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Kapitel 1

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Rom, Petersplatz

Angst hatte sich in seinem Körper breitgemacht. Sie schien seinen Schlund von innen zu erfassen und ihm die Luft von innen her abzupressen. Die Zunge klebte an seinem Gaumen und er hatte das Bedürfnis auszuspucken. Doch der wenige Schleim, der sich in seinem Mund gesammelt hatte, haftete am Inneren seiner Lippen. Er wagte nicht sich umzudrehen, einen Blick nach hinten zu werfen. Er fürchtete, dass sie ihn verfolgten, ihm seine Zukunft zu stehlen imstande waren.

Doch was für ihn schlimmer zählte, er selbst hatte vergangene Nacht sein Geheimnis preisgegeben. In einer Sekunde des durch Alkohol entmachteten Körpers hatte er seine Zunge nicht im Zaum halten können. Es war die Freude über seinen Schatz gewesen, die ihn die Gefahr vergessen ließ, in die er sich begab. Er hätte sich ohrfeigen können, als die Worte seinen Mund verlassen hatten.

Nun war es zu spät. Dass er noch lebte, glaubte er dem Umstand zu verdanken, dass er den Aufbewahrungsort seines Schatzes nicht offenbarte, nicht offenbaren konnte. Sein Gegenüber hatte nur gelächelt, als er auf seine Frage keine Antwort erhielt. Es war ein eiskaltes Lächeln, doch er hielt es für das Lächeln eines ihm wohlgesonnenen Freundes.

Luigi Zanolla hastete durch die Via del Conciliazione auf die Piazza San Pietro zu, den vom Schweiß verschleierten Blick auf den Petersplatz vor sich gerichtet.

Er rannte nun schon über einen halben Kilometer. Gleich würde er sein Ziel erreicht haben. Mit seinem Wissen, das sein Leben verändern würde. Das Wissen um eine Tatsache, die ein Kapitel der kirchlichen Geschichte in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen würde.

Zanolla spuckte auf das Pflaster der Piazza Pio XII, doch es verließ nur weißer flockiger Schaum seine Lippen, der sich zum größten Teil am Revers seines Sakkos verteilte. Mit einer hastigen Bewegung seiner flachen Hand wischte er ihn weg und hastete von der rechten Seite des Platzes über den Fußgängerüberweg auf der Via della Conciliazione. Er überquerte jenen über dem Largo degli Allcorni, ohne auf die Fahrzeuge zu achten, deren Fahrer ihm angesichts seiner leichtfertigen Verhaltensweise ein Hupkonzert widmeten.

Dann war er am Beginn des Ovals der Piazza San Pietro angelangt. Er hielt in seinem Lauf inne. Seine Lunge brannte und sein Atem verließ unter Schmerzen seine Brust. Er sah sich um, suchte nach einer Sitzgelegenheit.

Langsam ging er weiter und als er schließlich an dem linken Halb-Oval der St. Peters Collonnade angelangt war, ließ er sich auf dem Sockel einer der 284 dorischen Säulen, den Colonnaden Gian Lorenzo Bernini nieder, gerade neben einem turtelnden Liebespärchen, das sich angesichts seiner aufgewühlten Erscheinung erhob und ihn von der Seite her argwöhnisch betrachtend Arm in Arm davoneilte.

Warum laufe ich eigentlich? fragte er sich, während sein Atem ruhiger wurde und er sich mit den flachen Händen gegen den ausgeprägten Bauchansatz drückte. Das, was ich zu sagen habe, wird die Welt verändern. Aber ob das zehn Minuten früher oder später sein wird …

Zanolla lehnte sich mit dem Rücken gegen die steinerne Säule und spürte, wie die harten Strukturen gegen sein Gesäß und seine Rippen drücken. Er tat ihm gut, dieser leichte Druckschmerz, den der warme Stein erzeugte. Er war eine Wohltat zu dem, was er eben an sportlicher Aktivität hinter sich gebracht hatte. Seine Kondition war nicht die beste, sie war es noch nie. Sport ist Mord! Diesen Wahlspruch hatte er mit Winston Churchill gemeinsam.

