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Ankunft

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Die Wirklichkeit ist nicht so oder so,

sondern so und so.

Harry Mulisch

Der Flug von Zürich nach São Paulo war das übliche Geschüttel über dem Äquator gewesen, weniger heftig als bei früheren Malen, doch seit vor Jahren eine Air France Maschine in den Atlantik gestürzt war, war Harry auf dieser Strecke regelmässig noch mulmiger zumute als ihm beim Fliegen eh schon war. Doch wie bei Ängsten generell, der Kopf hatte da selten eine Chance, das Einzige, was half, war aufzugeben, sich gegen die Angst zu wehren. Es gelang ihm eigentlich nur, wenn er so erschöpft war, dass sein Bewusstsein kapitulierte.

Die Schlange vor der Passkontrolle liess wenig Gutes für seinen Anschlussflug erhoffen, doch dann wurden mehrere bis dahin nicht besetzte Schalter geöffnet und plötzlich ging es zügig voran. Gepäck abholen und weiter zum Check-in für Inlandflüge, wo wenige Leute anstanden, doch alle mit riesigen Mengen von Gepäck. Offenbar waren mehrere Grossfamilien gerade dabei, mit ihrem gesamten Hausrat zu verreisen. Zahlreiche LATAM-Angestellte bemühten sich dieser Herausforderung logistisch beizukommen, wirkten jedoch wenig motiviert. Es zog sich hin, ging kaum voran.Vermutlich fehlten irgendwelche Dokumente, doch es interessierte ihn nicht wirklich, er wollte nur bald an die Reihe kommen. In Zürich hatte er für die Gepäckaufgabe gerade ein paar Minuten gebraucht. Aha, jetzt war er an der Reihe. Ob er Portugiesisch spreche? Er verzichtete auf eine ausbalancierte Antwort (sein Portugiesisch war eine Mischung aus Spanisch, Portugiesisch und Italienisch, meist im Infinitiv und ohne dass er wusste, welcher Sprache die Worte, die er benutzte, zuzuordnen waren) und sagte Ja. Der Angestellte kontrollierte die beiden Gepäckscheine und erklärte ihm dann, wie er zum Terminal 2 finde. Nunmehr guter Dinge machte sich Harry auf den Weg, er hatte ausreichend Zeit. Zwanzig Minuten später war er immer noch nicht an seinem Zielort angekommen und entschieden weniger guter Dinge. Ob er eigentlich auf dem richtigen Weg sei, erkundigte er sich bei einer Flughafenangestellten. Ja, da vorne müsse er durch die Handgepäck-Kontrolle. Schon wieder eine lange Schlange. Es dauerte.

Geduld war keine von Harrys hervorstechendsten Charakterzügen und dass man sie als Tugend bezeichnete, na ja, man behauptete viel. Dachte man allerdings an Donald Trump (und an den dachten viele oft, dafür sorgten die Medien), der so ziemlich gar keine Geduld hatte, wenn es nicht um ihn persönlich ging, leuchtete einem jedoch sofort ein, dass sie durchaus erstrebenswert sein konnte. Nicht für Trump, der war hoffnungslos, für einen selber.

In Porto Alegre erwartete ihn Luisa, die jüngere der beiden Töchter seiner Arbeitgeber. Sie kannten sich seit nunmehr zehn Jahren, als er zum ersten Mal in Santa Cruz gewesen und sie dabei war, ihr Psychologiestudium abzuschliessen. Mittlerweile war sie für die Organisation der Schule zuständig, wo er die nächsten Monate Englisch unterrichten würde. Kommunikativ begabt, kam sie mit den unterschiedlichsten Leuten klar. Nur Anweisungen zu geben, falle ihr schwer, antwortete sie auf seine Frage nach den Dingen, die sie bei ihrer Arbeit nicht so mochte. Studienfreunde von ihr würden heutzutage klinisch arbeiten, sagte sie. Sie fände das geradezu grotesk, sie könnte das nie und nimmer, sie wüsste doch noch gar nichts vom Leben. Undenkbar, Menschen zu raten, wie sie mit ihren Schwierigkeiten umgehen sollten. Harry schien es offensichtlich, dass die reflektierte, weitgereiste und neugierige Luisa bestens für eine beratende Tätigkeit geeignet wäre. Und so recht eigentlich praktizierte sie das Unterstützen, Raten und Auskunft geben ja ständig mit Freunden und Bekannten. Nur machte sie keinen Beruf daraus, verlangte sie kein Geld dafür.

