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Fahrstunden – Tanzstunden

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Für Mila und Lotti

in liebevoller Erinnerung


Die meisten Personen in diesem Buch sind nur erfunden oder stark verändert. So wie auch die meisten Geschichten nur erdacht sind. Aber das Lämmchen gab es wirklich, und das kleine Haus in Südspanien steht immer noch – trotz der vielen, wahren Probleme.

1

Klaus Thaler war wach. Er ärgerte sich mal wieder über sich selber. Wahrscheinlich war er der einzige Mensch auf der Welt, der von der Eiseskälte in seinen Händen und Füßen geweckt wurde. Und das am freien Samstag um fünf Uhr.

Wie unprofessionell von seinem Körper.

Neben ihm schnarchte Andrea, seine ihm angetraute Ehe­frau, leise und regelmäßig. Und schlief unbeschwert und tief. Im Gegensatz zu ihm hatte Andrea dauerhaft angenehm warme Hände und Füße, brauchte selbst im Januar nur ein leichtes Federbett und strampelte sich auch noch in der größten Kälte davon frei. Beneidenswert.

Klaus legte die eiskalten Hände unter seinen lauwarmen Allerwertesten und bewegte seine leicht bläulichen Füße kreisförmig, um die Blutzirkulation zu stimulieren.

Selbst die Kinder - Anton, der Älteste, Emil, der Mittlere und Emma, das Nesthäkchen - hatten seine Gliedmaßen als Permafrostfüße und -hände bezeichnet. Und schon als Baby erschreckt zurückgezuckt, wenn er sie streicheln wollte.

Und Andrea, die das Frostfiasko nun seit über zwanzig Jahren ertragen musste, war der Meinung, dass selbst ein Pinguin eine „Gänsehautentzündung“ bekommen würde, wenn er Klaus im Ehebett zu nahekommen würde.

Seitdem durfte sich Klaus seiner lieben Ehefrau nur noch weniger als zehn Zentimeter nähern, wenn er vorher Hände und Füße mit einem warmen Senfbad auf Touren gebracht hatte.

Etwas kompliziert, das Ganze.

Und jetzt konnte Klaus nicht mehr einschlafen. Obwohl über seiner dicken Daunendecke noch eine Lama-Woll­decke lag.

Nach einigen Minuten sinnlosen Rumwälzens und zweckloser Fuß - und Handgymnastik, beschloss Klaus, das Drama lieber zu beenden und aufzustehen. Während er sich seine Wachspfropfen aus den Ohren pulte, ohne die sowieso nicht an Schlaf zu denken war, nahm er sich fest vor, sich nach dem Mittagessen zu einem Mittagsschlaf zu zwingen.

Ganz vorsichtig pickte sich Klaus im Dunkeln seine Kleidung vom Stuhl, stieß dann mit nackten Zehen an ein Bettbein, was Andrea Gott sei Dank nicht weckte, und schlich humpelnd mit schmerzverzerrtem Gesicht und gemurmelten Flüchen aus dem Schlafzimmer. Die Tür öffnete Klaus so vorsichtig, als würde er drei rohe Eier balancieren. Nur nicht Andrea wecken.

Obwohl Klaus spürte, dass er einen Mundgeruch hatte, wie der Sickerschacht im Keller, war er doch zu faul, sich schon zu so früher Stunde die Zähne zu putzen. Das widersprach allerdings jedem Hygienekonzept seiner schlafenden Frau.

Im Flur lag Mila, ihr schwarzgelockter Familienhund, in ihrem Körbchen und grunzte im Traum.

„Wer weiß, von welchem Rüden die mal wieder träumt“, dachte sich Klaus, während der Schmerz in den Zehen ganz langsam nachließ. Er huschte ins Bad und nahm nur eine sehr oberflächliche Körperreinigung vor. Der Rest musste warten, bis er nachher mit Anton zum Autofahren-Üben wollte.

Er schlich die alte, knarrende Eichenholztreppe vorsichtig runter an den Briefkasten. Natürlich war die Zeitung noch nicht da. Typisch. Immer wenn er Zeit hätte, das Kreuz­worträtsel als Erster noch vor Andrea zu lösen und die Zeitung in Ruhe zu lesen, kam die Zeitung später.

Also musste der Hund dran glauben.

Klaus stieg die ehemals mühsam abgeschliffene Treppe in ihrem alten Haus wieder nach oben und versuchte, Mila zu wecken. Selbst die zuckte bei der Berührung mit seinen eiskalten Händen zusammen, reckte sich und gähnte herzhaft.

„Der Geruch von dem Köter könnte ebenfalls prämiert werden“, dachte sich Klaus, während er versuchte, die Hündin aus ihrem Korb zu bugsieren.

Die hatte aber noch gar keine Lust aufzustehen, versteifte sich einfach und sperrte sich respektlos gegen ihr Herrchen.

In einer Stunde hätte sie ihre Blase sowieso vor die Tür getrieben, aber fünf Uhr war ihr einfach zu früh.

Aber letztendlich schaffte es Klaus mit geflüsterten Flüchen und leeren Drohungen, die widerwillig knurrende Mila nach unten zu zwingen und ihr eine Leine anzulegen.

Ein kurzer Blick vor die Tür hatte Klaus gezeigt, dass es leicht regnete. Egal. Für Klaus, den Sportler, gab es nur falsche Kleidung, kein schlechtes Wetter. Und was sollte er ohne Zeitung und blitzwach, gelangweilt zu Hause rumhängen. Dann besser den Hundespaziergang vorziehen.

Mit blauer Regenjacke, Baseballkappe und festen Schuhen verließ Klaus um kurz nach fünf das Haus. Um wenigstens ein Mindestmaß an Körperpflege einzuhalten, hatte er sich vorher noch großzügig an Andreas Fishermen`s Friends vergriffen. So kam in dieser frühen Morgenstunde wenigstens ein kleines Frischegefühl auf.

Alles war dunkel. Nur jede dritte Straßenlaterne leuchtete. Denn die Stadt hatte nachts die Beleuchtung auf das Notwendigste reduziert. Außer etwas Vogelgezwitscher herrschte noch Ruhe in der Straße.

Klaus war erstaunt, dass in ihrem Nachbarhaus in einem Zimmer bereits Licht brannte. Anscheinend war Fräulein Saurbier auch schon wach.

Die pensionierte Finanzbeamtin lebte allein in ihrem großen Elternhaus und war Klaus und seiner Familie nach einem gemeinsamen Weihnachtsfest vor drei Jahren in Thalers Ferienhaus in Südspanien etwas nähergekommen.

Vor allem mit Klaus‘ Mutter, Alma, schien sie sich ange­freundet zu haben. Alma hatte ihrem Sohn erzählt, dass alte Menschen nicht mehr ganz so viel Schlaf bräuchten und häufig nachts wach wären. Das könnte auch bei Fräulein Saurbier eine Erklärung sein.

Klaus ging zügig die nasse Straße weiter bis zum Waldrand, tonlos fluchend über jede Pfütze, der er ausweichen musste.

Thalers wohnten am Anfang einer „historischen“ Straße mit vielen gut erhaltenen stilvollen Häusern, die vor dem ersten Weltkrieg errichtet wurden. Mit Mansarddächern, Biber­schwanzziegeln, Sprossenfenstern mit Klappläden, häufig Wintergärten und großen Grundstücken mit schönen Vorgärten und Staketenzäunen.

