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Оглавление|25| 3 Der gesellschaftliche Umgang mit den Alten: Eine historische Perspektive
Die Alten im Spiegel der Gesellschaft
Selbst berühmte historische Zeitgenossen bewerten die Lebensphase „Alter“ sehr unterschiedlich. So formulierte z. B. Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) in seinem Buch mit dem Titel „Über das Alter“: „Das Alter wird nur dann respektiert werden, wenn es um seine Rechte kämpft und sich Unabhängigkeit und Kontrolle über das eigene Leben bis zum letzten Lebenszug bewahrt.“
|26|Der amerikanische Präsident Thomas Jefferson (1743 –1826) vertrat dagegen etliche Jahre später die Ansicht: „Nichts obliegt den Alten mehr, als zu wissen, wann sie den Weg freigeben und jüngeren Nachfolgern die Ehren überlassen müssen, die sie nicht länger verdienen, sowie die Pflichten, die sie nicht länger erfüllen können.“
Die nachfolgende Beschreibung des Phänomens Alter muss sich auf das Leben in den westlichen Industriestaaten und den Vereinigten Staaten beschränken, da unser Wissen über die Verhältnisse in der restlichen Welt zu lückenhaft ist. Weiterhin sollte man bei einer historischen Betrachtung berücksichtigen, dass von vielen Berichterstattern ausführlich und zuweilen rosig gefärbt über die Lebensweise von Feldherren, Politikern und Künstlern berichtet wird, dass jedoch das Alltagsleben der übrigen Bevölkerung kaum Beachtung findet, weder damals noch heute. So füllen die Folianten über Julius Cäsar (100 – 44 v. Chr.) die Regale der Bibliotheken, dagegen können wir nur vermuten, wie eine Schreinerfamilie im alten Rom gefrühstückt hat.
Im Detail mag es epochenspezifische Unterschiede gegeben haben, doch die grundlegenden Probleme, Ängste und Sorgen, Wünsche und Sehnsüchte älterer Menschen variieren im Laufe der Geschichte, zumindest in der westlichen Welt, kaum. Die Alten sorgten sich auch früher vorrangig um ihre Gesundheit sowie um ihre finanzielle und persönliche Unabhängigkeit. Vor allem fürchteten sie als unnützer Esser ihrer Familie zur Last zu fallen. Die Reichen hatten Angst vor der Armut und die Armen vor Siechtum und einem zu frühen Tod. Die Qualität der medizinischen Versorgung war in der Antike gut, im Mittelalter katastrophal, erst seit der Renaissance begann die Entwicklung, die schließlich zu dem hohen medizinischen Standard in der heutigen Zeit führte.
Wie der Rückblick eines alten Menschen auf die Erlebnisse seiner Kindheit subjektiv gefärbt ist, sind auch viele Aussagen über das Leben der Alten in vergangenen Zeiten fehlerhaft. Betrachtet man die Lebensspannen unserer Vorfahren, so wird zumeist behauptet, es hätte in der fernen Vergangenheit nur wenige Menschen gegeben, die ein hohes Alter erreichten. Eine solche Aussage mag zwar für die gemittelte Lebenszeit der Bevölkerung eines Landes korrekt sein. Einzelne Bewohner erreichten auch damals ein Alter von 100 Jahren. So waren im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa 10 % der Bevölkerung älter als 60 Jahre. Wenn in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika von einer Lebenserwartung von ca. 45 Jahren ausgegangen werden muss, so sind diese Zahlen durch die hohen Sterblichkeitsraten von Kindern, Jugendlichen und Müttern sowie durch Kriege und Seuchen verfälscht.
Tab. 3.1 Lebensalter einiger Persönlichkeiten von der Antike bis heute.
Oft wird heute ein eher pessimistisches Bild von zunehmend vereinsamten alten Menschen gezeichnet, die verstoßen von ihren Familien und abseits ihrer Kinder in Altersheimen leben müssen. Dabei geht man davon aus, dass die Alten früher mit ihren Kindern in einer Großfamilie lebten oder zumindest von ihnen versorgt wurden. Es weist alles darauf hin, dass gerade alte, arme oder auch kinderlose Menschen häufig viel einsamer waren als heute. Tatsächlich lebten auch früher Eltern und Kinder zuweilen weit voneinander entfernt, Reisen waren zeitaufwändig und teuer und Kommunikationsmittel wie Telefon oder Mailsysteme gab es noch nicht. Selbst das Briefeschreiben war nicht verbreitet, da viele Angehörige der ärmeren Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnten. Manchmal waren die Kinder auch ausgewandert oder schon vor den Eltern gestorben. Nicht wenige Alte bestanden darauf, solange es ging, in ihren Häusern zu bleiben und hüteten sich davor, ihr Schicksal in die Hände ihrer Kinder zu legen.
Als „alt“ galt man, wenn man nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu versorgen und sein Überleben zu sichern. Falls Armut und Alter zusammentrafen, blieb nur noch die Verelendung und als Erlösung der frühe Tod.
|27|Während wir uns beim Rückblick in vergangene Zeiten zuweilen ein fast romantisches Bild vom damaligen Umgang der Jungen mit den Altern machen, scheuen sich die Literaten als Zeitzeugen nicht, die alltägliche Realität zu beschreiben. In der Komödie „Wie es euch gefällt“ skizziert William Shakespeare (1564 – 1616) die Lebensphasen des Menschen: „Das sechste Lebensalter wechselt hinüber zum hageren und pantoffelbekleideten Pantalon, Brille auf der Nase und Beutel an der Hüfte, seine jugendliche und wohlerhaltene Hose eine Welt zu weit für seine geschrumpften Schenkel und seine kräftige Männerstimme, wieder in kindischen Diskant umschlagend, piepst und pfeift in ihrem Laut.
