Читать книгу Eine Woche neue schöne Welt - Hans Horst Meyer - Страница 4

Donnerstag !

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Der Wecker klingelt. Es ist sechs Uhr am Morgen. Mein Schädel brummt. Mann, sind das Schmerzen. Eins von den Bierchen gestern Abend war wohl schlecht. Na ja, ein Alka Seltzer und zwei Thomapyrin später sieht alles wieder besser aus. Gut, dass ich dieses Mal ein Wohnmobil ganz für mich allein habe. Dann hör‘ ich wenigstens nur mein eigenes Gejammer und muss mir nicht auch noch das Gestöhne der Kumpels anhören.

Ich spare mir den Weg zur Sanitärstation und benutze das Klo des Wohnmobils. Dann schalte ich die Kaffeemaschine an, die ich schon am Vortag, meist am Nachmittag, für den nächsten Tag vorbereite. Das spart eine Menge Nerven und Stress. Dann schalte ich den Fernseher ein. Morgenmagazin, Nachrichten und Börsendaten. Der DAX hat mal wieder einen Höchststand erreicht. Wie öfter mal, nichts Neues und kein besonderer Anlass. Es ist Juni, Donnerstag. Eben Donnerstag, der fünfte Juni 2025. Ein milder Sommertag. Nichts, aber auch gar nichts sieht danach aus, dass das mal der wichtigste Gedenktag in der ganzen Welt sein wird.

Die Wettervorhersage scheint zu halten, was sie versprochen hat. Vielleicht wird’s ja doch noch ein schöner Tag, auch wenn ich gestern stinksauer war. Das war auch der Grund, dass ich am Vorabend ein oder zwei Bierchen zu viel getrunken habe.

Na ja, ich habe vielleicht auch überreagiert. Also, ich bin 45 Jahre alt, arbeite als technischer Leiter einer Firma. Ich bin zuständig für die Entwicklung und den Bau von Elektrogeneratoren für Wasserkraftanlagen. Ich habe eine recht stressfreies Leben, da es mir gelang, durch eine spezielle Bauart der Magnete und Spulen einen besseren elektromagnetischen Fluss zu erreichen und dadurch den Wirkungsgrad unserer Generatoren entscheidend zu verbessern. Meine Abteilung hat inzwischen 24 Mitarbeiter, die ich jedes Jahr zu einem Event einlade. Die Teilnahme ist zwar freiwillig, aber die meisten meiner Mitarbeiter lassen sich das nicht entgehen. Dieses Jahr sind nur Vera, eine der Sekretärinnen, und der Technik-Gruppenleiter Bernd nicht dabei. Vera ist im achten Monat schwanger und Bernd hat sich bei einem Motorrad-Unfall den rechten Knöchel gebrochen.

Alle anderen sind mitgekommen. Es sind 19 Männer mit mir und vier Frauen. Wir haben zwölf Wohn­mobile gemietet und sind am Dienstag in Frankfurt losgefahren. Das Ziel ist diesmal in der Schweiz. Genauer gesagt, es ist Chur, die schöne Alpenstadt in Graubünden. Chur ist die älteste Stadt in der Schweiz und war schon oft Ziel meiner Ausflüge. Das ist nicht ganz richtig, sie war eher der Startpunkt meiner alpinen Touren. Ist schon witzig, mit zwölf Wohnmobilen „Kolonne“ zu fahren. Auf halber Strecke, etwa bei Ulm, war unsere große Halbzeitpause. Pinkelpause, Raucherpause und, und. Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis die letzten Nachzügler mit ihren Wohnwagen ankamen. Jetzt ging es dann weiter und am frühen Nachmittag waren wir dann auf dem Campingplatz angekommen. Der Chef des Campingplatzes, ein typischer Schweizer, hat schon auf uns gewartet. Ein netter Kerl, der uns bühnenreif mit einem zünftigen „Grüetzi“ empfängt und uns dann Wohnmobil für Wohnmobil einen der vorbereiteten Stellplätze zuweist. Ich sorge dafür, dass ich so nahe wie möglich am Rand stehe, direkt am Zaun, der nur etwa 30 Meter vom Ufer des Rheins entfernt ist.

Richtig! Der Campingplatz ist direkt neben dem jungen Rhein, der hier malerisch neben einer Steilwand, die er wohl im Laufe der Jahrmillionen selbst in das Gestein gefressen hat, laut plätschernd seinen Weg sucht. Eigentlich war geplant, dass ich das Wohnmobil mit Bernd, meinem Stellvertreter teile. Da der ausgefallen ist, habe ich als Einziger das ganze Wohnmobil für mich alleine.

Das Wohnmobil steht, ich packe meine Koffer aus und räume Schränke und Kühlschrank ein, starte meine automatische Antennenschüssel und richte die wichtigsten Sender ein. Ich brauche Fernsehen, mindestens nach dem Aufstehen am Morgen. Die Kaffemaschine wird für den nächsten Tag vorbereitet, dann verlasse ich mein Reich für die nächsten Tage, schließe ab und begebe mich zum nahe gelegenen Verwaltungsgebäude. Nach der herzlichen Begrüßung trage ich mich ein und erkläre sofort, dass ich die Kosten für alle zwölf Wohnmobile und deren Besatzung übernehmen werde. Das wird mit Vergnügen und Respekt akzeptiert.

Dann gehe ich in das angeschlossene Restaurant. Da sitzen schon vier meiner Hansels bei Bier und Wein. Ich bestelle ein Bier und bitte die Bedienung, das Essen für 23 Personen vorzubereiten, entsprechenden Platz zu reservieren und mir am Schluss die Rechnung zu präsentieren.