Es war eine Gegend, wo die Bewohner - außer Klaus und die 3 Kinder - ihre Kartons noch ordentlich zerrissen, falteten und schön plattdrückten. Bevor die Pappe dann im Altpapiercontainer artgerecht entsorgt wurde.

Je weiter Klaus aber ging, umso mehr „verjüngte“ sich die Straße. Nach einem kurzen Weg, in dem Klaus zweimal verärgert in eine Pfütze getreten war, änderte sich der Stil der Häuser. Jetzt waren es „Kaffeemühlen“ mit spitzem Zeltdach aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Und gegen Ende der Straße, nahe des Waldes, standen wenig einfallsreiche Häuser aus den fünfziger und sechziger Jahren

Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er beschloss, einen befestigten Weg unterhalb des Waldes bis in den benachbarten Stadtteil zu laufen.

Noch war er allein unterwegs. Kein Hundebesitzer kreuzte seinen Weg mit irgendeinem Rüden, der Interesse an seiner Hündin zeigen könnte. An das aufwühlende Erlebnis mit Mila und dem völlig unbeherrschten Drogen-Schnüffel-Rüden vor fünf Jahren an der spanischen Grenze wollte er sich lieber nicht mehr erinnern.

Klaus‘ Ziel war eine kleine Bäckerei in einem alten Haus in einer engen Seitenstraße. Seine jetzt elfjährige Tochter Emma hatte den unscheinbaren Laden mit der Backstube in einem hinteren Anbau entdeckt. Denn der Bäcker hatte eine Tür mit einem abgegriffenem Brezel-Griff und eine fast ein Meter hohe Figur im Schaufenster stehen.

Die Puppe war wie ein Bäcker mit weißer Schürze und weißer Mütze gekleidet und nickte bedächtig mit ihrem schmunzelnden Gesicht auf und ab.

Neben der nickenden Bäckerfigur war ein Schild befestigt, auf dem in alter Schreibschrift eingraviert war:

„Altes Brot ist nicht hart – aber kein Brot ist hart“.

Das konnte Emma damals weder lesen noch verstehen.

Aber die nickende Puppe faszinierte die kleine Emma so, dass sie ihre Mutter immer wieder bekniete, doch mit ihr zum „Nickebäcker“ zu fahren.

Im Laufe der Jahre hatten sich Klaus und Andrea daher angewöhnt, ihr Brot und ihre Brötchen beim Nickebäcker zu kaufen. Was Andrea und die Kinder bei Klaus einiges an Überredungskünsten gekostet hatte. Denn Klaus bevor­zugte eigentlich einen anderen „Lieblingsbäcker“. Nicht, dass die Brötchen da besser gewesen wären. Aber die Bedienung hatte sich zweimal zugunsten von Klaus ver­rechnet. Und das war für Klaus Grund genug, am liebsten weiter zu diesem Bäcker zu gehen. In der Hoffnung, dass die junge Frau hinter der Theke weiterhin nichts gegen ihre ausgeprägte Dyskalkulie unternahm.

Aber die Spezialität des Nickebäckers war nun mal ein ganz außergewöhnliches Sauerteigbrot mit einer sehr knusprigen Kruste. Klaus hatte also gegen die Familie keine Chance.

Das Brot wurde in der ungewöhnlichen Länge von einem Meter gebacken und wurde von den Kunden nur „das nord­hessische Baguette“ genannt.

Da kein Mensch ein ein-meter-langes Brot kaufen wollte, wurde das Brot von der alten Frau des Bäckers mit einem großen, scharfen Messer in die gewünschten Stücke geschnitten. Die dann gewogenen Teile wurden nach Gewicht verkauft. Und wer wollte, konnte sich das leckere Krustenbrot von der immer freundlichen Bäckersfrau auch gleich in Scheiben schneiden lassen. Selbstverständlich wurde die rote Brotschneidemaschine noch von Hand bedient. Hinter dem Tresen waren an der Wand Regale aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts angebracht. Auf der abgeplatzten Resopalbeschichtung stapelten sich Mehl- und Kaffeepackungen, Hefe und Büchsen voller Kondensmilch, deren Haltbarkeitsdatum besser nicht hinterfragt wurde.

Auch die Vollkornbrötchen mit den Körnern und den Mohnstreuseln waren bei der ganzen Familie Thaler sehr beliebt.

Und da nach Klaus‘ heimlicher Prüfung die Brötchen zwar etwas teurer, aber dafür auch größer waren, als die Brötchen im Supermarkt, stimmte der sonst so sparsame Familien­vater zu, die Brötchen beim Nickebäcker zu kaufen. Aber nur samstags.

Beim ersten Brötchenkauf vor einigen Jahren überwog noch Klaus ausgeprägter Trieb, zu sparen.

Er wartete, bis er der einzige Kunde in dem kleinen Ver­kaufsraum war, räusperte sich verlegen und fragte die geduldige Bäckersfrau, ob er nicht auch Brötchen vom Vortag zum halben Preis haben könne. Die stämmige Dame schaute Klaus anfangs überrascht, aber dann doch etwas robust in die Augen.

„Hammernet. So gern wie’s mir ja für Sie leidtät, junger Mann. Aber die hammer leider net mehr da. Denn unsere Brötchen sind mittags Gott sei Dank schon ausverkauft. Wenn Sie wollen könnte ich Ihnen einen Rest Teig aus der Backstube zusammenkratzen, zum selber aufbacken, dann wird es für Sie noch billiger“, war die leicht ironische Antwort der Nickebäckerfrau.

Da der sensible Klaus sich noch einen Rest von Fein­fühligkeit bewahrt hatte, spürte er den Spott der alten Bäckersfrau und war für einen Moment beschämt. Obwohl er normalerweise so gern handelte, wie die Türkei mit der EU.

„Na ja, so war das ja nun auch wieder nicht gemeint. Also ich kaufe dann doch die frischen Brötchen.“

Seitdem hatte sich das Verhältnis zu der gutmütigen Bäckersfrau aber wieder deutlich entkrampft und Klaus wurde ein gern gesehener Kunde bei Emmas Lieblings­bäcker.

Von seiner Anfrage bei der Frau des Nickebäckers hatte er Andrea vorsichtshalber nichts erzählt.

Da Klaus wusste, dass der Nickebäcker auch samstags schon um sechs Uhr seinen Laden öffnete, stand er um zehn vor sechs vor der Tür.

Als die Bäckersfrau die Tür mit dem wuchtigen Brezelgriff aufschloss, begrüßte sie ihn wie üblich mit einem freund­lichen „Guten Morgen“. Was sich bei ihr aber wie ein „Gumoke“ anhörte.

Klaus hatte daher schon vor einiger Zeit im Familienkreis angefangen, die resolute Bäckersfrau als Frau Gumoke zu bezeichnen, was die Kinder sofort widerspruchslos aufge­griffen hatten.

