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Lieschens Sieg

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Die Eltern wollten diesmal in der Sommerfrische völlige Ruhe haben, darum nahmen sie die Oma mit. Oma, Landpastorenwitwe aus dem Hannoverschen, bei ihrem letzten Besuch vor drei Jahren war sie von den begeisterten Kindern »Brummelchen« getauft worden. Oma konnte den Eltern gut und gern einmal die neunjährige Helga und den sechsjährigen Dieter abnehmen.

Leider erwies Oma sich als Niete, mehr noch, als Belastung. Der Vater geriet schon innerlich ins Kochen, wenn er die Ohrfeigengesichter seiner Sprösslinge betrachtete, die den Märchen und Sagen aus Omas Munde lauschen sollten. Und dann hatten die Kinder eine verfluchte Manier, mit den engelhaftesten Gesichtern des Himmels Omas hannoversche Aussprache nachzuahmen. Mit liebevollster Besorgtheit erkundigten sie sich nach »Ömäs Umschlägetuch«, nein, verbesserte Helga, nach ihrem »Schööl«.

Am sechsten Tage brach Oma zusammen und löste sich ob der Herzlosigkeit dieser modernen Kinder in Tränen auf; als dann am achten Tage ein versulztes Quallennest in ihren Zugschuhen gefunden wurde, reiste sie ab.

Frei stand es den Eltern, zu überlegen, wie in den letzten drei Wochen der Erholungszeit das noch unter den Berliner Standard gesunkene Nervenniveau des Vaters zu heben sei. Nach dem Satz »Kinder werden am besten von Kindern erzogen« wurde am zehnten Tage ein vierzehnjähriges Fischermädchen aus dem nahen Dorfe als Spielgefährte und Aufsicht für Helga und Dieter eingestellt. In dieser Nacht kamen die Kinder schlecht zum Einschlafen. Erstens war ihnen eine richtige Fischerstochter versprochen, mit Namen Lieschen Ahlf, zweitens war sie noch ein Stiefkind, denn ihr Vater hieß Albert Bienenweg. Es war das erste Stiefkind im Leben der Kinder, nach so vielen Stiefkindern der Märchen; und ein Fischer, der Bienenweg hieß, eröffnete neue Horizonte.

Lieschen Ahlf stellte sich ein und war eine grenzenlose Enttäuschung. Mit ihren derben, wollenen Strümpfen, einem schwarzweißkarierten Sonntagsrock, einem Rattenzopf im Nacken (strohgelb), stand sie ziemlich verlegen vor ihren Schützlingen. Wenn nicht ihre grellen, scharfen Augen gewesen wären, hätten die Eltern gleich wieder den Kampf aufgegeben.

So aber erklärte der Vater: »Am besten überlassen wir die drei sich selbst.« Und die Eltern machten endlich einmal einen langen Fußmarsch ganz für sich allein.

»Kratzt dich denn die Wolle nicht?« hatte Helga gefragt und auf die braunen Storchenbeine gezeigt.

»Nää«, hatte Lieschen schön pommerisch breit geantwortet.

»Warum trägst du denn keine Florstrümpfe?« war die zweite Frage gewesen.

»Dat ist Wull von uns' Schoap!«

»Von uns' Schoap!« hatten die Kinder gejauchzt und unter gellendem Kriegsgebrüll einen rasch erfundenen Schafstanz um Lieschen ausgeführt.

Dann waren sie, unbekümmert um ihre Behüterin, an den Strand gestürzt und hatten sich um Verschärfung des Kriegszustandes mit einer Reihe »einfach grässlicher Kinder« bemüht. Sie hatten, stets gefolgt von dem schweigenden Lieschen, in einer verhassten Burg mit ihren schwachen Kräften einen Strandkorb umgestürzt, sie hatten die schön aus schwarzen und weißen Muscheln gelegte Inschrift »Nymphenburg« einer bayrischen Feste zerstört, und Lieschen wäre beinahe dafür von einem zornroten Elternpaar in Stücke gerissen worden. Sie rettete sich durch Dooftun und Plattsprechen.

