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Das Geheimnis des Zauberers

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In der kleinen Stadt Filigrania wohnen die Freunde Miriam, Luna und Max. Alle gehen in die selbe Schule und sitzen in der selben Klasse. Und nach der Schule spielen die drei fast jeden Tag miteinander. An einem schönen Sommertag, nur wenige Tage vor den großen Ferien, spazieren Miriam, Luna und Max durch die Straßen ihres Städtchens .

“Schau mal Luna, hier ist eine kleine Gasse. Die habe ich noch nie gesehen. Ob die neu ist?”

“Hm, ja - weißt du, das kann ich dir auch nicht sagen. Die Häuser sehen gar nicht neu aus, eher sehr alt. Was sagst du Max?”

Max besah sich die kleine Gasse, die zwischen den großen Häusern verschwand und irgendwo hinter den Mauern endete.

“Die ist bestimmt nicht neu. Wir haben Zuhause die gleichen Steine im Hof, und die sind sehr alt. Und schaut euch die Häuser an. Die sind ja alle schief und verfallen. Ich glaube, wir sollten nicht in die Gasse gehen. Lasst uns erst mit Tommy darüber sprechen. Vielleicht weiß der einen Rat.”

“Du hast sicher recht Max. Die Gasse mit den Häusern sieht richtig unheimlich aus. Und nirgendwo ist jemand zu sehen. Das ist doch seltsam. Komm – wir fragen Tommy.”

Miriam, Luna und Max drehten sich um und gingen die Straße zurück, auf der sie gekommen waren. Als sich Luna noch einmal umschaute, war von der Gasse nichts mehr zu sehen.

“Sie ist weg - da - da, so seht doch, die Gasse ist weg. Einfach verschwunden.”

Miriam, Luna und Max blieben wie angewurzelt stehen, während die Menschen um sie herum die Kinder gar nicht bemerkten und einfach weiter liefen, bepackt mit Taschen und Tüten.

“Das ist aber sehr seltsam. Wie kann eine Gasse so plötzlich verschwinden? Das gibt es doch überhaupt nicht. - Das müssen wir unbedingt Tommy erzählen. Vielleicht haben wir das alles nur geträumt?”

“Ach Miriam, wir spielen zusammen und laufen durch Filigrania. Heute morgen waren wir in der Schule, und du hast dir Schokolade auf dein Kleid gekleckert. War das auch ein Traum?”

“Nein Max, du hast ja recht. Die Gasse war da, ganz sicher. Und jetzt ist sie weg, wie durch Zauberei. Wir müssen zu Tommy gehen, am besten gleich.”

Dann machten sich die Freunde Miriam, Luna und Max auf den Weg zu Tommy, der in einer ruhigen Seitenstraße einen kleinen Laden und eine Werkstatt besaß. Tommy war Künstler und machte wunderschöne Figuren aus Holz. Vögel, die lebendig aussahen, Schmetterlinge wie aus dem Bilderbuch der Natur und stattliche Bäume, an denen richtige Blätter raschelten. Und manchmal blies Tommy ein Lied auf seiner alten Flöte. Dann verwandelte sich alles um ihn herum, die Holzvögel begannen zu fliegen und zu jubilieren, die Schmetterlinge flatterten durch die Luft und die Blätter der Holzbäume sangen im Wind ein zauberhaftes Lied.

“Puh - das wäre geschafft. Hoffentlich ist Tommy zu Hause. Sonst hätten wir den ganzen Weg umsonst gemacht” stöhnte Max.

“Was für schöne Figuren im Fenster stehen, und die vielen Tiere, die er aus Holz schnitzt. Unser Tommy ist ein ganz großer Künstler und ....”

Miriam stockte und sagte nichts mehr. Dann drückte sie ihre Nase ganz dicht an die Scheibe und sah mit großen Augen in den kleinen Laden von Tommy.

“Und was ist er noch?”

“Ach nichts, ich habe es vergessen. Komm - lass und hinein gehen.”

Miriam ging zur Tür und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Knarrend gab die alte Eichentür nach, und die bunten Windspiele die hinter der Glasscheibe hingen, begannen mit ihrem zarten Gesang.

“Tommy - bist du da? Wir sind es - Miriam, Luna und Max. - Hallo - Tommy - dürfen wir herein kommen?”

Zaghaft klang Miriams Stimme in dem kleinen Laden, der bis unter die Decke vollgestopft war mit allem, was ein Kinderherz begehrt. Da gab es wunderschön geschnitzte Vögel, große Bäume und Schmetterlinge. In den Regalen standen Igel, Pferde, Kühe, Nashörner und Giraffen. Ja sogar Blumen leuchteten in einer Vase gerade so, als ob sie eben erst aus dem Garten kamen. Und wie es nach Holz duftete. Die Kinder genossen es jedes Mal, wenn sie bei Tommy sein durften. So einen Laden gab es in Filigrania nicht noch einmal. An den Wänden klebten Heuschrecken, Spinnen und Krebse, als seien sie eben erst dort hinauf gekrabbelt. Von der Decke hingen bunte Bänder herab, die sich wie Regenbögen leicht im Luftzug bewegten. Die Windspiele wurden leiser und leiser, und der Duft aus zahllosen getrockneten Blüten schwebte wie ein feiner Schleier durch Tommys kleines Paradies.

“Was machen wir jetzt? Tommy ist wohl nicht da - oder?”

“Er muss hier sein, Luna, denn die Ladentür ist doch auf. - Komm - wir schauen einfach nach. Wenn er wirklich nicht Zuhause ist, dann schreiben wir ihm einen Zettel.”

Behutsam schritten die Kinder durch den Laden. Dann standen sie in Tommys Werkstatt. Die drei Freunde waren sprachlos, denn auf einem Tisch hatte Tommy Dutzende Figuren aufgebaut, eine schöner als die andere. Kraniche, Adler und Schwäne. Dazu zwei Tauben und Singvögel in den herrlichsten Farben.

“Ohhh -- ist das wunderbar. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wann hat Tommy die wohl geschnitzt?”

“Ich weiß es nicht, aber wenn er kommt werden wir ihn fragen. Du hast recht Luna, dass sind die schönsten Figuren, die Tommy jemals gemacht hat. Sicher ist er vom vielen Arbeiten müde und schläft."

"Dann wollen wir nicht weiter stören und nach Hause gehen. Vorher schreiben wir ihm aber noch einen Zettel. Damit er Bescheid weiß wann wir wiederkommen.”

“Gut Max, schreiben wir ihm einen Zettel. Dann freut sich Tommy. - Wo finde ich denn hier einen Bleistift. - Ach - da auf dem Tisch. - Und Papier ist auch da. - Was soll ich denn jetzt schreiben?”

“Frag doch einfach Miriam, die weiß immer einen guten Satz. - Luna - Miriam, kommt mal schnell her, hier steht noch etwas auf dem Tisch. Aber ich kann es nicht erkennen, weil ein Tuch darüber gedeckt ist. - Wollen wir nachschauen?”

“Hm-hm, lieber nicht - nachher ist Tommy böse, weil wir so einfach in seinen Sachen herumwühlen.”

“Luna - erstens wühlen wir nicht in Tommys Sachen herum, sondern sind sehr vorsichtig und behutsam. So wie immer. Und zweitens hat es uns Tommy ja auch erlaubt.”

“Wenn er da ist”

“Ja Miriam, wenn er da ist. Nur weil wir ihn nicht sehen heißt dass noch lange nicht, dass er nicht hier ist. Ich möchte ja nur das Tuch ein wenig anheben, mehr nicht. Also, habt keine Angst, ich mache bestimmt nichts kaputt.”

Vorsichtig kamen die Mädchen näher und sahen mit großen Augen an Max vorbei, wie dieser ganz behutsam das blaue Tuch mit den vielen goldenen Sternen anhob. Kleine Steine kamen zum Vorschein, dann ein Gehweg, ein paar alte Laternen, das erste kleine Fachwerkhaus, dann ein zweites, ein drittes und dann standen Miriam, Luna und Max vor jener Gasse, die sie heute bei ihrem Spaziergang durch die Stadt entdeckten.

“Schnell, decke es wieder zu! Ich habe Angst!”

Rasch zog Miriam das blaue Tuch mit den goldenen Sternen über die kleinen Häuser, und ehe sie sich versahen, waren sie auch schon verschwunden.

“Was - was war das?” stotterte Luna.

“Das sah so aus wie die Gasse, die wir heute gesehen haben. Aber - das gibt es doch gar nicht, das ist ja wie...”

“Wie Zauberei - nicht wahr!”

“Aaahahhh-hiiiii” kreischten die Kinder wie wild.

“Oh-oh-oh - wer schreit denn da so laut? Da wird man ja glatt taub.”

Schlotternd vor Schreck standen Miriam, Luna und Max vor dem Tisch mit dem blauen Tuch und den vielen Sternen.

“Wer - wer - wer bist du? Doch - doch nicht Tommy?”

“Hahaha - nein, ich bin nicht Tommy. Aber Tommy ist ein guter Freund von mir. Doch zur Zeit ist er leider nicht erreichbar. - Ach so - wie unhöflich von mir - mein Name ist Bonalibona. Ich bin ein Zauberer. Und wer seid ihr?”

Die drei Freunde brachten vor Überraschung und staunen kein Wort heraus.

“Na - was ist los, hat es euch die Sprache verschlagen? Seid ihr etwa noch nie einem Zauberer begegnet? - Oh je - oh je, und das ausgerechnet mir, dem großen Bonalibona. Aber - ich vergebe euch, schließlich seid ihr nur einfache Menschen. -- Lasst mich raten - wie könntet ihr heißen, etwa Miriam, Luna und Max?”

“Ja - ja, aber woher weißt du... und wo bist du überhaupt?”

