treffen sich zwei ältere Herren, deren jeweils multinationale Unternehmen Gefahr laufen, bankrott zu machen, so dass eine heilige oder auch unheilige Allianz zustande kam, so wie sich zwei umstürzende Bäume gegenseitig stabilisieren, damit es nicht so schnell zu Ende geht, sozusagen eine Art von Rentenkonkubinat. Der atheistisch eingestellte Philosoph Hans Albert schäumte vor Wut, weil er annahm, der Aufklärer Jürgen Habermas sei nun zu Kreuze gekrochen, vielleicht weil man im Alter – den Tod vor Augen – eine Rückversicherung braucht in dem Sinn, wie sich große Aufklärer und Atheisten von Voltaire bis Heinrich Heine noch auf dem Totenbett zum christlichen Glauben bekehrt haben. Man weiß ja nie, was da noch kommt.
Aber diese Deutung wäre ganz falsch. Jürgen Habermas hat sich nicht zum Glauben bekehrt. Sein Motiv ist ein ganz anderes, und man sollte dieses Motiv nicht nur als eine strategische Ausflucht aus dem Ungenügen der eigenen Position sehen, so wie Ratzinger seinen Kontrahenten nicht einfach nur als einen reuigen Sünder sah, der in den Schoß der Kirche zurückkehrt. Eine positive Lesart, die dem Sachverhalt wohl eher angemessen wäre, ist die, dass hier zwei bedeutende Vertreter ihrer jeweiligen Weltanschauung von der Sorge umgetrieben wurden, das moderne Gemeinwesen könne von innen her ausgehöhlt werden und irgendwann einmal moralisch kollabieren.
Die Problematik, die hierin liegt, hat der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde so ausgedrückt, dass unser freiheitlichdemokratischer Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann. Dieser Satz machte später als ‚Böckenförde-Diktum‘ Karriere. Er drückt ein Paradox demokratischer Gesellschaften aus, die die Weltanschauung ihrer Bürger nicht mehr festlegen und auf die Art sanktionieren wie noch zu Zeiten der Einheit von Thron und Altar. Kantisch gesprochen, fordert der Staat nur noch Legalität, aber keine Moralität mehr, d. h., er verlangt nur noch Gesetzeskonformität. Aus welchen Gründen der Bürger den Gesetzen gehorcht, ob aus Angst vor Strafe, aus Berechnung oder aus Gutwilligkeit, betrifft den Gesetzgeber nicht weiter, denn der demokratische Staat schnüffelt nicht mehr hinter den Motiven seiner Bürger her. Aber dann kann es geschehen, dass die Sittlichkeit des Gemeinwesens nach und nach austrocknet.
Der Staat ist nämlich darauf angewiesen, sich moralisch zu reproduzieren, so wie er sich auch physisch reproduzieren muss. In beiderlei Hinsicht haben wir heute ein Problem. In allen westeuropäischen Ländern werden zu wenige Kinder geboren. Die eingewanderten Muslime andererseits haben viele Kinder. Es gibt Untersuchungen, wonach bisher nur religiös geprägte Gesellschaften ihr eigenes physisches Überleben sichern konnten. Selbst die vielgelobten Kinderkrippen in der ehemaligen DDR hatten nicht die Wirkung, dass dieser atheistische Staat sein eigenes Überleben sichern konnte. Die hatten auch zu wenig Kinder.
Für die moralische Reproduktion gilt etwas Ähnliches, denn nur eine lebendige Moral lässt sich unseren Kindern beibringen, denn wir sollten Kinder nicht nur physisch, sondern auch moralisch zur Welt bringen. Nun garantierte die traditionelle Religion eine gewisse sittliche Grundsubstanz des Gemeinwesens, aber nichts ist an deren Stelle getreten, vielmehr ist das moderne Individuum gewöhnlich auf sein eigenes Wohlergehen fixiert, vielleicht noch auf das seiner unmittelbaren Nachkommen, aber nur noch selten auf das Wohlergehen des Staates. Der Staat ist jetzt nur noch der Garant meines persönlichen Glücks. Er sperrt die Verbrecher weg, sichert meine Rente und regelt das Verkehrschaos, aber wir haben kein affektives Verhältnis mehr zu ihm.
In seiner Antrittsrede von 1961 sagte John F. Kennedy den berühmt gewordenen Satz: „Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.“ Ludwig Erhard – ständig Zigarre rauchend – war zur selben Zeit, nämlich ab 1963, Bundeskanzler geworden und hatte kurz zuvor ein Buch mit dem bezeichnenden Titel geschrieben „Wohlstand für alle“. Während sein Vorgänger, Konrad Adenauer, der im Dritten Reich das eigene Leben riskiert hatte, stets darauf achtete, dass Deutschland nach den Zeiten der Barbarei wieder ein Land der sittlichen Substanz würde, heizte Erhard einseitig den Konsum an, so als hinge unser Glück allein davon ab. Es scheint, dass wir ihm seither gefolgt sind und dass der private Konsum und die Steigerung des individuellen Lebensstandards unser vorrangiges Ziel sind. Dies gilt selbstverständlich nur statistisch (rühmliche Ausnahmen bestätigen immer die Regel).