Letzte Szene von allen, mit der diese bewegte, merkwürdige Historie endet, ist ein zweites Kindesalter und gänzliches Vergessen, ohne Zähne, ohne Augen, ohne Geschmack, ohne alles.“
Bewertet man die Lebensverhältnisse von der Antike bis zu den Industriestaaten des 21. Jahrhunderts, so haben drei herausragende historische Ereignisse weitgreifende Veränderungen bewirkt. Zuerst waren es die in den griechischen Stadtstaaten erarbeiteten ethischen Grundsätze für das Zusammenleben aller Altersgruppen, dann folgte in der Aufklärung die für alle Bürger eingeforderte Eigenverantwortung und individuelle Freiheit und schließlich führte die finanzielle Absicherung der nicht mehr Erwerbstätigen durch staatlich garantierte Rentensysteme ab dem 20. Jahrhundert zur finanziellen Unabhängigkeit.
Die Auseinandersetzung mit dem Alter in der Antike
In den Sippen, die in prähistorischen Zeiten lebten, waren die Regeln für das Zusammenleben der Generationen wohl einfach. Wer aufgrund von Verletzungen, Krankheiten oder Alter zu schwach war, für seine Nahrungsbeschaffung oder seine Verteidigung zu sorgen, wurde aus der Gemeinschaft ausgestoßen, verhungerte und diente anderen Lebewesen als Nahrung. Allerdings waren die Alten, bevor es schriftliche Überlieferungen gab, auch ein Hort der Erfahrung und des handwerklichen Könnens. Vielleicht wurden sie auch im Alter geschätzt, weil man viel von ihnen lernen konnte. Die ersten Bestattungen der Verstorbenen dürften reine Schutzmaßnahmen gewesen sein, um zu verhindern, dass die Leichen die Raubtiere anziehen. Erst die Bestattungsriten, wie sie ab 100 000 v. Chr. beim Neandertaler und dem Homo sapiens aufkamen, weisen auf eine ehrfürchtige Behandlung der Alten sowie auf ein Nachdenken über ein Leben nach dem Tod hin. Mit der Zeit wurden die schlichten Erdhöhlen, in denen man die Toten mit einem Überlebenspaket versehen bestattete, zu den Baudenkmälern, wie der Cheopspyramide, dem Tadsch Mahal oder dem Lenin-Mausoleum.
In der griechischen und römischen Mythologie wird die Jugend glorifiziert, während das Alter kein Ansehen hat. In Hesiods (etwa 700 v. Chr.) „Theogonie“ ist das verhasste Alter ein Nachkomme der Nacht und verwandt mit Verhängnis, Schicksal, Tod, Schlaf, Schuld, Nemesis und Betrug. Diese Übel waren normalerweise in die Unterwelt verbannt und wurden nur auf die schwachen und alten Menschen losgelassen. Den Sterblichen dienten die unsterblichen und niemals alternden Götter als Wunschbild. Unsterblich zu werden, d. h. in den Rang der Götter aufzusteigen, war ein Traum aller Menschen in der Antike, dessen Erfüllung nur wenigen Helden vorbehalten war.
Als im 7. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland die Stadtstaaten wie Athen oder Sparta gegründet wurden und das enge Zusammenleben vieler Menschen eine Ethik des Miteinanders erforderte, wurde auch die materielle Versorgung der Eltern durch ihre Kinder geregelt. Nach dem vom athenischen Staatsmann Solon (etwa 640 – 560 v. Chr.) verfassten Gesetz wurde die Unterlassung der Unterstützung der Eltern mit Entzug der Bürgerrechte bestraft; in Athen war das die zweitschlimmste Strafe nach der Todesstrafe.
Informationen über den Umgang mit den Alten in der Antike gibt es zumeist nur von den Angehörigen der Oberschicht, da nur von ihnen schriftliche und bildliche Darstellungen überliefert sind. Solange Frauen und Männer reich und mächtig waren und ihren Aufgaben in der Gesellschaft nachgingen, wurden sie respektvoll behandelt, ihre Alterssicht wurde als Weisheit gelobt und nach ihrem Tod wurden sie aufwändig bestattet. Dagegen dürften bei den bäuerlichen Großfamilien auf dem Land die Alten nur solange willkommene Mitglieder der Gemeinschaft gewesen sein, wie sie sich auf dem Feld und im Haus nützlich machen konnten.
Die Jüngeren versorgten ihre Alten wohl auch deshalb mit Nahrung und einer Schlafstelle, weil sie ihre spätere, eigene Lebenssituation vor Augen hatten. So |28|ist es ein Mythos, dass in der Antike die Alten hoch geachtet waren und sie in Politik und Gesellschaft bis zu ihrem Tod verantwortungsvolle Positionen bekleideten.
Das Töten der Alten, weil man sich der unnützen Esser entledigen wollte, war durchaus üblich. So wurden in Sardinien die Alten mit einem Extrakt aus dem Wasserfenchel (Oenanthe crocata) gelähmt und dann von Felsen gestürzt. Die durch das Gift verursachte Gesichtskontraktion bewirkte ein schiefes Lächeln, den Risus sardonicus, das sardonische Lächeln. Den Zuschauern wurde damit vorgegaukelt, die Betroffenen gingen lächelnd in den Tod.
Auch in der Antike wurden die Menschen, und zwar rund um das Mittelmeer, wenn sie Kindheit, Kriege und Seuchen überstanden hatten, durchaus zwischen 60 und 90 Jahre alt. So soll der jedem Schüler vertraute Pythagoras 80 bis 90 Jahre alt geworden sein. Eine Quelle berichtet sogar, dass er dank einer speziellen Mixtur aus Meerzwiebelessig auch im 117. Lebensjahr noch in guter Verfassung war. Philosophen schrieben die negativen Begleiterscheinungen des Alters gerne der zügellosen Lebensweise in der Jugendzeit zu.
