Читать книгу Das magische Quadrat - Hans Herrmann - Страница 3
1. Das Zauberkästchen
ОглавлениеEs regnete, und das bereits seit zwei Tagen. Zuvor war es sonnig und warm gewesen. Die Apfelbäume hatten geblüht, und die Kinder konnten draussen spielen, Rad fahren, inlineskaten, Zelte bauen und Wurst braten. Jetzt aber spülte der Regen die weissen Apfelblüten von den Bäumen und rauschte in grauen Vorhängen vom Himmel.
"Maienregen ist ein Himmelssegen", sagte der Vater von Sandra und Dominik. Er war Bauer und freute sich, dass die Saat in der Erde Wasser bekam. Die beiden Kinder sahen das aber anders.
"Regen macht alles nass und matschig, die Sonne versteckt sich, die Vögel singen nicht, und der Fluss kommt so hoch, dass es am Ufer gefährlich ist", nörgelten sie, standen am Stubenfenster und blickten trübsinnig in das nasse Treiben hinaus.
Was sollten sie mit ihrem schulfreien Nachmittag anfangen, wenn es derart goss, dass man den Kirchturm unten im Dorf kaum sah?
"Komm, wir gehen zu Onkel Leonardo", schlug Sandra vor.
"Gute Idee", sagte ihr Bruder.
Onkel Leonardo war ein Onkel ihres Vaters und hiess eigentlich Werner. Man hatte ihm irgendwann den Übernamen Leonardo gegeben, weil er laufend allerlei Erfindungen zeichnete und baute wie einst der grosse Maler und Konstrukteur Leonardo da Vinci.
Die Kinder zogen sich rasch einen Regenschutz über und schlüpften in die Gummistiefel. Dann huschten sie durch den Regen zum Wohnstock, der neben dem Bauernhaus lag. Hier lebte und arbeitete Onkel Leonardo.
Sandra klopfte, und die Kinder traten ein. Der kleine, alte Mann mit dem schneeweissen Haarschopf sass in der Stube, die ihm zugleich als Werkstatt diente, und arbeitete an einer Holzschachtel. Der grosse Tisch war über und über mit Werkzeugen, Schrauben, Nieten, Nägeln, Zahnrädern, Drähten und anderem Material übersät. An den Wänden hingen die Pläne, die Onkel Leonardo von seinen Erfindungen zeichnete, bevor er sie zu bauen begann.
Der Onkel blickte auf.
"Hallo, ihr beiden, was bringt ihr mir aber für ein Sauwetter mit!", rief er lachend. "Zieht eure Regenmäntel aus, ihr werdet doch nicht wie triefende Pudel zu mir hereinkommen wollen."
Sandra und Dominik schälten sich aus ihrem nassen Zeug, deponierten es im kleinen Vorraum und gingen zu Onkel Leonardo in die Stube. Er beugte sich bereits wieder über die Holzschachtel.
"Was führt euch zu mir?", fragte er freundlich.
"Uns ist es langweilig, da dachten wir, dass du dich vielleicht auch langweilst und ein wenig Gesellschaft brauchen kannst", antwortete Dominik.
"Woran arbeitest du da?", wollte Sandra wissen und deutete auf den Holzkasten, an dessen Scharnier Onkel Leonardo gerade die letzte Schraube einsetzte.
Er hob das Kästchen hoch. "Was denkt ihr, was das ist?"
"Nun – eine Schmuckschatulle vielleicht oder ein Nähkästchen", riet Sandra.
"Eine Kiste zum Verstauen von Schrauben und anderem Kleinkram", mutmasste Dominik.
"Falsch, alles falsch", sagte Onkel Leonardo. "Es ist… nun, es ist ein magischer Kasten! Da staunt ihr, was? Ich habe ihn für einen Zauberkünstler angefertigt. Er ist soeben fertig geworden. Ihr kommt gerade zur rechten Zeit, um ihn mit mir zu testen."
Der Onkel legte den Kasten auf den Tisch zurück, öffnete den Deckel und wies die beiden Kinder an, hineinzublicken.
"Was seht ihr?", frage er.
"Nichts, Onkel Leonardo, er ist leer."
"Richtig, er ist leer", bestätigte der Erfinder und wies Dominik an, er solle vom Tisch irgendeinen Gegenstand auswählen und ihn ins Kästchen legen. Dominik entschied sich für eine kleine Schere und verstaute sie.
"Gut, jetzt schliesse das Kästchen, drehe den Schlüssel und nimm ihn zu dir", sagte Leonardo zu Sandra.
Sie tat, wie geheissen.
"Und nun bist wieder du an der Reihe, Dominik", kommandierte Leonardo. "Schau auf deine Armbanduhr und lass eine Minute verstreichen."
Dominik hob den linken Arm und blickte auf sein Handgelenk. "Hallo, wo ist meine Uhr?", fragte er. "Ich habe sie vorhin doch noch getragen, oder etwa nicht? Hm…" Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. "Vielleicht habe ich sie heute Morgen nach dem Duschen im Badezimmer vergessen, das kann schon sein. Hoffentlich habe ich sie nicht verloren." Dominik war sehr stolz auf seine Uhr; es war ein Tauchermodell mit verstellbarer Minutenskala und einem Gehäuse aus Leichtmetall.
"Sie ist bestimmt irgendwo drüben im Bauernhaus", beruhigte ihn der Onkel. "Kommt, wir zählen langsam auf sechzig, so kommen wir auch auf die Minute, die es braucht, damit der Kasten seine Zauberkraft entfalten kann."
Alle drei zählten im Chor auf sechzig, der alte Mann mit einem feinen Lächeln, die Kinder gespannt wie Regenschirme.
" …achtundfünfzig, neunundfünfzig, sechzig!"
"Jetzt, Sandra, gibst du den Schlüssel deinem Bruder, damit er aufschliessen kann", sagte Leonardo. Hastig drehte Dominik den Schlüssel und hob den Deckel des Zauberkästchens hoch. Sandra schaute ihm über die Schulter.
"He, das ist ja nicht möglich!", rief der Bub verblüfft. Im Kästchen lag die vermisste Armbanduhr, und die kleine Schere war verschwunden!
"Es klappt also", meinte der alte Konstrukteur zufrieden.
"Wie funktioniert das? Ist das echter Zauber?", fragte Dominik aufgeregt, während er seine Uhr wieder ans Handgelenk schnallte, und Sandra wollte wissen, wo denn die Schere geblieben sei.
Der Onkel schmunzelte. "Die Schere? Schaut einmal auf den Tisch."
Tatsächlich: Die Schere lag wieder genau dort, wo sie sich befunden hatte, bevor Dominik sie ins Kästchen legte! Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Die Kinder forderten eine Erklärung.
Der alte Mann lächelte breiter. "Das darf ich euch leider nicht verraten", sagte er. "Kein Zauberkünstler der Welt lässt sich in die Karten blicken. Schweigen gehört zum Beruf. Ich versichere euch aber, dass das nichts mit richtiger Zauberei zu tun hat, es ist bloss ein Trick. Er funktioniert allerdings nur, weil ich diesen Kasten hier so raffiniert gebaut habe. Darauf bin ich sogar ein bisschen stolz."