“Sehr gut - sehr gut, dass war nur ein kleiner Beweis meiner zauberischen Fähigkeiten. Wo ich bin wollt ihr wissen? Nun - dann schaut euch doch um. Ich bin überall da zu finden, wo die Menschen noch Träume haben und an Wunder glauben. -- Hahaha - dieser Satz war gut - nicht wahr. - Aber ich sehe schon, ihr sucht an den falschen Stellen. Damit ihr euer halbes Leben nicht damit zubringt, will ich euch ein wenig helfen. Da liegt so ein blaues Tuch mit goldenen Sternen auf dem Tisch, wenn ihr das einfach beiseite....”

“Was - wie - wo - du liegst - du bist - du stehst unter dem blauen Tuch?”

“Na klar - oh Mann, was seid ihr heute schwierig. Womit habe ich das verdient, ich - der große Bonalibona. - Aber das ist wohl mein Schicksal, mich mit begriffsstutzigen Menschen herumzuplagen.”

“Wir sind überhaupt nicht begriffsstutzig - wir sind die besten Schüler in unserer Klasse. So - jetzt weißt du es!”

“Die besten Schüler seid ihr - in eurer Klasse. Na und - was ist das schon. Was ist eine Menschenklasse gegen die Hohe Schule der Zauberer und Magier - nichts - nichts - nichts!!! - So - jetzt wisst ihr es. - Ja - nun nehmt endlich das blaue Tuch weg - sonst schlaft ihr mir noch ein. Und das würde Tommy überhaupt nicht verstehen - dass Kinder bei mir einschlafen. - Na los - oh-oh, ein bisschen mehr Bewegung - wenn ich bitten darf. Schließlich erlebt ihr Bonalibona den Zauberer - live. Das ist etwas anderes als stundenlang auf die Glotze starren.”

“Erstens starren wir nicht stundenlang auf die Glotze und zweitens könntest du ruhig etwas freundlicher sein - findest du nicht?” rief Miriam.

“Freundlicher - habe ich freundlicher gehört. Ja - da hört sich doch alles auf. Ich - der große Bonalibona - ich - der große Zauberer - soll unfreundlich sein - und das zu Kindern? --- Lasst das ja nicht Tommy hören. Der hätte dafür überhaupt kein Verständnis. - Ich gebe ja zu, manchmal habe ich so eine Art - aber das ist ganz lieb gemeint - Hand aufs Herz. In Wirklichkeit bin ich ein ganz lieber Zauberer, viel zu lieb. Das ist mein Problem. Als Zauberer musst du ernst genommen werden, und wenn du nur lieb bist, dann lachen die Leute über einen und reißen Possen. Das kann ich mir nicht erlauben. Deshalb haue ich von Zeit zu Zeit auf den Putz - so sagt ihr Menschen doch - nicht wahr? - Also nehmt mich so wie ich bin, dann kommen wir gut miteinander aus. - Na was ist denn nun, wollt ihr mich unter meinem blauen Tuch vertrocknen lassen?”

“Ist ja schon gut, rege dich bloß nicht auf, wir nehmen das Tuch ja weg.”

Miriam, Luna und Max zogen fast gleichzeitig an dem blauen Tuch mit den goldenen Sternen, und im selben Augenblick standen sie mitten in der alten, schmalen Gasse mit den alten, windschiefen Häusern.

“Wauuu - das ist ja - oh Mann, so was habe ich ja noch nie erlebt - phantastisch - das glaubt uns kein Mensch” riefen Miriam, Luna und Max.

“Hallo Freunde - hier bin ich. Schön das ihr gekommen seid. - Gestatten, Bonalibona, seines Zeichens größter Zauberer und Magier der Filigraner Märchenwelt. Willkommen im Sternstaubdorf.”

“Also das ist - ja - wir wissen einfach nicht, was wir sagen sollen. Mann oh Mann, ist das eine Überraschung. - Und du, du bist Bonalibona, der große Zauberer und Magier?” wollte Luna wissen.

“Mit Verlaub meine Freunde, bei aller Bescheidenheit, ich bin es mit Leib und Seele!”

In der kleinen alten Gasse mit den alten, windschiefen Häusern kam Miriam, Luna und Max der Zauberer Bonalibona entgegen. Auf seinem Kopf trug er einen großen Hut mit einer Feder, und um seine Schultern hatte er einen goldenen Umhang geschlungen. Aus langen weiten Ärmeln ragten die Hände heraus, deren Finger von diamantenen Ringen nur so funkelten. Um seinen Leib wand sich ein breiter Ledergürtel, in dem ein Degen befestigt war. Auf seiner Nase saß eine Brille, hinter der zwei funkelnde, fröhliche Augen blitzten.

“Du - du bist wirklich der Zauberer?” fragten die Kinder ungläubig.

“Natürlich bin ich der Zauberer Bonalibona, wer sollte ich sonst sein? Wer sonst außer mir könnte solche Dinge vollbringen? Habt ihr eine Ahnung wo wir euch hier befindet? - Nein - woher auch. So etwas lernt ihr in der Schule nicht mehr - das ist nicht IN - oder so? Aber davon später. Da drüben, da steht mein Haus. Wenn ich bitten darf!”

“Was denn, in dieser Bruchbude wohnst du? Und das als Zauberer? Ist ja kaum zu glauben!” staunte Luna.

“Ach Max - ihr Menschen macht immer die gleichen Fehler. Ihr beurteilt das was ihr seht nach dem Schein und nicht nach seinem wahren Wert. - Warum falle ich auch immer wieder auf Kinder rein? - Sie sind nicht anders als ihre Eltern, kurzsichtig, überheblich und herablassend.”

“Sind wir nicht, sind wir nicht - bäh,” riefen die Kinder.

”So - und nun zeig uns dein Haus, wir wollen endlich wissen wie du wohnst. - Und noch was - wieso siehst du aus wie ein Fuchs?” fragte Max

“Wie ein Fuchs - ich sehe aus wie ein Fuchs? Ja - ja - ja das hat mir noch niemand gesagt. Das ist doch...”

“Rege dich bloß nicht schon wieder auf, wir mögen Füchse, weil sie schlau sind und sehr viele Tricks kennen. Außerdem siehst du sehr gut aus in deiner Kleidung” rief Miriam.

“Ach - wirklich - ich sehe gut aus? - Natürlich sehe ich gut aus, was habt ihr denn gedacht. Füchse haben Eleganz, Flair und diese natürliche Erhabenheit, die nur uns zu eigen ist. - Aber das mit den Tricks, das vergesst ganz schnell. Ich übe keine Tricks aus, sondern beste Zauberei. Ich habe Prüfungen abgelegt vor den höchsten Herren - und immer bestanden. - So - und nun tretet ein in mein bescheidenes Zuhause.”

Knarrend öffnete sich in dem alten windschiefen Haus die eichene Tür, vor dessen Eingang die Spinnweben im Dutzend herunter hingen.

“Entschuldigt, aber meine Haushilfe hat einen längeren Urlaub genommen. Die Gute steht seit dreihundertfünfundsiebzig Jahren in meinen Diensten. Da sind ein paar freie Tage durchaus gerecht."

"Hier und da ein wenig Staub gewischt, ein Fenster geöffnet, ein paar Blumen, und schon sieht die Welt wieder ganz anders aus. - Nehmt Platz meine Freunde, setzt euch und schließt für einen Augenblick die Augen. - So ist es recht. Aber nicht schummeln.”

Bonalibona holte aus seinem goldenen Mantel einen silbernen Stab heraus, zog ihn sachte dreimal durch die Luft und rief dann laut

“Salamanka - balanka - Karamanka”

Im gleichen Augenblick wurde aus dem alten windschiefen Haus mit den verstaubten Möbeln und schmutzigen Fenstern ein stattliches Anwesen, in dem es nur so blitzte und funkelte. An einem großen Tisch saßen Miriam, Luna und Max gemeinsam mit dem großen Zauberer Bonalibona, der wie ein König auf seinem Sessel thronte und sich über die Gesellschaft der Kinder freute.

“Wauuu - das ist ein Ding, so was habe ich ja noch nie gesehen. Das ist ja richtige Zauberei. Wie machst du das nur - komm - erzähle uns wie du Zaubern gelernt hast!”

baten die Freunde Miriam, Luna und Max den Zauberer Bonalibona.

“Hm - ihr wollt von mir wissen, wie ich zaubern gelernt habe? - Ich glaube, diesen Wunsch kann ich euch nicht erfüllen, denn das ist eines der geheimsten Geheimnisse aller Zauberer. Wer das preisgibt, verliert all seine Zauberkräfte und bleibt zeitlebens ein Ausgestoßener. Aber ich kann euch eine Geschichte oder zwei oder drei erzählen, und wenn ihr genau acht gebt, dann könnt ihr euch vielleicht vorstellen, wie zaubern geht. - Das ist alles, was ich euch dazu anbieten kann."

"Aber jetzt greift zu meine Freunde, esst und trinkt und lasst es euch gut gehen. Auf unsere Freundschaft. Möge sie für immer bestehen und niemals in Vergessenheit geraten.”

Die Freunde aßen und tranken, und als sie keinen Bissen und keinen Schluck mehr herunter bekamen, stand Bonalibona auf und nahm neben dem Kamin in einem großen Sessel Platz.

“Nach solch einem Festmahl rauche ich immer die Pfeife. Dann fallen mir ständig neue Geschichten ein, die ich meinen Freunden in unserer Gasse erzähle. Bald wird es Abend, dann werden die Laternen entzündet und aus den Häusern ertönt leise Musik oder der Gesang der Kinder, die ein Schlaflied singen. Kommt zu mir, ich will euch eine Geschichte erzählen, die Geschichte dieser Gasse und der alten Häuser. Ihr sollt erfahren, wie alles angefangen hat, damals, vor vielen hundert Jahren, als undurchdringlicher Urwald das Land bedeckte und die Sonne nur selten bis auf den Waldboden fiel. Hier an diesem Ort, wo heute die Häuser stehen, erhoben sich einst die Könige des Waldes, riesige Eichen, die mit ihren Kronen den Himmel berührten. Durch die Wälder streiften gewaltige Tiere, und in den Höhlen und Schluchten hausten furchterregende Drachen. - Ja - ja, so war das damals!”