Diese Dominanz des Hedonismus und des Habenwollens hat bei Josef Ratzinger für ein pessimistisches Geschichtsbild gesorgt. Er sieht die heutige Gesellschaft in Relativismus und Hedonismus versinken und empfiehlt als Gegenmittel die christliche Religion. Aus diesem Grunde führte er als Papst das Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ fort, das sein Vorgänger ins Leben gerufen hatte. Es ist aber nicht sicher, ob wir den herrschenden Hedonismus der Gesellschaft, den niemand bestreiten kann, moralisierend deuten sollten, denn die Menschen sind heute nicht schlechter als früher, aber vielleicht fehlt ihnen die motivierende Kraft zur Selbstlosigkeit, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu formal sind. Die Menschen sind eben Herdentiere und vielleicht nicht einmal zu Unrecht, denn wir sind auf Anerkennung und Kooperation angewiesen. Wenn sich in einer Gesellschaft wie der unsrigen das individuelle Habenwollen als Grundhaltung durchgesetzt hat, dann wird der Einzelne die Tendenz haben, sich dem anzupassen, und man sollte deshalb hier nicht zu rasch mit moralischen Kategorien und Verurteilungen arbeiten. Sicher aber scheint, dass dieses Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ keine guten Chancen hat. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Völker Europas erneut der Kirche beugen werden.
Habermas beurteilt die Situation ebenfalls sehr pessimistisch, wenn auch aus anderen Gründen. Für ihn als Sozialphilosoph sind die multinationalen Unternehmen eine Bedrohung der bürgerlichen Freiheit, und was ihn besonders beunruhigt, sind die fortschreitenden Medizintechnologien, die in eine neue Form der Barbarei hineinführen könnten, dann nämlich, wenn Menschen die Eigenschaften ihrer Nachkommen manipulieren, ohne dass diese die Möglichkeiten hätten, sich zu wehren. Ein weiterer Grund – aber das sagt er nicht so laut – könnte sein, dass er Zweifel am eigenen Projekt hat.
Habermas ist ein großer Intellektueller, und er entwirft sein Konzept des Staates allein von der Vernunft her. Alles Substanzielle, Nationale, Patriotische, Metaphysische lehnt er ab. Daher übernahm er von Dolf Sternberger den merkwürdigen Begriff des ‚Verfassungspatriotismus‘. Das ist ein weit hergeholtes Hirnkonstrukt. Der Patriot opfert im Grenzfall sein Leben für den Staat, aber wer wird bereit sein, für eine Verfassung zu sterben? Vielleicht sind diesem großen Intellektuellen inzwischen doch Zweifel am eigenen Intellektualismus gekommen, denn der Staat reproduziert seine sittliche Substanz – wenn überhaupt – aus Leidenschaft und nicht aus der reinen Vernunft – so wie auch sonst die Kinder gezeugt werden. Ein aus Vernunft gezeugtes Kind würde in eine lieblose Welt hineingeboren.
Jedenfalls kann man sich gut vorstellen, dass Habermas aus Verzweiflung über die sittliche Erosion der Gesellschaft dort Hilfe sucht, wo er noch genügend Substanz vermutet: bei der Kirche. Er würde natürlich nie so weit gehen, den Glauben als Remedium der modernen Krankheit zu empfehlen, denn in Wahrheit hat er ein rein instrumentelles Verhältnis zur Religion. Er sieht in ihr so etwas wie das Rohöl der Vernunft, das mit Hilfe der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufgecrackt und in gebrauchsfähigen sozialen Treibstoff verwandelt werden muss. Die Religion ist ihm lediglich Mittel zum Zweck der Vernunft.
Wie auch immer, wir können in diesem Dialog Ratzinger – Habermas ein Symptom dafür sehen, dass verantwortliche Vertreter gegensätzlicher Weltanschauungen das moralische Defizit der modernen Gesellschaft erkannt haben, das durch den Verlust des Glaubens hervorgerufen wurde. Auf einer kollektiven Ebene haben wir es nicht vermocht, diesen Verlust zu kompensieren, und eine Zivilreligion wie in den USA existiert bei uns nicht. An diese Zivilreligion und an den intakten Patriotismus der US-Amerikaner konnte John F. Kennedy appellieren. Ludwig Erhard hätte das nicht gekonnt, selbst wenn er es gewollt hätte, aber er wollte ja gar nicht. Wir sehen also, dass ein verantwortungsvoller Atheist wie Jürgen Habermas die Religion als etwas Wertvolles ansieht, auch wenn er nach wie vor bekennt, „religiös unmusikalisch“ zu sein.
In seiner Friedenspreisrede von 2001 bezieht sich Habermas weiter auf einen religiösen Inhalt, der den Übergang vom Kollektiven zum Persönlichen markiert. Es wurde oben gesagt, dass der Verlust der Religion in beiden Bereichen eine merkliche Lücke hinterlässt, sowohl im Bereich der Gesellschaft als auch im Bereich des Individuellen. Die Primitivatheisten, von denen weiter unten die Rede sein wird, betrachten den Verlust der Religion als Gewinn in jeder Hinsicht. Sie verweisen auf die sattsam bekannten dunklen Seiten der Kirchengeschichte wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Ketzerverfolgungen, Inquisition, Zwangsbekehrungen usw., und sie führen das Elend der Welt insgesamt als ein Argument gegen die Existenz Gottes ins Feld. Ist Gott abgeschafft, dann braucht es keine Kirche mehr, ihre dunklen Seiten entfallen automatisch und das Theodizeeproblem ist gelöst. Wo es keinen guten Gott gibt, ist auch das Elend der Welt keine Instanz mehr gegen seine Güte, und wo es keine Kirche mehr gibt, gibt es auch keine Kreuzzüge.