Langsam trudeln alle meine Leute ein. Es sind 21 Personen mit mir. Zwei von den Mädels fehlen allerdings. Beate und Franziska, die beiden anwesenden Mädels, schauen sich an, stehen auf und verlassen das Lokal. Nach zehn Minuten sind sie mit den anderen beiden Frauen zurück. Franziska grinst breit: „Die haben sich doch tatsächlich schon schlafen gelegt.“ 19 Männer klatschen euphorisch Beifall.

Der Ober kommt zu mir und fragt nach meinem Essenswunsch. Ich überlege kurz und sage: „Also, ich möchte Capuns und dazu eine Flasche Bündner Blauburgunder. Als Nachtisch ein Stückchen Bündner Nusstorte und einen doppelten Espresso.“

Genüsslich schaue ich in die fragenden Gesichter und offenen Münder. „Ach, Leute, ich hätte auch Pizokel bestellen können.“ Dann entfernt sich der Ober und die beiden weiblichen Bedienungen gehen zu den etwas ratlos dreinblickenden Leuten. Ausführlich bekommen alle eine Erklärung der Graubündner Spezialitäten. Leise vor mich hin grinsend denke ich an die Zeit, als ich das erste Mal mit den seltsamen Speisen der Graubündner Küche und deren Namen in Kontakt kam. Zugegeben, dass man hier auf einem Campingplatz so eine exzellente Küche findet, ist schon erstaunlich.

Als alle bestellt haben, stehe ich auf und räuspere mich. Sofort schauen mich alle erwartungsvoll an und stellen ihre Gespräche ein. Ich lächle und sage: „Also, ich will mich kurz fassen. Erstmal herzlich willkommen im schönen Graubünden. Obwohl einige sich große Mühe gegeben haben, sich zu verfahren, sind doch alle wohlbehalten hier angekommen. Ein Hoch auf die guten NAVIs. Also, morgen ist dann erstmal ein Tag zum Ausruhen und Umschauen. Wir werden mal Chur ergründen und eventuell ein wenig am Rhein entlang spazieren. Am Donnerstag möchte ich euch alle fordern. Wir werden von hier aus nach Felsberg laufen. Das sind etwa zwei Kilometer. Dann werden wir zur Älplihütte aufsteigen. Das sind so in etwa 13 Kilometer. Das hört sich ja eigentlich entspannt an. Felsberg ist allerdings 565 Meter hoch, die Älplihütte dagegen 2024 Meter. Das wird dann schon sportlich. Von der Älplihütte geht es dann quer zur Calandahütte. Die ist dann 2073 Meter hoch. Also laufen wir und überwinden eine Höhe von 2024 bis 2073 Meter. Hört sich leicht an. Denkt aber daran, dass die Wanderwege in den Bergen so ihre Überraschungen haben.

Auf der Calandahütte werden wir eine Pause machen, Brotzeit und so. Nach einer Stunde Ausruhen gehen wir dann zur Calandaspitze. Die ist 2805 Meter hoch. Das sind doch nur noch ein wenig mehr als 700 Höhenmeter. Dann haben wir die Haldensteiner Calanda erklommen. 2805 Meter bei einer Starthöhe von 565 Metern ist etwas, mit dem ihr ganz schön angeben könnt. Dann spazieren wir über Haldenstein zurück. Von Haldenstein aus können wir vielleicht auch Sammeltaxen nehmen. Mal sehen.“

Ich blicke in die Runde. Es ist viel Skepsis zu sehen. Vielleicht muss ich da noch Überzeugungsarbeit leisten. Ich hole tief Luft und rede weiter: „Am Freitag habe ich einen Bus gechartert. Mit dem werden wir über den Bernhardino-Pass bis zum Luganer See fahren. Dort können wir dann ‚Dolce Vita alla Italia‘ genießen. Italienische Lebensart mit Schweizer Sauberkeit, es ist einfach faszinierend. Am Samstag kann dann jeder machen, was er will. Wir treffen uns am Abend um 20:00 Uhr und fahren dann mit dem Bus nach Bad Ragaz. Dort gehen wir ins Spielkasino und werden ein bisschen zocken. Jeder bekommt einen Beutel mit Chips im Wert von vierzig Franken. Wenn die weg sind, könnt ihr eigenes Geld einsetzen, aber ich hoffe, keiner von euch ist spielsüchtig und verzockt sein Vermögen.“

Ich schaue in die Runde und grinse breit. „Spätestens um ein Uhr geht es zurück. Wir wollen ja am Sonntag heil nach Hause kommen. Ach ja, denkt bei der Fahrt zum Kasino an euren Ausweis, sonst kommt ihr da nicht rein. Sonntag könnt ihr dann nach Hause fahren, wann ihr wollt. Da brauchen wir nicht Kolonne fahren. Ihr wisst ja, wo ihr die Wohnmobile dann abstellen müsst. Und jetzt, ich sehe, ihr habt alle euer Essen bekommen, wünsche ich euch guten Appetit und viel Spaß bei unserem Schweiz-Aufenthalt.“ Ich setze mich, esse und wir erleben einen schönen Abend mit angeregten Gesprächen.