Miriam, Luna und Max rückten ganz dicht zusammen und lauschten den Worten des großen Zauberers Bonalibona, aus dessen Pfeife dichter weißer Rauch stieg und das ganze Haus mit seinem Duft erfüllte.

“Und weiter - was war noch in diesen Wäldern?” flüsterten Miriam, Luna und Max.

“Was noch in den Wäldern war möchtet ihr wissen? - Dann passt gut auf, ich werde es euch erzählen. Und später werdet ihr alles vergessen und euch trotzdem daran erinnern, so wahr ich Bonalibona, der große Zauberer und Magier bin.”

Bonalibona lehnte sich in seinen Sessel zurück, nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und schloss langsam die Augen. Es wurde ganz still um Miriam, Luna und Max. Nur das Ticken der großen Standuhr hallte wie silbernes Plätschern durch den Raum.

“Vor langer, langer Zeit gab es hier nur Wald. So weit das Auge reichte bedeckten endlose Wälder den Boden der Welt. Wollten die Menschen den Himmel sehen, dann mussten sie an den Bäumen hinauf klettern bis in höchste Höhen. Dort brauste der Wind und riesige Adler bauten ihre Nester in die Äste der Urwaldriesen. Von Zeit zu Zeit stürzte ein Baum um, sei es aus Alter oder weil ihn der Blitz traf. Dann öffnete sich über dem dunklen Grund ein Fenster, durch das helles, leuchtendes Sonnenlicht bis in die Erde drang. An einem solchen Tage, als wieder einmal ein Sturm tobte und die Gewitter wie Wellen eines Meeres über die Welt jagten, da geschah es - plötzlich - furchtbar - gewaltig!!”

Miriam, Luna und Max zuckten zusammen und drückten sich so dicht aneinander, dass jeder des anderen Herz klopfen hörte.

“Wa - wa - was geschah denn - denn - so furchtbares?” stotterte Luna.

Bonalibona schmauchte den Tabak seiner Pfeife, fuhr leicht mit der Hand durch die Luft und legte seinen Mantel zurecht.

“Aus der Wolken tiefschwarzer Seele fuhr ein ungeheurer Blitz zur Erde nieder, heller und brennender als alle Blitze der Welt zusammen. Wie ein feuriges Schwert jagte sein flammender Atem durch die Luft - und dann -”

“Und dann---?” flüsterte Max.

“Und dann -- ihr wollt wissen was dann geschah? - Nun gut - so will ich denn berichten. - Es krachte, splitterte und klirrte, dass einem die Ohren schier zerspringen wollten. Uralte Bäume wurden im Dutzend aus der Erde gerissen, die Felsen zerbarsten und die Erde glühte wie das Abendlicht der Sonne. Überall war nur Feuer und Rauch, und das qualvolle Geschrei der sterbenden Freunde hallte durch die Nacht. Der Regen stürzte in unvorstellbaren Strömen vom Himmel, und bald schon stieg das Wasser in den Flüssen und drang weit in den Urwald vor. Die Flammen des brennenden Waldes loderten weithin sichtbar, aber der prasselnde Regen ließ die wütende Glut erlöschen. -- Dann wurde es still im Wald, sehr still. Eine riesige Wunde klaffte im Leib der Erde, und das Licht des Mondes tauchte den Ort der Verwüstung in silbernes, gespenstisches Licht.”

Bonalibona wandte seinen Kopf und schaute aus dem Fenster hinaus in eine weite ferne Welt. Schwer lastete die Erinnerung an jene Tage auf seinen Gedanken. Der Atem des Zauberers klang wie das wehmütige Klagen eines Kindes, das sein liebstes Spielzeug verlor. Dann murmelte er einige Worte, die Miriam, Luna und Max aber nicht verstanden. Noch bevor die drei Freunde irgend etwas sagen konnten, fuhr Bonalibona in seiner Erzählung fort.

“Nachdem alles zur Ruhe gekommen war, das Wasser der Flüsse zurückging und das Licht des hellen Tages über die Welt floss, zeigte sich das ganze Ausmaß der Vernichtung. Kein Baum, kein Strauch, keine Blume und kein Tier fanden sich an jenem Ort, wo Tage zuvor noch blühendes Leben herrschte. Es war ein trostloser Anblick - meine Freunde, ein sehr trostloser Anblick. -- Mutlosigkeit breitete sich aus, denn so etwas hatten wir, die Bewohner des Waldes, noch niemals zuvor erlebt. Was sollte geschehen? - Niemand wusste darauf eine Antwort. So ging die Zeit ins Land, und wir hatten uns alle damit abgefunden, dass diese grässliche Narbe uns für den Rest unseres Lebens begleiten würde. Aber dann - wie durch Zauberhand, hihihi - jawohl meine Freunde, so könnte man es auch sehen, begann hier und da neues Leben zu sprießen. Erst langsam und zaghaft, dann schneller und mutiger, und plötzlich, wie über Nacht, war alles wieder grün. Es war wie ein Wunder - meine Lieben, einfach unbegreiflich. Die fürchterliche Wunde, die Blitz und Sturm der Welt schlugen, verschwand unter einem weichen Teppich aus duftenden Blumen und Gräsern. Denn eines müsst ihr euch stets bewusst machen - das Leben überall auf dieser Welt und an allen Orten im unendlichen Universum findet stets seinen Weg. Und dann - -”

“Ja - was dann” flüsterten die drei Freunde voller Spannung,

“was war dann?”

Bonalibona erhob sich aus seinem Sessel, der sich knarrend und knackend vom Gewicht des Fuchses befreit sah, schritt bedächtig zu einem Wandschrank, nahm eine silberne Dose heraus, und ging zu seinem Sessel zurück. Ohne ein Wort zu sagen klopfte er seine Pfeife aus, nahm behutsam den duftenden Tabak in seine Finger und stopfte ihn vorsichtig in den Pfeifenkopf. Er entzündete ein Streichholz, und paffend blies der Zauberer die ersten Wolken in den Raum. Genüsslich legte er sich in den Sessel zurück, schloss die Augen und ließ sich vom duftenden Tabakrauch umhüllen.

“Welch eine Freude - Kinder, ich sage euch, die Tabakpfeife ist eines der schönsten Geschenke der Welt an die Menschen. Aber nur die wenigsten wissen mit dieser Gabe würdig umzugehen. Wie mit den meisten anderen Dingen. So ist das, leider. - Ja - ja, die Welt könnte so schön sein, das Leben friedlich und alle glücklich und zufrieden. - Könnte - meine Freunde - könnte. -- Aber sie ist es nicht” fauchte der Zauberer laut, dass Miriam, Luna und Max fürchterlich erschraken.

“Was - was - was ist denn - wa - wa - warum bist du denn so...”

“Oh - oh - meine lieben Freunde, bitte habt Nachsicht mit einem alten vertrottelten Zauberer. Entschuldigt meinen Zorn, meine Unbeherrschtheit. Sie sind eines Zauberers meines Standes gänzlich unwürdig. Das ist etwas für die unteren Gehilfen, nicht aber für einen Meister. - Es ist nur, zuweilen ärgere ich mich über die Unvollkommenheit, ja - das ist es - die Unvollkommenheit die uns allen - ich meine den meisten - zu eigen ist - leider. Und ich - der große Bonalibona fühle mich verpflichtet - jawohl verpflichtet - den arroganten, besser wissenden, überheblichen und undankbaren Menschen jenen Weg aufzuzeigen, der auf den Pfad der Tugend führt. - Na ja - viel Hoffnung habe ich nicht, aber unsereins hat schließlich seinen Stolz - nicht wahr. - Bei euch - denke ich, könnte es noch ... wir werden sehen, wir werden sehen. - - Wo war ich stehen geblieben?”

“Wo du was warst?”

“Ooohhh - ist das nervig. Könnt ihr euch denn nicht einmal merken was ich zuletzt gesagt habe? Alles muss man selber machen. Es ist aber auch zum auswachsen!”

“Das ist aber nicht fair - jetzt bist du überheblich - damit du es weißt. Warum sollen wir uns merken was du zuletzt gesagt hast? Schließlich hast du uns in dein Haus geholt um uns zu erzählen, was damals hier im Wald geschah - oder?”

“Das ist - das ist doch - ja da hört sich doch alles auf. Ich - der große Bonalibona und überheblich? Ja - also - das hat mir noch niemand gesagt. Stolz bin ich - wie es mir zusteht. Erhaben - das ist meine Natur, weise und gerecht - so sind meine Worte. Aber überheblich. Ich hätte nicht übel Lust euch in Kröten oder Kellerasseln zu verwandeln für eure Frechheiten. -- Dass ich es nicht tue verdankt ihr einzig und allein der Tatsache, dass ihr Kinder seid und ich euch mag. Und jetzt spitzt eure Ohren und hört genau zu was ich euch sagen werde über den Wald, diesen Ort und was hier vor vielen, vielen Jahren geschah.”

Bonalibona knurrte nach Fuchsart etwas in seinen Schnurrbart, nahm in seinem Sessel Platz, legte den blauen Mantel mit den goldenen Sternen über seine Beine, paffte ein paar dicke Wolken in die Luft und lehne seinen Kopf zurück an das weiche Polster.

“Zuerst haben wir es nur gehört. Ganz leicht, wie das Säuseln des Windes. Aber mit jedem Herzschlag wurde dieser Ton kräftiger, intensiver, ausdauernder. Es tönte mit einem Male wie Trompetenklang. Und dieser Klang kam genau auf uns zu. Meine Freunde und ich, wir hatten uns auf jener Lichtung versammelt, von der ich euch eben erzählte. So konnten wir am Tage den blauen Himmel sehen und in der Nacht die Sterne bewundern. Nun überkam uns eine schreckliche Angst, denn solch einen Ton hatten wir nie zuvor vernommen. Immer lauter und wilder scholl es durch die Lüfte, auf und ab, als gäbe es auf dieser Erde nur noch diesen einen Ton. Wir verstanden unser eigenes Wort nicht mehr und duckten uns in das hohe Gras. Plötzlich bedeckten riesige Schatten unsere grüne Insel inmitten des tiefen Waldes. Wir wagten nicht unsere Augen zu erheben, geschweige denn uns zu bewegen.”