All das wird heute gebetsmühlenhaft wiederholt, aber es wird nicht besser durch diese rein mechanische Wiederholung, denn das Elend der Welt verschwindet noch lange nicht allein dadurch, dass wir Gott abschaffen. Im Gegenteil – es verschärft sich. Denn nun gibt es, wie Habermas in seiner Friedenspreisrede zu Recht bemerkt, keine Hoffnung mehr für die Opfer der Geschichte. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille: Gibt es keinen Gott, dann gibt es auch keine Auferstehung. Dann ist das Grab das letzte Wort über die Opfer der Geschichte, und Hitler hat dasselbe Schicksal wie die von ihm ermordeten Juden. Sie modern gleichermaßen im Grab.
Kant hielt dies für einen unerträglichen Skandal der Vernunft, so dass er daraus einen Gottesbeweis machte. Es ist nach Kant der Vernunft schlicht nicht zuzumuten – bei Strafe ihrer Selbstzerstörung –, dass wir glauben sollen, der moralisch recht Handelnde, der von den Intriganten und Mächtigen gequält und ermordet wurde, solle auf Dauer dasselbe Schicksal erleiden wie diese Mächtigen, die sich ein gutes Leben auf seine Kosten gemacht haben. Ob dies einen Gottesbeweis hergibt, können wir auf sich beruhen lassen. Ganz gewiss jedoch ist, dass Habermas recht hat, wenn er hier einen unersetzlichen Verlust sieht, den das Verschwinden der Religion nach sich zieht.
Die Primitivatheisten gehen mit dem Slogan hausieren: „Glaubst du noch oder denkst du schon?“ Danach würde ein rational denkender Mensch den Glauben von sich werfen wie ein schmutziges, zerschlissenes Hemd, um atheistisch frisch ausstaffiert einer strahlenden Zukunft der vorurteilsfreien Vernunft entgegenzusehen. Auf der anderen Seite gibt es kluge Philosophen, die den Verlust des Glaubens beklagen, auch wenn sie ihn nicht mehr nachvollziehen können. Dazu gehört z. B. der Philosoph Herbert Schnädelbach. Er bekennt, dass er nicht glauben könne, und hält das Christentum historisch für überholt. Aber als ein gebildeter Mensch geht er schon mal ins Konzert und hört den Schlusschoral aus Bachs Johannespassion:
Ach, Herr, lass dein lieb Engelein
am letzten End die Seele mein
in Abrahams Schoß tragen.
Oder Felix Mendelssohns Vertonung des 91. Psalms:
Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir,
dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
dass sie dich auf Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.
Schnädelbach gesteht, dass er diese Musik nicht hören kann, ohne tief berührt zu werden oder sogar zu weinen. Aber wenn er das Konzert verlassen hat, dann erscheint ihm das alles nur noch wie ein wesenloser Traum von gestern.
Für Menschen wie Schnädelbach ist die christliche Musik wie für unsereins der Besuch in einem Museum für griechische Kunst. Wir stehen staunend vor den Skulpturen der griechischen Götter, und ihre ästhetische Wucht springt uns an wie ein gefährlicher Tiger von hinten. Keine Chance. Wir sind überwältigt und glauben für einen Moment, dass diese Götter real seien. Aber nur so lange, wie wir uns im Museum aufhalten. Draußen hingegen erfasst uns wieder der nüchterne Alltag, und die griechischen Götter werden museal und kommen herab zur bildungsbürgerlichen Reminiszenz.
Um 1800 schwärmte ganz Deutschland für die griechische Mythologie. Goethe hat seinen Faust II reichlich damit ausstaffiert. Aber es wirkt gipsklassizistisch, wie ein zweiter Aufguss, und man kann auch davon ausgehen, dass Goethe selbst nicht an diese mythologischen Gestalten glaubte. Für ihn war die griechische Mythologie ein Reservoir kraftvoller Symbole, aus dem er sich bediente. Dass er all dies nicht so furchtbar ernst nahm, sieht man daran, dass er am Ende von Faust II plötzlich in eine christliche Symbolik verfällt, aber auch diese nahm er nicht wirklich ernst. Für ihn waren es einfach nur besondere kräftige Farben auf dem Pinsel seiner Poesie.
Für Intellektuelle wie Schnädelbach sind Jesus, Maria und Josef eher wie Zeus, Hera und Apoll: Gestalten der Geschichte, die eine museale Rührung in uns hervorrufen, die jedoch mit unserer heutigen Situation nichts mehr zu tun haben. An das Christentum kann man heute einfach nicht mehr glauben. Dass Schnädelbach das so sieht, scheint klar, aber hat er auch recht? Kann man heute im Ernst nicht mehr an Gott glauben? Wer sich entschlossen hat, nicht zu glauben, mag seine guten Gründe haben, und wir werden seine Gründe achten, aber die eher objektive Behauptung, dass man heute nicht mehr glauben könne, ist schlichtweg falsch.
Schnädelbach hat bei Th. W. Adorno studiert, zu einer Zeit, als die sogenannte Säkularisierungsthese in Mode war. Sie läuft darauf hinaus, dass unsere Kultur immer rationaler, diesseitiger wird. Das Religiöse verdunstet nach und nach und macht einer Rationalität Platz, die keinen Sinn mehr für Transzendenz hat. Aber diese Säkularisierungsthese ist gescheitert. Die Religion macht keinerlei Anstalten, zu verschwinden. Es ist auch nicht so, dass sie nur in der „Dritten Welt“ boomt, sodass die These zumindest für die westliche Welt wahr wäre. Je moderner, desto weniger religiös, so die Säkularisierungsthese.