Er lächelte, als ihm dieser Vergleich kam. Sein Beruf verschaffte ihm ausreichend Bewegung, daran glaubte er. In sengender Sonnenglut Ausgrabungen in der gebirgigen Wüste Ägyptens vorzunehmen … wenn das für ihn als Mittfünfziger keine körperliche Herausforderung war …?

Zanolla erhob sich langsam aus seiner hockenden Position und strich sich das graue Sakko über seinem leichten Bauchansatz glatt. Er sah auf das Revers. Die Spucke hatte keine Flecken hinterlassen.

Sein Atem hatte sich beruhigt. Er fuhr sich über das spärliche hellbraune Haar über dem verschwitzten runden Schädel und richtete seinen Blick über den Petersplatz hinweg auf die Gebäude des Vatikans, dessen Mächtigkeit ihn schier zu erschlagen schienen.

Obwohl er seine Wohnung in Rom hatte er lebte das Leben eines Singles und das schon seit Jahren war es das erste Mal, dass er im Begriff war, den Petersplatz zu betreten. Zu oft war er unterwegs gewesen, in fremden Ländern, im Auftrag der Regierung oder aus reiner Abenteuerfreude. Ausgrabungen an den verschiedensten Orten der Erde waren für ihn zur Faszination geworden und er würde wahrscheinlich dieser Beschäftigung auch in den nächsten Jahren nachgehen, hätte sich ihm nicht diese Gelegenheit geboten, die alle seine Pläne über Bord warf.

Er sah vorbei an dem riesigen Obelisken in der Mitte des Platzes, streifte mit den Augen den nördlichen Brunnen von Carlo Maderno, dann hinüber dem zweiten, dem Werk von Carlo Fontana. Seine Blicke wanderten über die 140 Statuen der Heiligen auf die Kuppel des Petersdoms, um schließlich am Ende der trapezförmigen Piazza Retta innezuhalten.

Zanolla kniff seine Augen zusammen und richtete seinen Blick auf die linke Seite des Platzes, an dessen Ende er zwei Wachhäuschen ausmachte, vor denen jeweils ein Gardist der Schweizer Garde patrouillierte. Plötzlich wurde ihm klar, dass man ihm dort nicht ohne Weiteres Einlass gewähren würde. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft.

Man wird mich anhören müssen, sagte er sich und fragte sich geleichzeitig, wie er es anstellen musste. Nun, da er hier auf dem Petersplatz stand, begann er sich darüber Gedanken zu machen. Er war ohne Plan einfach drauflosgelaufen, euphorisch in der Ansicht, nun stehen ihm alle Türen offen. Doch plötzlich sah er das ganz anders. Wer wird mir Gehör schenken? fragte er sich im gleichen Atemzug. Wer wird mir glauben? Der Papst? Ja, der Heilige Vater wäre für ihn der richtige Ansprechpartner. Doch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Nein, daraus würde nichts würde nichts werden. Er musste sich der Schweizer Garde anvertrauen … oder nein, es wäre fatal, wenn sie sein Geheimnis nicht für sich behielten und vielleicht sogar selbst Kapital daraus schlügen.

Er musste zur Obrigkeit vordringen, zu einem Monsignore, zu einem Bischof, zu einem Kardinal. Immer wieder beschlichen ihn Zweifel. Sie werden mir nicht glauben. Sie werden Beweise wollen, dachte Zanolla und seine rechte Hand tastete seine Jackentasche ab. Ja, Beweise hatte er. Doch wie musste er es anstellen, damit sie ihm seine Nachricht bezahlten? Diese wertvolle Nachricht! Sie würde sein Leben verändern. Sie würde es ihm ermöglichen, bis ans Lebensende sorgenfrei zu leben. So wie er es sich schon immer ersehnte: Auf einer Insel auf den Malediven … oder den Seychellen … oder gar auf Bali? Er würde es sich aussuchen können. Aber dem Lohn stand noch eine Menge Arbeit gegenüber. Arbeit in Form von Überzeugungskraft, die er leisten musste.

Also auf! spornte er sich selbst an, erhob sich aus seiner kauernden Haltung und schritt über den Petersplatz, vorbei an den Touristen und Gläubigen, von denen es immer einige Hundert hier gab, auf das Tor zu, vor dem die beiden Gardisten Wache schoben. Beide hatten ihre Wachhäuschen verlassen, standen in der Mitte des mächtigen schmiedeeisernen Tores und unterhielten sich angeregt, die passierenden Menschen beobachtend.