Während alte Männer in Kunst und Literatur oft als weise dargestellt werden, wird die Rolle alter Frauen häufig negativ bewertet. Da sie nicht mehr zur Reproduktion fähig waren, wurden alte Frauen diffamiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. In vielen Darstellungen werden sie sogar als bösartig, als sexuell obsessive Hexen oder Trinkerinnen gezeigt. Besonders hart trifft es alte Jungfern, die als Vorbilder für die grausamsten und furchtbarsten Gestalten der Mythologie, die Furien und Graien (Greisinnen), herhalten müssen. Sie werden absichtlich alt und verhärmt dargestellt, damit sie den Sterblichen Angst und Schrecken einjagen.
3.1 Marmorstatue einer alten Schäferin. In den Darstellungen aus griechischer oder römischer Zeit wurden die Alten realistisch dargestellt. Trotz vieler Altersattribute wie z. B. einer faltigen Haut strahlen sie eine besondere Würde aus. Quelle: Palazzo dei Conservatori, Rom; Foto: Alinari Archiv-Brogi Archiv, Florenz.
Besonders die griechischen Philosophen befassen sich intensiv und zumeist abwertend mit der Lebensphase Alter.
So zitiert Sokrates (469 – 399 v. Chr.) den Sophisten Prodikos von Keos (465 – 399 v. Chr.), der die unausweichlichen Auswirkungen des Älterwerdens beschreibt: „Dann kommt unbemerkt das Alter über dich, in dem sich alles Böse und Tödliche der Natur vereint. Und wenn du deine Schuld nicht schnell mit dem Leben bezahlst, schreitet die Natur wie ein kleiner Dieb und nimmt sich ihren Teil – deine Sehkraft, dein Hörvermögen und oft auch beides. Und wenn du dennoch weiterlebst, lähmt sie dich, verstümmelt und zerreißt dich schließlich.“
Nach Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) sind alte Menschen vor allem pessimistisch, argwöhnisch, oft bösartig und engstirnig, weil ihnen das Leben so übel mitgespielt hat, dass sich ihre Hoffnungen auf den bloßen Wunsch weiterzuleben reduziert haben.
Während die Begleiterscheinungen des Alters von Schriftstellern und Philosophen der Antike umfassend kommentiert wurden, hielt man sich hinsichtlich der Ursachen des körperlichen Verfalls zurück. Verbreitet war in der Medizin die Ansicht, dass der Körper mit der Zeit seine innewohnende Wärme verliere und damit seine Lebenskraft bzw. seinen Lebenswillen. Daher sei ein Kind warm und feucht, während der alte Mensch kalt und trocken sei wie ein Toter. Das Alter ist also ein Prozess des Erkaltens und Vertrocknens, und wenn Leber und Herz austrocknen, stirbt der Mensch. Analog zur Krankheit geht im Alter das Gleichgewicht der vier Körpersäfte verloren: Es herrscht Mangel an Blut und gelber Galle, aber ein Überschuss an Schleim und schwarzer Galle.
Der griechische Arzt und Schriftsteller Galen oder auch Galenos von Pergamon (129 – 216) widersprach diesen Theorien und erklärte, dass es sich um eine Fehlinterpretation der flüssigen Absonderung alter Menschen, wie z. B. Auswurf und Nasenschleim, handele, die aber nichts mit dem inneren Zustand des Körpers zu tun hätten. Galen vermutete, dass sich die innere Kälte nicht nur auf den Körper, sondern auch auf den Geist auswirkt: „Warum verlieren so viel Menschen im Alter ihren Verstand. Dies ist nicht die Auswirkung |29|von Trockenheit, sondern von Kälte. Sie nämlich schädigt eindeutig alle Aktivitäten des Geistes.“
Um den Symptomen des Alterns entgegenzuwirken, muss das Gleichgewicht der Körpersäfte wieder hergestellt, also dem Körper Wärme und Feuchtigkeit zugeführt werden. Nach der von Galen eingeführten „gerokomischen Kunst“ – der heutigen Gerontologie – ist das Alter eine eigenständige Form der Gesundheit, die durch ein maßvolles Leben erhalten werden kann. Deshalb verschrieben die Ärzte der Antike ihren Patienten eine Diät oder Kur, an die sie sich halten mussten. So wurde die Diätetik neben der Pharmakologie und Chirurgie zu einem wichtigen Gebiet der antiken Heilkunst.
Im fünften Buch seines Werkes „Über die Erhaltung der Gesundheit“ befasst sich Galen ausführlich mit den Themen Lebensführung und Ernährungsgewohnheiten. Er empfahl Massagen und leichtes körperliches Training, Reisen per Schiff oder zu Land, lauwarme Bäder und gelegentliches Aderlassen. Was die Ernährung betraf, so sollten alte Menschen nur wenig essen und ihre Nahrungsmittel sorgfältig auswählen. Als gesund bezeichnete er Pflaumen, Fisch, weiche Brotsorten und mageres Fleisch, vor allem das von jungen Ziegen. Ungesund dagegen seien hart gekochte Eier, Käse, Schnecken, Linsen, Pilze und viele Gemüsesorten.
Und was sollte der alte Mensch trinken? Wasser sollte gemieden werden und Milch nur als Muttermilch, Eselsmilch oder Milch mit Honig getrunken werden. Wein, die Gabe des Dionysos, empfahl er als gesundheitsfördernd und widmete sich ausführlich der Frage, welche Weinsorten besonders bekömmlich seien. Wein galt als Verjüngungstrank, weil er den Körper wärmt und so Traurigkeit und Ängste vermindert, die ein langes Leben so mit sich bringen.
