Читать книгу Jeder stirbt für sich allein - Ханс Фаллада - Страница 5
Erster Teil. Die Quangels 1. Die Post bringt eine schlimme Nachricht
ОглавлениеDie Briefträgerin Eva Kluge steigt langsam die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch. Sie ist nicht nur deshalb so langsam, weil ihr Bestellgang sie ermüdet hat, auch weil einer jener Briefe in ihrer Tasche steckt, die abzugeben sie haßt, und jetzt gleich, zwei Treppen höher, muß sie ihn bei Quangels abgeben.
Vorher hat sie den Persickes in der Etage darunter den Schulungsbrief auszuhändigen. Persicke ist Amtswalter oder Politischer Leiter oder sonst was in der Partei – Eva Kluge bringt alle diese Ämter noch immer durcheinander. Jedenfalls muß man bei Persickes „Heil Hitler!“ grüßen und sich gut vorsehen mit dem, was man sagt. Das muß man freilich überall, selten mal ein Mensch, dem Eva Kluge sagen kann, was sie wirklich denkt. Sie ist politisch gar nicht interessiert, sie ist einfach eine Frau, und als Frau findet sie, daß man Kinder nicht darum in die Welt gesetzt hat, daß sie totgeschossen werden. Auch ein Haushalt ohne Mann ist nichts wert, vorläufig hat sie gar nichts mehr, weder die beiden Jungen noch den Mann, noch den Haushalt. Statt dessen hat sie den Mund zu halten, sehr vorsichtig zu sein und ekelhafte Feldpostbriefe auszutragen, die nicht mit der Hand, sondern mit der Maschine geschrieben sind und als Absender den Regimentsadjutanten nennen.
Sie klingelt bei Persickes, sagt „Heil Hitler!“ und gibt dem alten Saufkopp seinen Schulungsbrief. Er hat auf dem Rockaufschlag das Partei- und das Hoheitszeichen sitzen und fragt: „Wat jibt's denn Neues?“
Sie antwortet: „Haben Sie denn die Sondermeldung nicht gehört? Frankreich hat kapituliert.“
Persicke ist durchaus nicht mit ihr zufrieden. „Mensch, Frollein, det weeß ick natürlich; aber Se saren det so, als ob Sie Schrippen vakoofen täten! Det müssen Se zackig rausbringen! Det müssen Se jedem saren, der keenen Radio hat, det überzeugt noch die letzten Meckerköppe! Der zweite Blitzkrieg, hätten wa ooch geschafft, und nu ab Trumeau nach England! In 'nem Vierteljahr sind die Tommys erledigt, und denn sollste mal sehen, wie unser Führer uns leben läßt! Denn können die andern bluten, und wir sind die Herren der Welt! Komm rin, Mächen, trink 'nen Schnaps mit! Amalie, Erna, August, Adolf, Baldur – alle ran! Heute wird blaujemacht, heute wird keene Arbeet anjefaßt! Heute begießen wir uns mal die Neese, und am Nachmittag gehen wa bei de olle Jüdische in de vierte Etage, und det Aas muß uns Kaffee und Kuchen jeben! Ick sare euch, die Olle muß, jetzt kenne ick keen Abarmen mehr!“
Während Herr Persicke, von seiner Familie umstanden, sich in immer aufgeregteren Ausführungen ergeht und die ersten Schnäpse schon hinter die Binde zu gießen beginnt, ist die Briefträgerin in die Etage darüber hinaufgestiegen und hat bei den Quangels geklingelt. Sie hält den Brief schon in der Hand, ist bereit, sofort weiterzulaufen. Aber sie hat Glück, nicht die Frau, die meist ein paar freundliche Worte mit ihr wechselt, sondern der Mann mit dem scharfen, vogelähnlichen Gesicht, dem dünnlippigen Mund und den kalten Augen öffnet ihr. Er nimmt wortlos den Brief aus ihrer Hand und zieht ihr die Tür vor der Nase zu, als sei sie eine Diebin, vor der man sich vorzusehen hat.
Eva Kluge zuckt nur die Achseln und geht wieder die Treppen hinunter. Manche Menschen sind eben so; solange sie die Post in der Jablonskistraße austrägt, hat der Mann noch nie ein einziges Wort zu ihr gesagt. Nun, laß ihn, sie kann ihn nicht ändern, hat sie doch nicht einmal den eigenen Mann ändern können, der mit Kneipensitzen und mit Rennwetten sein Geld vertut, und der zu Haus nur dann auftaucht, wenn er ganz abgebrannt ist.