Die Brötchen, die er in einer großen Tüte mitbekam, waren noch ganz warm und knackten knusprig. Klaus hatte zwar an einen Stoffbeutel beim Weggehen gedacht, aber sein Portemonnaie vergessen. Aber die verständnisvolle Frau Gumoke meinte nur: „Das passt schon, Herr Thaler. Wir kennen uns doch schon so lange. Ich schreib‘ für Sie an, und Sie zahlen dann das nächste Mal.“

„Das hätte kein Billigdiscounter mit mir gemacht. Und die Rechenkünstlerin in der anderen Bäckerei erst recht nicht. Da hätten wir heute Morgen ganz schön alt ausgesehen“, musste sich Klaus erleichtert eingestehen, als er sich mit der pudelnassen Mila auf den Heimweg machte.

Vor lauter Frust über den aus ihrer Sicht viel zu frühen und sinnlosen Hundespaziergang hatte sich Mila bislang beharr­lich geweigert, ihr Bächlein zu machen.

Also musste Andrea nachher nochmal raus.

2

„Der nasse Köter wird seine schwarzen Haare wahr­scheinlich im ganzen Haus verlieren. Und ich darf wieder saugen“, stellte Klaus fest, als er die schwere Eichenholztür mit dem Rautenfenster aufschloss. Nach dem Spaziergang spürte er eine aufkommende Lebensenergie, wie ein frisch geladener Duracel Hase.

Obwohl es erst sieben Uhr morgens war, beschloss Klaus seine ganze Familie an seinen mittlerweile nach oben ge­schossenen Endorphinen und seiner Dynamik teilhaben zu lassen.

Noch im Treppenhaus probierte er einen vollkommen missglückten Otto-Walkes Jodler. Es waren Laute, die ihm in Bayern ein striktes Kontaktverbot eingebracht hätten. Und danach kam ein aufforderndes „Bin wieder da.“

„Was blökst Du denn so rum? Üb‘ lieber erstmal mit Frau Hoppenstedt für ein ordentliches Jodeldiplom. Zum Beispiel mit: Du Dödl Du, Du Dödl Da, aber gefälligst im Keller“, lästerte Andrea schlaftrunken und erinnerte ihren Mann an Loriots Kultsketch, den Thalers schon mit­sprechen konnten.

Andrea schaute mit verquollenen Augen leicht vergiftet aus der Küche, wo sie sich den ersten Morgenkaffee gekocht hatte.

„Sei nur leise, die Kinder schlafen noch. Übrigens, vielen Dank, dass Du mich mit Deinem Gerammel ans Bett so früh wachgemacht hast. Ich hab‘ Dich genau gehört, wie Du rausgehumpelt bist. Und wieso warst Du bei dem Regen überhaupt schon draußen?“

Klaus hatte sich instinktiv geduckt und wurde zwei Zentimeter kleiner. Er lächelte seine Ex-Verlobte etwas sparsam an. Spontan fiel ihm der zeitlos aktuelle Rat seines ältesten Sohnes Anton zum letzten Hochzeitstag mit Andrea ein, den er wie üblich vergessen hatte: „Nur mit happy wife, ein happy life, Vatter!“

„Ich konnte nicht schlafen, und so hab‘ ich halt schon Brötchen geholt. Die Du aber noch bezahlen musst. Und ich hab‘ Mila mitgenommen“, versuchte Klaus die Stimmungslage zu verbessern.

Andreas etwas feindselige Mine hellte sich wieder auf.

„Dann komm‘ in die Küche. Du kriegst einen Kaffee und wir lösen den Rest des Kreuzworträtsels zusammen.“

Klaus konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. So ein Pech am frühen Morgen. Andrea war ihm mal wieder zuvorgekommen.

Während er weg war, war natürlich die Zeitung gekommen und Andrea hatte sich als erster „sein“ Rätsel geschnappt, das er doch so gern allein gelöst hätte.

„Schätzchen, Du weißt doch, dass ich morgens nur meinen Weidenröschentee trinke“, maulte Klaus lustlos.

Klaus trank auf Empfehlung seines mittlerweile 94jährigen Onkels regelmäßig morgens diesen Kräutertee.

Sein Onkel hatte ihm vor Jahren mal unter Männern diskret erzählt, dass es nichts Besseres für eine kleine, geschmeidige Prostata geben würde. Selbst im hohen Alter nicht.

Und so hatte Klaus auch im Urlaub immer eine prall gefüllte Tüte seines Tees aus seinem Lieblingsreformhaus dabei. Was vor fünf Jahren an der französisch-spanischen Grenze zu einem sehr peinlichen Zwischenfall mit der Drogen­fahndung geführt hatte.

Frau Klotz, die kleine, dicke Inhaberin des nach allerlei Gewürzen duftenden Reformhauses, zwinkerte ihm an der Kasse regelmäßig zu.

„Hab‘ gut gewogen für Sie, Herr Thaler, sehr gut gewogen.“

Das bedeutete, dass Klaus eine halbe Schaufel mehr von dem Heu ähnlichem Tee in die Tüte bekam. Ohne Berechnung!

Was den überaus sparsamen Klaus etwas über den enormen Preis seines Tees hinweg tröstete, den es zu seinem Bedauern bei keinem Discounter zu kaufen gab.

Dafür durfte kein anderer in der Familie seinen Tee anrühren, geschweige denn wegtrinken. Die Jungs hatten noch Zeit mit der Prostata und die Damen brauchten sowas eh nicht.

Seufzend ließ sich Klaus von dem duftenden Kaffeearoma in der Küche hinreißen und von Andrea einen Espresso einschenken. Der ihm leider auch noch verdammt gut schmeckte, wie er sich stillschweigend eingestehen musste.

Während ihr nasser Hund ihn mit großen Augen dankbar ansah, trocknete Klaus mit größter Unlust die müffelnde Mila ab, reinigte ihr die dreckigen Pfoten und schüttete ihr rasselnd Futter in den Napf. „Sogar ohne Pinkeln gibt‘s bei mir ein Fresschen“, murmelte Klaus großherzig und schlurfte wieder in die Küche.

Nachdem sie gemeinsam den kümmerlichen Rest des Kreuzworträtsels gelöst hatten, hörten Andrea und Klaus im Obergeschoß ein rücksichtsloses Türenschlagen.

Die Lendenfrüchte waren wach.

Emma hopste als Erste putzmunter die Treppe runter, nach wenigen Minuten kam der sechzehnjährige, schlaksige Emil wortlos und verschlafen nach. Der Hunger trieb sie in die Küche.

Am Schluss setzte sich ihr Großer, der achtzehnjährige Anton, der seinen Vater um einiges überragte, an den Küchentisch, legte sein lockiges und sehr müdes Haupt auf seine ausgebreiteten Arme und gähnte herzhaft wie der König der Löwen, ohne die Hand vor die aufgerissene Mundhöhle zu halten: „Was gibt‘s denn?“

„Der Papa hat schon frische Nickebäcker Brötchen für Euch geholt. Trotz Regen.“

Andrea hatte schon für alle liebevoll das Frühstück vorbereitet. Die Küche in dem alten Haus aus dem Beginn des letzten Jahrhunderts war so groß, dass die Familie bequem zusammen essen konnte. Und Klaus und Andrea war das gemeinsame Frühstück mit ihren sehr unter­schiedlichen Kindern sehr wichtig.

„Emil, wenn Du wieder Deinen stinkenden Roquefort Käse mit Marmelade futtern willst, kannst Du Dich schön in den Wintergarten verziehen. Hier in der Küche muss ich sonst kübeln“, provozierte Anton seinen kleineren Bruder als erstes und schaute Emil giftig an.