Die Alten im Mittelalter
Im Mittelalter (6. bis 15. Jahrhundert) wurde die wirtschaftliche und kulturelle Dominanz des griechisch-römisch geprägten Mittelmeerraums durch das ganz Europa umfassende System christlicher Feudalstaaten abgelöst. Grundzüge des europäischen Mittelalters waren eine nach Ständen geordnete Gesellschaft und eine Gott verbundene Geisteshaltung in Literatur, Kunst und Wissenschaften. Das christliche Mittelalter verstand sich heilsgeschichtlich als eine im Glauben allen anderen Zeitaltern überlegene „aetas christiana“ (christliches Zeitalter), die mit der Geburt Christi begann und erst mit dem Jüngsten Gericht enden sollte. Für die Alten war aber gerade das Mittelalter bis zum Beginn der Renaissance wohl die schrecklichste Zeit (aetas obscura) aller geschichtlichen Epochen in Europa. Obwohl es keine verlässlichen Aufzeichnungen gibt, kann man schätzen, dass der Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen nur bei 5 – 8 % lag, da aufgrund von Hungersnöten, Kriegen und Pestepidemien bereits sehr viele junge Menschen starben.
3.2 Die anatomische Korrelation zu Galens Lehre von den vier Säften. Das Pneuma gelangt vom linken Herzen über die luftgefüllten Arterien in die Gehirnkammern und wird dort zum Seelen-Pneuma. Die Milz produziert die schwarze Galle. Quelle: Meyer-Steineg, T. / Sudhoff, K. (1965): Illustrierte Geschichte der Medizin. Gustav Fischer, Stuttgart
Die Alten genossen auch keine besonderen Zuwendungen, sondern es wurden ihnen lediglich Pflichten erlassen, so der Kriegsdienst oder das Zahlen von Abgaben. Viele Frauen starben schon im Kindbett oder waren als Folge der jährlichen Geburten so geschwächt, |30|dass sie die schwere Feldarbeit nicht mehr bewältigen konnten und früh verstarben. Für die ärmeren Schichten existierte auch keine medizinische Versorgung; ernsthaft zu erkranken, bedeutete den Tod. Nur in den Hospizen der Klöster gab es für die Armen eine Krankenpflege, die die Zeit zwischen Siechtum und dem Tod überbrückte. Dagegen wurden die Reichen von den Ärzten des Mittelalters durch allerlei verordnete Wundermittel mehr finanziell geschröpft als geheilt. Alte und weise Frauen, die oft ein großes Wissen über Heilkräuter besaßen und damit den Patienten wirklich helfen konnten, liefen immer Gefahr, als Hexe verbrannt zu werden. Die Pandemie-artigen Seuchen wie Cholera und Pest, die ihre Ursachen zumeist in der fehlenden Hygiene hatten, trafen allerdings arm wie reich, Obrigkeit wie Klerus.
Man unterschied im Mittelalter zwischen Alter und hohem Alter (senium) und schrieb den geistigen Verfall ausschließlich dem hohen Alter zu. So war man auch der Ansicht, dass wegen des Verlusts an Wärme die Hochbetagten wieder das Verhalten von Kindern annehmen. Alte Männer und Frauen mit sexuellen Fantasien verstießen gegen die Naturgesetze und galten als verrückt. Ein verliebter alter Mann (senex amans), der sich nicht so verhielt, wie es sich für sein Alter gehörte, wurde als geistig verwirrt gebrandmarkt.
Die körperlichen Veränderungen bei Frauen begründete man vor allem mit dem Ausbleiben der Menstruation. Nach Ansicht der Ärzte war das Menstruationsblut unrein, schädlich und von zerstörerischer Kraft. Dieser Theorie entsprechend waren Frauen nach der Menopause gefährlich, weil sie das ungesunde Blut nicht mehr ausscheiden konnten. So schreibt Albertus Magnus (1200 – 1280) in seinem Traktat „De secretis mulierum“: „Das Zurückhalten der ‚Menses‘ produziert viele schädliche Körpersäfte. Alte Frauen besitzen fast keine Hitze mehr, um dieses Problem bewältigen zu können, insbesondere arme Frauen, die von nichts als derbem Fleisch leben. Diese Frauen sind boshafter als andere.“
Arme Frauen mussten oft ihren Lebensunterhalt mit dem Mischen von Heil-, Liebes- oder Todestränken verdienen. Waren diese wirksam, so wurden sie als Hexen gefürchtet, waren sie unwirksam, liefen sie in Gefahr, als Hexen verbrannt zu werden.
Im Mittelalter tritt neben die weltliche Herrschaft die katholische Kirche als der zweite Machtfaktor. Die Kirche etablierte ein System der Bestrafung bzw. Belohnung nach Ende des irdischen Lebens, das älteren Menschen jegliche Lebensqualität nahm. Da jeder Mensch im Jammertal irdischen Lebens zwanghaft schuldig werden muss und ihn nur die kirchlichen Institutionen vor der ewigen Verdammnis bewahren können, ordneten sich die Alten jedwedem kirchlichen Dekret unter und versuchten durch permanente Buße einen Bonus für das Leben im Jenseits zu erlangen. Noch auf dem Sterbebett ist man quasi als Rückversicherung für ein Leben nach dem Tod bemüht, sich durch materielle Zuwendungen den Segen der heiligen Kirche zu verschaffen.
In religiösen Schriften stand der Körper eines alten Menschen für die Vergänglichkeit und die Eitelkeit des irdischen Lebens. In einem Dialog zwischen Freude und Vernunft ist es die Aufgabe der pessimistischen Vernunft, die Freude zu zügeln, ihr zu verdeutlichen, dass Glück Torheit ist und dass jede Quelle des Glücks einmal eine Quelle des Bösen und des Schmerzes sein wird. Der Verfall und die zunehmende Unansehnlichkeit des Körpers sowie der Verlust der körperlichen Freuden werden nach Auffassung des italienischen Dichters Francesco Petrarca (1304 – 1374) als Hinweise auf die Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit dieser Welt gesehen.