Sie erzählte vom Fallschirmspringen, das sie dieses Jahr entdeckt hatte. Wie alle beim Hochfliegen vor sich hinstarrten, Angst vor dem Springen hätten. Man müsse strikt die Regeln einhalten, voll da sein, sich total konzentrieren und nicht ablenken lassen. Einmal sei ihre Aufmerksamkeit gewandert, sie kurz, nur ganz kurz, abgelenkt gewesen. Doch habe sie noch korrigieren können, in letzter Sekunde, es sei reines Glück gewesen.

Das strikte Einhalten von Regeln erfordert viel Disziplin, sagte Harry, in dessen Kopf bei Luisas Ausführungen Gedanken des Autors und Piloten Richard Bach aufgetaucht waren, gemäss deren ein Pilot sich nie auf sein Bauchgefühl verlassen sollte, sondern auf die Instrumente. Selbstdisziplin, das ist es, darauf kommt es an. Nicht nur beim Fallschirmspringen. Oder beim Fliegen. In allen Lebenslagen. In diesem Moment hatte Harry daran überhaupt keinen Zweifel, keinen einzigen.

Doch da Momente es so an sich haben, flüchtig zu sein und Harry überdies wenig Neigung zur Selbstdisziplin verspürte (seine dauernden Selbstermahnungen drückten seine Stimmung eher als dass sie sie hoben), wanderten seine Gedanken bereits weiter. Er liess sie machen, gab sich ihnen hin, landete im Internet bei Büchern, von denen die Rezensenten behaupteten, sie seien toll und wegweisend und müssten unbedingt gelesen werden. Da werde ich jetzt nicht drauf reinfallen, sagte sich Harry sogleich, der eigentlich fast immer darauf hereinfiel und plötzlich wieder (seine Gedanken waren beunruhigend selbständig, taten wie stets, was sie wollten – ähnlich wie Gott, der ihn auch nie fragte, bevor er Dinge geschehen liess, denen Harry sich entzogen hätte, wäre er vorgängig darüber in Kenntnis gesetzt worden) bei den Checklisten landete. Warum verwendeten eigentlich die meisten Ärzte, im Gegensatz zu den Piloten, keine Checklisten? Möglicherweise, weil die Patientensicherheit in vielen Spitälern keine Priorität genoss. Aber konnte das sein? Und falls ja, wie kam das? Es könnte unter anderem daran liegen, dass die Konsequenzen im Spital nur den Patienten direkt, den Operateur aber höchstens indirekt betrafen und das war im Flugzeug anders, da war der Pilot auf die genau gleiche Art und Weise betroffen wie der Passagier.

Am Sonntag erwachte er mit dem Morgengrauen. Der Blick aus dem dreizehnten Stock des Apart-Hotels, in dem er untergebracht war, liess ihn die Stadt, die ihm seit Jahren vertraut war, neu sehen. Grüner und ausgedehnter, die Hügelkette am Horizont nahm er zum ersten Mal so bewusst wahr. Die Vögel zirpten, gelegentlich hörte er ein Auto vorbeifahren. Bilder von frühen Morgenstunden aus Bangkok, Nong Khai und Lat Krabang tauchten in seinem Kopf auf, gefolgt von Szenen aus New Mexico und aus Kalifornien. Während er dies aufnotierte, wanderten die Bilder bereits weiter zu San Franciscos Geary Street und einigen der anderen Strassen, auf denen er von Richmond zum Green Apple, dem Laden mit dem besten Billig-Buch-Angebot der Stadt, häufig zu Fuss unterwegs gewesen war. Schliesslich landete er mental in einem vietnamesischen Restaurant, das der Journalist und Autor Stan Sesser, dessen The Lands of Charm and Cruelty: Travels in Southeast Asia er vor Jahren gefressen hatte (und sich jetzt nur noch daran erinnerte, dass das in Bangkok gewesen war), in einem Interview empfohlen hatte. Mit seinem jüngeren Bruder, der im nahen Mill Valley lebte, hatte er das einfache und unscheinbare Lokal einmal besucht – es hatte sich gelohnt, er dachte gerne daran.