Zanollas Blick blieb auf dem Älteren der beiden Hellebardiere haften und glitt über deren orangeblau vertikal gestreifte Kleidung. Die Ärmel der Blousons waren bis zum Ellenbogen und die Beinkleider ebenso nach der mittelalterlichen spanischen Mode gepufft, letzte unterhalb des Knies zusammengebunden.

Diese Renaissanceuniformen wurden von Michelangelo entworfen, kam es ihm in den Sinn. Irgendwo hatte er es einmal gelesen, in einer Zeitschrift bei seinem Friseur oder in der Bordlektüre eines Fliegers. Er wusste es nicht mehr. Es war ihm egal. Was scherte ihn die Kleidung der Garde? Es gab Wichtigeres für ihn.

Zanolla sah, dass sich die beiden Gardisten trennten und jeder zu seinem Wachhäuschen marschierte. Er entschloss sich, einen Versuch zu wagen und steuerte zielstrebig auf den Wachmann an der linken Seite des Portals zu. Angesichts der vermeintlichen Bedrohlichkeit, die sein Gegenüber auf ihn ausstrahlte, straffte sich der Körper des Gardisten und seine Augen verengten sich, bereit, jederzeit auf einen Angriff reagieren zu können. Auch der Wachmann an der anderen Seite des Tores sah zu ihnen herüber, bereit, im Falle einer Notwendigkeit einzuschreiten.

„Ich habe eine Meldung zu machen“, begann Luigi Zanolla mit zittriger Stimme, als er die Wache erreicht hatte und innerlich bebend vor dem Gardisten stehenblieb. Schweiß hatte sich auf seiner Oberlippe gebildet und er leckte ihn mit einer schnellen Zungenbewegung weg.

Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, hätte er sich auch sogleich ohrfeigen können. Was rede ich da? Geht man so mit einer weltbewegenden Meldung um? Ich bin es doch, der die Forderungen stellt.

Er sah in das Gesicht seines Gegenübers, der mit zusammengekniffenen Augen voller Erwartung vor ihm stand. Dann atmete er tief durch und wagte einen neuen Versuch.

„Ich muss mit jemandem sprechen!“, begann er und überlegte fieberhabt, wie er einen glaubwürdigen Satz zustandebringen konnte.

„Was heißt: Sie wollen mit jemandem sprechen? Haben Sie was getrunken?“ Der Hellebardiere baute sich in bedrohlicher Haltung vor Zanolla auf.

„Nein, ich habe nichts getrunken“, stotterte Luigi. „Aber ich muss mit jemandem reden. Mit jemandem, der befugt ist, Erkenntnisse entgegenzunehmen, die fundamental für die katholische Kirche sein werden. Bitte, bringen Sie mich mit Ihrem Vorgesetzten oder einem Monsignore zusammen. Es ist äußerst wichtig!“

Zanolla versuchte, seine Stimme forsch klingen zu lassen, doch ihm selbst kam sie vor wie das Krächzen eines ungeölten Türscharniers.

„Einer wie Sie wird das Fundament der Kirche nicht zum Schwanken bringen. Gehen Sie weiter!“ Die Anordnung des Gardisten war kurz und knapp. Er sah Zanolla auffordernd und drohend zugleich an. Trotz aller Ernsthaftigkeit in der Miene des Gardisten konnte Zanolla darin den Hauch eines mitleidigen Lächelns erkennen.

„Hören Sie!“, begann Zanolla erneut und versuchte seiner Stimme einen eindringlichen Klang zu geben. Sein Herz schlug ihm fast zum Hals heraus. „Sie werden Ihre Konsequenzen ziehen müssen, wenn sie verhindern, dass meine Nachricht den Vatikan erreicht. Ich würde es mir an Ihrer Stelle gut überlegen.“

Zanolla hatte eine Idee, die ihm Oberwasser geben würde. „Wenn Sie mich nicht augenblicklich zu jemand Kompetentem geleiten, werde ich mich von hier aus zur Presse begeben. ‚La Stampa“ oder ‚La Republica‘ oder auch ‚Libero‘ werden mir aufmerksam zuhören, darauf können Sie sich verlassen.“

Zanollas Stimme klang nun fest und fordernd, so dass er über sich selbst erstaunt war. Er stellte mit Genugtuung fest, dass der Gardist zusammenzuckte und hörte seine knappe Frage.