Aber mittlerweile ließ sich Emil überhaupt nichts mehr gefallen.

„Du kannst selber im Wintergarten essen. Oder mach’s einfach wie unser Klobürsten Zwerg im Gäste Klo und steck‘ Dir eine Wäscheklammer über Deine picklige Nase.“

Anton konterte daraufhin seinem jüngeren Bruder ge­hässigerweise mit einem ruckartig erhobenen Mittelfinger unter dem Tisch.

„Jetzt hört mal auf zu streiten. Wir frühstücken schön zusammen, und jeder kann essen, was er will. Und wenn Herr Thaler Junior, der Ältere, dann genügend Kraft gesammelt hat, fahre ich mit Dir gern zum Verkehr­sübungsplatz. Berganfahren üben mit der Handbremse und rücksichtslos, äh, rückwärts einparken.“

Klaus schaute seinen Großen aufmunternd an, obwohl er insgeheim schon einen weiteren Wertverlust seines geliebten Kombis befürchtete.

Anton grummelte irgendetwas, das man als: „Am liebsten würde ich ja mit der Mama fahren“, interpretieren konnte.

Denn das Verhältnis zwischen Klaus und Anton während der „Fahrstunden“ war nicht das harmonischste.

Zwischen beiden herrschte eine gewisse Anspannung. Aus Sicht von Anton war sein Vater als Fahrlehrer so einfühlsam wie eine Amöbe.

Klaus krampfte während der gemeinsamen Fahrstunden total.

Seine Füße bewegten sich auf der Beifahrerseite, bremsten mit, kuppelten oder gaben Gas. Und Klaus konnte sich auch nicht beherrschen, Anton einmal an den Schalthebel und zweimal ins Lenkrad zu greifen.

Seine ungebetenen Ratschläge wie: „Lass die Kupplung nicht so lange kommen! Gib nicht so viel Gas! Schulterblick beim Abbiegen! Nimm die Handbremse beim Anfahren am Berg! Halt mehr Abstand, Junge!“, führten eher zu Frust und zu Verunsicherung bei Anton und waren auch der Grund, dass Klaus‘ Kombi ein paar Mal gewaltige Bocksprünge machte.

Während Anton also eher nervöser und aggressiver wurde, fürchtete Klaus immer mehr um den sinkenden Wert seines Autos.

Wahrscheinlich stand der Wertverlust seines Kombis in keinem Verhältnis mehr zu den eingesparten Fahrstunden durch seinen Privatunterricht.

Aber er war ja selber dran schuld.

In einem spontanen Anfall von sehr seltener Großzügigkeit hatte er allen drei Kindern mal versprochen, ihnen selbst­verständlich den Führerschein zu bezahlen.

Nur, ganz so selbstlos war Klaus Zusage nicht.

Als Gegenleistung mussten die drei Kinder ihrem Vater nämlich in die Hand versprechen, dass jeder zwei Glas­zylinder voll mit Klaus‘ geliebten Drehmuscheln in seinem Zimmer aufstellen würde.

Was Andrea sehr missbilligend zur Kenntnis genommen hatte.

In Thalers Ferienhaus in La Herradura standen mittlerweile drei randvolle Glasgefäße mit Drehmuscheln und ver­schandelten laut Andrea den Flur und das Wohnzimmer.

Andreas Eltern, Gisela und Herbert Kesselmann, die den Winter über in Baños de Fortuna in ihrem wunderschönen Haus verbrachten, hatte Klaus auch schon überredet zwei Zylinder mit Klaus‘ gesammelten Muscheln zu übernehmen.

Bis Gisela ihrer Tochter diskret zu verstehen gab, dass sie nicht noch mehr Erinnerungen an Klaus‘ ungebremste Sammelleidenschaft bräuchten. Zumal Herbert ständig neue Versteinerungen aus dem Steinbruch mit nach Hause brachte.

Daraufhin hatte Klaus angefangen, in Deutschland bei Einladungen den Gastgebern Gefäße mit selbst gesuchten Drehmuscheln als Geschenk mitzubringen, oder Muscheln auf das Geschenkpapier zu kleben.

Was die anfangs etwas originell, dann aber nur noch lästig fanden.

Als er Andrea dann auch noch bedrängte, seine Dreh­muscheln als Tischdeko zu verwenden, welche die Gäste sogar mitnehmen durften, war das Maß bei Andrea gestrichen voll.

„Wenn Du so weitermachst, bleiben uns noch die Freunde weg, und wir werden auch nicht mehr eingeladen“, schimpfte Andrea mit ihrem ziemlich verständnislos drein­blickenden Mann.

Und so blieben Klaus nur noch die Kinderzimmer als Depot, nachdem auch in seinem Hobbyraum im Keller kein Platz mehr war.

3

Andrea hatte ja für ihren Ältesten viel Verständnis, denn sie wusste, wie wenig einfühlsam Klaus als Beifahrer war.

Sie selbst musste sich bei manchen, gut gemeinten „Verbesserungsvorschlägen“ von Klaus an ihrer Fahrweise auch sehr beherrschen.

Aber da sie Emma versprochen hatte, mit ihr den Samstag bei ihren Pferden Contess und Schmidtchen zu verbringen, musste Anton wohl oder übel mit seinem Vater fahren.

Weil Anton ja am liebsten alleine Auto fahren wollte, was auf dem Verkehrsübungsplatz nicht möglich war, machte Andrea als ausgleichende Mutter einen Vorschlag zur Güte.

„Fahrt doch heute auf dem Parkplatz vom Tennisverein. Jetzt im Februar ist eh alles geschlossen und der Parkplatz ist leer. Da kannst Du dann in Ruhe allein üben und der Papa bleibt am Rande stehen.“

Antons Mine hellte sich wieder auf. Der Vorschlag klang gut. Nur Klaus schaute skeptisch drein.

Denn bei kaltem Regen im Februar eine Stunde draußen zu stehen und die kreischenden Geräusche der falsch einge­legten Gänge zu hören, oder sein geliebtes Auto über den Asphalt springen zu sehen, erforderte aus seiner Sicht schon ein Übermaß an väterlicher Toleranz.

Aber gut. Er würde sich warm einpacken und einen Schirm mitnehmen.

„Nehmt ihr Mila mit zum Reitstall, denn sie muss nochmal raus?“

„Lass mal, Papa, ich würde mit Mila gehen, denn ich bleibe ja zu Hause, höre noch Musik und lese. Ich mach`s mir schön gemütlich“, schlug Emil vor und biss in sein zweites Roquefort Brötchen. Bei Emil musste immer alles gemütlich sein. Sein absoluter Lieblingszustand.

„Super, Emil, vielen Dank. Dafür üb` ich dann nächstes Jahr auch mit Dir“, versprach Klaus seinem Zweitgeborenen, der sich aber nicht ganz sicher war, ob er das auch als Drohung auffassen könnte.

Auf der Fahrt zum Tennisplatz kam Klaus ins Grübeln. Anton wollte, wie viele seiner Altersgenossen auch, in die Fahrschule Grube gehen. Die Eigentümerin hatte in ihrem Stadtteil einen kleinen Laden in der Nähe der Schule gemietet, in dem Anton zusammen mit seinem Freund Lutscher, der eigentlich aber Artur hieß, Mittwochabends Theorie Unterricht hatte.