Wie kam es zu diesen Kopfreisen? Woher kamen diese Bilder? Konnte es sein, dass ein sonniger und warmer früher Morgen als Auslöser genügte? Die Zeit gebe es nicht, alles geschehe gleichzeitig, hatte er einmal gelesen. In diesen frühen Morgenstunden glaubte er das manchmal genau so zu erleben.

Abseits des vertrauten Alltags verging die Zeit langsamer. Bis man sich an die neuen Umstände gewöhnt hatte und der Autopilot wieder das Steuer übernahm. De-automatize, hatte er bei Osho gelesen, sich den ungewohnten Ausdruck in grossen und gut leserlichen Buchstaben auf eine Karte notiert und diese auf seinem Schreibtisch platziert. Er nahm sie selten wahr und wenn, dann flüchtig.

Es war das Simple und Alltägliche, das er an fremden Orten so schätzte. Zum Schuhmacher zu gehen. Zur Schneiderin, zum Einkaufen, zum Haareschneiden. Ihm zu Hause Vertrautes, dem er kaum einmal Aufmerksamkeit schenkte, wurde in der Fremde zu Staunenswertem. Wer staunt, versteht. Jedenfalls manchmal. Auf einer der tieferen Ebenen, doch selten auf der alltäglichen, dachte es so in ihm, als er kurz darauf mit seiner Stirn gegen den Dampfabzug über dem Herd stiess. Welcher Vollidiot hatte den bloss so saublöd konstruiert! Dass ihn selber kein Fehler traf, war ihm auch ohne Nachdenken klar. Am nächsten Tag stiess er von Neuem mit seiner Stirn gegen den Dampfabzug.

Schuhmacher sind eigensinnige Leute. Meist alt und verrunzelt. Jedenfalls die, die Harry in Erinnerung geblieben waren. Der Mann im brasilianischen Cascavel etwa, der sehr, sehr gerne redete (das tun Brasilianer generell, ob man zuhört oder nicht – eine Frau aus Bahía hatte ihm einmal erzählt, in Lima war das gewesen, ihr Sohn sei der Meinung, sie würde auch mit einer Wand reden) und derart in der griechischen Philosophie bewandert war, dass Harry nur das Zuhören blieb – er genoss es. Und dann der auf die achtzig zugehende Nixon-Fan (Alan Greenspan, der einstige US-Notenbankchef, bezeichnete Richard Nixon und Bill Clinton in einem Fernsehinterview als die beiden intelligentesten Präsidenten, mit denen er zu tun gehabt hatte) im argentinischen Mendoza, dessen Detailwissen an Fanatismus grenzte. Und dann der Schuhmacher an einer vielbefahrenen Strasse (seine Werkstatt bestand aus einer Kiste mit diversen Werkzeugen) im kolumbianischen Barranquilla, ein mundfauler Typ, der seine Sandalen regelrecht kaputt riss, dann aber so geschickt wieder zusammenflickte, dass Harry aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. Weniger Glück hatte ein holländischer Bekannter in Bangkok, der seine exquisiten Lederstiefel von einem Strassenschuhmacher besohlen lassen wollte, der sie mit 'no good' kommentierte, den Schaft von der Sohle trennte und schliesslich, da er nicht weiter wusste, es dabei beliess. Der Holländer blickte entgeistert auf das, was gerade noch sehr schöne Stiefel gewesen waren ... und brach in kaum mehr zu bändigendes Lachen aus.