„Und um was genau geht es?“

Ich habe gewonnen, dachte Zanolla hocherfreut. Er wird mich vorlassen. Siegessicher sah er den Gardisten an. „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Aber ich verspreche Ihnen: Man wird es Ihnen danken, wenn Sie mich melden.“

„Warten Sie hier!“ Kopfschüttelnd drehte sich der Gardist ab und winkte seinen Kollegen achselzuckend zu sich. Sie wechselten einige Worte, worauf der andere den Platz des ersten einnahm und Zanolla weiterhin den Weg in das Innere des Gebäudes versperrte.

Der von Zanolla angesprochene Wachmann drehte sich um und begab sich hinter dem wuchtigen schmiedeeisernen Tor in das Innere des Gebäudes, dessen Tür er hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Es wird klappen! Es muss einfach klappen! Luigi Zanolla umfasste seine kleine hochauflösende Digitalkamera in seiner Hosentasche. Wenn sie Beweise wollen, dann bekommen sie Beweise, frohlockte er. Alles ist festgehalten. Klar und deutlich. Makro-Aufnahmen. Man kann alles genau erkennen.

Natürlich befanden sich nicht alle Aufnahmen auf dem Chip der Kamera. Oh nein! dachte Zanolla. Die eigentlichen Trümpfe habe ich versteckt. Dort bleiben sie bis zu dem Moment, an dem man mich entlohnt hat. Nur ich weiß von dem Versteck. Und Merlot, mein Freund. Falls mir etwas zustoßen sollte.

Zanolla hatte sich alles genau überlegt. Jean-Pierre Merlot, einen Franzosen mit Wohnsitz in Paris, hatte er im Suff eingeweiht. Er war der einzige, dem er sich anvertrauen konnte, der so war wie er selbst. Einer, der das Leben nicht allzu ernst nahm und stets auf seine Chance lauerte. Das glaubte Zanolla ernsthaft.

Dass er selbst im Moment dabei war, seinem Forscherteam in den Rücken zu fallen, es zu verraten und die gesamte Arbeit der vergangenen Monate in Frage zu stellen, kam ihm nicht in den Sinn. Zanolla sah nur seinen Profit. Geld, das er durch den Verrat für sich herausschlagen würde. Viel Geld. Man würde eine große Summe zahlen für sein Wissen, dessen war er sich sicher.

Der erste Schritt war getan. Obwohl Zanolla innerlich bebte, war er dennoch zufrieden. Es lief alles nach seinem Plan. Er drehte sich langsam um und betrachtet das rege Treiben auf dem Petersplatz. Menschen, die teils eilig umher eilen, andere, die über den riesigen Platz flanieren und sich an den Schönheiten dieser Stelle Roms ergötzen.

Und Tauben. Graue Tauben, keine weißen, dachte Zanolla. Und das hier auf dem Petersplatz. Eigentlich müsste es hier doch von weißen Tauben wimmeln. Wenn nicht hier, wo denn dann?

Zanolla schaute langsam wie aus der Sicht eines Weitwinkelobjektivs von links nach rechts über den Platz und nahm plötzlich einen kleinen weißen Blitz wahr, der auf dem Dach des ersten Hauses an der linken Seite der Piazza Pio XII für den Bruchteil einer Sekunde aufflammte.

Als er den Schmerz mitten in seiner Brust verspürte, war das kleine Licht schon erloschen und mit ihm das seines Lebens, das so viele Hoffnungen in sich trug.

Er spürte nicht einmal mehr den Aufprall auf dem Pflaster vor der Wache der Schweizer Garde, spürte nicht, wie sich sein Blut den Weg durch die brutal geschaffene Öffnung seines Körpers suchte, um die Pflastersteine des Petersplatzes um seinen Körper herum mit einem tiefen Rot zu färben.

Showdown Jerusalem

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