Das prominenteste Gegenbeispiel dafür sind aber die USA. Dort gehen Religiosität und Modernisierung Hand in Hand. Dasselbe gilt übrigens auch für Südkorea, die Philippinen, ja sogar für China, und ist es so sicher, dass sich der Aufschwung des Christentums in Südamerika und Afrika nur einfach der Tatsache der gesellschaftlichen Unterentwicklung und einem herrschenden Aberglauben verdankt?
Es ist jedenfalls so, dass die Säkularisierungsthese höchstens für Westeuropa etwas Reales bezeichnet, und dann auch nur, wenn wir die Blüte der Esoterik und den Einfluss ostasiatischer Religionen ignorieren. Jürgen Habermas hat deshalb für unsere Epoche den Begriff ‚postsäkular‘ geprägt, worauf der Religionssoziologe Hans Joas gallig bemerkte, eine Gesellschaft, die niemals wirklich säkularisiert war, könne auch nicht später postsäkular geworden sein. Für Hans Joas ist die ganze Rede von ‚Säkularisierung‘, ‚postsäkular‘ usw. ein Artefakt, eine soziologische Erfindung, die wenig mit der Realität zu tun hat.
Das heißt also: Wer sich gegen den Glauben entscheidet, mag seine guten Gründe haben. Zu behaupten, Jesus Christus sei museal, überholt wie die griechischen Götter, liegt aber ganz falsch. An Zeus, Hera und Apoll glaubt niemand mehr, aber auf der Erde leben inzwischen mehr als zwei Milliarden Christen, die ihren Glauben ernst nehmen!
Die klugen Materialisten sind klug genug, sich nicht auf die Naturwissenschaft zu berufen, wie die gleich zu behandelnden Primitivatheisten. Sie haben seriösere Gründe. Heute aber dominiert ein Primitivatheismus, der glaubt, die Religion sei falsch, weil Physik und Biologie wahr seien. In der Tat kommt Gott weder in der Physik noch in der Biologie vor. Aber das ist so ähnlich, wie der Ingenieur in den Betriebsanleitungen einer Waschmaschine oder eines Computers nicht vorkommt. Würden wir daraus schließen, dass diese technischen Geräte auf den Bäumen wachsen und nicht vielmehr vom Menschen gemacht wurden?
b. Der primitive Materialismus
Das nun Folgende ist nicht sehr appetitlich. Der Primitivmaterialismus, der auch der ‚neue Atheismus‘ genannt wird, ist so unbedarft, dass man sich stellvertretend für seine Anhänger schämen muss, dass sie sich nicht mehr Mühe geben. Ungefähr so, als würde man den Inhalt von Einsteins Relativitätstheorie in dem Satz zusammenfassen „Es ist alles relativ“, was man zwar oft hört, was aber nur dem einleuchten wird, der keine Ahnung von der Sache hat. Die neuen Atheisten wissen in der Regel nicht, wovon sie reden. Sie haben noch nicht einmal ein elementares Handbuchwissen vom Glauben, geschweige denn, dass sie sich ernstlich mit Theologie auseinandergesetzt hätten. Es ist einfach nur peinlich.
Ihr Begriff von Religion lautet ungefähr so: Wenn früher eine Sonnenfinsternis eintrat, flüchteten die Menschen in die Tempel oder in die Kirchen, denn die Sonne war der Platzhalter des Guten und die Finsternis stand für das Böse. Die Sonnenfinsternis war also zugleich eine Verdunklung des Göttlichen, d. h. des Guten. Seit Galilei und Newton haben wir jedoch die Gesetze der Planetenbewegungen und die der Monde erkannt und können eine Sonnenfinsternis präzise vorhersagen. Damit entfällt der ganze Aberglaube, und die Wissenschaft verdrängt die Religion als eine Form der primitiven Unwissenheit. Mehr Schlichtheit ist kaum denkbar.
Es gibt in Deutschland eine Art Atheistenkirche, nämlich die Giordano-Bruno-Stiftung. Sie setzt sich für die Verbreitung des Unglaubens ein und beruft sich dabei vornehmlich auf die Naturwissenschaft. Tatsächlich sind einige Mitglieder dieser Stiftung Naturwissenschaftler wie Bernulf Kanitscheider, Franz Wuketits, Gerhard Vollmer, Ulrich Kutschera, Volker Sommer, Eckhard Voland, aber auch Philosophen wie Hans Albert oder Dieter Birnbacher.
Diese Stiftung veranstaltet Wochenendseminare, wie z. B. eines über den Löffelzerbieger Uri Geller. Geller gibt vor, Löffel auf Distanz und ohne Berührung verbiegen zu können, doch die Giordano-Bruno-Stiftung erklärt uns den Trick. Sehr verdienstvoll, aber sie erhebt damit zugleich den Anspruch, religiöse Wunder entlarvt zu haben. Die fundamentale Differenz zwischen einem Mirakel und einem Wunder scheint ihnen unbekannt. Magie war schon im Alten Testament verboten, geschweige denn im Neuen Testament, aber Wunder haben eine völlig andere Bedeutung als bloße Mirakel oder als Magie.
In Lourdes geschehen Heilungswunder, gut bezeugt von völlig materialistisch eingestellten Wissenschaftlern. Dagegen wird eingewandt, dass auch an ganz gewöhnlichen Kliniken unerklärliche Spontanheilungen geschehen und dass ihr prozentualer Anteil nicht geringer sei. Wäre dies eine Widerlegung der Wunder von Lourdes? Wird ein Todkranker, der im gläubigen Vertrauen nach Lourdes pilgert und der wieder gesund wird, seine Genesung als statistische Schwankung und nicht vielmehr dennoch als ein Wunder ansehen, möge an den profanen Kliniken geschehen, was da wolle? Tatsächlich ist das Mirakel per se kein Wunder, sondern nur ein auffälliges Geschehen, das im Glaubensvollzug eine bestimmte Bedeutung hat. Das Mirakulöse ist also nicht der entscheidende Punkt, und dass es an gewöhnlichen Kliniken Spontanheilungen gibt, ist kein Argument gegen das Wunder, das seine eigentliche Kraft aus dem Glauben zieht.