Bangkoks Strassen sind überhaupt gewöhnungsbedürftig. Das merkt man spätestens dann, wenn einem auf dem Gehsteig ein Motorrad entgegen gebraust kommt oder man von wild in der Gegend hängenden Kabeln fast stranguliert wird. Robert Hein hat in The Bangkok Survivor's Handbook empfohlen, sich für diese Stadt die richtige Einstellung zuzulegen, die im Wesentlichen darin besteht, seinen Aufenthalt als Abenteuer zu begreifen und sich mit ganz viel Geduld, Toleranz und gutem Willen zu wappnen, denn die Thais glauben an Karma und Reinkarnation. Konkret: Man stirbt erst, wann seine Zeit gekommen ist. Und man wird wiedergeboren. Diese Zuversicht zeigt sich auch in ihrem Fahrstil. „Karma. You are where you are supposed to be or you wouldn't be there ... If, when crossing a street, a vehicle passes within inches of you, don't get angry at the driver. He's long gone and thought of you as only an obstacle. Instead, feel grateful that you weren't hit. When you are crossing a street, anger is a luxury not a survival instinct.“

Das Fahrverhalten der Brasilianer ist damit verglichen recht zivilisiert, doch wer annimmt, ein brasilianischer Zebrastreifen sei mehr als bloss eine farbige Markierung, liegt eindeutig falsch. Für ihn sei der kanadische Verkehr ein regelrechter Kulturschock gewesen, berichtet einer von Harrys Schülern. Er sei vor einem Zebrastreifen gestanden, hätte nach links und recht geschaut, als ein Wagen angehalten hätte. Was war denn das? Sollte/Konnte er vielleicht die Strasse überqueren? Er traute der Sache nicht und blieb stehen. Weitere Autos hielten, es bildete sich ein ansehnlicher Stau und er begann sich vage schuldig zu fühlen, denn ihm dämmerte, dass das etwas mit ihm zu tun hatte. Und so nahm er schliesslich seinen ganzen Mut zusammen, spurtete so schnell er konnte über den Zebrastreifen und, zu seinem grenzenlosen brasilianischen Erstaunen, überlebte er unverletzt.

Brasilianer empfinden Stopp-Signale und Rotlichter ähnlich wie Italiener – als eine im besten Fall gute Diskussionsgrundlage. Zudem legt ihnen ihr natürlicher Instinkt nahe, Kontrollen möglichst zu umgehen. Wie Sergio, ein klassisch ausgebildeter Kontrabass, der mangels Auftrittsmöglichkeiten auf Taxi umsattelte. Auf einer längeren Fahrt von Cidreira nach Torres erzählte er ausführlich von seinen Engagements in Uruguay, Argentinien und Bolivien. Ob er auch Paraguay besucht habe, wie viele hier im Süden? Einkaufstrips über die Grenze zähle er nicht zu den Ländern, die er besucht habe. Er schwelgte in Erinnerungen und war mit seinen Gedanken definitiv nicht da, wo sie hätten sein sollen. Wäre Harry auf einer langen gerade Strecke ihm nicht im letzten Moment ins Steuer gefallen, wären sie wohl unvermeidlich mit zwei Pferden kollidiert, die sich losgerissen hatten und über die Autobahn stürmten.

Von Zeit zu Zeit verlangsamte Sergio, um von den Kameras nicht geblitzt zu werden. Kurz vor einer Verkehrskontrolle, öffnete er das Handschuhfach, nahm eine Brille heraus und setzte sie auf. Auf Harrys erstaunten Blick meinte er: „Laut meinem Fahrausweis muss ich eine Brille tragen. In Tat und Wahrheit brauche ich sie zum Lesen, also auf die Nähe, nicht auf die Weite. Doch da in meinen Ausweis steht, ich sei Brillenträger und man mit der Polizei nicht diskutieren kann, setze ich sie halt auf. „Um jeitinho brasileiro, tudo é um jeitinho no Brasil“, fügte er hinzu. Darunter versteht man die kreative Art und Weise wie man in Brasilien den Herausforderungen des Lebens begegnet und immer wieder einen Weg, irgendeinen, findet, inklusive das Gesetz zu brechen und sich dabei gut zu fühlen. (Als Harry diese Geschichte seinen brasilianischen Studenten erzählte, begannen sie bereits zu lachen, als er das Handschuhfach erwähnte ... sie wussten schon, was kommen würde).