Bonalibona atmete tief aus und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Dann nahm er ein paar kräftige Züge aus der Pfeife. Miriam, Luna und Max sagten kein Wort und kuschelten sich ganz eng aneinander unter eine Decke auf das dicke Sofa. Mit großen Augen sahen sie auf den Zauberer, der in seinen blauen Mantel gehüllt, wie ein König in seinem Sessel thronte.

“Ihr fürchtet euch doch nicht - oder? Ich kann euch ja kaum noch sehen. - Hihihihi - ja - ja, so ist das mit den alten Geschichten. Keiner nimmt sie ernst oder glaubt daran, doch wenn man sie erzählt, zittern alle vor Angst. - Schnick - schnack - es gibt keinen Grund Angst zu haben, jedenfalls nicht jetzt. Damals jedoch - ich meine - als meine Freunde und ich das erste Mal diese großen Schatten sahen und diese Töne vernahmen, da war das schon etwas anderes. Ich war ja fast noch ein Kind - ein Zauberlehrling - und hatte keine Ahnung von den Dingen in der Welt. - Aber heute - es ist langweilig geworden - es gibt nichts mehr zu zaubern - alles machen diese blöden Computer. Weil die Menschen träge wurden, sie wollen nicht mehr träumen - haben keine Fantasie mehr. Und das Ende vom Lied - die Märchen sterben aus - und mit ihnen die Zauberer, Elfen, Feen, Trolle, Gnome und Riesen. Es ist ein Verhängnis - jawohl - ein richtiges Verhängnis. Aber Gott sei Dank gibt es ja noch mich, den großen Bonalibona, den Meister aller Zauberer und Magier. - Wo war ich noch stehen geblieben? - Richtig - bei den großen Schatten. - Nun alles klärte sich im Nu auf, denn die Schatten waren nichts anderes als Kraniche, die auf der Lichtung landeten. Und mit den Trompetenrufen begrüßten sie sich und den nahenden Frühling. Das ist alles. He - was ist los? Hat es euch die Sprache verschlagen? Na los ihr Hasenfüße, kommt heraus unter eurer Decke - hahahaha!”

Bonalibona schüttelte sich vor lachen, und sein großer Hut wackelte wie ein Pudding auf dem Teller. Vorsichtig steckten die Kinder ihre Nasen unter der Decke hervor. Da saß er nun, der große Zauberer und Magier und bekam kaum noch Luft vor lauter Lachen. Miriam, Luna und Max schauten sich an. Das war ihnen ja noch nie passiert. Da sitzt ein Zauberer und erzählt ihnen Geschichten, und sie verstecken sich vor Angst unter einer Decke.

“Was - was - was sind wir doch für Hasenfüße. Es ist doch bloß eine Geschichte. -- Schaut nur, draußen gehen die Laternen an. - Oh Gott, wie spät ist es überhaupt. Wir müssten doch längst Zuhause sein” flüsterte aufgeregt Luna.

“Dann kommen wir eben etwa später. Schließlich haben wir in ein paar Tagen sowieso Ferien. - Ja - das ist doch, wauu - schaut euch das an. Da kommen Menschen aus den Häusern. Und wie die alle aussehen. Seht nur, die Kleider - wie von früher” rief Max laut.

“Das ist ja fast wie im Märchen” hauchte Miriam.

“Ja - ja, fast wie im Märchen. Ist das alles was ihr dazu sagen könnt “fast wie im Märchen? Oh je, womit habe ich das nur verdient. Da gibt sich unsereins die größte Mühe, zaubert bis die Socken qualmen und was ist der Dank? -- Es hat keinen Zweck - oder ich bin zu alt geworden. -- Aber eins sage ich euch, glaubt ja nicht, dass ich euch noch Mal in mein Haus einlade. Nie mehr. So - und jetzt geht nach Hause, zu euren Eltern, in die keimfreien Wohnungen mit den weißen, leblosen Wänden. Da warten schon die Glotzen auf euch mit der Berieselung. Die erzählen euch dann die wahren Märchen des Lebens. - Na los, worauf wartet ihr noch - geht schon. Ich muss mich um meine Freunde kümmern.”

Bonalibona huschte zur Tür, riss sie mit einem Schlag auf, und bevor Miriam, Luna und Max noch etwas sagen konnten, saßen sie auf dem Gehweg, wo die Menschen der Stadt, bepackt mit Tüten, Taschen und Körben an ihnen vorbei rannten. Niemand achtete auf die Kinder, die mit großen Augen diesem seltsamen Treiben zusahen. Miriam, Luna und Max blickten sich nur an. Langsam drehten sie sich um. Von der schmalen alten Gasse mit den windschiefen alten Häusern war nichts mehr zu sehen, nur das Getrappel der Füße vieler Menschen hallte wie ein bedrohlich nahendes Unheil über ihre Köpfe hinweg.

“Einfach unglaublich - das gibt es doch überhaupt nicht. Das ist ja wie im Märchen” stieß Max stotternd hervor,

“so was habe ich noch nie erlebt. Das glaubt uns kein Mensch.”

“Aber wir glauben es, und das sind schon drei Menschen. Und andere Kinder werden es auch glauben. Wir müssen es nur richtig erzählen. Du wirst sehen, bald werden viele Kinder in die alte Gasse mit den windschiefen alten Häusern gehen. Dann wird Bonalibona auch nicht mehr verärgert sein. Ich kann ihn verstehen, er hat sich wirklich große Mühe gegeben - und wir? Wir haben nur da gesessen und an ihm und seinem Leben herumgemäkelt. Ich kann ihn verstehen. - Kommt - gehen wir heim.”

“Meinst du wirklich Max, wir werden Bonalibona wiedersehen?”

“Da bin ich ganz sicher Miriam. Und du Luna, mache nicht so ein trauriges Gesicht. Eigentlich war es doch sehr lustig bei dem alten Fuchs, findet ihr nicht. Wie er uns begrüßt hat, in seinem blauen Mantel mit den goldenen Sternen.”

“Und sein großer Hut mit der langen Feder” kicherte Luna.

“Da ist ja schon Tommys Laden. Ob er wohl in der Werkstatt ist?”

“Vielleicht Luna, aber wir werden Tommy heute nicht mehr besuchen. Es ist schon spät. Unsere Eltern warten bestimmt schon mit dem Essen.”

“Ach was Miriam, ich habe überhaupt keinen Hunger. Das waren aber auch leckere Sachen, die uns der Zauberer zu essen gegeben hat.”

“Na seht ihr, die Tür ist zu und alles dunkel. Tommy ist nicht mehr da. Vielleicht treffen wir ihn morgen oder nächste Woche. Die Märchen laufen uns nicht weg, wenn wir nur fest daran glauben.”

“Du hast recht Max, wir müssen nur daran glauben. - - Also dann Tommy, bis nächste Woche. Und bestelle Bonalibona viele Grüße von uns. Wir kommen ihn bald wieder besuchen” riefen Luna und Miriam wie aus einem Mund.

In Tommys Werkstatt war alles still. Auf dem großen Tisch standen die geschnitzten Tiere, Bäume und Menschen ganz ruhig beieinander. Über der kleinen alten Gasse mit den windschiefen alten Häusern wölbte sich der dunkle, sternklare Himmel. Aus den winzigen Fenstern fiel das Licht zahlreicher Laternen auf das Pflaster der Gasse. Ganz leise erklang das Gemurmel von Stimmen, eine Katze miaute und die Glocke der Turmuhr schlug mit hellem Klang.

Vielleicht war ich etwas zu grob, bestimmt war ich zu grob. - Ach Bonalibona, du alter Zauberer, wirfst die Kinder einfach hinaus, nur weil sie nicht auf Anhieb deine Geschichten glauben. Es ist ja auch nicht so leicht, in der heutigen Zeit. Jedenfalls werde ich mich bei Miriam, Luna und Max entschuldigen. - Jawohl - das werde ich tun. - Ich - der große Bonalibona werde um Verzeihung bitten für mein ungebührliches Verhalten. - Bin nur gespannt, ob die Kinder zurückkommen? Aber - natürlich kommen sie zurück. Kinder sind neugierig und glauben noch an Märchen - auch im Computerzeitalter - oder gerade deshalb. - Ja - ja - so werde ich es machen. Ich glaube, ich habe da eine fantastische Idee.

Luna, Miriam und Max erreichten ihr Zuhause und sagten den verdutzen Eltern, dass sie bei einem sehr guten Freund zu Abend gegessen hatten. Und das Tommy in seiner Werkstatt wunderschöne Figuren geschnitzt hat.

“Ach so, viele Grüße noch von Bonalibona an euch alle.”

“Bonalibona - ja wer ist denn das?” fragten die Eltern der Kinder.

“Ein sehr guter alter Freund. Ihr müsstet euch an ihn erinnern. Ihr seid ihm als Kinder sicher begegnet. - Also dann - gute Nacht und träumt was schönes.”

Miriam, Luna und Max sagten für heute Gute Nacht und träumten schon bald von einer alten kleinen Gasse mit windschiefen alten Häusern. Endlich sind große Ferien. Miriam, Luna und Max haben noch eine ganze Woche für sich allein. Danach werden sie mit ihren Eltern in Urlaub fahren. Miriam auf die Nordseeinsel Norderney, Max in die Deutschen Alpen und Luna zu ihren Großeltern in den Spreewald. Diese eine Woche wollen sie unbedingt nutzen, um ihren Freund Tommy in seiner Werkstatt zu besuchen. Außerdem ging ihnen der Zauberer Bonalibona nicht aus dem Sinn. Waren sie ihm wirklich begegnet? Saßen sie tatsächlich in seinem prachtvollen Haus und lauschten atemlos und mit Herzklopfen seinen fantastischen Erzählungen vom Anfang der Welt? Je mehr Zeit darüber verging, um so weniger waren sich die Freunde sicher, ob nicht doch alles nur ein Traum war, ein wunderschöner Traum zwar, doch keine Wirklichkeit.