Die Chefin des Ein-Frau-Unternehmens hatte bedauer­licherweise als Täufling von ihren Eltern den wohl­klingenden französischen Vornamen Claire bekommen. Es dauerte nur 6 Jahre, bis in der Grundschule aus ihrem Namen Claire Grube ihr Spitzname „Klärgrube“ wurde.

Dieser Name klebte bis heute an ihr. Denn da Frau Grube nie geheiratet hatte, blieb ihr bis heute dieser interpretationsfähige Name erhalten. Und so war es bei allen Jugendlichen in Antons Alter sehr angesagt, die „Pappe“ oder den „Lappen“ bei der „Klärgrube“ zu machen.

Das rechtfertigte aber nicht die außergewöhnliche Kreativität von Claire Grube beim Erfinden von Gründen von weiteren teuren, und aus Sicht von Klaus völlig un­nötigen Fahrstunden, die Klaus eigentlich durch seine Fahrübungen mit Anton auf ein absolutes Minimum reduzieren wollte.

Was ihm aber nicht gelang, denn Frau Grube erfand immer neue Gründe für „notwendige“ Fahrten, die ihre meist noch minderjährigen Schüler eingeschüchtert zu absolvieren hatten.

Eine Autobahnfahrt mit und ohne Stau

eine Regenfahrt mit und ohne Aquaplaning

eine Nachtfahrt mit und eine ohne Vollmond

eine Fahrt mit nüchternem und eine mit vollem Magen

Und so weiter.

Einige Eltern rebellierten allerdings schon, als Frau Grube mindestens eine Fahrstunde ohne Klimaanlage und ohne Deo, dafür aber mit randvoller Blase verlangte, um die Situation in zähfließendem Verkehr durch eine der endlosen Autobahnbaustellen auf der A7 bei geschlossener Raststätte zu simulieren.

Alles angeblich Empfehlungen des deutschen Fahrlehrer­verbandes.

Klaus hasste den Einfallsreichtum von Claire Grube. Er bekam eine seiner sehr seltenen Hitzewellen, wenn er die Stunden von Anton zusammenzählte und daran dachte, dass ihn das Gleiche bei Emil und Emma erwartete.

Wehmütig dachte er an seine eigene Fahrschulzeit. Da hatte er nämlich nach nur zehn Fahrstunden die Fahrprüfung abgelegt.

Zumindest war das seine Kurzversion, die er seinen Kindern mit verträumten Augen erzählte.

Dass er bei der ersten Prüfung krachend durchgefallen war, weil er fast einen Auffahrunfall provoziert und auch noch die Vorfahrt genommen hatte, und danach weitere zehn Stunden, sowie eine weitere Prüfung absolvieren und bezahlen musste, wusste nur seine Mutter Alma.

Und die hielt garantiert dicht. Noch.

Denn nur Klaus wusste, dass auch Alma zweimal durch die Prüfung gefallen war. Aber man wusste nie, was Oma Alma ihren Enkeln mal bei einer entspannten Teestunde erzählen würde. Oder, noch schlimmer, Fräulein Saurbier.

Auf dem Parkplatz angekommen, stieg Klaus ächzend aus dem Auto, nahm seinen Schirm und überließ dem über­raschten Anton kommentarlos die Autoschlüssel.

Klaus stellte sich mit Kapuze und Schirm unter eine Kiefer, die etwas Schutz bot und beobachtete mit zusammen­gekniffenen Augen sehr argwöhnisch seinen Ältesten.

Anton legte erstaunlicherweise relativ geräuschlos den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parkbucht.

Der Kombi hoppelte auch gar nicht, als Anton einmal auf die andere Seite des Parkplatzes fuhr und dann rückwärts einparken übte.

„Andrea hatte wohl leider recht. Es flutscht bei Anton besser, wenn ich nicht im Auto sitze. Ich werde ihr nachher aus dem Aldi ein Sträußchen Blumen mitbringen“, sinnierte der verblüffte Klaus.

Anton übte weiter ganz geduldig und fuhr dann wieder langsam auf Klaus zu.

Als Klaus wohlmeinend den Daumen nach oben reckte und einsteigen wollte, gab Anton auf einmal Gas, beschleunigte, fuhr zum Ausgang und verließ mit quietschenden Reifen den Parkplatz.

Klaus entglitten ziemlich schnell die Gesichtszüge. Er sah so hilflos aus, als hätte er sich nachts auf einer einsamen Landstraße einen Platten gefahren. Im ersten Moment vermutete Klaus einen geschmacklosen Scherz von „Versteckte Kamera“. Aber am Samstag morgen bei Regen. Eher unwahrscheinlich. Er war sprachlos, geschockt, ent­setzt und dann tief verärgert. Denn Anton befand sich jetzt mit seinem Kombi auf einer öffentlichen Straße.

Wenn irgendetwas passieren würde, oder das rauskam, würde er als Vater zur Verantwortung gezogen werden. Und er brauchte seinen Führerschein dringend.

Klaus sah sich schon vier Wochen Straßenbahn, Bus oder Taxi zu seinen Mandanten fahren. Peinlich. Und die Kosten.

Er rannte über den Parkplatz, in der einen Hand seinen geöffneten Schirm schwenkend, lief auf die Straße, suchte Anton verzweifelt und sah dann fünfhundert Meter weiter seinen Kombi stehen.

Die Warnblinkanlage blinkte nervös.

Hoffentlich hatte der Junge das Auto nur abgewürgt, und es war nichts passiert.

Na, der würde von ihm eine Predigt zu hören bekommen. Klaus stand kurz vor der Kernschmelze.

Er lief heftig gestikulierend auf sein Auto zu. Als Klaus noch ungefähr fünfzig Meter entfernt war, öffnete sich die Fahrertür und ein total entspannter Anton grinste seinen Vater provozierend an.

„Alles gut, Vatter. Du kannst chillen. Hier ist doch meine Pappe.“ Anton hielt in seiner rechten Hand den scheck­kartengroßen Führerschein.

Klaus war vollkommen verblüfft. Im ersten Moment fehlten ihm die Worte. Und außerdem war er vollkommen aus dem Atem.

„Das geschieht Dir aber recht, Vatter. Nach den an­strengenden Stunden mit Dir, wollte ich selber den Lappen schnellstens kriegen. Also hab‘ ich mit Lutscher und Emil die Theorie gelernt und mit Mama in ihrem Auto heimlich geübt. Und gestern hatte ich dann Prüfung.“

„Junge“, Klaus war ganz gerührt, „ich bin ja richtig stolz auf Dich. Das hast Du ja toll hingekriegt. Und Ihr alle habt dichtgehalten. Superleistung. Obwohl - ich hätte eben fast kollabiert vor Schreck.“

Klaus nahm seinen Ältesten in die Arme und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter.

Obwohl es Anton unangenehm war, ließ er diese spontane Geste väterlicher Vertrautheit und Zuneigung doch über sich ergehen. Es sah ja keiner zu. Und außerdem war er ja selber stolz auf sich und wahnsinnig erleichtert.

Der Druck war weg, und er konnte sich jetzt ganz auf die Vorbereitung für sein Abitur im Mai konzentrieren.