Ein paar wenige Male hatte Harry erlebt, dass Autofahrer abbremsten, als sie ihn vor dem Zebrastreifen warten sahen. Und dann, als ein abbremsender Fahrer beinahe einen Auffahrunfall ausgelöst hatte. begriff er plötzlich, warum sie es in der Regel nicht taten.

Der aus Ungarn stammende Peter Kellemen hat in seinem 1961 erschienenen Brasil para principiantes geschildert, wie er in São Luis, im Nordosten, sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemüht hatte. Als er nach seinem Beruf gefragt wurde und wahrheitsgemäss mit Arzt antwortete, verfiel der Konsul in kurzes Nachdenken und sagte dann: „Also gut, wir werden Agronom in Ihren Antrag reinschreiben. So wird das gehen.“ Kellemen, unsicher, ob er auf die Schippe genommen wurde, korrigierte den Konsul: „Nein, nein, ich bin Arzt, nicht Agronom.“ „Das ist mir klar, Sie haben es ja gesagt. Doch sehen Sie, in Brasilien brauchen wir derzeit keine Ärzte, sondern Agronomen, weshalb ich Sie in Ihrem Antrag zum Agronomen mache.“ Kellemen, der befürchtete, das sei womöglich eine Falle und er könnte der Lüge überführt werden, insistierte, nein, nein, er sei wirklich Arzt und von Landwirtschaft verstünde er so ziemlich gar nichts, worauf sich der Konsul leicht genervt an seinen Sekretär wandte: „Der Mann scheint noch nie vom jeito brasiliero gehört zu haben. Kläre ihn doch bitte auf.“

Eines der Bücher, mit denen er Brasilianisches Portugiesisch lernte, trug den Titel: „Como dizer tudo em inglês nos negocios“ (Wie sagt man das alles auf Business Englisch). Da er annahm, dass einige Sätze in dem Buch im realen Leben vermutlich selten bis nie zur Anwendung kamen (im realen Leben machte kaum jemand grammatikalisch korrekte Sätze und die meisten Sätze blieben zumeist unvollständig), fragte er regelmässig Muttersprachler, ob dieses oder jenes auch so gesagt werde. Das hing natürlich davon ab, wen er fragte – seine Quelle war ein Manager Anfang dreissig. „Eu vou me certificar que as mudanças apropriadas sejam feitas“ (Ich werde dazu sehen, dass die geeigneten Massnahmen vorgenommen werden) oder „Eu vou dar o meu melhor para fazer as mudanças necessárias“ (Ich werde mein Bestes tun, um die notwendigen Verbesserungen einzuleiten) würden selten gebraucht, lernte Harry. Was der Manager hingegen bei der Arbeit täglich zu hören bekam, war „Você está perguntando para a pessoa errada“ (Da fragen Sie den Falschen).

Im Vorjahr hatte das Schulsekretariat vergessen, ihn darüber zu informieren, dass Mitte Februar die Zeit von Sommerzeit auf Winterzeit umgestellt wird und so war er vor der geschlossenen Schultüre gestanden und hatte sich gewundert. Nicht etwa darüber, dass ihm offenbar seit Jahren entgangen war, dass in Brasilien die Zeit umgestellt wurde, sondern darüber, dass die Schultüre geschlossen war. Dieses Jahr würde er sich informieren. Wann genau dieses Jahr die Uhr umgestellt werde? Die Tage würden variieren, es sei meistens so um den zwanzigsten herum, sagte die Chefsekretärin. Dieses Jahr sei es aussergewöhnlich heiss, fügte sie hinzu. Ob das denn einen Einfluss habe? Nein, das nicht, sagte sie.