Bei den Persickes haben sie die Flurtür offengelassen, aus der Wohnung klingt Gläsergeklirr und das Lärmen der Siegesfeier. Die Briefträgerin zieht die Flurtür sachte ins Schloß und steigt weiter hinab. Dabei denkt sie, daß dies eigentlich eine gute Nachricht ist, denn durch den raschen Sieg über Frankreich wird der Friede nähergerückt. Dann kommen die beiden Jungen wieder.
Bei diesen Hoffnungen aber stört sie das ungemütliche Gefühl, daß dann solche Leute wie die Persickes ganz obenauf sein werden. Solche zu Herren haben und immer den Mund halten müssen und nie sagen dürfen, wie einem ums Herz ist, das scheint ihr auch nicht das Richtige.
Flüchtig denkt sie auch an den Mann mit dem Vogelgesicht, dem sie eben den Feldpostbrief ausgehändigt hat, und sie denkt an die alte Jüdin Rosenthal, oben im vierten Stock, der die von der Gestapo vor zwei Wochen den Mann weggeholt haben. Die kann einem leid tun, die Frau. Rosenthals haben früher ein Wäschegeschäft an der Prenzlauer Allee gehabt. Das ist dann arisiert worden, und nun ist der Mann weg, der nicht weit von Siebzig ab sein kann. Was Böses getan haben die beiden alten Leute sicher nie jemandem, immer angeschrieben, auch für die Eva Kluge, wenn mal kein Geld für Kinderwäsche da war, und schlechter oder teurer als in andern Geschäften war die Ware bei Rosenthals auch nicht. Nein, es will nicht in den Kopf von Frau Eva Kluge, daß so ein Mann wie der Rosenthal schlechter sein soll als die Persickes, bloß weil er ein Jude ist. Und nun sitzt die alte Frau da oben in der Wohnung mutterseelenallein und traut sich nicht mehr auf die Straße. Erst wenn es dunkel geworden ist, macht sie mit dem Judenstern ihre Einkäufe, wahrscheinlich hungert sie. Nein, denkt Eva Kluge, und wenn wir zehnmal über Frankreich gesiegt haben, gerecht geht es nicht bei uns zu ...
Damit ist sie in das nächste Haus gekommen und setzt dort ihren Bestellgang fort.
Der Werkmeister Otto Quangel ist unterdes mit dem Feldpostbrief in die Stube gekommen und hat ihn auf die Nähmaschine gelegt. „Da!“ sagt er nur. Er läßt seiner Frau stets das Vorrecht, diese Briefe zu öffnen, weiß er doch, wiesehr sie an ihrem einzigen Sohne Otto hängt. Nun steht er ihr gegenüber; er hat die dünne Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und wartet auf das freudige Erglänzen ihres Gesichtes. Er liebt in seiner wortkargen, stillen, ganz unzärtlichen Art diese Frau sehr.
Sie hat den Brief aufgerissen, einen Augenblick leuchtete ihr Gesicht wirklich; dann erlosch das, als sie die Schreibmaschinenschrift sah. Ihre Miene wurde ängstlich, sie las langsamer und langsamer, als scheute sie sich vor jedem kommenden Wort. Der Mann hat sich vorgebeugt und die Hände aus den Taschen genommen. Die Zähne sitzen jetzt fest auf der Unterlippe, er ahnt Unheil. Es ist ganz still in der Stube. Nun fängt der Atem der Frau an, keuchend zu werden.
Plötzlich stößt sie einen leisen Schrei aus, einen Laut, wie ihn ihr Mann noch nie gehört hat. Ihr Kopf fällt vornüber, schlägt erst gegen die Garnrollen auf der Maschine und sinkt zwischen die Falten der Näharbeit, den verhängnisvollen Brief verdeckend.
Quangel ist mit zwei Schritten hinter ihr. Mit einer bei ihm ganz ungewohnten Hast legt er seine große, verarbeitete Hand auf ihren Rücken. Er fühlt, daß seine Frau am ganzen Leibe zittert. „Anna!“ sagt er. „Anna, bitte!“ Er wartet einen Augenblick, dann wagt er es: „Ist was mit Otto? Verwundet, wie? Schwer?“
Das Zittern geht fort durch den Leib der Frau, aber kein Laut kommt von ihren Lippen. Sie macht keine Anstalten, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.
