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Während die Zeit läuft

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Es eilt. Mir läuft die Zeit davon. Ich muss mich sputen. Ich stehe im Morgengrauen auf, ziehe den rot melierten Laufdress und die neuen Cross-Schuhe an, esse am Küchentisch zwei Scheiben Knäckebrot und trinke ein Glas Orangensaft, bevor ich den ovalen Joggingstein in die rechte Hand nehme und über den Hofplatz trabe; um 6:04:13 laufe ich den Traktorweg über das Feld auf den Wald zu.

Ich muss mich beeilen, um diese Geschichte zu schreiben. Ich muss bald hier raus. Heute Abend kommen meine Schwiegertochter Ting Ting und mein Enkel Man Lok zu Besuch. Anna wird sie um 20:45 Uhr am Busbahnhof abholen, sie sollen hier in meinem Arbeitszimmer im Backhaus wohnen. Bis sie kommen, muss meine Geschichte fertig sein. Es eilt. Ich muss raus. Die Zeit ist knapp. Ich laufe und schreibe und laufe.

6:04:53, die Uhr zeigt 6:04:53, ich biege von der Treckerspur ab, hebe beide Arme vors Gesicht und kämpfe mich durch das dichte Fichtengehölz hinunter zu dem Bach. An der Böschung vor dem Biberdamm bleibe ich einen Augenblick stehen, verschnaufe und beiße mir auf die Zungenspitze.

Es eilt. Mir bleibt doch nur der heutige Tag für meine Geschichte. Ich habe am Telefon gehört, dass Man Lok inzwischen ein Zweibeiner geworden ist und in Oslo über den Fußboden wackelt. Sie müssen den Hörer auf den Boden gelegt haben, denn die taumeligen Schritte unseres Enkelkindes dröhnten mir direkt ins Ohr. Es eilt, ich breite die Arme aus und balanciere vorsichtig über den Biberdamm; über dem blanken Wasserspiegel des Weihers, den Joggingstein in der geballten Faust und mit gespreizten Fingern über dem Durcheinander aus Zweigen und Ästen am Fuß der Böschung. Bei jedem meiner Schritte zeigen sich leichte Wellen auf dem reglosen Wasser des Tümpels. Der schwere Joggingstein in meiner Faust hält mich aufrecht.

Dann bin ich auf der anderen Seite und laufe den Pfad durch den Erlenwald bis zur Heddøla. 6:06:13, ich folge dem Weg flussaufwärts und laufe jetzt immer schneller, obwohl der Fluss reißender wird und ich gegen den Strom laufe. Mou, keiwai und gwei, murmele ich. Sie haben mir erzählt, dass Man Lok ein chinesisches Bilderbuch bekommen hat und die Wörter seiner Eltern nachzuahmen versucht, während er sich die Bilder ansieht. Er kann bereits drei Wörter Chinesisch, haben sie gesagt und mir erklärt, mou bedeutet niemand, keiwai heißt merkwürdig und gwei ist ein Gespenst.

Gegen den Strom zu laufen ist wie gegen den Wind zu laufen, ich verkürze die Schrittlänge, laufe an den Pfosten vorbei, die von der alten Hängebrücke noch stehen, und um 6:08:05 hüpfe ich von Stein zu Stein über die Mündung eines rieselnden Bachs und springe auf die breite Kiesbank, die sich entlang der Heddøla bis Grenehølen erstreckt. Mou, keiwai, gwei: Ich murmele ein Wort bei jedem Schritt, den ich auf den Kies setze: niemand, merkwürdig, Gespenst. Die Luft spült mir den Mund, der Kies knirscht und brennt unter den Füßen, und in meinen Ohren höre ich die durchdringenden Schritte von Man Lok auf dem Fußboden in Oslo. Schnell, es eilt, Man Lok entwickelt sich zu einem prächtigen Burschen, haben sie gesagt. Mou, keiwai und gwei, murmele ich wie eine Beschwörungsformel, wobei die Wörter unter den Schuhsohlen knirschen, und hetze im Gegenwind des Stromes vorwärts.

6:11:42, bei Grenehølen drehe ich um, nehme den Joggingstein in die linke Hand und laufe mit der Strömung zurück. Der Fluss fletscht die Zähne und schnappt nach den Steinen, während er rasch über den Grund fließt, der Strom wirbelt schneller als die Zeit, unmöglich, mit ihm Schritt zu halten. Trotzdem ist es einfacher, im Sog des Flusses zu laufen, ich gehe in lange Schritte über, berühre den Boden nur kurz mit den Ballen und drücke die Beine durch, dass es in den Kniekehlen zieht. Das Wasser schießt an mir, der ich laufe, vorbei und zieht mich mit, und schon bald gerate ich in einen paradiesischen Rausch und laufe Hand in Hand mit der fließenden Zeit.