Der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung ist der Philosoph Michael Schmidt-Salomon. Er schrieb für diese Stiftung eine programmatische Schrift mit dem Titel „Manifest des evolutionären Humanismus“, in der er zehn neue Gebote verkündet, sich also dreist mit Moses auf eine Stufe stellt. Ansonsten sagt er, was ihm so einfällt. So behauptet er, dass den Menschen „in religiösen Dingen jegliches Gefühl für intellektuelle Redlichkeit verloren“ gehe. Oder: „Kein noch so verkommenes Subjekt unserer Spezies hat jemals derartig weitreichende Verbrechen begangen, wie sie vom Gott der Bibel berichtet werden.“ Jesus habe für die Ungläubigen eine „Endlösung“ nach Art der Nazis vorgesehen, so dass er ihn dreist mit Josef Goebbels (!) vergleicht. Das ist ebenso böswillig wie ignorant. So wenig wie ein Mirakel von sich aus schon ein Wunder ist, so wenig sollte man eine prophetische Rede, die aufrüttelt, wörtlich nehmen. Aber diese Art von neuen Atheisten hat noch nicht einmal ein elementares Basiswissen über den Glauben. Umso ungenierter lässt es sich lästern. So ließ sich neulich Schmidt-Salomon mit dem Ausspruch hören, das Christentum sei „die dümmste Religion auf Erden“, und vor Kurzem schrieb er sogar einen Roman, um dies zu zeigen. Religionen, die den heiligen Krieg lehren oder die das Kastenwesen rechtfertigen, scheinen ihn weniger zu stören. Man sieht, es geht hier nicht um Information, sondern um Provokation, und zwar um der Provokation willen.
Der Philosoph Ansgar Beckermann, der niemals aus seinem Atheismus einen Hehl gemacht hat, kritisiert, dass die neuen Atheisten die gläubigen Menschen behandeln wie „Deppen“. Das ist zunächst auf Richard Dawkins gemünzt, den man ebenfalls zu den neuen Atheisten rechnet und der in seinem Buch „Der Gotteswahn“ alles Schlechte in dieser Welt auf die Religion zurückführt. Das heißt also, ein Atheist wie Beckermann grenzt sich trotzdem ganz deutlich von diesem Primitivatheismus ab, der sich heute so unangenehm breitmacht.
In einem Fernsehinterview wurde Richard Dawkins gefragt, wie man mit der Tatsache umgehen solle, dass die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts Atheisten waren, also Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot, wenn doch alles Böse von der Religion kommt, wie Dawkins unterstellt. Er gab jedoch ungerührt zur Antwort „All diese Verbrecher waren in Wahrheit gläubig“. Das heißt: Alles Schlechte ist von Hause aus religiös, so wie alles Religiöse von Hause aus schlecht ist. In den 60ern hat man ganz ähnlich argumentiert: „Alle Kommunisten sind links, also sind alle Linken Kommunisten.“ Auf Grund dieser Logik lässt sich leicht aus einer Maus ein Elefant machen: „Alle Elefanten sind Säugetiere, alle Mäuse sind Säugetiere, also sind alle Mäuse Elefanten.“ Wenn es den neuen Atheisten um Religion geht, setzen sie selbst die elementarsten Regeln der Logik außer Kraft.
Hier eine weitere Kostprobe aus Dawkins „Der Gotteswahn“, die zeigt, wie unbedarft und unwissend diese Art von Religionskritik ist: Dawkins bezieht sich in diesem Buch auf die fünf Gottesbeweise des heiligen Thomas von Aquin. Diese Gottesbeweise hängen fast alle an dem Ausschluss des regressus in infinitum. Thomas argumentiert z. B. im ersten Gottesbeweis so, dass es in der Welt offenkundig Bewegung = Veränderung gibt. Nun erkläre sich aber die Bewegung nicht aus sich selbst, sondern was in Bewegung ist, muss von etwas anderem bewegt werden. In der Kette der Bewegungsursachen müsse man aber zu einem Ersten kommen, sonst würde sich auch jetzt nichts bewegen. Also könne man auf die Existenz eines ersten unbewegten Bewegers schließen, den Thomas mit Gott identifiziert. Dawkins sieht richtig, dass dieser Beweis am Ausschluss des regressus in infinitum hängt, denn nur dann kann man auf einen ersten Anfang der Bewegungsursachen schließen. Tatsächlich schließt Thomas ganz grundsätzlich das Unendliche als real Existierendes aus. Die Reihe der Bewegungsursachen kann also nicht ins Unendliche gehen. Sie muss irgendwo ihren Ursprung haben. Dagegen betont Dawkins, dass Gott nicht „gegen die Regression immun“ sei. Er ist nicht der Einzige, der so argumentiert. Seit Bertrand Russell wird immer wieder gegen Gott als Erstursache eingewandt, dass es sinnlos sei, Gott als Ursprung aller Dinge anzusehen, denn dann könne man leichthin weiterfragen, was wohl die Ursache für Gott sei.