"Wir sind da, schau Miriam, es brennt sogar Licht in der Werkstatt. Komm, gehen wir hinein und sagen Tommy guten Tag. Er freut sich doch so sehr über unseren Besuch."

"Gut Luna, dann klopfe an und mache die Tür auf" flüsterte Miriam,

"damit sich Tommy nicht erschreckt."

Luna klopfte dreimal auf den Holzrahmen und drückte die Klinke herunter. Knarrend öffnete sich die Tür, und im gleichen Augenblick hörten sie Tommys Stimme aus der Werkstatt.

"Herein und guten Morgen. Ich bin in der Werkstatt, herein bitte" klang es fröhlich an die Ohren der Freunde.

"Hallo Tommy, guten Morgen, schön dass du da bist. Wir wollten dich besuchen, einfach nur so. Weil wir nächste Woche in Urlaub fahren, und dann ist niemand da, - ich - wir meinen, wem erzählst du dann deine wunderschönen Geschichten und Märchen? Wir stören doch hoffentlich nicht? Wenn du viel Arbeit hast, dann gehen wir lieber" sprachen die Kinder wie aus einem Mund.

"Ach was, ihr habt mich noch nie gestört, im Gegenteil, ich freue mich immer ganz besonders über euren Besuch. Es ist doch schön Kindern Geschichten und Märchen zu erzählen, weil sie die einzigen sind, die noch zuhören wollen. - Na , dann setzt euch und sagt mir, was ich für euch tun kann?"

"Was du für uns - wieso meinst du - ach eigentlich wollten wir nur..." stotterte Miriam

verlegen,

"eigentlich -- ach - nichts."

"Ja Miriam, was wolltet ihr nur - mir vielleicht etwas erzählen über eine alte Gasse mit windschiefen alten Häusern, wo die Menschen ihre Kinder in den Schlaf singen und ein Zauberer von geheimnisvollen Märchen träumt?"

"Wieso kommst du ... woher weißt du ... bist du etwa...?" riefen die Kinder aufgeregt.

"Nein - nein - nein, ganz langsam und eins nach dem anderen. - Kommt hier her, an meinen Arbeitstisch, ich möchte euch etwas zeigen."

Neugierig traten Miriam, Luna und Max näher an Tommys Arbeitstisch heran. Über dem Tisch lag ein blaues Tuch mit vielen goldenen Sternen, das ihnen nur zu gut bekannt war.

"Seht her meine Freunde, das ist unsere Heimat, das alte Filigrania."

Mit einem schnellen Griff zog Tommy das blaue Tuch mit den goldenen Sternen beiseite - und von einem zum anderen Augenblick standen Miriam, Luna, Max und Tommy in der kleinen alten Gasse mit den windschiefen alten Häusern, wo aus kleinen Fenstern der Gesang der Kinder zu hören war.

"Wauuu - Mann - Tommy" rief Max aufgeregt,

"das ist ja unsere Gasse, ich meine, wir waren schon einmal...."

"Ja - ich weiß, ihr wart bereits in dieser Gasse und habt meinen Freund, den großen Zauberer Bonalibona getroffen. Er hat mir von eurem Besuch erzählt und auch davon, dass er wohl ein wenig zu grob war zu euch. Es tut ihm sehr leid und er würde sich freuen, wenn ihr ihn wieder besuchen würdet. Bonalibona wartet bereits auf uns" sprach Tommy leise und geheimnisvoll.

"Aber woher kennst du den Zauberer - ich meine, wir waren bei ihm und - na ja, er hat sich wohl über uns ein wenig geärgert, weil wir an ihm herumgemäkelt haben. Das tut uns auch leid und wir möchten uns gern bei ihm entschuldigen. - Wo steckt er denn jetzt, sein Haus ist ja gar nicht zu sehen?" sagte Luna.

"Nun - wir müssen bis zum Ende der Gasse gehen, dort wo der Wald beginnt. Da hat der große Zauberer diesmal sein Haus stehen. Er nimmt es immer mit - müsst ihr wissen, heute ist er hier, morgen dort, gerade immer da, wo es ihm gefällt."

"Er - er nimmt sein Haus mit? Ja wie geht denn das? Wie kann man sein Haus mitnehmen - etwa so wie eine Tasche? Das ist doch ganz sicher ein Märchen - nicht wahr Tommy?" lachte Miriam.

"Oh nein - liebe Miriam, das ist kein Märchen. Wozu ist Bonalibona denn ein Zauberer? Hat er euch nicht gezeigt, wie aus einem alten windschiefen Haus ein Palast wird - einfach so. Genauso schnell und einfach macht er aus einem Palast einen Fingerhut, den er sich in die Tasche steckt. - Unter uns Freunde, Bonalibona war schon an jedem Ort der Welt und besitzt unzählig viele Häuser und Paläste. Aber da er nur in einem wohnen kann, stehen die anderen die meiste Zeit leer. Das hat ihn ziemlich geärgert, und er kam auf die Idee, seine Häuser und Paläste an liebe und aufrichtige Menschen - sagen wir - kostenlos zu vermieten. „Aber das bleibt unser Geheimnis - Ehrenwort. - Meine Werkstatt - das ist so ein altes Haus, ein ehemaliger Palast. Für die meisten Menschen sieht es aus wie ein ganz normales Haus, aber für einige, da wird daraus ein Palast, eine alte Stadt mit kleinen alten Gassen und windschiefen Häusern. Ihr meine Freunde, seid solche Menschen, ihr könnt die alten Märchen und Erzählungen lebendig sehen und wirklich erleben. Das ist doch märchenhaft - findet ihr nicht auch?"

"Ob wir das - na aber - was hast du denn gedacht, das ist ja - also auf - was stehen wir hier noch, Bonalibona wartet sicher schon vor seinem Haus und..."rief Max aufgeregt.

"Er raucht bestimmt wieder seine Pfeife, die so gut duftet" freut sich Luna,

"und den blauen Mantel mit den goldenen Sternen hat er sich über die Schultern gelegt."

"Bonalibona ist der König der Zauberer" ruft Miriam und klatscht in die Hände.

"Besuchen wir Bonalibona, den König der Zauberer" rufen die Kinder zusammen.

"Na denn los, statten wir unserem besten Freund einen Besuch ab" sagt Tommy.

Miriam, Luna, Max und Tommy schreiten die alte Gasse mit den windschiefen alten Häusern entlang, die erfüllt ist vom Lachen, Schwatzen und Tuscheln der Menschen, die darin wohnen. Aus den Fenstern ertönt der Gesang der Kinder und das Miauen der Katzen. Vor den Häusern sitzen die Leute auf ihren Bänken und lassen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Die Hunde liegen zwischen den Füßen der Menschen und dösen einfach in den Tag. Auf dem Mist krähen die Hähne und die Hühner gackern aufgeregt durcheinander. In der kleinen alten Gasse mit den windschiefen alten Häusern herrscht fröhliches Leben und ein buntes Treiben. Auf dem kleinen Marktplatz, fast am Ende der Gasse, haben die fahrenden Händler ihre Stände aufgebaut. Die Pferde stehen ausgeschirrt an der Tränke, trinken frisches Wasser und futtern leckeres Heu. Und die Marktschreier preisen ihre Waren als die einzig besten von allen an.

"Frische Kartoffeln, frische Tomaten, frischer Salat. Nur vom besten - liebe Leute, kauft nur bei mir"

"Frischer Räucherfisch, fetter Aal, saftiges Schweinefleisch - kauft Herrschaften, kauft nur bei mir"

"Frisches Obst, die leckersten Äpfel und Birnen, Zwetschgen und Pflaumen. Kauft werte Bürger, kauft nur bei mir."

Miriam, Luna, Max und Tommy bestaunen das quirlende Leben auf dem kleinen Marktplatz, auf dem noch Gaukler und Spaßmacher ihre Künste aufführen.

"Schau nur, wie lustig die Burschen sind. Und was hier los ist, fast so wie in der Altstadt am Samstag" freut sich Luna.

"Für die Menschen damals war der Markttag genauso wichtig, wie für uns heute die Zeitung oder die Nachrichten. Wer etwas wissen oder einem anderen etwas ausrichten wollte, der ging auf den Markt. Dort trafen sich alle Menschen des Ortes und aus der ganzen Umgebung. - Aber jetzt müssen wir weiter, schließlich wollen wir unseren Freund nicht verärgern. Denn eines kann Bonalibona überhaupt nicht vertragen - das ist Unpünktlichkeit. Wir sind ja gleich da - seht ihr, da vorne am Waldrand, da steht sein Haus."

"Was - das soll sein Haus sein?" ruft Max ungläubig.

"Typisch Bonalibona, nur nicht auffallen. Immer schön bescheiden sein" lacht Miriam.

"Ein echt cooler Typ, der Zauberer, hat alles, kann alles und lebt wie ein Bettler" spricht Luna geheimnisvoll.

"Hallo - Bonalibona - wir sind es, Miriam, Luna und Max. Hier ist Tommy mit seinen Freunden. Dürfen wir in dein Haus kommen?" ruft Tommy durch den verwilderten Garten zu dem alten Haus hinüber.

Nichts rührt sich, alles ist still. Nur ein paar Amseln zanken sich um die reifen Himbeeren, die dick und rot an den Sträuchern leuchten.