6:17:47 wache ich auf und sehe auf die Uhr. Ich stehe auf der Böschung vor dem Biberdamm. Schwarzglänzend liegt der aufgestaute Fluss vor mir, er ist über die Ufer getreten. Der Biber hat einen Fluss gefangen. Der Strom rennt gegen den Damm an. Mittendrin ragt ein entrindeter Espenast aus dem Lehm. Knochigweiß leuchtet der Ast und zittert unter dem Druck, zittert. Ich beiße mir auf die Zungenspitze, breite die Arme aus und tänzele über den Damm. Mou, keiwai und gwei: Bei jedem Schritt flüstere ich ein Wort, und die Worte lassen das aufgehaltene Wasser unter meinen Füßen vibrieren.

Dann bin ich auf der anderen Seite und werde durch das Fichtengehölz gepeitscht, gelange auf die Treckerspur und lasse mich vom Schlussspurt aufsaugen, wobei die Beine wie bei einem Tausendfüßler unter mir wirbeln. Um 6:18:15 stehe ich wieder auf dem Hof, atme aus und schaue auf die Uhr.

Ich setze Kaffee auf, bevor ich mich umziehe und ein paar Scheiben Brot esse. Dann schmiere ich mir Pausenbrote und fülle die größte Thermoskanne. 6:36:58. Anna ist noch nicht aufgestanden, als ich mit Proviant und Kaffee für den ganzen Tag hinüber ins Backhaus gehe, die Gardinen im Arbeitszimmer zuziehe und den Computer einschalte. Um 6:39:44 beginne ich, an meiner Geschichte zu schreiben.

Es drängt, und damit die Zeit mir nicht davonläuft, fange ich an, die Joggingtour, die gerade hinter mir liegt, herunterzutippen. Es beginnt daher mit der Atemlosigkeit, denn nur acht Minuten, nachdem ich aufgestanden bin, bin ich über den Hofplatz getrabt und auf dem Traktorweg auf den Wald zugelaufen. Ich laufe und schreibe und laufe, und bei jedem Schritt hüpft ein Buchstabe auf den weißen Bildschirm, wie ein Fußabdruck im Neuschnee. Als ich im Morgengrauen lief, war das Gras zwischen den Reifenspuren grün. Jetzt, nur eine halbe Stunde später, laufe ich in einer anderen Jahreszeit über schneebedeckte Felder, und im Fichtengehölz bürsten die Bäume den eben auf mich herabgerieselten Schnee ab.

Die Böschung, ich bleibe an der Böschung stehen, schnappe nach Luft, beiße mir auf die Zungenspitze und schaue über den schwarzen Wasserspiegel zwischen den weißen Ufern. Der Damm glänzt eisig. Der entrindete Espenast in der Mitte ragt glasig in die Luft. Es eilt, und ich breite die Arme aus und tänzele über den Rand des blockierten Stromes. Mou, kei...

... waiiiiiiiiii!, schreie ich, als ich in das fremde Wort strauchele und der Joggingstein ins Wasser fällt. Einen Augenblick schwanke ich und rudere mit den Armen. Dann verliere ich das Gleichgewicht, taumele seitwärts und falle der Länge nach in den Weiher. Der Aufprall schlägt weiße Funken auf der schwarzen Oberfläche, das Wasser trifft mich wie der Stoß einer Hochspannungsleitung, der sämtliche Sinne betäubt. Als ich endlich wieder zu mir komme, spüre ich, wie ich in einen Brunnen ohne Grund sinke, versinke.

Milder, nach und nach wird die Dunkelheit um mich herum milder, bald ist es tropisch heiß, und ich höre schlurfende Schritte um mich herum. Es kommt jemand, jemand ist in dieser blinden Dunkelheit, in die ich hineinfalle, unterwegs. Die Luft ist voller erstickter Atemzüge. Vorhänge rascheln. Zeltbahnen flattern im Wind. Holzgefäße klappern. Tiere stampfen. Tief in der Dunkelheit höre ich ein Geräusch wie von einem Teppichklopfer oder Stockschlägen auf Fell und Knochen. Hat da gerade ein Esel geschrien, oder war es ein Kamel, das ebenso klingt? Ich weiß es nicht. Wo bin ich? Wann bin ich? Dumpfe, wie mit Erde bedeckte Stimmen flüstern Worte, die ich weder begreife noch verstehe. Jemand streicht mir sanft über die Stirn. Ich liege stumm auf einem Lager aus Dunkelheit, das hinunter ins Dunkle sinkt, und höre schleppende Schritte und Stimmen, die eifrig tuscheln.

Yio sii ueo, was sagen sie? Keine Ahnung, ich weiß nicht, wann und wo ich bin. Eine Stimme stößt einen schrillen Schrei aus. Rasch wird sie von aufgebrachten Mündern niedergezischt. Reden sie über mich? Fragen sie sich, was sie mit mir anstellen sollen, hier, wo ich liege? Bestimmt bin ich ein Fremder, ein Eindringling in ihr Wo und Wann. Das Teppichklopfen oder die Stockschläge sind jetzt deutlicher zu hören. Vielleicht überlegen sie, wer auf mich losgehen soll. Stimmen murmeln düster in der Dunkelheit. Vielleicht wagen sie nicht, mir etwas zu tun, da ich zu den Lebenden gehöre.