Der Mittwoch begann stressfrei und gemütlich. Um elf Uhr trafen wir uns, wie vereinbart, in Chur am Rathaus. Dort wartete bereits ein Einheimischer, den ich engagiert hatte, um uns Chur näher zu bringen. Bei einem gemütlichen Spaziergang durch die Stadt erfahren wir, wie wertvoll der Baumbestand an den Bergen rund um die Stadt ist, dass Chur mehr als zwanzig Brunnen besitzt, Trinkwasserbrunnen, die ehrenamtlich ständig kontrolliert werden. Witzig fand ich auch die Aussage: „Chur hat etwa 34.000 Einwohner. Das ist eine ideale Größe für eine Stadt. Klein genug, um die Freunde schnell zu erreichen. Groß genug, um denen aus dem Weg zu gehen, die man nicht mag.“ Das Rheintal ist ein faszinierender Mix aus gehobener Industrie und Tourismus. Im Sommer lockt es mit alpinen Touren und fantastischer Aussicht und im Winter mit Ski- und Snowboardfahren. Es ist einfach schön hier. Graubünden trat 1803 der Schweizerischen Eidgenossenschaft bei und Chur wurde Hauptstadt. 1803? Upps, da wird doch Napoleon seine Hände im Spiel gehabt haben? Nach eineinhalb Stunden war der Vortrag zu Ende und wir haben uns dann aufgeteilt. Mittagessen und shoppen war dann angesagt. Kein Problem, man kann ja mit EC-Karte und Kreditkarte bezahlen.

Dann kehrte ich zum Campingplatz zurück und legte mich auf mein Bett. Siesta, Mittagsschlaf, chillen eben. Um 19 Uhr treffen wir uns dann alle in der Gaststätte des Campingplatzes. Wir hatten vereinbart, dass wir während des Essens über den Aufstieg zur Calanda-Spitze am nächsten Tag reden wollten. Ich hatte da mal was vorbereitet, wurde aber überrascht.

Ich stand auf und wollte anfangen. Da standen auf einmal Friedrich, Georg und Herbert, meine drei Elektronik-Spezialisten auf: „Halt, halt. Hans, bevor Du anfängst, hör‘ uns erst mal an.“ Ich war irritiert: „Äh, was? Wie? Na, dann schießt mal los, was habt ihr denn vorzubringen?“ Friedrich lächelt: „Also, Hans, wir planen weder einen Aufstand noch eine Meuterei. Allerdings haben wir da mal einen Einwand, eine Frage. Hintergrund ist, dass wir heute Nachmittag in Chur in einem Sportgeschäft waren. Wir wollten uns mit Equipment ausstatten. Dabei haben wir dem Verkäufer von dem Vorhaben erzählt, die Calanda zu erklimmen. Morgens hoch und abends zurück. Der Verkäufer sagte, er sei ein erfahrener Bergführer. Er wunderte sich, dass wir das Ganze an einem Tag machen wollten. Er meinte, das sei nur etwas für äußerst fitte Profis, nichts aber für Freizeitsportler. Er meinte, es wäre sinnvoll, zur Calandahütte hochzugehen, dort zu übernachten und am nächsten Tag den Aufstieg zu wagen. Da wir aber am Freitag busfahren wollen, hat er vorgeschlagen, zum Montalin auf der anderen Seite hochzugehen. Das ist nicht ganz so heftig und fast genauso attraktiv. Wenn wir in Chur starten und zu dem Stadtteil mit dem lustigen Namen Lürlibad in Richtung Maladers starten, können wir bei Ochsenberg einen alpinen Wanderweg bis zum Montalin nehmen. Wir haben von dem Bergführer, also dem Verkäufer, eine Wanderkarte bekommen. Der hat uns auch gesagt, dass wir über Calfreisen dann leicht mit dem Bus nach Chur zurückkommen. Das Ganze ist reizvoll, aber nicht ganz so anstrengend. Außerdem, Hans, du magst die Montalin-Tour doch auch. Was meinst du dazu?“

Mein Gott, Friedrich ist wirklich ein perfekter Diplomat. Besser hätte ich das auch nicht sagen können. Er hat mich erschlagen! Er hat mir sämtlichen Wind aus den Segeln genommen. =Du magst die Montalin Tour doch auch=. Keine Chance, da nicht zuzustimmen. Dabei wollte ich die Bande doch mal an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen. Und jetzt das! Ja, ja, Friedrich hat ja recht. Die Calanda-Tour ist schon heftig, die Montalin Tour aber auch! Der Weg hat alpine Passagen. Das wird auch nicht einfach. Na ja, meinetwegen! Ich schaue ihn an und antworte ihm mit einem Anflug von Nachdenklich-Aussehen: „Ja, du hast ja recht. Ich wollte euch ja nur mal die erhabene Ansicht der Berge von der Bergspitze zeigen. Aber du hast recht, das ist besser, das in zwei Tagen zu machen. Das sollten wir fürs nächste Jahr ins Auge fassen. Aber nur, wenn Euch das hier gefällt und ihr nochmal hierher wollt. Allerdings habe ich mich jetzt natürlich nicht für den Montalin-Trip vorbereitet. Aber keine Angst, ich kenne die Strecke und außerdem sind die Wanderwege ausgezeichnet. Aber, das sage ich euch jetzt gleich. Das letzte Stück zum Montalin hoch ist schon sehr fordernd. Aber wir sind ja alle fit. Das wird schon. Jetzt esst mal schön euer Abendessen, damit ihr morgen gut gestärkt antretet. Wir starten übrigens sieben Uhr am Eingang des Campingplatzes. Also schönen Abend noch.“

Ein bisschen angesäuert war ich schon. Deshalb habe ich mir dann auch ein paar Biere gegönnt.