Bernhardin von Siena (1480 – 1444), ein Heiliger, geißelt die Alten für ihr Murren und Klagen: „Ihr wollt es erreichen, ihr wünschet euch es zu erreichen, ihr hattet Angst, es nicht zu erreichen, und nun, da es euch gelungen ist, jammert ihr. Jeder möchte alt werden, aber keiner es sein. Der alte Mensch erhält die Gelegenheit zu bereuen und mithilfe seines schwachen kränklichen Körpers seinen Frieden mit Gott zu machen. Das Altern des Körpers an sich verhindert schon die schlimmsten Sünden: Ohne Zähne wird der Mensch weniger lachen, weniger am Ruf anderer nagen und weniger reden. Sein schwaches Augenlicht erlöst ihn von Völlerei, Habgier und Wollust. Wenn seine Ohren schwächer werden, wird er sich weniger Unsinn anhören und wird sich stattdessen religiösen Schriften widmen und still auf die Werke Gottes blicken, die dieser im Himmel und auf Erden bewirkt hat. Die nachlassende Libido erlöst ihn von fleischlichen Trieben.“
Die Reichen und Mächtigen mussten sich auch im Mittelalter nicht an die Vorgaben für das niedere Volk halten. In ihrer Lebensführung waren sie zumeist |31|kein Beispiel christlicher Enthaltsamkeit und auch die Angst vor der Bestrafung im Jenseits hielt sich in Grenzen. Da sie im Leben nie Not gelitten hatten, machte sich das Alter weniger bemerkbar und so konnten sie wie die Dogen von Venedig oder die Äbte großer Klöster noch zwischen dem 60. und 90. Lebensjahr wichtige Ämter bekleideten. Auch Künstler wie Michelangelo, Leonardo da Vinci, Tizian Vecellio und Lucas Cranach schufen ihre berühmtesten Werke, als sie die 60 schon überschritten hatten.
Der Einfluss von Renaissance und Aufklärung
In der Renaissance (frz. Wiedergeburt) kam es im Europa des 14. bis 17. Jahrhunderts zur kulturellen Wiederbelebung des Wertesystems der griechischen und römischen Antike. Das bisherige theozentrische Weltbild wurde im Humanismus als der wesentlichen Geistesbewegung dieser Zeit durch eine stärkere anthropozentrische Sicht der Dinge abgelöst. Die Reformation im frühen 17. Jahrhundert reduzierte den Einfluss der katholischen Kirche. Die Übersetzung der Bibel in die Landessprachen erlaubte allen des Lesens fähigen Bürgern sich ein eigenes Bild von Gottes Verkündigungen zu machen.
Die Gesellschaft orientierte sich stark am jeweiligen Stand sowie an äußeren Symbolen: Autorität und Rang in der Gesellschaft fand Ausdruck in Kleidung und Besitz. Macht wurde durch Wohlstand demonstriert. Alt an Jahren zu sein galt in der späten Renaissance weder als Verdienst noch als Gnade. Man war alt, wenn man alt aussah. Zumindest die Oberschicht war in der Lage, die Anzeichen von Alter relativ lange hinauszuzögern. Proteinreiche Kost, ein komfortabler Lebensstil und ein körperlich wenig anstrengendes Leben ließen Frauen und Männer im Vergleich zum Mittelalter deutlich später altern. Allerdings waren reiche Leute früher als die Armen vom Zahnausfall betroffen, ansonsten ein untrügliches Merkmal für fortgeschrittenes Alter. Da sie sich Zucker leisten konnten und ihn als Symbol des Wohlstands auch im Übermaß genossen, wurden die Zähne reicher Leute früh schlechter und fielen dann ganz aus. Ein zahnloses Lächeln galt als Zeichen des Wohlstands, nicht als Symbol des Alters. Innerhalb der Gesellschaft alterten arme Frauen am schnellsten, sie litten aufgrund der Ernährung und der vielen Schwangerschaften unter Kalziummangel und lebten unter erbärmlichen Verhältnissen. Alte Witwen galten als lüstern und beherrscht vom Verlangen nach einem neuen, möglichst reichen Ehemann. Selbst die bloße Vorstellung von einer älteren Frau, die nach einer sexuellen Beziehung trachtete, galt als abstoßend. Sich zu verschönern und Feste zu feiern, das waren Privilegien der Jungen und Schönen. Einflussreichen alten Männern hörte man zwar aufmerksam zu, wenn sie als Ratgeber fungierten, doch das allgemeine Bild eines Alten war das eines geldgierigen, lüsternen, eigennützigen, geschwätzigen und sich ständig einmischenden Menschen, der deshalb auch häufig zur Zielscheibe von Hohn und Spott wurde. Habgier und Wollust waren die verspottenden Untugenden des alten Mannes, Eitelkeit die der alten Frau. In der Literatur, im Theater und in den Bauernweisheiten wurden die Alten in einer Weise verhöhnt, wie es in früheren Epochen nicht toleriert wurde.