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Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Niklas Luhmann hat das geschrieben. Und dass wir, obwohl wir diesen Massenmedien nicht wirklich trauen, trotzdem unser Weltbild auf ihnen aufbauen. Von Journalisten, die älter waren als er selber, hatte Harry sich in früheren Jahren bereitwillig informieren lassen. Dass er jedoch jemanden ernst nehmen sollte, der mit ihm zusammen die Schulbank gedrückt hatte, einfach weil der jetzt in Talkshows auftrat (ein Zeichen für stromlinienförmige Angepasstheit), schien ihm absurd.

Es sind die Werte, auf die unser System – in der Praxis, nicht in der Theorie – aufbaut (Gier und Selbstvermarktung), die immer mal wieder denkbar schlecht Geeignete, seien es Rücksichtslose, seien es Rückgratlose, in Führungspositionen hieven. Das sind Ausnahmen? Eher die Regel. Es gehört zu Donald Trumps (womöglich ungewollten) Verdiensten, der Welt in einem noch nie dagewesenen Mass vor Augen zu führen, wie krank unser System ist, wie sehr wir uns alle in die Tasche lügen. Der Mann macht nämlich genau das, was Politiker eben tun: seine Interessen vertreten. Nur viel viel offensichtlicher.

Wenn die Massenmedien einen so offenkundig Gestörten (niemand würde ein Flugzeug besteigen, das von so einem Mann gesteuert würde) behandeln, als ob er zurechnungsfähig sei (Wird das Amt ihn verändern? Macht er gerade eine steile Lernkurve durch? Ist sein Lügen eine Strategie? Hat er nicht mit vielem auch Recht? Etc. etc.), liefert das zwar interessanten, unterhaltenden und aufschlussreichen Gesprächsstoff, ist jedoch auch ziemlich besorgniserregend. Denn von einem, der nicht alle Tassen im Schrank hat, vernünftiges Verhalten zu erwarten beziehungsweise zu fordern, lässt die Tassen im eigenen Schrank nicht allzu gut aussehen. Vernünftiger wäre, wenn die Medien sich selber ändern und ihre Aufmerksamkeit fortan ausschliesslich auf die, die von den Handlungen der Politiker betroffen sind, richten würden.

Natürlich machte er sich diesbezüglich keine Illusionen. Von privaten Institutionen und Organisationen etwas anderes als Profitdenken zu erwarten, schien ihm nachgerade absurd, denn schliesslich war Geld zu machen ihre raison d'être. Überhaupt, so dachte es immer öfter in Harry, sollte man den richtig Gutverdienenden (nein, das ist nicht relativ) eigentlich nie zuhören. Aus Prinzip. Denn die meinten es nur gut mit sich selber. Kaum hatte er diesen Satz notiert, tauchte eine Stelle aus Jean-Paul Dubois' Ein französisches Leben in seinem Bewusstsein auf. „Die Politik war in ihren Augen eine Tätigkeit für Rentner oder Snobs, ein Hobby, irgendwo zwischen dem Sammeln von Briefmarken und Golf angesiedelt. Man muss viel Zeit haben, sagte sie, um sich für Männer zu interessieren, die sich einen Dreck um andere scheren. Und Marie hatte viel zu wenig Zeit, um sie mit Diskussionen über Dinge zu vergeuden, die sowieso nichts brachten.“

Eigenartig und faszinierend, wie die Gedanken durch die Gegend sprangen. Fast nie war er geistig und seelisch da, wo sich sein Körper befand. Und wie das Hirn ihn dann zur Besinnung rief, ihm eine Geschichte erzählte, die er verstehen konnte, Halt und Orientierung gab. Deshalb musste eine Geschichte auch einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende haben. Doch so ist das Leben nicht.

He didn't answer. He rather said: 'It is possible to think this: without a reference point there is meaninglessness. But I wish you'd understand that without a reference point you're in the real.'

Sharon Cameron: Beautiful Work: A Meditation On Pain

Nein, Nein, Harry war es nicht darum zu tun, das Leben abzubilden, wie es ist; er fand ein solches Unterfangen überheblich und grotesk, denn wir sind nicht geschaffen, das Leben zu verstehen. Wir versuchen es natürlich trotzdem, denn Einsichten helfen bekanntlich selten – und wenn doch, dann wenig.