Na ja, jetzt ist es nicht angesagt, sauer zu sein. Es ist halb sieben, ich habe gerade ausgiebig gefrühstückt, packe mir Handtuch und Waschtasche und mache mich auf zur nahegelegenen Sanitäranlage. Notdurft, waschen und Zähne putzen, zurück zum Wohnwagen und anziehen, Rucksack packen und dann Richtung Eingang vom Campingplatz. Es ist drei Minuten vor sieben Uhr, alle sind schon da. Alle haben sportliche Kleidung an, manche sehen schon lustig aus. Aber alle sind gut vorbereitet. Friedrich hat seine Labrador-Hündin dabei. Ein schönes Tier. Ich frage ihn: „Hast du genug Wasser für den Hund dabei? Das wird wohl warm.“ Er lächelt: „Natürlich, ich habe einen Liter Leitungswasser für die Ronja dabei. Außerdem gibt es rund um Chur genügend viele Trinkwasserbrunnen.“

Ich hebe den rechten Arm und senke ihn in Richtung nach vorne „Energie“. Es geht los. Wir gehen aus dem Eingang, wenden uns nach links in Richtung Rhein, überqueren die Brücke über den kleinen Fluss oder auch großen Bach Plessur, der hier in den Rhein mündet. Dann gehen wir flussabwärts den Rhein entlang. Die beiden Mädels neben mir fragen: „Äh, der Montalin ist doch da rechts drüben. Warum gehen wir denn jetzt am Rhein entlang?“ Ich schaue sie an und lächle: „Wir gehen jetzt ein Stück Richtung Masans und dann quer rüber. Da sparen wir uns den Weg quer durch die Innenstadt.“ Was ich nicht sagte, war, dass ich mit dieser bunten Truppe nicht unbedingt unter dem Gelächter der Einheimischen im Entenmarsch durch das Zentrum von Chur laufen wollte. Als dann rechts die Häuser weniger werden, wende ich mich dann zur nächsten Straße, die dann Richtung Berg und Wald nach rechts führt. Nach einer gewissen Zeit passieren wir die Kliniken und erreichen endlich die Stelle, an der ein freundliches Schild den Weg nach Maladers und den Montalin anzeigt. Ich hebe den Arm und frage laut: „Alles gut?“ Zurück kommt aus vielen Kehlen: „Alles gut. Auf geht’s.“ Ich drehe mich um und beginne mit dem Aufstieg. Ab und zu schaue ich mich um. Am Anfang ist eine Menschenkette hinter mir, dann sortiert sich das Ganze grüppchenweise, aber alle folgen. Ich darf nicht zu schnell gehen, sonst machen die mir zu früh schlapp. Ist ja auch ein wenig fordernd, aber wir gewinnen schnell an Höhe.

Endlich haben wir ein wichtiges Etappenziel erreicht. Wir sind am Anfang der Maladerser Heuberge. Die sind auf der linken Seite, auf der rechten Seite ist der Ochsenberg mit einer Höhe von 1615 Metern. Wir haben also bereits etwa 1000 Meter an Höhe gewonnen. Der Rest ist dann wohl ein Klacks, denke ich. Da ist ein Wegweiser. Rechts geht es nach Maladers, links zum Montalin. Wir warten. Nach und nach kommen die einzelnen Grüppchen an. 19, 20, 21, 22, 23. Alle da Einige pumpen schon ganz schön, aber keiner sieht nach Aufgeben aus.

Nach einer angemessenen Pause und einigen Schlucken aus der Wasserflasche geht es weiter. Wir laufen auf einer Wiese und es geht in Laufrichtung ganz leicht bergauf. So weit so gut. Wenn die Wiese nur so wäre, wie man sich die normal vorstellt. Die Wiese ist aber steil, ganz schön steil. Aber nicht nach vorn, sondern links geht es stark bergan. Wie eine Wiese auf einem Hausdach und man läuft schräg dazu nach vorn parallel zur Längsseite. Nicht ganz einfach. Na ja, Gänsemarsch und vorwärts. Wenn man einen festen Tritt hat, ist das doch kein Problem. Außerdem laufen wir ja nicht oben an den Zinnen entlang, sondern ein ganzes Stück unterhalb. Kurz bevor es heftig wird, etwa bei Falgginis (das ist der Name auf der Karte) sehe ich 22 Leute, die zwei ausgestreckte Hände im rechten Winkel in meine Richtung halten. Georg, der neben mir steht, lacht und sagt: „Auszeit, wir brauchen eine Pause. Hier ist ein schöner Platz um ausgiebig zu rasten. Wir machen Brotzeit und sammeln unsere Kräfte. Dann sind es noch ungefähr 350 Höhenmeter. Wir haben es alle hierher geschafft. Dann schaffen wir den Rest nach einer Pause locker und flockig.“ Was soll ich machen, sieht wirklich gut aus, also bin ich einverstanden. Dann beschließen sie was, das mir gar nicht gefällt. Friedrich sagt laut: „Es ist jetzt kurz nach halb zwölf. Wir machen eine ausgiebige Pause und gehen dann etwa dreizehn Uhr weiter. Einverstanden?“ Euphorisches Klatschen, alle scheinen einverstanden. Was bitte kann ich da machen?