Hätten die Eltern bei ihrer abendlichen Rückkehr nur einen kleinen Teil all dieser und mancher andern Schandtaten erfahren, wäre es wohl rasch mit Lieschens Hüterrolle und Geldverdienst zu Ende gewesen. Da aber Lieschen und die Kinder schwiegen, ging es weiter. Immer das gleiche Lied: zwei unbändige Rangen und ein schweigend folgendes Lieschen.

Bis sie eines Tages sagte: »Morgen kumm ick nich.«

»Neese!« hatte der hoffnungsvolle Dieter geantwortet.

»Wat?« hatte Lieschen gefragt.

Und mitleidig hatte Helga erklärt: »Du hast wohl die Neese voll von uns?«

»Ick möt to Hus blieven, uns Kauh ward melk. Schall en Kalv kriegen.«

Stillewerden, Stummheit, Schweigen. Gedankenvolle Ruhe von Helga und Dieter.

Und am nächsten Nachmittag wurden die Eltern mit rührender Besorgnis zum Schlaf geleitet, die Kinder würden auf dem Grasplatz Ball spielen, bis Lieschen käme.

Den dreiviertelstündigen Weg zum Fischerdorf legten Helga und Dieter in einem fast nicht unterbrochenen Trabe zurück. Dann erkundeten sie kühn, sich Hand an Hand haltend, beim Krüger des menschenleeren Ortes das Haus vom Fischer Albert Bienenweg, besahen es sich fünf Minuten von der andern Straßenseite.

Aber nichts rührte sich. Sie klinkten an der Tür. Aber sie war verschlossen. Sie trauten sich auf den Hof. Aber dort waren nur Hühner.

»Wie findest du das?« fragte Helga empört.

»Hat uns veräppelt«, antwortete Dieter. »Ist doch ausgerissen.«

Dann hörten sie das Muhen einer Kuh, wagten sich an die Stalltür – und standen vor Lieschen.

Aber es war ein sehr verändertes Lieschen, Lieschen nur in einem Hemd, in einem grüngestrickten Unterrock und in Tüffeln. Lieschen hielt Stallwache, denn Vater Bienenweg war zum Aalstechen auf dem Boden, und Mutter Bienenweg mußte unbedingt Kartoffeln hacken. Mit Lina würde es wohl erst in der Nacht soweit sein.

»Doar sünd ji joa!« hatte das veränderte Lieschen nur gesagt. »Dat hev ick mi all lang dacht. Sett juch doar rein still up den Stallemmer!«

Und siehe da, Helga und Dieter, die sonst so Überlegenen, setzten sich wirklich fein still auf die umgekehrten Stalleimer und sahen sich nur mit großen Augen im Stall um, der schön sommerlich von Fliegen durchburrt war. Direkt vor ihnen stand die große schwarzbunte Kuh, schlug mit dem Schweif nach ihren Flanken, warf dann und wann den Kopf leise muhend hin und her und trat ständig von einem Fuß auf den andern.

Nach einer Weile schien es Helga an der Zeit, Erkundigungen einzuziehen. »Wo hat sie denn das Kalb?« fragte sie.

»Du Schoapsmichel!« sagte Lieschen. »In 'n Buk!«

Von keinem Menschen hätte sich Helga widerspruchslos Schafsmichel titulieren lassen, jetzt nahm sie es wie selbstverständlich hin. »Wie kann es denn da raus? Schneidest du sie mit dem Messer auf?«

»Dösbartel!« sagte Lieschen nur, aber eine tiefe Verachtung lag darin. »Nu swieg man still. Du stürst Lina bloß.«

Sicher saßen die Eltern jetzt längst am Kaffeetisch, aber es war natürlich kein Gedanke daran, aus diesem geheimnisvollen Stall fortzugehen, in dem immer wieder die Kuh sich unruhig nach den Kindern umsah. Leise flüsterte Lieschen: »Töv, Lina, töv. Moder möt glick koamen!«

Und Lina drehte den Kopf zu Lieschen und muhte zurück.