"Hallo - Zauberer - hier ist Tommy mit seinen Freunden. Wo bist du? Wir möchten dich besuchen" ruft Tommy noch Mal durch den Garten, doch diesmal viel lauter. Im Gesträuch raschelt es, das Gras knistert, dürre Zweige knacken - und dann steht plötzlich und wie durch Zauberei der große Bonalibona vor ihnen. Aber er sieht gar nicht aus wie ein Zauberer. Auf seinem Kopf trägt er eine Wollmütze, um seinen Bauch einen Kittel, und in der Hand hält er eine Schaufel und eine Schere. Aber seine Pfeife qualmt wie der Schornstein einer Lokomotive.

"Wer brüllt denn hier so laut, dass einem die Ohren zerspringen? Wer seid ihr? Doch keine Strolche und Wegelagerer, die einen armen Einsiedler bestehlen wollen? Entschuldigt, aber ich habe meine Brille irgendwo im Garten verloren. Wenn ihr so gut sein wollt und danach sucht. Dann kann ich euch besser sehen" sprach Bonalibona zu den Freunden.

"Wir sind es doch, Miriam, Luna, Max und Tommy. Deine Freunde aus der alten Zeit" lachte Tommy herzlich.

"Warum sagst du das nicht gleich. Und taub bin ich auch nicht, dass du so herum schreist. Wo habe ich nur meine Brille verloren, es ist aber auch..."

"Du hast sie doch auf dem Kopf, lieber Bonalibona, hoch geschoben über die Stirn" ruft Luna lachend.

"Was - wie - wo - ach du liebe Zeit, es ist aber auch ein Kreuz mit dem Alter. Unsereins wird immer tatteriger, es ist zum auswachsen. Bald muss ich meine Zaubersprüche aufschreiben, um sie nicht zu vergessen. Denn ein Zauberer, der nicht mehr weiß wie er zaubern kann, der taugt nichts und wird ausgelacht. - Na - dann kommt doch herein, ihr wisst ja den Weg."

Tommy, Luna, Max und Miriam gehen durch den Garten zur Haustür, die sich knarrend und quietschend ganz von alleine öffnet. Kaum haben sie das Haus betreten, als aus dem alten windschiefen Haus, mit den alten verstaubten Möbeln ein prachtvolles Schloss mit einem wunderschönen großen Park wird.

"Er ist immer noch der alte" flüstert Max,

"von wegen ich bin vergesslich geworden. Er ist der beste Zauberer den es gibt, und er wird von Jahr zu Jahr besser, ganz bestimmt."

"Nehmt Platz meine Freunde, entschuldigt mein Aussehen, aber die Gartenarbeit ist meinem Zauberermantel nicht zuträglich. Es ist ein empfindliches und vor allem sehr wertvolles altes Erbstück. Ihr müsst wissen, dass dieser Mantel einst vom Hofzauberer des großen Königs Endloswald getragen wurde. Und dieser Hofzauberer ist mein Ur-Ur-Ur-Ur - - jedenfalls einer meiner ganz alten Vorfahren, der längst in die ewige Welt der Zauberer eingetreten ist. Und jetzt trage ich diesen Mantel, aber irgendwann werde ich ihn weitergeben müssen, wenn meine Zeit auf dieser Welt zu Ende geht. Das ist der...."

"Du wirst doch nicht sterben?" fragt Luna angstvoll.

"Nein - nicht so wie ihr Menschen das euch vorstellt. Das ist alles ganz anders, und bei mir dauert es auch noch eine ganze Weile - hoffe ich jedenfalls. Na ja - ich suche halt einen würdigen Nachfolger, schließlich möchte ich auch einmal meinen verdienten Zaubererruhestand genießen. Das ist doch in Ordnung - nicht wahr?"

"Na klar doch, dann hast du ja viel Zeit für uns und kannst Geschichten erzählen von damals, wie alles anfing. Woher du gekommen bist und wie Filigrania entstanden ist? Das würde uns ganz toll interessieren" rief Max laut, "und jetzt sind wir auch beruhigt, dass du uns noch nicht verlassen musst. Einen so guten Freund wie dich zu verlieren, das wäre wirklich ganz schlimm! - Und dann möchten wir uns noch bei dir entschuldigen, weil wir bei unserem ersten Besuch - na ja, wir haben halt an dir herumgemäkelt, und das tut uns leid, und wir werden das nie mehr tun. Großes Ehrenwort."

"Tatsächlich - ich meine - ihr mögt mich wirklich so sehr, dass - na ja, wenn das so ist, dann werde ich wohl doch noch nicht auf mein Zaubereraltenteil gehen können. - Ach - entschuldigt meine Unaufmerksamkeit, ich vergaß den Begrüßungstrunk - und - auch ich möchte euch um Verzeihung bitten, wegen meiner ungehobelten Manieren. Auch mir tut es leid, und es wird bestimmt nicht wieder vorkommen. Großes Zaubererehrenwort."

Bonalibona schnippte nur kurz mit dem Finger, und schon standen Krüge und Gläser voll mit Saft und köstlichen Limonaden auf dem Tisch. Und noch einmal "schnapp" , und die Tischplatte bog sich unter dem Gewicht von Obst, Eis und leckerem Kuchen.

"Ich bin schließlich Bonalibona, der große Zauberer und weiß, was ich meinen Freunden und Gästen schuldig bin. - Sicher möchtet ihr nun wissen, was ein Zauberer in seinem Garten treibt und warum er wie ein Kaninchen durch das Gesträuch huscht. Ich sehe es an euren Nasenspitzen an."

"Ja - Bonalibona, das würde uns sehr interessieren. Mit Schaufel und Schere warst du in deinem Garten unterwegs. Warum?" flüsterte Luna.

Bonalibona lehnte sich in seinen Sessel zurück, zog an seiner Pfeife, und blies den würzigen Rauch genüsslich in die Luft.

"Nun meine Freunde, es gibt Dinge auf dieser Welt, da muss auch ein Zauberer auf altbewährte Mittel zurückgreifen - auf Schaufel und Schere. Ihr habt doch sicher schon von der Zauberwurzel Alraune gehört - nicht wahr? Schaut her - so sieht sie aus - wie ein Mensch."

Ruck-zuck hielt der Zauberer eine Wurzel in der Hand, die tatsächlich die Gestalt eines Menschen besaß.

"Ohh - ist die schön" staunten Miriam, Luna, Max und Tommy wie aus einem Mund.

"Warum sieht sie denn aus wie ein Mensch?" fragte Luna zögernd,

"ist das vielleicht ein ver...."

"Ach liebe Freunde, das ist eine traurige Geschichte, die vor langer, langer Zeit begann, und ihre düsteren Schatten bis in diese Zeit wirft. Ich habt mich gebeten sie zu erzählen, dann werde ich euch von diesem Geheimnis berichten. - Nehmt Platz und seid bereit für das Geheimnis des Zauberers Bonalibona, der euch Menschenkindern nun die Geschichte der Zauberwurzel Alraune erzählen wird. Ihr werdet alles hören und wieder vergessen, und doch werdet ihr euch später an alles erinnern und euren Kindern davon berichten, wenn der große Bonalibona längst in die ewige Welt aller Zauberer eingetreten ist."

Luna, Miriam und Max rückten ganz dicht zusammen, und Tommy setzte sich neben die Kinder auf den dicken Teppich. Es war mucksmäuschenstill im großen Empfangszimmer des großen Zauberers Bonalibona. Nur der metallische Taktschlag der mächtigen Standuhr erfüllte mit silbernem Klingen die atemlose Ruhe dieses Augenblicks und erinnerte die Kinder daran, dass die Zeit auf ihrer Reise durch die Ewigkeit für einen winzigen Augenblick bei ihnen verweilte, um dann ihren weiten Weg in die Unendlichkeit fortzusetzen. Bonalibona schloss die Augen und lehnte sich in den großen Sessel zurück, der gleich neben dem Fenster am Kamin stand. Von dort konnte der Zauberer alles überblicken, seinen Garten, den Park, die alten Gassen und Häuser von Filigrania, die Stadt, das Land, die Flüsse und Seen, die Meere und Ozeane, den Himmel, die Sterne - und das Schicksal der Menschen, das auf einem riesigen Baum an Zweigen und Ästen heranwuchs, um irgendwann zu reifen und sich zu erfüllen.

"Es ist das Verhängnis des Menschen, dass er vergisst" sprach Bonalibona mit ruhiger, ernster Stimme, "so wie er seine besten Freunde, die Erdmännchen vergaß und sich aufmachte die Welt zu beherrschen."

Bonalibona schwieg einen Augenblick, nahm einen Zug aus seiner Pfeife und blies den würzigen Rauch in den Raum hinein.

"Trinkt meine Freunde, greift zu - oder solltet ihr weder Durst noch Hunger haben? Lasst euch von meinen Geschichten nicht davon abhalten zu schmausen. Essen und trinken gehört mit zu den schönsten Geschenken, die das Leben für uns bereit hält. Was wären wir nur ohne gutes Essen und Trinken? - Bohnenstangen, dürre, unansehnliche Figuren, die mit klappernden Knochen durch die Welt staken würden. - Nein meine Freunde, es geht nichts über ein herzhaftes Mal. Danach sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. - Wo war ich noch - ach ja - die Erdmännchen. - Es ist eine traurige Geschichte, was den Erdmännchen geschehen ist. Hier - die Alraune, sie ist die Zauberwurzel und in ihrer Gestalt einem Menschen ähnlich. Das ist kein Zufall. Lange vor meiner Zeit waren die Erdmännchen über die ganze Welt verteilt. Überall gab es sie, und wo Erdmännchen Zuhause waren, da herrschte Frieden, Gesundheit und es gab alle Tage genug zu essen und zu trinken."

Bonalibona hielt einen Augenblick inne und sagte kein einziges Wort. Seine Augen blickten tief in die Herzen der Kinder, die seine Freunde waren - und in Tommys Seele, die wie ein großes Buch offen vor ihm lag.

"Aber dann..."

"Was war dann?" flüsterte Miriam ängstlich.

"Ja Bonalibona - was geschah dann?" fragten die anderen leise.