Die ärztliche Praxis wurde noch immer von der Vier-Säfte-Lehre Galens bestimmt. Nun aber war ein jeder Mensch eine einzigartige Mischung von Temperamenten, Körpersäften, Anlagen und Fähigkeiten, deren Zusammenspiel die dominanten Charaktereigenschaften phlegmatisch, sanguinisch, cholerisch und melancholisch ergaben; dabei betrachtete man die Melancholie als die typische Eigenschaft der Alten. Die Behandlung altersspezifischer Krankheiten hatte sich seit dem Mittelalter kaum verändert; man versuchte nicht die Krankheiten zu heilen, sondern das Altern hinauszuzögern. So bestand die Therapie hauptsächlich aus Aderlässen, Klistieren sowie Massagen und dem Verabreichen von Kräutersäften und Tees. Allerdings verstand man schon, dass eine gesunde Ernährung die Basis für eine Verzögerung des Alterns ist. Also sollten die noch rüstigen Alten energiereiche Nahrung zu sich nehmen, die viel Feuchtigkeit und Wärme enthielt. Dazu zählten Rotwein, Fleisch von jungen Tieren und Milch. Ärzte empfahlen den alten Menschen nur kleine, aber dafür zahlreiche Mahlzeiten und ausgiebig in gut geheizten Räumen zu schlafen. Alte Menschen sollten nicht arbeiten, Verletzungen fürchten und enthaltsam leben. Körperliche Gesundheit sollte auch den Zustand der Seele oder des Geistes positiv beeinflussen. Um diese zu erhalten, sollte man Kummer, Zorn und Ängste vermeiden und dagegen nach Glück und Zufriedenheit |32|streben. Dabei helfen sollten das Musizieren, anregende Gespräche in gleich gesinnter Gesellschaft, das Studium säkularer und religiöser Schriften sowie der Genuss von reichlich Rotwein, um die Melancholie des Alters zu vertreiben. Mit dieser Lebensweise sollte man schon in der Jugend nach dem Motto beginnen: „Was man in der Jugend lernt, bleibt im Alter erhalten.“
Im 17. Jahrhundert begann ein kultureller Wandel, der sowohl die Grundlagen für das Entstehen von Armut veränderte wie auch von der Gesellschaft neue Formen des Umgangs mit den Alten einforderte. In den meisten europäischen Ländern stieg die Zahl der Einwohner rapide an, die Wirtschaftssysteme aber waren unterentwickelt und instabil. Als Folge sank die Entlohnung der Beschäftigten, während die Preise für den alltäglichen Bedarf stiegen. Es entstand eine neue Form von Armut: Die Schicht der Tagelöhner und Wanderarbeiter bildete sich heraus. Trotz einer Arbeitszeit von mehr als 60 Stunden pro Woche war die Entlohnung zu gering, um davon eine Familie, geschweige denn die unnützen Alten, ernähren zu können. Das sich ausbreitende soziale Elend markiert die Anfänge eines in der späteren Industriegesellschaft vor sich hin vegetierenden Proletariats.
Bedingt durch die Aufklärung und die Französische Revolution kann man das 18. Jahrhundert bezogen auf den Umgang mit dem Alter als eine Phase des Übergangs sehen, welche den Beginn der Neuzeit markiert.
In Europa und Nordamerika begann ein geistiger Emanzipationsprozess, der die Grundlagen für die Gesellschaftsstruktur im 21. Jahrhundert legte. Allerdings hätten sich ohne die Französische Revolution, ohne den Druck der Straße, die Ideen der Aufklärer nicht in praktische Politik umsetzen lassen. Der weisungsabhängige Untertan wurde jetzt vom mündigen Bürger abgelöst. Der aufgeklärte Mensch kann als freier Bürger, nur an Verfassung und Recht gebunden, sein Leben selbst bestimmen. Kritisches Hinterfragen wie eigenständiges Denken und Urteilen sollen die eigene Lebenssituation beleuchten und mittels der gewonnenen Einsichten zu einer Besserung beitragen. Man forderte Toleranz gegenüber Andersdenkenden und nicht-christlichen Religionen. Der Staat sollte die bürgerlichen Rechte unter Zugrundelegung der allgemeinen Menschenrechte garantieren und sich dem Gemeinwohl verpflichten.
Französische Sozialtheoretiker versuchten die Diskussion über den Umgang mit den Alten weg von den Prinzipien religiöser Barmherzigkeit und hin zur Idee des Gemeinwohls zu lenken. Die Konzentration auf ein Leben nach dem Tod wandelte sich zu einer starken Diesseitsbezogenheit. Die Mehrzahl der Aufklärer war der Ansicht, dass der Mensch von Natur aus gut ist und lediglich der Erziehung bedarf, um tugendhaft, friedlich und glücklich zu leben. Philosophie, Mathematik, Naturkunde und Technik erlebten eine Blütezeit und verabschiedeten sich vom Einfluss des Klerus und der Aristokratie.
Auf dem Weg zur Alterssicherung
Mit seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ legte der schottische Philosoph Adam Smith 1776 in Abgrenzung zum herrschenden Merkantilismus die Grundlage für die klassische Nationalökonomie. Er strebte einen Staat freier Bürger mit gerechten politisch-juristischen Institutionen an und begründete, dass Arbeitsteilung zu erhöhter Produktivität und ein eigennütziges Streben nach Besitzvermehrung allein schon zum Wohlstand führt.
Besonders in England und Frankreich entstanden eine neue politische Kultur, die weit reichende Konsequenzen für die Lebensqualität der Alten hatte. So waren die Sozialgesetze der Revolutionszeit vom Gedanken geprägt, die Alten zu ehren. Literatur und Kunst vermieden die zuvor übliche Verspottung der Alten und betonten dagegen die Würde des Alters und den Respekt vor der Lebensleistung.
Mit Ausnahme derer, die aufgrund von Ererbtem oder Erworbenem reich waren, versuchten die Alten, ihr materielles Wohlergehen durch ein möglichst langes Verbleiben in einem Arbeitsverhältnis zu sichern. Gerade die gut situierten Alten waren der Meinung, dass die Versorgung durch staatliche Institutionen auf Greise, Kranke und Verarmte beschränkt werden sollte. Finanzielle Sicherheit wie eine gute medizinische Versorgung für die Alten wurden zu zentralen Themen der öffentlichen Debatte.
Mit dem „Poor Law Amendment Act“ (Armengesetz) von 1834 hatten die englischen Gemeinden die Voraussetzungen dafür geschaffen, bedürftigen alten Menschen wenigstens eine minimale finanzielle Unterstützung zu gewähren. Vorkämpfer für die lebenslange |33|finanzielle Versorgung, allerdings auf Basis der während der beruflichen Tätigkeit erworbenen Ansprüche, waren die englischen Zöllner und die französischen Steuereinnehmer. Die Sonderstellung dieser Berufsgruppen war der Anlass, dass die Altersversorgung in den Industriestaaten zu einem zentralen Thema der politischen Auseinandersetzungen wurde. Renten, die nach und nach allen Beamten als Staatsdienern gewährt wurden, lieferten die Grundlage für den Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts. Keine andere Maßnahme hat von der Antike bis heute die Lebensqualität alter Menschen so entscheidend verbessert wie die staatlich garantierte Rente.