Aber sie wartete doch nicht. Plötzlich hatte sie den Schwanz steil in die Höhe gereckt ...

»Doar is't all!« rief Lieschen aufgeregt. »Nu möten wi dat Kalv hoalen! Kumm her, Helga, foat an!«

Und ehe Helga noch wußte, was eigentlich los war, stand sie in ihrem weißen Kleid an der Kuh, die ihr ungeheuer groß vorkam, hatte einen wachsgelben, unendlich zarten Kälberhuf in der Hand ... Und nun kam eine zarte duffe Schnauze zum Vorschein, die blauen Augen, der ganze Kopf ...

Helga schrie auf, aber nicht vor Schreck, sondern aus irgendeinem aufgeregten Glück heraus – und dann war ganz schnell etwas unendlich Langes, Schwarzweißes, Seidiges da und schlenkerte zwischen den Kindern zur Erde.

Da lag das Kälbchen zwischen ihnen – atmend mit hastigen Flanken. »Loop, hoal Water, Dieter! Wat mötst du ok daun!« rief Lieschen. »Kumm, Helga, wi möten dat Kalv vörhen na de Kauh trecken!«

Und sie fassten es an und zogen die sechzig Pfund Kalb an den Kopf der Kuh und liefen dann selbst nach Wasser, denn Dieter versagte vollkommen vor lauter Aufregung. Und sie wuschen dem Kalb das Maul aus: »Dat stickt sünst!« Und sie streuten es mit Salz ein: »Möt Lina afliken, sünst givt sei nich Melk naug.« Und es war ein Gelaufe und eine Aufregung und frische Streu holen und wieder Warten, bis nach einer halben Stunde das Kalb nun wirklich zum ersten Male torkelnd auf seinen Beinen stand und zum ersten Male nach dem Euterstrich der Kuh schnappte. –

Wolken hingen über des Vaters Stirn, als die Kinder nach Haus kamen am späten Abend, böse sah Mama aus und noch böser, als sie Helgas Kleid sah – aber welch andere Heimkehr als nach den Streichen sonst! Es war nur ein Augenblick, und das Bösesein war verflogen, und die Wolken waren vergangen. Und es war wieder ein Augenblick, und die bedenklichen Mienen der Eltern lächelten. Die Kinder erzählten und fragten, fragten und erzählten. Und spät erst kamen sie ins Bett.

Aber als die Eltern dann noch später schlafen gingen, tauchte ein weißer Schemen neben Mutters Bett auf.

»Darf ich zu dir kommen, Mama?« fragte Helga, und das war seit ein oder zwei Jahren nicht mehr passiert. So lange war es her, dass die Mutter es nicht einmal mehr wusste. Vater schlief darüber ein, so viel hatten die beiden noch miteinander zu flüstern.

Plötzlich war die Welt ganz anders geworden, aus einer Bresche in der Wand herkömmlichen Lebens war Licht gefallen auf das Kind, ein geheimnisvolles Licht, aus einer geheimnisvollen Zukunft leuchtend.

Und als dann am nächsten Tage, als sei alles wieder im alten Gleise, Lieschen Ahlf, Stieftochter des Fischers Bienenweg, bei den Kindern auftauchte, mit den kratzigen wollenen Strümpfen, mit dem schwarzweißkarierten Rock und dem Rattenschwanz im Nacken – da faßten die Kinder beide dieses selbe Lieschen bei der Hand und liefen mit ihr gegen den Wald, voll des Entschlusses, sich von ihr Geschichten erzählen zu lassen, andere Geschichten, als Brummelchen erzählt hatte – dieselben uralten Geschichten, nur in anderer Fassung.

Das Märchen war zu ihnen gekommen, plötzlich waren die sinnlosen Streiche und Zänkereien weit weg. Irgendetwas Neues war eingetreten in ihr Leben, es konnte mit Helga wachsen, man konnte dessen nicht überdrüssig werden, es ging immer mit – Dieter freilich war noch zu klein, er würde es wieder vergessen.

Hoppelpoppel – wo bist du?

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