Na gut, da kann ich mal etwas machen, was ich immer schon wollte. Ich war jetzt schon so oft in Chur, aber ich habe noch nie Steinböcke, die Wappentiere der Region, in freier Wildbahn gesehen. Immer nur als kleine, schwarze Punkte hoch über mir. Aber man hatte mir gesagt, dass ich eventuell am Steilhang, der hinter den Zinnen ist, echte Steinböcke sehen könnte. Ich stelle also meinen Rucksack ab und sage: „Ruht euch nur aus. Keine Angst, ich geh‘ euch nicht verloren. Ich gehe jetzt da nach oben und mache ein paar Fotos. Aber nicht nur von euch. Ich sehe mal, ob ich ein paar schöne Fotos vom Rheintal machen kann. Lauft mir nicht weg, ich komme gleich wieder.“ Dann mache ich mich auf den Weg hoch zu der Klippe. Ganz schön steil, der Weg. Deshalb hat auch keiner Lust, mit mir mitzukommen. Nach einer Weile bin ich dann oben. Mann, ist das ein majestätischer Ausblick. Oh, ich bin nicht alleine. Da sind ja sechs Einheimische. Die haben leider aber kleine Geweihe. Das sind keine Steinböcke, das sind Gämsen. Vier ältere und zwei recht junge. Die zucken zwar kurz zusammen, mustern mich, aber flüchten nicht. Das liegt wohl auch daran, dass sie auf der steilen Seite des Berges wenig Fluchtmöglichkeiten haben. Aber irgendwie sieht es auch aus, als ob sie die Nähe von Menschen gewohnt sind. Eins der älteren Tiere mustert mich wachsam und feindselig, beruhigt sich aber, da ich keine Anstalten mache, mich den Jungtieren zu nähern. Ich fotografiere eifrig, die Tiere und auch das Rheintal.

Na ja, wenigsten habe ich ein paar schöne Motive. In dem Moment fällt mir etwas auf. Was ist denn dort hinten, dort unten am Rhein? Sieht komisch aus, wie ein Nebel. Weiß, naja, fast weiß, wie eine Wand, kommt da etwas entlang. Gebannt schaue ich in die Richtung. Die Wand kommt langsam näher. Ich stelle meine Kamera auf Super-Teleobjektiv und schaue hindurch. Nein, das ist kein Nebel. Das sind eine Art Fluggeräte. Ich glaube, das sind Quadrocopter, oder wie die Dinger heißen. Eine Menge Mini-Hubschrauber sind auch dabei. Aber, wie viele sind denn das? Das müssen ja Tausende sein. Mindestens! Und ein Ende der Menge ist auch nicht zu sehen. Die vorderen Maschinen gehen immer nach unten, deshalb ist die Gesamtgeschwindigkeit nach vorne geringer als die Geschwindigkeit der Maschinenwalze. Die nach unten abtauchenden Maschinen scheinen am Boden irgendetwas zu suchen. Sie fliegen hin und her, ab und zu sieht man mal einen Blitz und man hört ab und zu mal ein klacken, ein rattern. Ich bin zu hoch, um zu sehen, was da passiert. Was für ein Schauspiel! Das wird doch sicher die anderen Mitglieder meiner Truppe auch interessieren. Ich fasse in meine Tasche. Oh, wo ist denn mein Handy? Mist! Das habe ich doch tatsächlich in meinem Rucksack vergessen. Und rufen würde wohl keiner hören. Was machen? Zurücklaufen und die anderen informieren? Nö, dann würde ich das hier doch verpassen. Die sind doch selber schuld, wenn sie das nicht sehen. Die waren doch zu bequem, mit hier hoch zu kommen. Irgendwie werden die Gämsen ein wenig unruhig und ducken sich. Das ist schon komisch, das sind doch eigentlich Fluchttiere. Vorsichtigerweise suche ich auch eine Mulde mit einem Strauch an der einen Seite. Sicher ist sicher und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Langsam erreicht die seltsame Fahrzeugwolke die Grenze von Chur. Jetzt meine ich auch zu sehen, was da vor sich geht. Da wird Jagd gemacht, das Rattern und Klacken hört sich an wie Schüsse. Was bitte ist denn da los? Wenn es nicht allzu lächerlich wäre, würde ich jetzt an den Angriff von Aliens glauben. Aber könnte das denn sein? Ich weiß, dass Menschen Dinge, die sie für unwahrscheinlich Halten, einfach ignorieren. Aber kann das der Angriff einer feindlichen Macht sein, ein terroristischer Angriff? Ein Angriff dieser Größenordnung? Wird die Schweiz angegriffen? Oder ist das alles nur ein großer Scherz? Leide ich unter Wahnvorstellungen. Ich mache mich klein und verstecke mich in dem Strauch.

In diesem Moment kommen etwa zwanzig dieser Quadrocopter direkt auf mich zu. Genau auf die Stelle, an der ich hier hocke. Ich mache mich noch kleiner, zwei von den Gämsen schrecken hoch. Aus meinem Versteck sehe ich, dass die vorderen Flugmaschinen verschiedene optische Systeme haben. Da sind welche mit Optiken, mit Objektiven. Andere haben Sensoren, die ich von der Arbeit her kenne. Das sind Infrarotsensoren. Mit denen man Wärmequellen erkennt. Das sind zum Beispiel die Gämsen, die genau gescannt werden. Dann sind da noch welche, die elektro-magnetische Quellen orten. Flieger mit Antennen, die wohl Handys orten können. Ich habe mein Handy vergessen, was ein Glück! Upps, ich mache lieber meine Kamera aus, auch wenn deren Strahlung wohl zu gering sein dürfte. Vorsichtig, da sind doch sicher auch akustische Scanner, die Geräusche auswerten können. Nach wenigen Augenblicken fliegen die seltsamen Monster weiter. Die Gämsen gehören offensichtlich nicht zu den Zielen der fliegenden Kisten. Im Gegenteil, ihr Hiersein hat mich gerettet. Weil ihre Signale meine Signale, mein Atmen und alles andere, wohl überlagert haben.