Dem liegt eine prinzipielle Verwirrung zugrunde. Die Kette der Ursachen und Wirkungen, wie wir sie heute verstehen, geht grundsätzlich ins Unendliche, denn zu jeder Wirkung lässt sich eine weitere Ursache finden, weshalb auch der Urknall nichts absolut Erstes, sondern nur ein relativ Erstes ist, relativ nämlich zu den heute akzeptierten Theorien und Messdaten. Aber Gott ist nicht Ursache in diesem modernen Sinn, sondern Ursprung und das ist etwas ganz anderes, denn im Mittelalter kannte man noch nicht den modernen Kausalitätsbegriff, der den regressus in infinitum einschließt, wie wir das heute tun. Man suchte vielmehr nach einem ersten Ursprung aller Dinge, und wenn die modernen Materialisten glauben, dass solche Fragen des Mittelalters metaphysisch und deshalb sinnlos seien, dann irren sie sich sehr, denn sie fragen ihrerseits ebenfalls nach dem Ursprung aller Dinge und finden ihn in der Materie. Auch wenn ich ein Materialist bin, setze ich also ein Letztes, nicht mehr Relativierbares, d. h. einen echten Ursprung, voraus, bei dem der regressus in infinitum zum Stillstand kommt. In dieser Sichtweise ist die Materie der Grund aller Dinge, und deshalb wird kein Materialist die Frage nach der Ursache der Materie zulassen. Ließe er sie zu, gäbe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Ursache der Materie wäre wiederum etwas Materielles, dann werden wir die Frage wiederholen. Oder die Ursache der Materie ist etwas Immaterielles, dann hat er seine Weltanschauung aufgegeben. Er wird also die Frage nach der Ursache der Materie grundsätzlich ablehnen. Aber warum polemisiert er dann gegen die Christen, die die Frage nach der Ursache von Gott für sinnlos halten?
Wir unterscheiden heute nicht mehr zwischen ‚Ursache‘ und ‚Ursprung‘, weil wir glauben, dass die Welt hinreichend durch Kausalanalyse begreifbar ist, wie sie in den Naturwissenschaften dargestellt werden. Aber die metaphysische Frage nach dem Ursprung ist damit noch nicht beantwortet und liegt auch auf einer ganz anderen Ebene. Will man die Texte des heiligen Thomas von Aquin wirklich verstehen, dann sollte man zur Kenntnis nehmen, dass er einen Ursachenbegriff hatte, der beides einschloss, Wirkursachen und zugleich damit die Frage nach einem letzten Ursprung. Das liegt daran, dass er teleologisch dachte: Die Kette der Wirkursachen verweist zugleich auf einen höchsten, nicht mehr relativierbaren Zweck. Man kann argumentieren, dass wir heute eine solche Auffassung von Kausalität nicht mehr vertreten können. Aber dann sollte man die Texte erst einmal richtig verstanden haben. Dazu ist einiges an hermeneutischer Vorarbeit nötig, denn man kann nicht einfach davon ausgehen, dass in Texten, die 700 Jahre alt sind, die Begriffe im selben Sinn gebraucht werden wie heute. Der Theologiestudent lernt so etwas im ersten Semester. Aber Atheisten wie Richard Dawkins ersparen sich die elementarsten Kenntnisse, die notwendig sind, um solche Texte zu verstehen.
Besonders abstoßend ist Dawkins’ Interpretation des vierten Gottesbeweises aus den Vollkommenheitsstufen, der ebenfalls auf dem Ausschluss des regressus in infinitum beruht. Nach Thomas gibt es Vollkommenheitsstufen im Universum. In aufsteigender Reihenfolge: Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, und diese Wertstufen verweisen auf eine höchste Vollkommenheit, die Thomas mit Gott gleichsetzt. Nun könnte man nach Dawkins dasselbe Muster anwenden, um zu beweisen, dass es einen ultimativen, unüberbietbaren Stinker gibt, und zwar auf diese Art: Es gibt Menschen, die in verschiedenem Grade stinken. Also muss es ein Höchstmaß an menschlichem Gestank geben, mithin den absoluten Stinker, der dann alles überstänke.
Aber ist Gestank im Ernst eine Vollkommenheit? Doch selbst wenn wir Dawkins’ Argument auf Wohlgerüche beziehen würden, ließe sich dann mit Thomas beweisen, dass es den wohlriechendsten Menschen geben müsse, relativ zu dem keiner besser röche? Es scheint, dass das die Sache auch nicht besser macht, denn es geht Thomas offenkundig um essentielle Eigenschaften, nicht um akzidentelle. Gut zu riechen oder zu stinken sind akzidentelle Eigenschaften des Menschen. Die Vollkommenheitsstufen, von denen Thomas spricht, sind aber essentielle Eigenschaften der entsprechenden Wesen, seien es Steine, Pflanzen, Tiere oder Menschen.
An sich steht das in jedem Handbuch, und wer auch nur oberflächlich mit Thomas vertraut ist, weiß, dass er bei akzidentellen Verhältnissen den regressus in infinitum nicht ausschließt. Z. B. hielt er es für unmöglich, den Anfang der Zeit zu beweisen, obwohl es in der Bibel so dargestellt wird. Wäre der Ausschluss des regressus in infinitum auf die akzidentelle Bestimmung der Zeit anwendbar, dann hätte Thomas ganz leicht ihren ersten Anfang beweisen können.
Selbstverständlich können wir auch Thomas’ Gottesbeweis aus den Vollkommenheitsstufen kritisieren. Sowohl die Idee einer gestuften Vollkommenheit als auch die Idee essentieller Eigenschaften werden von vielen modernen Philosophen in Frage gestellt. Aber diese Philosophen haben die Texte wirklich gelesen und sich die Mühe gemacht, sie hermeneutisch zu erschließen. Aber Richard Dawkins hat sie nur durchgeblättert und sich noch nicht einmal bei Wikipedia informiert. Was würde er von einem Theologen halten, der seine eigenen Bücher durchblättert, um sie anschließend zu kritisieren?