Er hatte nichts gegen Geschichten mit Anfang, Mittelteil und Ende. Im Gegenteil, er mochte solche Geschichten. Doch so sehr ihm das ihnen zugrunde liegende Konzept auch einleuchtete und so begeistert er Bücher von den Meistern dieser Denkweise verschlang (Sollte er auch Meisterinnen hinzufügen? Nein, ganz klar Nein, dieses politisch Korrekte, das ja mal als vernünftige Idee gestartet war, ging ihm so was von auf den Keks, er würde es lassen, mit den vagen Schuldgefühle müsste klar zu kommen sein), er störte sich daran. Ihm waren diese Vorgaben zu artifiziell, konstruiert und ja, lebensfeindlich. Akademiker dachten so, in Kategorien und Systemen. Sein Leben war nicht mit einer Geschichte zu fassen, die nach den Gesetzen der gängigen Logik funktionierte. „Aber es wäre wahrlich ein Narr, wer annähme, dass irgendein Leben einer schlichten Folgerichtigkeit gehorcht, oder verdient wäre, oder selbstverständlich.“ (Robert Creeley: Autobiographie).

Das Leben war mühsam, ein Krampf. Toujours négatif, hein? Klar, es gab auch tolle Momente, am liebsten waren ihm Orgasmen. Doch einfach so zu sagen Das Leben ist schön, das war nicht sein Ding, denn allzu vieles war eindeutig nicht schön. Dass man sterben musste zum Beispiel.

Woody Allen on Death: I'm strongly against it.

Damit konnte Harry was anfangen. Ja, möchtest du denn ewig leben? Was so recht eigentlich keine Frage war, denn die Antwort wurde ja gleich implizit vorgegeben. Konnten diese Leute denn nur in Entweder/Oder denken? Er jedenfalls würde liebend gerne ewig leben, wenn das Leben so schön wäre, wie diese Leute behaupteten. Du unterliegst da einem Denkfehler, wies er sich zurecht, denn schön ist das Leben ja genau deswegen, weil es endlich ist. Das leuchtete ihm zwar ein, überzeugt war er trotzdem nicht. Und überhaupt konnte man sich ja auch etwas wünschen, von dem sehr unwahrscheinlich war, dass es eintrat.

Die uns liebsten Geschichten haben ein Happy End und kommen aus Hollywood, aus Filmstudios, die man eigenartigerweise auch als Traumfabrik bezeichnet. Ganz so, als ob Träume nichts anderes als Wunschvorstellungen seien. Harrys Träume waren anders, sie gehörten zur Albtraum-Variante. Schon seit längerer Zeit wachte er des Morgens mit einem Klumpen im Magen auf. Und ohne Bedürfnis, seine Träume zu analysieren. Traumdeuter hielt er für eingebildete Scharlatane, noch verblendeter als jene, die glaubten, aus der Geschichte könne man etwas lernen, obwohl er spannend und anregend fand, wie das Hirn im Nachhinein Sinn herstellte. Alles im Dienste des Überlebens, denn ohne Sinn und Zweck war der Mensch am Arsch und so machte das Hirn ihm eine Realität plausibel, von der dieser Mensch so recht eigentlich wissen konnte, dass es sie gar nicht gab und nichts als eine Illusion war, jedoch eine ziemlich beständige, wie Einstein einmal gesagt hatte.

Die Medien berichteten vom Treffen der G20 in Buenos Aires, von sogenannten Leadern, von denen sich nicht wenige kaum von Mafia-Bossen unterschieden. Harry hielt wenig von der Demokratie, die setzte den mündigen Bürger voraus und der war schwer zu finden. Nicht, dass er sich diesbezüglich gross Gedanken gemacht hätte. Das taten die Wähler ja meistens auch nicht. Ihm genügte, sich das Ergebnis anzuschauen. Mundus vult decipi, hiess es bei den alten Römern, die Welt will betrogen werden.

Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn

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