Er blickt auf ihren Scheitel hinunter, er ist so dünn geworden in den Jahren, seit sie verheiratet sind. Nun sind sie alte Leute; wenn Otto wirklich was zugestoßen ist, wird sie niemanden haben und bekommen, den sie liebhaben kann, nur ihn, und er fühlt immer, an ihm ist nicht viel zum Liebhaben. Er kann ihr nie und mit keinem Wort sagen, wie sehr er an ihr hängt. Selbst jetzt kann er sie nicht streicheln, ein bißchen zärtlich zu ihr sein, sie trösten. Er legt nur seine schwere Hand auf ihren dünnen Scheitel, er zwingt sanft ihren Kopf hoch, seinem Gesicht entgegen, er sagt halblaut: „Was die uns schreiben, wirst du mir doch sagen, Anna?“
Aber obwohl jetzt ihre Augen ganz nahe den seinen sind, sieht sie ihn nicht an, sondern hält sie fest geschlossen. Ihr Gesicht ist gelblichblaß, ihre sonst frischen Farben sind geschwunden. Auch das Fleisch über den Knochen scheint fast aufgezehrt, es ist, als sähe er einen Totenkopf an. Nur die Wangen und der Mund zittern, wie der ganze Körper zittert, von einem geheimnisvollen inneren Beben erfaßt.
Wie Quangel in dies vertraute, jetzt so fremde Gesicht schaut, wie er sein Herz stark und stärker schlagen fühlt, wie er seine völlige Unfähigkeit spürt, ihr ein bißchen Trost zu spenden, packt ihn eine tiefe Angst. Eigentlich eine lächerliche Angst diesem tiefen Schmerz seiner Frau gegenüber, nämlich die Angst, sie könne zu schreien anfangen, noch viel lauter und wilder, als sie eben schrie. Er ist immer für Stille gewesen, niemand sollte etwas von Quangels im Haus merken. Und gar Gefühle laut werden lassen: nein! Aber auch in dieser Angst kann der Mann nicht mehr sagen, als er vorhin schon gesagt hat: „Was haben sie denn geschrieben? Sag doch, Anna!“
Wohl liegt der Brief jetzt offen da, aber er wagt nicht, nach ihm zu fassen. Er müßte dabei den Kopf der Frau loslassen, und er weiß, dieser Kopf, dessen Stirne schon jetzt zwei blutige Flecke aufweist, fiele dann wieder gegen die Maschine.
Er überwindet sich, noch einmal fragt er: „Was ist denn mit Ottochen?“
Es ist, als habe dieser vom Manne fast nie benutzte Kosename die Frau aus der Welt ihres Schmerzes in dieses Leben zurückgerufen. Sie schluckt ein paarmal, sie öffnet sogar die Augen, die sonst sehr blau sind und jetzt wie ausgeblaßt aussehen. „Mit Ottochen?“ flüstert sie fast. „Was soll denn mit ihm sein? Nichts ist mit ihm, es gibt kein Ottochen mehr, das ist es!“
Der Mann sagt nur ein „Oh!“, ein tiefes „Oh!“ aus dem Innersten seines Herzens heraus. Ohne es zu wissen, hat er den Kopf seiner Frau losgelassen und greift nach dem Brief. Seine Augen starren auf die Zeilen, ohne sie noch lesen zu können.
Da reißt ihm die Frau den Brief aus der Hand. Ihre Stimmung ist umgeschlagen, zornig reißt sie das Briefblatt in Fetzen, in Fetzchen, in Schnitzelchen, und dabei spricht sie ihm überstürzt ins Gesicht: „Was willst du den Dreck auch noch lesen, diese gemeinen Lügen, die sie allen schreiben? Daß er den Heldentod gestorben ist für seinen Führer und für sein Volk? Daß er ein Muster von 'nem Soldaten und Kameraden abgab? Das willst du dir von denen erzählen lassen, wo wir doch beide wissen, daß Ottochen am liebsten an seinen Radios rumgebastelt hat, und weinen tat er, als er zu den Soldaten mußte! Wie oft hat er mir in seiner Rekrutenzeit gesagt, daß er lieber seine ganze rechte Hand hergäbe, bloß um von denen loszukommen! Und jetzt ein Muster von Soldat und Heldentod! Lügen, alles Lügen! Aber das habt ihr angerichtet mit eurem elenden Krieg, du und dein Führer!“
Jetzt steht sie vor ihm, die Frau, kleiner als er, aber ihre Augen sprühen Blitze vor Zorn.