Vielleicht noch ein Beispiel für die Unbedarftheit der neuen Atheisten: Der Biologe Franz Wuketits ist ebenfalls Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung und schreibt ein Buch nach dem andern, in dem er eine materialistische Weltanschauung aus der Biologie glaubt ableiten zu sollen. Aus diesen zahlreichen Büchern sei hier nur ein bestimmtes Beispiel herausgegriffen, um die ganze Art des Denkens in seiner Schlichtheit zu veranschaulichen. Wuketits bezeichnet die natürlichen Organismen des Öfteren als „Pfusch“. Er denkt an so etwas wie die Kreuzung von Luft- und Speiseröhre, die zwar gewöhnlich durch einen Kehldeckel abgeschlossen werden, aber manchmal funktioniert die Klappe nicht richtig und die Speisen gelangen fälschlicherweise in die Luftröhre, so dass manche sogar daran ersticken. Ein Ingenieur hätte das sicher anders gemacht. Er hätte zwei separate Eingänge geschaffen, damit Luft und Speisen getrennt in den Körper gelangen. Da das bei uns nicht der Fall ist, beurteilt Wuketits solche ‚Fehlkonstruktionen‘ als „Pfusch“.
Aber warum eigentlich? Die Natur geht doch nicht auf dieselbe Weise vor wie ein Ingenieur! Der Ingenieur ist handlungsentlastet, wenn er ein neues Gerät entwirft. Er programmiert es in Ruhe am Computer, lässt einen Prototyp herstellen, testet seine Eigenschaften, verbessert noch dieses oder jenes und entlässt erst dann seine Neuentwicklung auf den Markt. Aber so geht die Natur nicht vor, denn die Natur muss ihre ‚Konstruktionen‘ bei voller Leistung umbauen und ständig verbessern. Hier gibt es keine Handlungsentlastung, sondern alle Organismen sind einem ständigen Selektionsdruck, d. h. einem mörderischen Wettbewerb ausgesetzt, dem sie standhalten müssen, sonst verschwinden sie von der Bildfläche.
Kein Ingenieur auf Erden wäre fähig zu dem, wozu die Natur seit vier Milliarden Jahren fähig ist: bei voller Leistung und im vollen Lauf eine Maschine umzubauen und zu verbessern, sagen wir, aus einem Automobil nach und nach ein Flugzeug zu machen, das im Grenzfall bei der Bewegung auf der Erdoberfläche genauso effizient ist, wie wenn es sich in die Lüfte erhebt. Tatsächlich bemühen sich die Ingenieure seit vielen Jahrzehnten, ein Flugauto zu bauen, bringen es aber nicht fertig, weil die Anforderungen an ein Auto und an ein Flugzeug in eine ganz andere Richtung gehen. Aber die Natur hat dieses Kunststück fertiggebracht. Und da spricht Herr Wuketits von „Pfusch“!
Dass also die natürliche Evolution merkwürdig scheinende Konstruktionen hervorgebracht hat, liegt einfach daran, dass sie keine Zeit hatte, einen Schritt zurückzutreten und wieder von vorne anzufangen. Das bereits Existierende muss bei voller Leistung umgebaut werden. Natur geht eben nicht vor wie ein Ingenieur. Es ist schlichtweg peinlich, einen Biologen daran erinnern zu müssen, dass Natur und Technik zweierlei sind und dass deshalb von „Pfusch“ keine Rede sein kann. Aber wieso kommt Wuketits überhaupt auf eine derart weit hergeholte Idee?
Charles Darwin sollte zunächst auf Wunsch seines Vaters Theologe werden, obwohl er schon immer eine Neigung zur Naturforschung hatte. Also fing er brav an, Theologie zu studieren, und beschäftigte sich unter anderem mit der natürlichen Theologie William Paleys. Bei Paley gibt es einen teleologischen Gottesbeweis aus der Vollkommenheit der Organismen: Wenn ich am Strand eine Uhr finde, dann werde ich auf ihren Urheber schließen, und so sei das auch mit den in der Natur vorfindlichen Organismen. Sie seien so perfekte Maschinen, dass wir auf einen göttlichen Konstrukteur schließen müssten. Über William Paley ist dann eine technizistisch imprägnierte Teleologie in den Darwinismus eingewandert und wird dort kolportiert bis heute.
Das 18. Jahrhundert, in dem William Paley lebte, war das Jahrhundert des Mechanismus. Die mechanischen Artefakte, wie z. B. die damaligen Uhren, wurden immer komplizierter und kunstvoller. Also entwickelten ‚progressive‘ Theologen wie Paley eine natürliche Theologie, die sich am Technikparadigma orientierte. Allerdings stieß Paley schon damals, d. h. lange vor Darwin, auf Widerstand innerhalb der Theologenzunft. Es ist also nicht so, wie man heute ständig liest, dass Paleys natürliche Theologie erst von Darwin kritisiert wurde. Der englische Theologe Alister McGrath hat dies in einer glänzenden Studie nachgewiesen.