Der große Zauberer nahm einen Zug aus seiner Pfeife und blies den Rauch langsam in die Luft. Er rückte seine Brille zurecht, faltete die Hände zusammen und blickte mit ernstem Gesicht zu den Kindern und Tommy.

"Es war vor langer, langer Zeit, als es weder diese Stadt, noch dieses Land, noch irgend etwas anderes gab auf dieser Welt, als nur tiefe, undurchdringliche Wälder. Die Welt wurde beherrscht von den vier Elementen, dem Atem des Windes, dem Rauschen des Wassers, dem Lodern des Feuers und dem Beben der Erde. Alles auf dieser Welt hatte sich diesen Elementen zu fügen. Auch der Mensch, der damals noch sehr jung war und gerade anfing aufrecht zu gehen, um diese Welt zu erkennen. Inmitten dieser riesigen, undurchdringlichen Wälder, stand ein Tropenbaum. Der reckte seine Äste, Zweige und Blätter weit hinauf in den blauen Tropenhimmel. Jeden Mittag, wenn sich die Regenwolken am Firmament zusammenbrauten und ihre nasse Fracht entluden, versammelten sich die Tiere des Tropenwaldes unter dem Blätterdach des Tropenbaumes, wo sie Schutz und Geborgenheit fanden. Das ganze Jahr über trug der Tropenbaum reiche Frucht, und der Tisch war stets üppig gedeckt. Die Tiere litten keine Not, und als Dank für seine Großzügigkeit bauten die Vögel des Tropenwaldes ihre Nester in seine Zweige und sangen dem Tropenbaum den ganzen Tag wunderschöne Weisen. So hätte es alle Zeiten bleiben können, wenn nicht eines Tages während eines Sturmes eines dieser behaarten zweibeinigen Wesen von einem Ast des Tropenbaumes gefallen wäre. Da saß es nun, allein, verschreckt und voller Angst. In seiner Not wusste es nicht mehr ein noch aus und rannte wie von Sinnen um sein Leben. Überall stieß es mit dem Kopf an, und weil es zum Laufen noch seine Hände gebrauchte, blieb ihm diese Welt verschlossen. Erst erkundete es nur seine nächste Umgebung, doch dann drang es immer weiter vor in den Urwald und entfernte sich immer mehr vom Platz seiner Herkunft. Voller Zorn über die Hindernisse, die ihm von riesigen Bäumen, vom Wald und allen Pflanzen in den Weg gelegt wurden, verließ das behaarte Wesen nach langem Umherirren den Wald und kam an eine endlose, golden schimmernde Wiese. Dort stand das Gras so hoch, dass das haarige Wesen nur den Himmel sehen konnte, nichts sonst. Das machte es noch wütender und zorniger als zuvor, und der Hass auf seine Umgebung, den Wald und alles was es umgab, ließen es mit einem Ruck aus der Erde emporsteigen und sich aufrichten. Was für ein Bild bot sich dem neugierigen, durch die unbekannte Welt stampfenden Zweibeiner! Eine wunderschöne, unberührte und harmonische Welt, in die von einem zum anderen Augenblick die Angst, die Verfolgung, die Zerstörung und Vernichtung einzog. Weit breitete der behaarte Aufrechtgeher seine Arme aus, umschloss alles, was sich seinen Augen bot, um es unbarmherzig an sich zu ziehen und auszupressen. Tief in seinem Inneren glühte das Feuer des Hasses, und es erinnerte sich an seinen Sturz vom hohen Tropenbaum."

Bonalibona schloss die Augen und wischte sich leicht mit der Hand über sein Gesicht. Der Schmerz der Erinnerung quälte den alten Zauberer, und aus den Tiefen einer längst vergangen geglaubten Vergangenheit stiegen die Geister der Erdmännchen empor, um für sich und die Menschen um Verzeihung zu bitten. Bonalibona atmete schwer, und der Blick seiner müden Augen lastete wie ein Gebirge auf den Herzen der Kinder.

"Viele Jahre später kehrte das nun nicht mehr so stark behaarte, dafür um so bösartigere Wesen an jenen Ort zurück, den er dafür verantwortlich machte, dass er seine angestammte Heimat verlassen musste, um nach neuen Ufern Ausschau zu halten. Unablässig durchstreifte dieses Wesen mit vielen Gleichgesinnten den in seiner Farbenpracht und Lebensfülle pulsierenden Tropenwald. Ein Lärmen und Schreien erfüllte die Harmonie des Wachsens und Lebens, und von einem zum anderen Augenblick wehte der Atem des Todes über den ehemals paradiesischen Wäldern. Jahrelang wüteten das behaarte Wesen und seine Helfer, Generation auf Generation setzte das Werk der Vernichtung fort, immer größer und schrecklicher wurden die Wunden, welche die Zweibeiner dem herrlichen Wald schlugen. So weit das Auge reichte bedeckte nun nicht mehr endloses dichtes Grün die dampfende Erde, sondern die braune und verbrannte, zerwühlte und zerstampfte Haut des Tropenwaldbodens. Sie lag nackt und schutzlos in der sengenden Glut. Nur der große Tropenbaum stand als letzter Mahner, als Märtyrer und Ankläger inmitten trostloser Wüstenei. Gierig, mit triefenden Mäulern, näherten sich die kaum noch behaarten Wesen dem König aller Bäume, umkreisten eilfertig den gewaltigen Stamm des Tropenbaumes, der seit Jahrhunderten allen Gewalten trotzte, und jenes kaum noch behaarte Wesen, das vor Generationen aus dem Geäst des Tropenbaumes fiel, schlug voller Mordlust und in blindwütiger Wildheit seine kreischenden eisernen Zähne in den lebendigen Leib des alten Freundes. Erbarmungslos rissen die Zweibeiner große Stücke aus dem Stamm heraus, drückten, stießen und hebelten wie besessen, und dann ertönte ein Schreien, ein nicht enden wollender Schrei, grauenvoller und schmerzhafter als alle Schreie die jemals über diese Welt hallten, und dann begann sich der Tropenbaum zu neigen, erst langsam, dann schneller werdend, um dann mit mächtigem Splittern und Krachen zwischen die Baumruinen des toten Tropenwaldes zu stürzen. Die Zweibeiner tanzten und lachten, schüttelten sich die Hände und steckten sich bunte Papierstücke in ihre zweite Haut. Dann tranken sie aus durchsichtigen Behältern, denn die Sonne schien nun gnadenlos auf einen tropenwaldlosen Urwaldboden, und soweit der Blick reichte war nichts mehr zu erkennen, außer toten Bäumen und glühender nackter Erde. Den kaum noch behaarten Zweibeinern wurde es heißer und heißer, und der Durst stieg in ihre Kehlen und ließ sie verzweifeln, denn es gab keine Bäche, Teiche und Flüsse mehr, weil die brodelnde Sonne die schutzlose Welt austrocknete. Alle Tiere waren verschwunden, ausgerottet und von den Zweibeinern gefressen oder vernichtet worden. Es gab nicht ein einziges grünes Blatt mehr, kein fröhliches Lied erfüllte die heiße Luft, durch die der Pesthauch der Verwesung um die Welt geblasen wurde. Das Schreien und Toben der Zweibeiner hallte bei Tag und Nacht aus allen Winkeln und Verstecken hinaus, denn die Not und Verzweiflung wuchs mit jeder Stunde. Bald schon lagen überall tote Zweibeiner herum, ihre Leichen bedeckten das verwüstete Land, und der Gestank des Todes trieb die Überlebenden in Panik vor sich her. Hunger und Durst fraßen sich wie Hyänen in ihre Leiber ein, und bevor noch drei Sommer vergingen, fielen sie übereinander her. Der Kannibalismus feierte grauenvolle Auferstehung. Von den verkohlten Ästen des letzten Tropenbaumes brachen sich die letzten zweibeinigen Wesen splitternde Spitzen, um diese voller Hass und Raserei ihrem Nächsten in den Leib zu rammen. Als sich der Abend nieder senkte, glutrot, aufgeladen mit Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Todessehnsucht, Qual und Leid, als sich der letzte Zweibeiner kraftlos und ausgezehrt gegen den zerfallenden Stamm des Tropenbaumes lehnte, als dieses zweibeinige Wesen mit großen leblosen Totenaugen in eine sterbende Welt blickte, als dieses zweibeinige Wesen die alleinige Einsamkeit des Todes in dieser Welt begriff, öffnete sich der verlederte Mund zu einem stummen Schrei abgrundtief seelischer Verlassenheit, und aus den staubverkrusteten Lidern glanzloser Augen perlten in silbernem Glanz die Tränen einer sehr weit entfernten Erinnerung, einer Erinnerung die soweit weg war und so entfernt, dass dieses zweibeinige Wesen nichts anderes mehr zu tun wusste, als den jämmerlichen Rest seines bedeutungslosen Lebens in den ausgedörrten staubigen Grund des einstigen Tropenwaldes rinnen zu lassen. Was sich dieses Wesen im Leben verwehrte, nämlich die Augen zu öffnen und zu sehen, das verwehrte ihm nun der Tod, der ihm die Augen zu schließen nicht gestattete sondern offen hielt, mit kalten knochigen Fingern aufriss, zu Schauen und zu Schaudern, mit Entsetzen und Grausen, der Tag und Nacht zu einem Bild verschmolz, zu einem apokalyptischen Ring, eingehüllt in feurige Bänder, die sich wie Derwische um jenes zweibeinige Wesen drehten, bis es endgültig zu Staub zerfiel und vom Wind des Vergessens in die Nacht geweht wurde."

Bonalibona schlug sich beide Hände vor das Gesicht, und sein Körper schüttelte sich in Verzweiflung, denn der große Zauberer hatte die Zukunft gesehen, Bonalibona besaß das zweite Gesicht. Wie ein eisiger Hauch legten sich die Worte des Zauberers über die Kinder, die nun ganz dicht zusammengerückt auf dem Sofa saßen und kein Wort herausbrachten. Doch dann erhob Bonalibona sein Haupt, öffnete seine Augen, die voll Glanz und Licht erfüllt waren, und er setzte seine Erzählung fort, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.

