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Familienchronik

Mein Großvater

Mein Großvater war Braumeister

und meistens besoffen.

Wenn er sich zusätzlich zu seinem Urlaub

Urlaub verschaffen wollte,

hackte er sich ein Glied

eines seiner Finger ab.

So hat er innerhalb von vierzehn Jahren

die Finger seiner linken Hand eingebüßt.

»Aber die Tage, wo ich meine Finger für

geopfert habe, hab' ich ganz bewusst gelebt,

weil ich ja gewusst hab' wofür«,

sagte mein Großvater.

Mein Onkel Kurt

Mein Onkel Kurt ist Ingenieur.

Jetzt betreibt er einen Waschsalon.

Onkel Kurt wäscht für Daimler-Benz, die Post

und Privatkunden.

Onkel Kurt hat Schultern wie ehemals Mister Atlas.

Er war Panzerleutnant und hat ein Glasauge.

Zu meinem Sohn sagt er,

dass er für Fußball keine Eintrittskarten brauche,

da er sein Glasauge durch jede Ritze

halten könne

und somit alle sähe.

Doch mein Sohn glaubt ihm nicht so recht.

Zu mir sagt Onkel Kurt,

dass ihn die Wäscherei anstinke,

und er lieber ein Büro für Probleme aufmachen würde.

Denn jedes Problem ist lösbar, meint er.

Tante Helga

Tante Helga heiratete kurz nach dem Krieg Larry,

einen Amerikaner.

Der Ami schaffte alles ran, was wir brauchten.

Mir schenkte er zu Weihnachten eine elektrische Eisenbahn,

mit der er selbst so lange spielte, bis sie zu Bruch ging.

Im Sommer fuhren wir mit seinem weißen offenen

Amischlitten

quer durch Deutschland,

und Tante Helga hatte mehrere »Männeraffären«.

Zwei Jahre später schrie sie Onkel Larry

unter dem Weihnachtsbaum an:

»Ich hab' mich nur mit dir eingelassen,

weil wir was zu fressen brauchten.

Ich habe mich für die Familie geopfert.« –

Larry lachte:

»Sie will mir heimzahlen, dass ich als Ami alles hatte,

was sie brauchte«, sagte er.

»Ich habe ihren Stolz verletzt.«

Griff nach seiner Flinte

und schoss Tante Helga in die Stirn.

Mein Vater

Mein Vater ist ein Elfeinhalbender.

Er bekommt keine Kriegerpension.

Er hätte den Krieg ein halbes Jahr lang

weiterführen müssen,

um eine Vaterlandsrente zu bekommen.

Mein Vater hat fürs Vaterland

ein Bein und einen Arm geopfert.

Er ist Elfeinhalbender

und liebt das Vaterland jetzt nicht mehr.

Meine Mutter

Auch meine Mutter glaubt nicht mehr ans Vaterland.

Meine Mutter glaubt nur noch an ihre Kinder.

Sie hat meinen Vater immer mit Blumen

an den Frontzug gebracht.

Meine Mutter war auch mal eine junge Frau,

die ans Vaterland geglaubt hat. –

Meine Mutter ist für mich ein Geschichtsbuch.

Meine Schwester

Meine Schwester schreibt mir,

dass ein Mann über sie gekommen ist,

bei dem sie Glück empfunden hat,

und der sich ihretwegen scheiden lassen will.

Meine Schwester schreibt mir:

Ich komm' von dem Kerl nicht mehr los.

Mein Vater schreibt: Der Kerl ist verkommen.

Meine Mutter: Deine Schwester wirft sich weg.

Meine Schwester schreibt: Du, der schreibt Gedichte,

lies die mal.

Mein Onkel Anton

Mein Onkel Anton war KPD-Mann.

Mein Onkel Anton ist erschossen worden.

Datum: 24. 12. 1966.

Die beiden Täter gehörten einer Nazivereinigung

an.

Der Richter hat sie ins Irrenhaus gesteckt.

Neulich las ich,

dass sie als geheilt entlassen wurden.

Mein Onkel Friedrich

Wir sind schon immer sozial gewesen,

sagt mein Onkel Friedrich.

Und wir sind schon immer national gewesen.

Und den Hitler,

den haben auch wir nicht gewollt. –

Aber der Russe gehört hintern Bug.

Manchmal hab' ich Angst

Manchmal hab' ich Angst,

dass mein Sohn größer wird.

Was wird er dich fragen, denk' ich.

Ich hab' weder einen Weltkrieg mitgemacht,

noch fahr' ich Mercedes oder hab' ein Haus.

Ich hab' nur das, was man eben so braucht:

Einen Elektroherd, einen Fernseher, eine Waschmaschine

und zusammengeramschte alte Klamotten

in der Bude.

Und es gibt Leute, die sagen: Der, das ist eine

verkrachte Existenz.

Was wird dein Sohn dich fragen, wenn er größer

ist,

denk' ich.

Und manchmal hab' ich Angst um meinen Sohn.

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