Jetzt hatte ich schon an Entwarnung geglaubt und war versucht, aufzustehen. Irgendeine Alarmglocke in mir schrillt und sagt: Sitzenbleiben! Jetzt haben die Fluggeräte meine Gruppe entdeckt. Sie fliegen direkt auf sie zu. Gleichzeitig kommt eine zweite Gruppe von Fluggeräten etwa dreihundert Meter von meiner Stelle entfernt über den Steilhang und hält ebenfalls auf meiner Bergsteigerlein zu. Acht von ihnen stehen auf, alle schauen irritiert und neugierig auf die Flieger, die sich über der Gruppe sammeln. Ronja bellt. Sie scheint ebenfalls irritiert zu sein. Eigentlich ist sie gut erzogen und top trainiert. Ich habe sie bisher eigentlich noch nie bellen gehört.

Die Quadrocopter fliegen etwa in einer Höhe von zwanzig Metern über der Wandergruppe. Ab und zu fliegt einer nach unten, in eine Höhe, die ich auf drei Meter schätze, und scheint die Leute zu beobachten. Das werden Scanner sein, die die Leute genau mustern. Dann passiert es. Die Quadrocopter formieren sich zu kleine Gruppen, verlieren die Geschwindigkeit blitzschnell und fangen an zu schießen. Einige haben Pfeile, andere Pistolen oder Sprengkapseln. Eine der Sprengkapseln trifft Friedrich. Die explodiert und Friedrich hat nur noch einen halben Kopf. Er klappt zusammen und seine Ronja stellt sich schützend über ihn und schnappt nach dem nächsten umherfliegenden Fluggerät. Das dreht sich blitzschnell um und schießt auf die Hündin. Die klappt tödlich getroffen zusammen und legt sich auf ihr totes Herrchen. Drei Männer und eine Frau meiner Gruppe haben die Flucht ergriffen, werden aber eingeholt und gezielt erschossen. Alle anderen sind schon tot.

Ich bin im falschen Film! Was bitte ist das, was ich da gerade sehe. Da sind irre Fluggeräte, die einfach mal so 22 (zweiundzwanzig!!) Menschen ermordet haben. Ohne Sinn und ohne ersichtlichen Grund. Wenn ich da jetzt unten bei den anderen geblieben wäre, wäre ich wohl auch schon tot. Aber ich lebe noch. Wie lange denn noch? Wann finden die mich? Warum haben die mich noch nicht entdeckt? Soll ich mich zu erkennen geben und erschießen lassen? Dann habe ich es hinter mir! Was soll ich denn noch ohne die anderen? Da kommt einer der Flieger und fliegt in einer Höhe von weniger als einem Meter über meinem Rucksack. Dann gibt es ein ‚Klack‘, dann ein ‚Wumm‘ und mein Rucksack ist zerfetzt. Die haben mein Handy geortet und gesprengt. Sauber! Das auch noch! Jetzt verstehe ich gar nichts mehr!

Die etwa vierzig Fluggeräte sammeln sich in einer Höhe von ungefähr zwanzig Metern und kreisen über der Stelle, an der sie das Massaker angerichtet haben. Plötzlich, erst einer, dann mehrere der Quadrocopter mit Optiken oder Sensoren richten sich talwärts aus. Ich schaue in Richtung der Optiken und sehe eine Gruppe mit fünf Personen. Das ist das, was die Killer gesehen haben. Unverzüglich fliegen die Killer los, vorn die mit den Optiken und Sensoren, dahinter die schießwütigen Mord­maschinen. Was ich da sehe, verwundert mich jetzt nicht mehr. Die Systeme sammeln sich über der Menschengruppe. Dann sind Schüsse zu hören. Man sieht wie die Gruppe fliehen will und wie sie dahingemetzelt wird. Was in aller Welt passiert hier eigentlich?

Anscheinend gibt es da noch andere Menschen­gruppen. Nach getaner Arbeit bewegt sich die fliegende Killermeute noch weiter talwärts, bald sind sie nicht mehr zu sehen. Ich schaue hinter mich. Da tobt ein epischer Kampf unten im Rheintal. Genau kann ich das auf Grund der Höhe zwar nicht sehen, kann mir aber vorstellen, was da gerade passiert. Irgendwie wird da Jagd auf die Menschen gemacht. Da versucht irgendwas, die Menschheit auszulöschen. Aber nur die Menschen.