Und Klaus rechnete schnell in Windeseile zusammen, dass der Führerschein vielleicht doch nicht ganz so teuer werden würde.

Vielleicht hatte er Frau Grube ja doch etwas Unrecht getan.

Auf jeden Fall durfte Anton seinen Vater jetzt zu Aldi fahren, wo Klaus in einem Akt selbstloser Großzügigkeit gleich zwei leicht angewelkte Sträuße Tulpen zum Preis von Einem für Andrea kaufte.

Und die ganze Fahrt über korrigierte Klaus seinen Ältesten kein einziges Mal.

4

Emil, der sehr strukturiert arbeiten und lernen konnte, bekam heimlich von Andrea eine Zusage. Er würde ein innigst gewünschtes Snowboard bekommen, wenn er mit Anton für dessen Abi lernen und sein älterer Bruder die Prüfung auch gut bestehen würde.

Und Anton verzog sich sogar jeden Abend ohne zu murren mit Emil und Lutscher, der sich der Lerngruppe ange­schlossen hatte, in Emils gemütliches Dachzimmer.

Das letzte Schuljahr für Anton war auch deshalb ein besonderes Jahr, weil Emma in die fünfte Klasse auf dem­selben Gymnasium eingeschult worden war.

Alle drei Thaler Kinder gingen jetzt auf eine Schule. Das „Thaler-Gymnasium“, wie die rundliche Direktorin lachend bemerkte.

Was Anton etwas peinlich war, weil Emma regelmäßig in den großen Pausen mit ihren Freundinnen zu seiner Clique kam, um den Freundinnen ihren großen Bruder zu präsentieren. Unangenehm, vor allem, wenn Anton gerade eine der zahlreichen hübschen Abiturientinnen anbaggern wollte.

Emil freute sich hingegen, wenn er seine kleine Schwester auf dem Schulhof traf oder wenn sie morgens mit der Straßenbahn zusammen in die Schule fahren konnten.

Während die Jungs also in Emils aufgeräumten Zimmer lernten, was in Antons ungelüftetem, vermüllten Zimmer kaum möglich war, fuhr Andrea jeden Samstagmorgen mit Emma auf den Pferdehof. Misten, Pferde pflegen, Ausreiten und mit den anderen reitbegeisterten Müttern und Töchtern ein ausführliches Schwätzchen halten.

Klaus hingegen verabredete sich jeden Samstagnachmittag, Sonntagvormittag und Dienstagabend mit drei Freunden, Willi, Uwe und Stephan zum Joggen.

Das Ziel der drei Lauffreunde war der Kasseler Halb­marathon, der jedes Jahr im Herbst durch die meisten Bezirke ihrer Stadt führte.

Und zum Training konnte er ideal Mila mitnehmen, die gerne lief. Das hatte zwei Vorteile.

Zum einen lenkte Mila andere Hunde ab, sodass kein anderer Hund die drei Läufer verfolgte.

Denn Klaus war vor Jahren mal von einem giftigen kleinen Terrier in die Wade gebissen worden, der eigentlich nur spielen wollte. So sein Herrchen, das Klaus noch Vorwürfe machte, weil er seinen Liebling unnötig erregt hätte. Auf die hilflosen Rufe des Herrchens: „Hiiiiieeerher, Hiiiiiiieeerher, Pfuiii, Pfuiii“, hatte der sonst angeblich so artige Rüde nur mit Ignoranz und einem gesteigerten Jagdtrieb reagiert.

Klaus fluchte zum Steinerweichen und wünschte dem Köter daraufhin einen vollständigen Zahnverlust, einen kom­pletten Haarausfall, eine Staupe und einen Wurmbefall. Und dem Herrchen eine 3 Tages Diarrhoe.

Und zum anderen konnte Mila nicht verstehen, was sich die vier Freunde während des Laufs so alles erzählten.

Da Willi und Uwe über das Intranet in ihren Dienststellen im Rathaus ständig mit den neuesten Witzen versorgt wurden, motivierten sich die vier Freunde beim Laufen regelmäßig mit aktuellen „Herrenwitzen“, für die ihre Frauen wahrscheinlich sehr wenig Verständnis gehabt hätten. Auch den üblichen Willkommensgruß von Willi: „Hallo Mädels“ an seine drei Lauffreunde hätten die Frauen nicht unbedingt als witzig empfunden.

Die vier Freunde hatten sich einen präzisen Trainingsplan für ihr ambitioniertes Ziel aufgestellt. Dazu zählte neben den vertraulichen, humorvollen Gesprächen beim Laufen auch eine wechselnde Streckenführung.

Am Anfang kürzere, ebene Strecken, dann längere Läufe im Bergpark von Kassel und im Habichtswald mit teilweise erheblichen Steigungen. Und dann noch Intervalltraining auf dem Sportplatz.

Und alle achteten auf eine spezielle Ernährung, um die Kohlehydratspeicher regelmäßig zu füllen.

Klaus nahm leider durch sein Laufen und die fettarme Ernährung ziemlich ab, was Andrea allerdings gar nicht gefiel.

„Du erinnerst mich an ein leptosomes Klappfahrrad; kein Bäuchlein mehr und keine vollen Wangen. Und keinen knackigen Hintern mehr. Nur noch ein drahtiger Hunger­haken mit scharfen Ecken und Kanten. Nach dem Lauf nimmst Du aber wieder kräftig zu“, forderte Andrea von ihrem sehr sehnigen Mann, der mittlerweile aussah, wie Twiggy nach einer dreiwöchigen Fastenkur.

Es war Klaus‘ Lauffreund Willi, der eines Tages vorschlug, die Sensibilität für die Strecken und den Gleichgewichtssinn beim Laufen zu stärken.

„Dafür gibt es nichts Besseres, als einen Blindenlauf“, schlug Willi fachmännisch vor, denn er hatte im Fernsehen beobachtet, wie eine blinde Läuferin an einem Seil von ihrem Zugläufer durch den Berlin Marathon geführt wurde.

Also trafen sich Willi und Klaus, der eine Kordel mitgebracht hatte, um blind durch den Wald zu laufen und sich nur auf ihre Ohren und auf den Zugläufer zu verlassen. Die beiden trabten an der Hessenschanze los und liefen am Waldrand entlang. Beide wurden mutiger und zogen das Tempo an. Die Kordel zwischen ihnen straffte sich auf die volle Länge von zwei Metern. Klaus war richtig stolz auf sich, wie präzise er auf dem Schotterweg blieb.

Das ging genau zweihundert Meter gut.

Dann stieß Klaus mit dem Kopf sehr schmerzhaft an einen Ast und öffnete erschreckt reflexhaft seine Augen.

Vor ihm lag Willi im Graben und jammerte.

„Wieso hast Du mich denn in den Graben gelenkt?“ schimpfte Willi verärgert und rieb sich die zerschrammte Wade.

„Und warum hast Du mich an den Baum knallen lassen?“ entgegnete Klaus und spürte, wie er eine Beule bekam.

„Aber Du hast doch geführt und ich war der Blinde.“

„Im Gegenteil. Ich war der Blinde und hab‘ mich voll auf Dich verlassen“, stotterte Klaus, jetzt doch leicht verun­sichert.