Ja, ich bin in die Geschichte gefallen, die ich schreibe, während die Zeit über den Biberdamm hinweg weiterlief, hinüber auf den Weg entlang der Heddøla. Ich horche und schreibe und horche auf die Geräusche, die ich in der Dunkelheit höre. Die flatternden Zeltbahnen. Die raschelnden Schritte. Die löchrigen Stimmen, die Unverständliches murmeln und hier und da ein unfreiwilliges Schnaufen und Räuspern von sich geben. Die Dunkelheit riecht nach Tierkot und verbranntem Haar. Ich schreibe, gieße Kaffee ein, esse von den Pausenbroten und schreibe über meine Erlebnisse in der lebendigen Dunkelheit um mich herum.

Endlich, endlich bin ich fertig. Es gibt nichts mehr zu schreiben. Meine Geschichte ist beendet. Langsam steige ich zur Oberfläche des hellen Computerschirms auf. Rasch überfliege ich die Geschichte und lese hier und da einen Abschnitt. Doch, es sieht gar nicht so schlecht aus. Ob sie trägt, müssen andere entscheiden.

Ich speichere die Datei auf eine neue Diskette, beklebe sie mit einem Etikett, schalte den Computer aus und stehe steif von meinem Schreibtisch auf. Als ich die Gardine zurückziehe, stelle ich fest, dass es bereits dunkel ist. Ich habe also bis in den späten Abend geschrieben. Die Fenster im Hauptgebäude sind erleuchtet. Sicher ist Anna von ihrer Arbeit bereits nach Hause gekommen.

Ich nenne die Geschichte »Während die Zeit läuft«, schreibe den Titel, meinen vollen Namen und das Datum, 15. September 2001, auf die Diskette und nehme sie mit, als ich aus dem Backhaus über den Hof zum Hauptgebäude gehe.

Die Hoflampe brennt nicht. Und die Außentür ist verschlossen. Merkwürdig, gewöhnlich schließen wir die Türen nie ab, wenn wir auf dem Hof sind. Ich klopfe und rufe: Anna! Anna! Mir geht durch den Kopf, dass es vermutlich das erste Mal ist, dass ich vor unserem Haus stehe und klopfe. Ich klopfe noch einmal und rufe Annas Namen. Aber sie öffnet mir nicht.

Ich warte eine Weile. Nein, kein Laut. Ich lege die Diskette auf die Treppe und rüttele mit beiden Händen an der Türklinke. Da von innen immer noch kein Laut zu hören ist, klopfe ich kräftiger, bis das Türglas klirrt.

Dann höre ich das Öffnen der Wohnzimmertür im ersten Stock und eilige Schritte im Treppenhaus. Die Hoflampe wird eingeschaltet, es knarrt im Schloss, und die Haustür springt auf.

Im Türrahmen steht ein fremder Mann und sieht sich um. Er hat schwarzes halblanges Haar und ist mit einem grünen Seidenhemd und einer weiten grauen Leinenhose bekleidet. Ein teigrundes Gesicht mit markanten Wangenknochen, einer stumpfen Nase und schmalen, beinahe zusammengekniffenen Augen. An den Füßen trägt er große unförmige Schilfpantoffeln. Er ist ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, möglicherweise etwas älter. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.

»Guten Abend«, sage ich. »Ich wohne auf diesem Hof. Sind Sie vielleicht zu Besuch hier? Ich bin Annas Mann, verstehen Sie?«

Der Fremde antwortet nicht. Sein Kopf dreht sich von einer Seite zur anderen, ohne dass der Blick an irgendetwas hängenbleibt. Dann tritt er über die Türschwelle, bleibt stehen und schaut über den Hof. Einen Augenblick sieht er mir direkt in die Augen, bevor er an ihnen vorbei oder durch sie hindurch auf die Scheune starrt.

»Guten Abend«, sage ich noch einmal und strecke die Hand aus.

Der Mann scheint mich weder zu hören noch zu sehen, denn in diesem Moment entdeckt er die Diskette, die ich auf die Treppe gelegt habe. Er bückt sich, hebt die Diskette auf und bleibt stehen, während er sie hin und her dreht. Als er liest, was ich auf den Aufkleber geschrieben habe, schüttelt er den Kopf und zuckt die Achseln. Noch einmal liest er Titel, Autorennamen und Datum der Diskette. Dann tritt er mit erhobenem Kopf vor und schaut neugierig über den Hof zur Scheunenauffahrt.

Eine Frauenstimme ruft irgendetwas im Treppenhaus. Der Mann dreht sich zur Tür um.

»Keiwai«, sagt er.

Wieder ruft die Frau irgendetwas. Sie hat eine hohe, helle Stimme.

»Mou«, antwortet er.

»Keiwai?«, ruft die Frau oben im Treppenhaus.

»Gwei«, antwortet der Mann, tritt in die Diele und schließt die Tür hinter sich. Die Diskette zwischen seinen beiden Fingern ist das Letzte, was ich sehe, bevor die Tür zufällt. Das Schloss knarrt.

Im Haus höre ich aufgeregte Stimmen und Schritte, die die Treppe hinaufgehen.

Ich bleibe auf dem Hofplatz stehen, und die Außenlampe scheint durch mich hindurch.

Die Brunnen

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