Auch die medizinische Versorgung alter Menschen verbesserte sich langsam.
Vorerst wurden in pseudowissenschaftlichen Journalen die Lebensweise angeblich sehr alt gewordener Menschen beschrieben, wie von Henry Jenkins, der 169 Jahre alt geworden sein soll, oder des englischen Bauern Thomas Parr, der angeblich mit 153 Jahren verstarb, um für praktische Anregungen zum Erreichen eines hohes Alters zu werben. Nach und nach befasste man sich weniger mit solchen Mythen, sondern fokussierte sich auf wissenschaftlich begründbare Fakten hinsichtlich der Ernährung, der Gesundheit sowie altersspezifischer Veränderungen. So erwähnte Jean Baptiste Goulin um 1850, als er über Krankheiten alter Männer schrieb, u. a. Gicht, Rheuma, Augenschwäche, Schwäche in den Beinen, Katarrh, Stumpfsinnigkeit, Schlaganfall, Sodbrennen, Lethargie, Lähmungen, Durchfall, Skorbut sowie das Versiegen von Samenflüssigkeit und Tränen – und damit fast alle Krankheiten, die wir heute noch als altersspezifisch erachten.
Die medizinischen Wissenschaften versuchten das Alter als eine Lebensphase zu betrachten, die zwar allgemein gültiger, doch auf das Alter adaptierter Behandlungsmethoden bedarf.
Die Bewertung des Alters aus medizinischer Sicht war allerdings nur ein Teilaspekt einer umfassenden Veränderung, die mit der allgemeinen Verweltlichung der europäischen Kultur einherging. An die Stelle des Zurückziehens aus dem öffentlichen Leben, um sich der Vorbereitung auf das Jenseits zu widmen, tritt der Ruhestand als eine Phase, in der man sich von den Verpflichtungen des Berufs befreit, um sich uneingeschränkt seinen Neigungen widmen zu können. Die selbstbewussten Alten förderten auch das Entstehen eines Angebots, das speziell auf den älteren Verbraucher ausgerichtet war. Es wurde „en vogue“, sich altersgemäß zu bewegen, zu kleiden und zu ernähren.
Die großen sozialen Umwälzungen, die im 19. Jahrhundert das Leben in Europa und Nordamerika drastisch veränderten, gehen vor allem auf die Industrialisierung, auf das rapide Bevölkerungswachstum und auf das Leben in Metropolen zurück. Auf der einen Seite entstanden neue Berufsbilder, wie z. B. in der Medizin oder im Maschinenbau, die eine lange Ausbildungszeit und hohes fachliches Können erforderten, auf der anderen Seite verlor das handwerkliche Können aufgrund der Umstellung auf |34|mechanisierte Produktionsverfahren in den Fabriken an Wert. Die neuen Produktionsmethoden bewirkten einen sozialen und politischen Wandel, der zwar alle Altersschichten und Einkommensklassen betraf, sich aber besonders auf das Arbeitsleben älterer Menschen auswirkte. Arbeitnehmern, die mit dem Arbeitstempo in den Fabriken nicht Schritt halten konnten, blieb als Alternative oft nur die Heimarbeit für die Textilindustrie, etwa weben oder stricken.
3.3 Armenhäuser im England des 19. Jahrhunderts. Frauen und Männer mussten in getrennten Häusern leben und Anstaltskleidung tragen. Viele ältere Menschen fürchteten den Aufenthalt in diesen Anstalten mehr als das Verhungern. Quelle: Mary Evans Picture Library.
3.4 Menschen stehen an einem Postschalter in Deutschland an, um sich ihre Rente auszahlen zu lassen. Wenige Jahre zuvor waren die Gesetze zur Altersversicherung erlassen worden (Zeichnung etwa um 1890). Quelle: akg, London.
Die nach kapitalistischen Prinzipien ausgerichteten Produktionssysteme brauchten eine Arbeiterklasse, die lohnabhängig war, diszipliniert arbeitete, derer man sich aber entledigen konnte, falls ihre Mitglieder alt und gebrechlich wurden. Wer seinen Arbeitsplatz verlor, keine geringwertige Tätigkeit wie z. B. Straßenfegen fand, war auf die Unterstützung der Familie, der Wohlfahrtsorganisationen oder des Staates angewiesen. Es entstand ein Proletariat der Alten, die nichts besaßen und von der Hand in den Mund lebten.
Als Antwort auf die Ausbeutung der Arbeiter wurden in England Verbände gegründet, bei denen sich die Beschäftigten gegen Krankheit oder Invalidität versichern konnten.
Das erste Rentensystem für Arbeiter wurde 1854 für Beschäftigte im preußischen Bergbau entwickelt. Weitere Unternehmer in Deutschland schlossen sich diesem Vorgehen an, teils um ihre Beschäftigten an sich zu binden, teils um staatlichen Regulierungen zuvor zu kommen. Die Altersrenten waren bescheiden und wurden nur an Arbeiter gezahlt, die mindestens 70 Jahre alt waren.
Reichskanzler Otto von Bismarck war einer der Ersten, der eine hinreichende Versorgung betagter Menschen als staatliche Aufgabe betrachtete. In einer Rede im Reichstag 1884 sagte er: „Die soziale Bedeutung einer allgemeinen Versicherung der Besitzlosen scheint mir unermesslich zu sein; es ist unerlässlich, unter der großen Mehrheit besitzloser Menschen über die Gefühle, die mit dem Anrecht auf eine Rente entstehen, eine grundsätzliche konservative Haltung zu erzeugen. Warum sollte der Soldat der Arbeit nicht eine Rente beziehen wie der Soldat im öffentlichen Dienst? Das ist Staatssozialismus, die legitime Ausübung praktischen Christentums.“
Mit einer Kranken- und Rentenversicherung wollte das Kaiserreich als Ständestaat zwar für die Arbeiterschaft die soziale Verantwortung übernehmen, sie aber auch als potentielle Wähler an das herrschende Parteiensystem binden.
