Читать книгу Granero - Hans-Jürgen Döpp - Страница 5
ОглавлениеTorodora Gorges
Wer war Manuel Granero?
Der Torero Manuel Granero starb als junger Mann. Am 4. April 1902 in Valencia geboren, wurde er am 7. Mai 1922 von einem Stier in der Plaza de Toros in Madrid getötet. Er war bei seinem Tod zwanzig Jahre, einen Monat und drei Tage alt. Ein Jugendlicher, fast noch ein Kind - zum Sterben zu jung! Auf den alten Porträt-Fotos sieht man ein blasses Kindergesicht mit weichen Zügen und freundlich-scheuem Lächeln, dem jede Spur von „Draufgängertum“ oder gar Aggressivität fehlt.
Der Tod jedoch stellte für den jungen Mann keine unbekannte Größe dar, denn er war Matador de Toros, „Stiertöter“, durch dessen Degen der Stier sein Leben verliert. Allerdings setzt ein Torero bei der Begegnung mit dem Toro immer auch sein eigenes Leben aufs Spiel. Manuel Granero hatte sich, wie die meisten Toreros, schon sehr früh dafür entschieden, diesen Beruf zu ergreifen. Einen „Brotberuf“, gar eine lukrative Einnahmequelle verstand er darunter nicht. Für ihn kam die Wahl dieses Berufes einer Berufung gleich, sie war bestimmt von Tradition und Mythos, getragen von Leidenschaft – Passion. Ein „berufener“ Torero erlebt sich als Künstler in einem feierlichen Hochamt, einem Priester vergleichbar, der ein Opferritual zelebriert.
Diese ritualisierte Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tier mit dem deutschen Begriff „Stierkampf“ („bullfight“ im Englischen) zu definieren, ist völlig unangebracht, ja irreführend. Im Herkunftsland der Tauromachie, in Spanien, sowie in Ländern romanischer Sprache findet sich keine Entsprechung dafür. Synonyme im Spanischen sind: el toreo (nicht zu verwechseln mit torero, dem Akteur) – la corrida de toros – la fiesta de toros – la fiesta brava, und – obwohl es schon längst eine breite internationale Anhängerschaft gibt - wird das Fest zur Feier der Stiere von den konservativen spanischen Aficionados weiterhin gerne als fiesta nacional bezeichnet. Aber immer geht es im toreo um den toro, ihn gilt es zu feiern. Denn es geht um Kunst, nicht um Kampf . „El toreo es un arte, no una lucha…“, lautet das von der Afición immer wieder neu beschworene Credo.
Manuel Granero verkörperte bereits als Heranwachsender das Idealbild eines sensiblen, hoch begabten Künstlers. Er war ein beliebter und gefragter Novillero, er war auf dem Weg nach oben, hatte potente Förderer. In der gehobenen Gesellschaft war er kein Unbekannter. Das Publikum verehrte ihn, Frauen verliebten sich in den schüchternen jungen Mann aus gutem Hause. Er galt als kultiviert und gebildet, spielte Geige und hätte sich unter anderen Vorzeichen auch ein Leben als Geigenkünstler vorstellen können. All das ist nachzulesen in einem Text, der 1922 in Spanien als kleines schmales Buch im Oktavheft-Format erschienen ist. Dieser von mir ins Deutsche übertragene Text befindet sich auf den folgenden Seiten.
Sein Titel lautet Granero, el Ídolo – Granero, das Idol. Mit dem Untertitel Vida, Amores y muerte del gladiador– Leben, Amouren und Tod des Gladiators bedienen die Verfasser die Neugier des Boulevard. Tendenziell auf dem Niveau eines Groschenheftes beschreiben die beiden Journalisten El Caballero Audaz und Juan Ferragut das kurze Leben Graneros. Sie berichten von ersten Erfahrungen in Liebesangelegenheiten und den wenigen „Liebschaften“ mit Frauen, die seine Unerfahrenheit und unschuldige Naivität auszunutzen verstanden. Berichtet wird aber auch von der rührenden Liebesbeziehung zu einer gleichaltrigen jungen Frau, einem „gefallenen Mädchen“, die der Torero beim Aufbau eines neuen Lebens in dezenter Sicherheit unterstützte.
Bei der Schilderung der dramatischen Umstände seines Todes in der Plaza von Madrid - an einem sonnigen Sonntag im Mai - sparen die Autoren nicht mit eindrucksvollen Details des Grauens. Wie ein Naturereignis traf das brutale Geschehen die Zuschauer. Die Reaktionen des Publikums bewegten sich zwischen gellendem Entsetzen und stummer Fassungslosigkeit. Panische Erregung hatte die Menschen ergriffen. Die Berichte der beiden Journalisten vermitteln eine Ahnung davon. Diese Corrida de Toros, an einem heiteren Maientag in entspannter Atmosphäre, kippte von einem Augenblick zum nächsten in eine Tragödie um.