Die Gämsen sind ungeschoren davongekommen. Auch die punktweise im Gelände sichtbaren Bergkühe haben die Aufmerksamkeit der fliegenden Monster nicht erregt. Da wurde im Bruchteil einer Sekunde zwar eine Bewegung registriert, dann war das Interesse aber erloschen. Genauso ist es mit den Vögeln, die sich da am Himmel befinden. Nur die arme Hündin Ronja, die sich auf die Seite der Menschen gestellt hatte, wurde getötet. Keines der fliegenden Systeme kommt den Berg hoch, auf der Ebene ist auch nichts mehr zu sehen. Da verlasse ich meine Deckung und schlage mich geduckt und vorsichtig den Berg hinab. Endlich erreiche ich den Ort des Massakers und erschauere. Eigentlich bin ich ja kein emotionaler Mensch. Lachtiraden oder Heulorgien sind mir fremd. Aber jetzt bricht es aus mir heraus. Tränen laufen mir durch das Gesicht und ich schluchze laut. Meine Leute, meine Freunde, grässlich entstellt und alle tot. Mausetot! Ich nehme einige in den Arm. Ihr Blut läuft auf meine Jacke, Hemd und Hose. Das macht mir aber gar nichts aus. Ich verharre einige Minuten in Trauer und Agonie. Dann kommt sie wieder. Die Furcht und Wut. Was soll ich nur machen? Die werden mich auch finden und dann sehe ich genauso aus wie die Zweiundzwanzig. Da ist mein Rucksack, die Fetzen von meinem Rucksack. In einer noch halbwegs heilen Tasche finde ich mein Schweizer Messer, eine Mini-Kombizange und einen Seitenschneider. Die stecke ich jetzt in meine Hosentasche. Dann überlege ich, wohin ich gehen soll. Soll ich zurück zum Campingplatz? Dann müsste ich quer durch die Stadt Chur. Da unten tobt aber der Todeskampf der Menschen. Das würde ich nicht überleben. Also was tun?

Da fällt mir was ein. Wenn ich jetzt den Weg, den wir gekommen sind, zurückgehe, Richtung Ochsenberg. Dann aber nicht rechts entlang, sondern geradeaus. Das ist zwar steil, aber voller Bäume, Sträucher und Büsche. Dann kann ich da hinunter und komme ungefähr bei der Gemeinde an, die Sand heißt. Dort fließt die Plessur lang. Wenn ich es schaffe, an der Plessur bis zum Rhein zu gelangen, hätte ich eine Chance. Nicht drüber nachdenken, sonst kommt Panik auf! Ich mache mich sofort auf den Weg. Vorsichtig, aber zügig laufe ich nach unten und komme gut voran. Dann erreiche ich die Stelle, an der die Wiesenfläche zu Ende ist und der Abstieg beginnt. Ich bin hinter einer Gruppe von Sträuchern, als ich sie sehe. Es sind Hunderte von Quadrocoptern, die etwa an der Stelle über dem Berg auftauchen, an dem ich mich versteckt hatte und wo meine toten Freunde liegen. Oh Mann, habe ich Glück gehabt. Jetzt würde ich da nicht mehr ungeschoren davonkommen

Schleunigst mache ich mich auf den Weg nach unten. Ich muss weg hier. Die scheinen das ganze Gebiet systematisch zu scannen. Vielleicht kommen die erst jetzt, weil die ja wohl irgendwann auch mal ihre Batterien laden müssen. Ich beeile mich aber mit meinem Abstieg. Da sehe ich auch schon die ersten Leichen. Je tiefer ich komme, desto mehr Tote sind zu sehen. Sie liegen dort einfach herum, teilweise seltsam verdreht und mit Entsetzen im Gesicht. Wenn sie ein intaktes Gesicht haben, was nicht immer der Fall ist.

Endlich bin ich unten. Jetzt sind aber auch öfter einmal einzelne Quadrocopter zu sehen. Die meisten dieser Teufel haben ein optisches System Sie sollen wohl Überlebende feststellen und dann die anderen herbeirufen. Eines der Systeme fliegt jetzt suchend in meine Richtung. Was tun? Ich lege mich flach hin, nehme in beide Hände einen Stock und greife fest zu. Nur nicht mit den Fingern wackeln. Ich dürfte ja schlimm aussehen, da ich über und über mit dem Blut meiner Freunde bedeckt bin. Der Flieger fliegt über mich weg, bleibt aber nicht über mir, sondern fliegt weiter. Irgendwie hat er wohl etwas entdeckt und er fliegt weiter. Andere Flugdrohnen kommen von den Seiten und fliegen hinter ihm her. Das ist meine Chance. Ich kann die Straße überqueren. Das mache ich dann auch blitzschnell. Jetzt bin ich an der Plessur. Ich rolle mich in das Wasser. Gerade habe ich Glück gehabt, dass mich nur ein optisches System gescannt hat. Wäre da noch ein Infrarot-System dabei gewesen, wäre ich wohl jetzt tot. Jetzt bewege ich mich zum Teil im Wasser. Durch die nasse Kleidung bin ich auch für Infrarotsysteme schlecht zu erkennen.

Es sind jetzt noch maximal vier Kilometer bis zum Rhein und das werden die schlimmsten vier Kilometer, die man sich vorstellen kann. Achtmal werde ich intensiv gescannt und obwohl ich mich gut totstelle, werde ich einige Male wohl nur dadurch gerettet, weil jedesmal der Scanner nach einer Weile zielgerichtet woanders hinfliegt. Ich habe überlebt, ein anderer wohl nicht. Vor der letzten Plessurbrücke, über die wir heute früh frohgemut spaziert sind, überquere ich schnell die Straße und drücke mich an den Zaun vom Campingplatz. Dann robbe ich förmlich bis zu der Stelle, an der auf der anderen Seite mein Wohnmobil steht. Ich hole meinen Seitenschneider aus der Tasche und schneide ein Loch in den Zaun, krieche durch und vorsichtig, ganz vorsichtig schleiche ich zur Eingangstür meines Wohnmobils, schließe langsam und leise auf, schaue nochmal, ob ein Flieger in der Nähe ist und gehe dann blitzschnell hinein. Ich stehe im Eingang, atme tief durch und schaue mich um. Alles OK. Die lichtdichten Rollos sind alle zu. Das habe ich heute Morgen gemacht, damit die Sonne den Innenraum nicht so aufwärmen kann. Dann ziehe ich mich aus. Weg mit den nassen, blutigen und dreckigen Klamotten. Schuhe aus, habe ja überall Teppichboden.