Die Höhe der Altersversorgung für die Rentner stagnierte bedingt durch die Weltwirtschaftskrise und die finanziellen Aufwendungen für die beiden Weltkriege. Erst ab etwa 1970, als die vielen Kriegsschäden beseitigt waren und in Europa ein wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte, kam Bewegung in die Rentenpolitik. Die Zahl der über 60-Jährigen überschritt die 20 %-Marke und damit wurden die Rentner innerhalb der Bevölkerung zu einer Gruppe, die Wahlen entscheiden konnten. Rentengarantien oder gar Erhöhungen erwiesen sich als ein probates Mittel für die Regierenden, den Ausgang der nächsten Wahl positiv für sich zu beeinflussen.
Der wachsende Reichtum in den Industriestaaten verbesserte zwar die materielle Absicherung im Alter, aber eine angemessene Rolle in der Gesellschaft fanden betagte Menschen noch nicht. Nach wie vor wurden sie von vielen Erwerbstätigen als lästiger und unnützer Teil der Bevölkerung angesehen.
|35| Fakten und Perspektiven im 21. Jahrhundert
Ab etwa 1970 wurde besonders in Deutschland für die Mehrheit der Senioren etwas erreicht, wovon man in vorherigen Generationen nur geträumt hatte, nämlich sein Alter als einen langen und aktiven Lebensabschnitt genießen zu können. Möglich wurde die neue Lebensqualität durch wesentliche Verbesserungen beim Einkommen, bei der Ernährung und bei der medizinischen Versorgung. In der Medizin entwickelte sich mit der Geriatrie ein neues Teilgebiet, das sich auf die Behandlung altersspezifischer Erkrankungen konzentrierte.
Da der Anstieg der Lebenserwartung mit der Abnahme der Geburtenrate einher geht, gibt es Stimmen, die befürchten, dass die Rentner zu einer nicht mehr finanzierbaren Last für die noch arbeitende Bevölkerung werden könnten. Die geringere Zahl der Beschäftigten würde durch Abgaben und Steuern immer stärker belastet, um die üppigen Renten für die Alten zahlen zu können. Auch könnte die wirtschaftliche Vormachtstellung der Industrienationen im Vergleich zu den asiatischen Ländern aufgrund der Überalterung der Bevölkerung und dem Mangel an jungen Erwerbstätigen verloren gehen. Im industrialisierten Europa stagniert die Zahl der Nachkommen bei etwa ein bis zwei Kindern pro Familie. Alle Regierungsprogramme, junge Familien etwa durch finanzielle Zuwendungen zum Kinderreichtum zu bewegen, sind bisher fehlschlagen. Die unterstellte Zwangsläufigkeit, dass weniger Kinder und Jugendliche zu Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebensstandards führen und Sozialabbau notwendig machen, ist jedoch keine haltbare These. Unsere wirtschaftliche Zukunft hängt von unserer wirtschaftlichen Produktivität ab und die wiederum von der Qualität unserer Bildungssysteme. Sie wird nicht so sehr davon bestimmt, wie viele Kinder wir haben, sondern wie wir mit diesen Kindern umgehen.
Etwa ab dem Jahr 2000 gehört eine wachsende Anzahl Rentner in Mitteleuropa zur finanziell abgesicherten und oft wohlhabenden Schicht. Das summierte Einkommen aus Rente, Verpachtungen und Zinseinkommen ist teilweise so hoch, dass das gesparte Kapital nicht zur Finanzierung des Lebensabends angegriffen werden muss, sondern als Erbe Kindern und Enkeln zugewendet werden kann.
Während früher die Jungen die Alten ernährten, finanzieren die Großeltern heute häufig die Ausbildung und die Sonderwünsche der Enkel. Der Anteil an erspartem Volksvermögen dürfte zu mehr als 50 % bei der Generation der Rentner liegen. Rentner sind reisefreudig, sie geben etliches Geld für Körperpflege und Mobilität aus, sie fördern durch Teilnahme das Kulturleben, sie unterstützen durch Spenden und Mitarbeit das Vereinsleben und ihr Sparvolumen stabilisiert das Volksvermögen, das sich in Deutschland um etwa 200 Milliarden pro Jahr vermehrt.
Allerdings gibt es selbst im reichen Deutschland auch heute noch arme Menschen, die aufgrund unverschuldeter Lebensumstände am Existenzminimum leben. Dazu gehören z. B. Kriegswitwen, viele Bezieher von Invalidenrenten und andere, die aus unterschiedlichen Gründen keine Sozialbeiträge gezahlt haben und deshalb von der Sozialfürsorge leben müssen. Dieses für den Rest des Lebens „Armsein“ ist in einem Umfeld der Wohlhabenden besonders bedrückend.
Ohne Zweifel werden die Senioren ihre künftige Rolle in einer sich rapide wandelnden und immer mehr konsumorientierten Gesellschaft neu ausrichten müssen. Sie sollten die Funktion der „Konservativen oder Bewahrer“ übernehmen, die durch ihr Verhalten den Jüngeren aufzeigen, dass nur ein Miteinander der Generationen nach den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, ein mehr an Lebensqualität für alle Altersgruppen bringen kann.
Literaturangaben
Bovenschen, S. (2008): Älter werden. Fischer, Frankfurt
Graf, F. W. (2010): Über Glück und Unglück des Alters. C. H. Beck, München
Hesse, H. (2010): Vom Wert des Alters. Suhrkamp, Frankfurt
Opaschowski, H. W., Reinhardt, U. (2007): Altersträume: Illusion und Wirklichkeit. Primus Verlag, Darmstadt
Thane, P. (2005): Das Alter, eine Kulturgeschichte. Primus Verlag, Darmstadt