Beide hatten sich jeweils auf den anderen als Zugläufer verlassen und waren mit zusammengekniffenen Augen blind losgelaufen. Bis zur ersten Kurve.

Als der Schmerz nachgelassen hatte, mussten beide doch herzlich lachen.

Und sie waren sich einig, in der Zukunft nur noch mit geöffneten Augen zu laufen. Sensibilität hin, Gleich­gewichtssinn her.

5

Das frühe Licht am Samstagmorgen um fünf Uhr in Fräulein Saurbiers Haus hatte nicht den Grund, dass Fräulein Saurbier wie üblich altersbedingt schon wach war. Heute Morgen war Fräulein Saurbier vor Nervosität wach­geworden. Denn heute Abend war Abschlussball. Von einem Tanzkurs!

Weder Fräulein Saurbier, noch Alma, hatten irgendjemand etwas von ihrer gemeinsamen Leidenschaft erzählt. Und da sie um fünf Uhr merkte, dass sie sowieso nicht mehr einschlafen konnte, beschloss Fräulein Saurbier am frühen Morgen, noch einige Soloübungen zu absolvieren.

Sie holte einige ältere Schallplatten aus dem Musikschrank ihrer längst verstorbenen Eltern und begann mit einem langsamen Walzer.

Sie steigerte sich zu einem Cha Cha Cha, dann eine langsame Rumba, die sie verträumt mitsummte, ein Tango von Rudi Schurike, zu dem ihre Eltern schon geschwoft hatten, dann ein Jive, bei dem sie sich fast der Länge lang hingelegt hatte, weil die Teppichkante störte, und am Schluss wurde Hildegard sehr wagemutig.

Zu den Klängen von Modern Talking, von denen sie sich heimlich eine CD gekauft hatte, ließ sie sich zu einem Disco Fox hinreißen.

Fräulein Saurbier kannte sich selber nicht mehr.

Denn ihre längst verblichene Mutter hatte der jungen Hildegard fast täglich Argumente geliefert, doch auf einen Tanzkurs zu verzichten. Und am besten ganz die Finger von jungen Männern zu lassen, die alle doch nur das Eine wollten!

Also hatte die jugendliche Hildegard ihre ganze Energie zur Freude ihrer Eltern in die Schule und dann in eine solide Ausbildung beim Finanzamt gesteckt.

Und sie hatte es weit gebracht.

Als eine von wenigen Steuerprüferinnen prüfte sie Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen und alle Belege sehr akribisch, was dem Staat einiges an Extraeinnahmen ein­brachte.

Korrekt, penibel, unnachgiebig, fleißig.

Fräulein Saurbier ging in fünfundvierzig Dienstjahren voll in ihrem Beruf auf.

Nur ihr Privatleben kam zu kurz.

Sie blieb ledig, wohnte bei ihren Eltern und fuhr jedes Jahr als graue Maus mit den Eltern nach Grömitz an die Ostsee.

Anfangs beobachtete Fräulein Saurbier die neuen Nachbarn sehr skeptisch. Zumal Klaus auch noch Steuerberater war und Steuern sparen wollte.

Aber die kleinen Thaler Kinder und später das Hundebaby Mila öffneten das Herz der sonst so reservierten Pensionärin.

Die Wende in Fräulein Saurbiers eintönigem Leben kam an dem Tag, als sie Alma, Klaus‘ verwitwete Mutter, kennen­lernte.

Durch sie hatte sich Hildegard überwunden, mit der ganzen Familie Thaler eine Familien-, Weihnachts- und Silvester­feier im kleinen Ferienhaus von Thalers in La Herradura in Andalusien zu feiern. Und danach war sie erstmals offen für Neues.

Alma hatte sie nicht nur überredet, sich erstmals einen Hosenanzug zu kaufen. Fräulein Saurbier hatte sich auch sehr schnell überzeugen lassen, in Almas Wanderverein einzutreten.

Denn Alma war nach dem frühen Tod ihres Mannes Man­fred nicht nur eine sehr liebevolle und belastbare Großmutter, sondern auch eine sehr engagierte Wander­führerin.

Für jeden Mittwochnachmittag hatte die stets analog arbeitende Alma mit ihrer Reiseschreibmaschine eine Wandertour ausgearbeitet, die sie kopierte und den Mitgliedern, meist ältere, verwitwete Damen, mit der Post zuschickte. Dabei tippte Alma das Programm stundenlang mit zwei Fingern geduldig ab. Klaus nannte das nur Almas „System Columbus“ – jeder Buchstabe eine neue Entdeckung.

Und nach dem „Abenteuerurlaub“ in Südspanien, wo Hildegard die überaus netten Nachbarn von Thalers kennenlernen durfte, wurde Fräulein Saurbier so locker, dass sie sich Almas Wandergruppe spontan anschloss.

Unter Almas einfühlsamer Regie verwandelte sich die schnöde Raupe, die nur graue Kostüme, Lodenmantel und derbe, aber bequeme Schuhe aus der Kollektion: „Die Heide blüht“ trug, im Laufe eines Jahres in einen ansehnlichen, sogar recht hübschen Schmetterling.

Selbst den Thaler Kindern fiel die wundersame Veränderung ihrer Nachbarin auf.

„Papi, die Saurbier sieht irgendwie ganz neu aus“, kommentierte Emma ihren Eindruck beim gemeinsamen Frühstück.

„Vatter, das Fräulein Saurbier ist wirklich nicht mehr die Alte. Früher war sie sächlich. Jetzt wird sie weiblich. Ich weiß gar nicht, ob mir das gefällt. Man kann ja gar nicht mehr über sie lästern“, stellte Anton fast bedauernd fest. Zum Leidwesen von Andrea hatten sich die Kinder in der Vergangenheit nämlich angewöhnt, regelmäßig über die kauzige Nachbarin ihre Witzchen zu machen.

„Also dann schenken wir ihr doch zum nächsten Weihnachtsfest einen Mascara Stift und Eyeliner“, schlug der pragmatische Emil vor, denn Fräulein Saurbier wurde regelmäßig zum Weihnachtsabend bei Thalers eingeladen.

„Oder einen Gutschein für eine Single Börse“, murmelte Klaus hinter der Zeitung Richtung Andrea, die lachend erwiderte: „Besser spät, als nie.“

Hildegard Saurbiers Outfit änderte sich total. Hosen waren nicht mehr tabu, sondern entpuppten sich als praktisch und modisch. Den Höhepunkt von Fräulein Saurbiers Ver­wandlung bildete der revolutionäre Kauf einer Jeans und eines modischen, grünen Jacketts.

Die grauen Haare wurden auf einmal leicht getönt und später dunkelblond gefärbt. Ein dezentes Rouge und ein unauffälliger Lippenstift ließen Hildegards ehemals herbe Gesichtszüge richtig hübsch erscheinen.

Und der strenge Geruch nach Kölnisch Wasser, Mottenkugeln, gepaart mit Klosterfrau Melissengeist und manchmal mit einem Tuck Sagrotan, wich auf einmal dem angenehmen Duft eines gut ausgesuchten, unauffälligen Parfums.

Die Freundschaft mit Alma führte auch dazu, dass beide in der Volkshochschule einen Theaterkurs besuchten und sich regelmäßig gemeinsam Matineen, Generalproben und Opern im Großen Haus des Staatstheaters ansahen.