Nochmal tief durchatmen, Hände vors Gesicht und nachdenken. Nachdenken geht irgendwie nicht, aber ich zwinge mich dazu. Ich bin ja jetzt 45 Jahre, habe bisher nie eine Leiche gesehen. Da habe ich mich auch bei toten Verwandten bisher immer gedrückt. Nicht einmal bei meinem Großvater war ich da. Da war ich dann nur zur Beerdigung. Und dann jetzt das. Da habe ich auf dem Weg hierher nicht nur Tote gesehen, ich habe auch gesehen, wie sie starben. Da waren nicht nur Alte, sondern teilweise sogar Kinder. Mist, Mist, Mist!

Was kann ich jetzt machen? Die haben optische Scanner für Sicht und Bewegung. Die können Geräusche orten, Wärme feststellen und Sender/ Empfänger erkennen. Also kann ich jetzt nicht alle Lichter anschalten, laute Musik hören und, und, und.

Aber so super scheinen ihre Scanner auch nicht zu sein. Meinen Kühlschrank werde ich wohl aufmachen können und mir meine Cola herausnehmen. Ich habe ja nur einen kleinen Fernseher. Den schalte ich an und stecke meinen Kopfhörer ein. Das dürfte auch nicht von den Scannern erfasst werden. Da habe ich das erste Programm. Elektrizität und Satelliten funktionieren also noch.

Im ersten Programm herrscht Aufruhr. Die Moderatorin spricht hektisch. Sie erzählt, dass überall aus Deutschland Horrormeldungen eintreffen. Überall scheinen Menschen angegriffen zu werden. Viele Tote allüberall. Eine Schaltung in das Parlament ist geplant, es wird auch in das Foyer umgeschaltet. Dort sieht man den Innenminister, dem sich etwa ein Dutzend Mikrofone entgegen recken. Er will gerade etwas sagen, da kommt von rechts eine Drohne, wie man sie von den Amerikanern kennt, seltsam langsam angeflogen. Es gibt einen Knall und das Bild ist weg. Die Moderatorin erscheint und ist verwirrt. Sie sagt: „Meine Damen und Herren, leider haben wir im Moment eine Störung. Wir werden später noch einmal versuchen, nach Berlin zu schalten.“ Ich denke mir nur: ‚Mädel, das wird nix. Hau ab, sonst hast du keine Chance‘. Da passiert es schon. Es gibt einen Knall, die Moderatorin hat nur noch einen halben Kopf, schaut etwa eine Sekunde sprachlos in die Kamera und knickt dann zusammen. Das Bild wird schwarz. Das war‘s wohl mit dem Ersten.

Ich schalte auf das Zweite. Dort werden gerade Hochhäuser gezeigt. Zwischen denen fliegen einige Hubschrauber, die permanent aus Maschinen­gewehren auf die unten fahrenden Autos und die Menschen schießen. Eine Stimme sagt: „Ähnliche Bilder empfangen wir von überall. Aus Peking, Moskau, Brasilia, London, Dubai und Teheran.“ Dann wird auf das Gelände des Frankfurter Flughafens geschaltet. Auf den Landebahnen brennen alle Flugzeuge lichterloh. Menschen, die aus den Maschinen entkommen konnten, werden von Quadrocoptern, den gleichen, die wir hier hatten, gejagt und abgeschossen. Da werde ich wohl mein Wohnmobil nicht mehr in Frankfurt abzugeben brauchen, denke ich. Und gleichzeitig kommt mir der Gedanke: Dein Zynismus ist Mist, wie immer. Dann ist auch das Zweite dunkel. Ich zappe weiter. CNN sendet noch. Anscheinend aus einem Büro in Asien. Es werden Bilder aus Indien gezeigt. Mumbai, glaube ich. An den Straßenseiten türmen sich die Toten. Ein Bild von einem Hochhaus zeigt das Gleiche, das ich heute Morgen auch gesehen habe. Eine Nebelwolke aus Tötungsmaschinen. Dann ist das Bild weg. Zappen hilft jetzt auch nicht mehr, alle Sender sind tot. Das war‘s wohl mit der Menschheit, denke ich. Raus kann ich vorläufig nicht. Das wird mich nur mein Leben kosten. Und anders als bei meinen Ego-Shootern, habe ich hier nur eins.

Ich habe mir gestern zwei Weißbrote gekauft. Warum auch immer. Und eine Menge Bündnerfleisch und Schweizer Käse. Außerdem eine Kiste Mineralwasser und eine Kiste Almdudler. Das ist zwar eher ein Getränk aus Österreich, ist aber lecker. Toilette habe ich ja auch. Wenn ich keinen Dünnpfiff kriege, halte ich das ein paar Tage hier aus. Vielleicht ist dann der Spuk vorbei. Vielleicht sind dann ihre Batterien leer! Ich kann’s eben nicht sein lassen, das mit dem Zynismus.

Langsam wird es dunkel. Ich traue mich aber nicht, einzuschlafen. Wenn man mein Geschnarche hört oder ich mich unruhig hin und her bewege, finden sie mich vielleicht doch. Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen.














Eine Woche neue schöne Welt

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