"Es war einmal ein Tropenbaum, meine lieben Freunde. Der lag verkohlt und zerschlagen auf dem verkrusteten Boden des einstigen Tropenwaldes. Um ihn herum schien alles tot und erstarrt. Aber unter seinem Stamm, tief im Boden des einstigen Tropenwaldes, bereitete sich das Leben auf einen Neubeginn vor. Es waren die Erdmännchen, die der zerstörten Welt neues Leben einhauchten. Die Erdmännchen sind die Seelen der Menschen, die dieser Welt Böses antaten und nun den angerichteten Schaden wiedergutmachen müssen. Damit man die Erdmännchen auf der ganzen Welt erkennen kann, wurde ihnen die Gestalt des Menschen verliehen, damit er sich immer an seine Unvollkommenheit erinnert. Sie sind dazu bestimmt in der Erde zu wohnen, solange es Menschen gibt, die dieser Welt Schaden zufügen. Sollte es irgendwann einmal keine Erdmännchen mehr geben, dann haben die Menschen das Paradies gefunden. Aber das wird wohl niemals geschehen, niemals. Zur Zeit wimmelt es auf der Welt von Erdmännchen, ja, es ist eine wahre Flut geworden. Überall und an jeglichem Ort tauchen sie auf, wohin ihr auch schaut. Ihr könnt sie sofort erkennen, auch wenn sie als Wurzeln aus dem Boden gegraben werden. Sie gelten als Zaubermittel, und sie haben einen magischen Einfluss auf den, der sie richtig zu nutzen weiß. Deshalb grabe ich nach ihnen in meinem Garten. Ihr Elixier wirkt in der Tat Wunder und lässt mich Dinge sehen, die mich manchmal um den Schlaf bringen. Auf der anderen Seite bewirken sie nur Gutes, wozu sie ja bestimmt sind. Trotzdem ist die Gestalt des Menschen unverkennbar - und das stets lauernde Böse in ihm."

Bonalibona beendete seine Geschichte, nahm seine Pfeife zur Hand und stopfte Tabak in den Pfeifenkopf. Genüsslich entzündete er den Tabak, sodann paffte er dicke Wolken in das große Kaminzimmer. Luna, Miriam, Max und Tommy horchten dicht aneinander gerückt mit großen Augen der Erzählung ihres Freundes, des großen Zauberers Bonalibona.

"Was - was - was wird denn aus uns - lieber Bonalibona? Müssen wir auch in die Erde - als Wurzel?" fragte ängstlich die kleine Luna.

Bonalibona verschluckte sich beinahe am Rauch der Pfeife, begann zu husten und klopfte sich dabei lachend auf die Schenkel. Der große Zauberer lachte so herzlich, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Er schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Schluck von der köstlichen Limonade, die Bonalibona aus den Früchten seines Gartens selbst herstellte.

"Nein - nein - nein, liebe Luna, ihr werdet ganz bestimmt keine Zauberwurzeln, dazu seid ihr viel zu gut und würdet dieser wunderschönen Welt niemals weh tun" lachte Bonalibona.

"Außerdem habt ihr ja alle Gelegenheit zu beweisen, was euch diese Welt bedeutet. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Euer ganzes Leben lang. Und danach wird sich entscheiden, ob eure Seele in einen neugeborenen Menschen Einlass findet, oder als Alraune, als Zauberwurzel den guten Menschen Hilfsdienste leisten muss."

"Wie - was - meine Seele, ich meine, ich komme noch Mal auf die Welt in einem anderen Menschen?" rief Max aufgeregt.

"Na klar doch, was hast du denn gedacht? Das könnte ja niemand mehr auseinander halten. An jeder Ecke würden die Seelen zu Hunderten, ja zu Tausenden herumsitzen, ohne sinnvolle Beschäftigung. - Nein - das ist schon gut eingerichtet so - und auch gerecht. Schließlich sollen diejenigen, die der Welt und den Menschen Schaden zufügen, ja nicht den gleichen Lohn empfangen wie jene, die mit sich und der Erde in Einklang leben. Hört sich zwar sehr altmodisch an, ist aber voll in Ordnung. Die Menschen heute meinen zwar, sie hätten alles im Griff und sind so stolz, dass sie vor lauter Überheblichkeit kaum gehen können. Aber in den einfachsten Dingen versagen sie kläglich. Gottlob gibt es noch Kinder, die sich für Zauberer, geheimnisvolle Märchen und die alte Zeit interessieren. Das ist auch der Grund, warum es uns Zauberer überhaupt gibt. Wir haben die ehrenvolle - und manchmal auch schwierige Aufgabe, den Kindern die Geschichten der alten Zeit zu erzählen. Und mit ein wenig Glück gelingt es uns sogar, sie davon zu überzeugen. Das, meine lieben Kinder, ist das eigentliche Geheimnis des Zauberers. Bewahrt es stets in eurem Herzen und vergesst niemals die alte Zeit, denn sie wird sich noch an euch erinnern, wenn ihr längst erwachsen seid und eigene Kinder habt. Und hütet die größte Tugend die euch Menschen zuteil wurde – die Wahrhaftigkeit. – Ja – Wahrhaftigkeit – das ist es. Vergesst das nie – tretet zusammen unter dem Sternenzelt und schickt eure Wünsche zu den Lichtern des Himmels. Vergesst nie diesen Tag – denn ihr werdet einst sagen können – wir sind dabei gewesen.“

"Die alte Zeit - ist das so eine Art Vergangenheit?" flüsterte Miriam.

"Oh nein, die alte Zeit ist genau so eine Zeit wie diese, in der wir jetzt leben. Kompliziert, zugegeben, aber im Grunde ganz einfach. Stellt Euch die Zeit wie ein Meer vor. In ein Meer münden Flüsse. Die Zeit ist auch ein Fluss. Im Wasser finden sich unvorstellbar viele kleine und größere Teilchen, die langsam aber unaufhaltsam ins Meer transportiert werden. Dort sinken sie dann zu Boden. Der Meeresboden wird dadurch immer höher. Aber nicht überall gleichmäßig. Auf diese Weise entstehen Gebirge, die irgendwann einmal die Meeresoberfläche erreichen - und schon gibt es eine neue Insel. Mit der Zeit ist das ähnlich. Jeden Tag vergehen exakt - Moment - ich muss nachdenken - das sind - ja - 86400 Sekunden. An jedem Punkt der Welt. Faszinierend - nicht wahr! Das Jahr hat mal 364, mal 365 Tage. Ein Menschenleben währt 50, 60 oder sogar 100 Jahre. Aber die alte Zeit, die ist unendlich, sie ist ewig, ein riesiger, gewaltiger Strom, der sich in den Ozean der Ewigkeit ergießt. In jeder Sekunde, jeder Stunde, an jedem Tag, in jedem Monat und Jahr geschieht etwas. Überall auf der Welt. Und dieses Geschehen wird durch die Zeit in den Ozean der Ewigkeit gespült, wo es zu Boden sinkt. Auch dort gibt es Gebirge, die irgendwann einmal die Oberfläche des Zeitmeeres erreichen. Dann entsteht eine zweite, eine dritte und vierte Welt, die mit unserer fast identisch ist. Aber nur fast, denn was auf unserer Welt im Augenblick geschieht ist in der zweiten oder dritten Welt schon Zukunft, in der alten Zeit jedoch Vergangenheit. - Na ja - ich erkläre euch das einmal an einem anderen Tag noch genauer, denn wir werden viel Zeit miteinander verbringen, da bin ich mir ganz sicher. - Und nun haben wir genug philosophiert, jetzt gehen wir alle in den Garten und schauen nach, was es Leckeres zu naschen gibt. Was haltet ihr davon?"

"Naschen - Garten, etwa Himbeeren oder Pflaumen? Stachelbeeren sind auch schon reif, und die Johannisbeeren. Vielleicht finden wir noch Erdbeeren? Kommt - schnell in den Garten, bevor die Spatzen alles weg fressen" riefen die Kinder wie aus einem Mund und stürmten an Tommy vorbei hinaus in Bonalibonas Garten.

"Keine Geduld hat sie, die Jugend, keine Geduld. Wie will sie da etwas lernen? Angst haben sie, dass die Spatzen ihnen etwas wegfressen. Als wenn alles auf dieser Welt nur dazu bestimmt ist, von den Menschen aufgegessen zu werden. Du hast noch viel zu tun, lieber Tommy, sehr viel. Aber es sind gute Kinder, ich spüre es, sie sind gut."

"Ja Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater, das sind sie, aber es macht mir sehr viel Spaß, ihnen die Geschichte des Lebens und die Geschichte ihrer kleinen Stadt zu erzählen. Lassen wir sie erst einmal in Ferien fahren, danach sehen wir weiter. Sie gehen uns nicht verloren, denn sie glauben noch an Zauberer, Traumschlösser und die alte Zeit."

Tommy und Bonalibona verließen das große Kaminzimmer des Hauses und schritten nebeneinander hinaus in den Garten, wo Luna, Miriam und Max mitten zwischen den Sträuchern standen, und mit Hingabe von den süßen Früchten naschten, die im geheimnisvollen Garten des großen Zauberers Bonalibona wuchsen. Unbemerkt von den Kindern, unter Gesträuch und allerlei Pflanzen versteckt, bewegte sich leicht die Erde, um dann plötzlich aufzubrechen. Ein Erdmännchen streckte seinen Kopf heraus, besah sich die muntere Schar und lächelte friedlich. Bald ist seine Zeit gekommen. Dann würde seine Seele wieder frei sein und Platz finden in einem Menschen, der so ist wie diese Kinder in Bonalibonas Garten. Bonalibona hatte recht. Die lange Zeit des Wartens lohnte sich, und irgendwann einmal würden alle Erdmännchen wieder als Seelen in den Herzen der Menschen wohnen.

Der Güldene Baum

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