Es ist auch von der Sache her kein Wunder, dass Paleys technizistisches Denken auf Widerstand bei den Theologen stoßen musste, denn das Verhältnis des christlich verstandenen Gottes zu seiner Schöpfung ist kein zweckrationales, von außen kommendes, sondern ein dialogisches der Anerkennung. Wer sich technisch zur Welt verhält, der hat ein monologisches, einseitiges Verhältnis der Machtausübung, nicht ein wechselseitiges des Dialogs und der Anerkennung. Man kann also nicht sagen, dass Paleys natürliche Thesologie aufgrund ihrer technizistischen Vorstellung irgendetwas mit dem zu tun hat, was die natürliche Theologie über die Jahrhunderte hinweg lehrte. Die oben erwähnten fünf Gottesbeweise des Thomas von Aquin aus der Summa theologica enthalten deshalb auch keine solchen technischen Vorstellungen.
Aber bei den Gegnern des Glaubens haben sie sich seit 200 Jahren gehalten, und das gibt einen Hinweis darauf, weshalb Franz Wuketits die natürlichen Organismen als „Pfusch“ bezeichnet. Er glaubt nämlich, dass die Theologie damit steht und fällt, dass die Organismen perfekte Maschinen sind. Denn in diesem Fall – so fürchtet er – würden sie die Grundlage zu einem Gottesbeweis hergeben und das will er verhindern. Also bezeichnet er sie herablassend als „Pfusch“, um dem Glauben das Wasser abzugraben. Wir haben daher die folgende, unüberbietbar absurde Situation: Ein Biologe wie Franz Wuketits interpretiert die natürlichen Organismen nach einem ganz und gar unbiologischen Schema und bekämpft damit eine Theologie, die genauso schief ist und die schon vor 200 Jahren kaum für sinnvoll gehalten wurde.
In Wahrheit ist es aber noch viel absurder: Seit 20 oder 30 Jahren gibt es die neue Disziplin der Bionik. Man hat entdeckt, dass die natürlichen Konstruktionen unseren eigenen haushoch überlegen sind, was Stoffausnützung oder den energetischen Wirkungsgrad anbelangt. Während z. B. selbst unsere Energiesparlampen immer noch einen ziemlich schlechten Wirkungsgrad haben, weil sie viel zu viel Energie in nutzlose Wärme umwandeln, erzeugen die Glühwürmchen kaltes Licht. Sie setzen praktisch die gesamte hineingesteckte Energie in Licht um. Wir sind bis heute nicht in der Lage, es ihnen gleichzutun; und so ist das mit vielen ‚Konstruktionen‘ in der Natur. Wir würden uns z. B. glücklich preisen, wenn wir so stabile Stahlseile hätten wie die Spinnenfäden, wenn wir die Größenordnung berücksichtigen. Ein Spinnennetz hält eine Hummel aus. Im vergleichbaren Maßstab wären unsere besten Stahlseile längst gerissen, wenn sie solchen Belastungen standhalten müssten. Verglichen mit den natürlichen Konstruktionen ist das, was wir machen, Pfusch und deshalb gibt es die Bionik, die von der Natur lernen möchte, und das in immer größerem Maßstab. Z. B. hat die Autoindustrie längst damit begonnen, ihre Motoren analog zu unseren Knochen aufzubauen, denn die sind nur dort verstärkt, wo die größten Belastungen auftreten, während die Natur an den anderen Stellen Material spart. Der bekannteste Bioniker in Deutschland ist wohl Claus Mattheck. Er hat insbesondere die Stabilitätseigenschaften von Bäumen untersucht, um die entsprechenden Eigenschaften unserer Türme zu optimieren. Wenn unsere Fernsehtürme den Belastungen standhalten müssten, die im Verhältnis die Bäume verkraften, dann wären sie schon längst alle umgefallen. Oder anders gewendet, man könnte unsere Türme mit viel weniger Material und besseren Stabilitätseigenschaften bauen, wenn man an der Natur Maß nähme.
Wir haben also bei Wuketits eine Situation, die an Absurdität kaum zu überbieten ist: Aufgrund einer falsch verstandenen Biologie bekämpft er eine falsch verstandene Theologie und nimmt noch nicht einmal zur Kenntnis, dass die Natur selbst dann, wenn sie unter den extremen Bedingungen einer ständigen Leistungssteigerung arbeiten muss, immer noch ‚Konstruktionen‘ hervorbringt, die den menschlichen haushoch überlegen sind.
Damit mag es vielleicht genug sein. Es macht keinen Sinn, diesen neuen Atheisten zu viel Raum zu geben, sonst würde der Eindruck entstehen, man nähme sie ernst. Die sogenannten neuen Atheisten sind überdies nicht wirklich neu. Sie erinnern fatal an den Atheismus des späten 19. Jahrhunderts. Damals verbreitete der Biologe Ernst Haeckel die Darwin’sche Lehre in Deutschland und verband sie mit einem weltanschaulich-materialistischen Monismus ziemlich aggressiven Charakters. Wer sich mit diesem Monismus beschäftigt hat, wird sich die Augen reiben: Wie kommt es, dass die neuen Atheisten alle Torheiten wiederholen, die schon vor 150 Jahren wenig überzeugend waren?
Es scheint eben, dass wir die Bodenlosigkeit unserer eigenen Exstenz und die der Welt nicht aushalten wollen. Das Mysterium bedroht unsere Selbstsicherheit. Es setzt hinter allem, was wir tun, ein Fragezeichen. Der Szientist bringt das Mysterium zum Verschwinden. Er ersetzt die Fraglichkeit durch Kausalanalyse und rekonstruiert die Welt als eine krause Mischung aus blinder Notwendigkeit und ebenso blinden Zufällen. Dann ist die Welt zwar sinnlos, aber sie lässt sich immerhin berechnen und wir wissen endgültig Bescheid.