„Ich und mein Führer?“ murmelt er, ganz überwältigt von diesem Angriff. „Wieso ist er denn plötzlich mein Führer? Ich bin doch gar nicht in der Partei, bloß in der Arbeitsfront, und da müssen alle rein. Und gewählt haben wir ihn ein einziges Mal, alle beide.“
Er sagt das in seiner umständlichen, langsamen Art, nicht so sehr, um sich zu verteidigen, als um die Tatsachen klarzustellen. Er versteht noch nicht, wie die Frau plötzlich zu diesem Angriff gegen ihn kommt. Sie waren doch immer eines Sinnes gewesen ...
Aber sie sagt hitzig: „Wozu bist du denn der Mann im Haus und bestimmst alles, und alles muß nach deinem Kopf gehen, und wenn ich nur einen Verschlag für die Winterkartoffeln im Keller haben will: er muß sein, wie du willst, nicht wie ich will. Und in einer so wichtigen Sache hast du falsch bestimmt! Aber du bist ein Leisetreter, nur deine Ruhe willst du haben und bloß nicht auffallen. Du hast getan, was sie alle taten, und wenn sie geschrien haben: ›Führer befiehl, wir folgen!‹, so bist du wie ein Hammel hinterhergerannt. Und wir haben wieder hinter dir herlaufen müssen! Aber nun ist mein Ottochen tot, und kein Führer der Welt und auch du nicht bringen ihn mir wieder!“
Er hörte sich das alles ohne ein Widerwort an. Er war nie der Mann gewesen, sich zu streiten, und er fühlte es zucken, daß nur der Schmerz aus ihr sprach. Er war beinahe froh darüber, daß sie ihm zürnte, daß sie ihrer Trauer noch keinen freien Lauf ließ. Er sagte nur zur Antwort auf diese Anklagen: „Einer wird's der Trudel sagen müssen.“
Die Trudel war Ottochens Mädchen gewesen, fast schon seine Verlobte; zu seinen Eltern hatte die Trudel Muttchen und Vater gesagt. Sie kam abends oft zu ihnen, auch jetzt, da Ottochen fort war, und schwatzte mit ihnen. Am Tage arbeitete sie in einer Uniformfabrik.
Die Erwähnung der Trudel brachte Anna Quangel sofort auf andere Gedanken. Sie warf einen Blick auf den blitzenden Regulator an der Wand und fragte: „Wirst du's noch bis zu deiner Schicht schaffen?“
„Ich habe heute die Schicht von eins bis elf“, antwortete er. „Ich werd's schaffen.“
„Gut“, sagte sie. „Dann geh, aber bestell sie nur hierher und sag ihr noch nichts von Ottochen. Ich will's ihr selber sagen. Dein Essen ist um zwölfe fertig.“
„Dann geh ich und sag ihr, sie soll heute abend vorbeikommen“, sagte er, ging aber noch nicht, sondern sah ihr ins gelblichweiße, kranke Gesicht. Sie sah ihn wieder an, und eine Weile betrachteten sie sich so schweigend, die beiden Menschen, die an die dreißig Jahre miteinander verbracht hatten, immer einträchtig, er schweigsam und still, sie ein bißchen Leben in die Wohnung bringend.
Aber so sehr sie sich jetzt auch anschauten, sie hatten einander kein Wort zu sagen. So nickte er und ging.
Sie hörte die Flurtür klappen. Und kaum wußte sie ihn wirklich fort, drehte sie sich wieder nach der Nähmaschine und strich die Schnitzelchen des verhängnisvollen Feldpostbriefes zusammen. Sie versuchte, sie aneinanderzupassen, aber sie sah schnell, daß das jetzt zu lange dauern würde, sie mußte vor allen Dingen sein Essen fertigmachen. So tat sie denn das Zerrissene sorgfältig in den Briefumschlag, den sie in ihr Gesangbuch legte. Am Nachmittag, wenn Otto wirklich fort war, würde sie die Zeit haben, die Schnitzel zu ordnen und aufzukleben. Wenn es auch alles dumme Lügen, gemeine Lügen waren, es war doch das Letzte von Ottochen! Sie würde es trotzdem aufbewahren und der Trudel zeigen. Vielleicht würde sie dann weinen können, jetzt stand es noch wie Flammen in ihrem Herzen. Es würde gut sein, weinen zu können!
Sie schüttelte zornig den Kopf und ging an die Kochmaschine.