Zeitgenössische Schriftsteller setzten sich in der Folgezeit literarisch mit den verstörenden Gefühlen und Phantasien auseinander, von denen die Augenzeugen dieses Grauens verfolgt wurden. Unbewusste Assoziationen von bizarr irritierender Qualität löste insbesondere das Detail vom Verlust des Auges durch das Eindringen des Stierhorns aus. Hemingway, der Graneros Tod als Zuschauer miterlebt hatte, beschreibt in seinem Buch „Tod am Nachmittag“ diese Szenen. Das in höchste Erregung gesteigerte Erleben von Furcht und Schrecken hat der Franzose George Bataille in seinem Roman „Die Geschichte des Auges“ zum Thema gemacht. Darüber erfahren wir später im Zusammenhang mit den Illustrationen mehr.
Im oben erwähnten Text, „Granero, das Idol“, beschreiben die beiden Autoren die nächtliche Totenwache für den Verstorbenen. Freunde und Vertraute hatten sich in der zur Trauerhalle umgerüsteten Kapelle der Plaza eingefunden. Am offenen Sarg trauerten sie in der Stille und bei Kerzenschein. Der Tote wurde von ihm nahestehenden Menschen im geschützten Raum der Kapelle, mit Blick auf den leidenden Christus am Kreuz, beweint. - Am nächsten Tag waren die Straßen Madrids auf dem Weg zum Bahnhof schwarz von zahllosen trauernden Menschen. Feierlich nahmen sie Abschied von Manuel Granero, der in seine Heimatstadt Valencia überführt wurde. Respektvoll, die Köpfe gesenkt, den Hut in der Hand, erwiesen sie dem toten Torero, der in einer imposanten Trauerkarosse aufgebahrt an ihnen vorbeifuhr, die letzte Ehre.
Die Ähnlichkeit mit den Prozessionen innerhalb der Karwoche im katholischen Spanien drängt sich auf. Besonders in Andalusien wird während der Semana Santa die teilnehmende Identifikation mit dem Leiden Christi – in einer Form leidenschaftlicher Passion - feierlich zelebriert.
Das Phänomen kollektiven Trauerns und Mitleidens beim Tod einer prominenten Kultfigur
- aus dem Bereich von Kunst, Politik, Sport etc. - ist immer wieder aufs neue unter anderen Bedingungen und zu allen Zeiten zu beobachten. Allerdings wären vergleichbare Demonstrationen massenhafter Anteilnahme am Tod eines Toreros in der breiten Öffentlichkeit heute nicht mehr denkbar. Während sie früher als Künstler und Helden mit hohem Kultstatus verehrt wurden, wird den heutigen Toreros eher Tierquälerei und Folter zum Vorwurf gemacht. Obwohl die Tauromaquia als Kulturgut anerkannt ist, kämpfen gegenwärtig Vertreter wie Anhänger der Welt der Stiere um den Fortbestand der Fiesta Brava.
Dagegen genossen namhafte Toreros noch bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hinein höchste Anerkennung in der Gesellschaft. Sie wurden idealisiert und idolisiert. Man identifizierte sich mit ihnen, sie galten in der ganzen Bevölkerung als Vorbild. Der Tod eines bedeutenden Toreros kam dem Tod eines Helden gleich.
Der Verlust des Idols hinterließ Leere und Verzweiflung – Depression! Das Bild kollektiver Trauerbekundungen anlässlich seiner Beisetzung wiederholte sich zu jener Zeit häufig. Immer wieder gab es den Tod eines Toreros zu beklagen, weil bis zur Entdeckung des Penicillins selbst geringfügige Hornverletzungen oftmals letal endeten.
Dem gewaltsamen Tod Manuel Graneros war nur zwei Jahre zuvor der dramatische Tod eines anderen, noch größeren „Helden“ jener Epoche vorausgegangen: „Joselito el Gallo“ (José Gómez Ortega), erlag im Alter von 25 Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, in der Plaza von Talavera de la Reina den schweren Hornverletzungen, die ihm der Stier ´Bailador` zufügte. Der Name dieses Stiers ist heute noch, über hundert Jahre danach, präsent für viele Menschen. Mit Joselito, dem gefeierten „Rey de los Toreros“, bleibt auch der Toro ´Bailador`, der ´Tänzer`, in ehrenvoller Erinnerung. Diejenigen der „toros bravos“ (übersetzt: „tapfere Stiere“), die den Tod eines berühmten Matadors verursachen, werden in der alles umfassenden Trauer um den Verstorbenen gewürdigt, haben Anteil an dessen Ruhm.
Joselito el Gallo, die bis heute unvergessene Lichtgestalt in der taurinischen Welt, war tot; seine Anhängerschaft, desolat, trost- und orientierungslos, fühlte sich verloren, verlassen von ihrem Idol. Für Manuel Granero, gerade 18 Jahre alt, fast noch im Alter eines talentierten Wunderkinds, war der gefeierte große Maestro schon lange ein unerreichbares Vorbild gewesen. Der Weg, ihm nachzufolgen, war nun frei. Granero schien das ideale Ersatzobjekt der Stunde. Die taurinische Afición in ganz Spanien besetzte ihn als neues Idol, war ihm liebe- und respektvoll zugeneigt.
Zwei Jahre dauerte es, bis auch Manuel Granero, der liebenswerte Zwanzigjährige, dem Stier begegnete, der unter besonders grauenvollen Umständen seinem Leben ein jähes Ende bereitete und dessen Name ´Poca Pena` (der Kecke, der Unbekümmerte) für immer unauslöschlich mit seinem Namen im Gedächtnis der Nachwelt verbunden bleibt.