Und sie hatten sich für einen Englisch Kurs angemeldet, denn Alma hatte Brieffreunde in den USA. Fräulein Saurbier dachte sogar kurzzeitig über einen Sprachurlaub in England nach.

Nach dem Genuss von drei Gläschen Eierlikör, Hildegards heimlicher Leidenschaft, der sie sich meist aber nur in Maßen hingab, hatten die beiden reifen Damen die grandiose Idee, zusammen einen Tanzkurs zu besuchen.

Aber das war nicht ganz so einfach, wie die beiden unternehmungslustigen Freundinnen sich das vorgestellt hatten.

Zwar gab es in Kassel Tanzschulen genug.

Aber die Männer fehlten. Es gab kaum noch tanzwillige und -fähige ältere Herren. Und die wenigen Exemplare dieser sehr seltenen Spezies wurden von der Vielzahl der tanzwütigen älteren Damen förmlich überrollt.

Was also machen?

Aber Alma war wie immer einfallsreich und flexibel. Hildegard und Alma würden einfach zusammen tanzen. Mal tanzte die eine als Mann und mal die andere.

Die einfühlsame Lehrerin brachte dem Kreis gleich­gesinnter, älterer Schülerinnen und Schüler geduldig die Standard Tänze bei. So lange, bis auch der unbegabteste Aspirant mithalten konnte. Das Sahnetüpfelchen waren lateinamerikanische Tänze: Rumba, Cha Cha Cha und ein gefühlvoller, heißer Tango.

Allerdings kein Salsa. Der sollte in einem eigenen Aufbaukurs gelernt werden, nach einem von der Tanzlehrerin empfohlenen ärztlichen Gesundheits-Check für die Senioren.

Beim Mittelball waren noch zu wenig Herren dabei. Als die erste CD reingeschoben wurde, stürzten sich die reiferen Damen rücksichtslos auf die hilflosen Senioren.

Die Quote betrug zwei zu eins, und wer ein männliches Exemplar ergattert hatte, wollte seinen Tanzpartner am liebsten den ganzen Abend nicht mehr abgeben.

Aber da schob Frau Riebezahl-Schondorf, die Tanzlehrerin, sehr schnell einen Riegel vor, indem nach jedem dritten Tanz eine Damenwahl angekündigt wurde.

Hilfreich war für alle Seniorentänzer auch, dass Frau Riebezahl-Schondorf beim Mittelball den Tanz noch an­sagte, sodass jeder meistens wusste, welche Schritte er oder sie nun machen musste.

Aber heute Abend, beim Abschlussball, war das anders. Da wurde nur Musik gespielt und jeder musste allein den richtigen Tanz raten.

Fräulein Saurbier befürchtete daher für den Abend einige Probleme und heftige Kontroversen zwischen den Tanz­partnern.

Vor allem, weil sie so gerne führte. Auch dann, wenn sie einen der wenigen männlichen Exoten im Arm wiegte.

6

Am Abend nahm Hildegard Saurbier die Straßenbahn und fuhr in den Stadtteil, wo das Tanzlokal „Zum flotten Jäger“ lag.

Eigentlich war es ja ein italienisches Restaurant mit hinterem Saal.

Und diesen Saal mit hinterer Bühne mieteten einige Tanzschulen in Kassel, um ihre Mittel- und Abschlussbälle durchzuführen.

Für den heutigen Abend hatte sich Fräulein Saurbier nochmal sehr fein rausgeputzt und ein älteres, festliches Kleid etwas kürzen und weiten lassen. Nur die schwarz glänzenden Tanzschuhe hatte sie neu gekauft.

Am Vormittag durfte ihre Frisöse einige Stunden ein kleines Kunstwerk mit ihren Haaren verbringen, bevor sich Hildegard zu diesem besonderen Anlass noch ein neues, aufregendes Parfum anlegte.

Sie war also gewappnet.

Genauso wie ihre Freundin Alma, die aber eine sportliche Kombination von heller Hose und schwarzem Blazer auf weißer Bluse trug.

Alma war mit ihrem alten, braunen VW Jetta mit Automatik auf dem Parkplatz des „Flotten Jägers“ angekommen, als sie ihre winkende Freundin sah. Die Abgasnorm des anti­quierten Autos kannten nur noch einige wenige Kinder aus dem Geschichtsunterricht.

Beide Freundinnen betraten den Saal und setzten sich an einen der noch freien Tische. Auf den kleinen runden Tischen standen ältere Telefone mit Wählscheibe und grünem Samtüberzug.

Denn außer den Bällen der Tanzschulen wurde Sonntag­nachmittag der beliebte Senioren Tanztee „Sie sucht ihn – er sucht sie“ abgehalten. Mit den Telefonen, hinter denen Schilder mit Nummern standen, konnten kontakt- und tanzwütige Senioren das Objekt ihrer Begierde anrufen und zu einem Tänzchen bitten.

Neben den Telefonen standen auch kleine Stehlampen. Leuchtete die Lampe grün auf, war der am Tisch Sitzende frei und absolut willig. Leuchtete die Lampe rot auf, war die anvisierte Person gerade besetzt oder hatte keine Lust.

Heute Abend fand für zwei Tanzschulen gemeinsam der Abschlussball statt. Entsprechend voll wurde der Saal in der nächsten Viertelstunde.

Frau Riebezahl-Schondorf und Herr Pahlhuber-Hurnstein, der Tanzlehrer des anderen Kurses, hatten sich nicht lumpen lassen, und eine kleine drei Mann Kombo engagiert. Heute Abend also mit Live Musik. Wie aufregend.

Die „3 Tornados“ bestanden aus einem Gitarristen, einem Organisten und einem Schlagzeuger. Auf dem Fell der Schlagzeugtrommel waren sinnigerweise drei verblasste Wirbelstürme mit lachenden Gesichtern abgebildet. Allerdings waren die „Tornados“ mittlerweile nur noch ein sehr laues Lüftchen.

Die drei, auch schon in die Jahre gekommenen, Musikanten, trugen hellblaue Bühnenanzüge mit Schlag und Schulter­polstern aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Bei dem Gitarristen und dem Schlagzeuger spannten die Anzüge so, dass das Jackett offenbleiben musste. Und den Kopf des Organisten zierte ein fast echt wirkendes, schwarzes Toupet, unter dem ziemlich keck der kümmer­liche Rest eines grauen Haarkranzes‘ wie ein Nest hervor­lugte.

Drei Mikrophone ließen befürchten, dass die drei Herren auch noch singen würden.

Alma und Hildegard waren sichtlich nervös, als ein Tusch einsetzte und beide Tanzlehrer die Gäste begrüßten.

Beide Freundinnen hatten sich bereits einen Piccolo bestellt, denn Fräulein Saurbier hatte enttäuscht festgestellt, dass leider kein Eierlikör angeboten wurde.

Mit bereits geröteten Wangen lauschten die Beiden den Ausführungen der Tanzlehrer. Heute war dafür gesorgt, dass genügend Herren anwesend waren.

Mit Hilfe von Getränkegutscheinen und einem Nachlass bei der Kursgebühr hatten Frau Riebezahl-Schondorf und Herr Pahlhuber-Hurnstein aus anderen Kursen so viel Herren abgeworben, dass das Verhältnis von Damen und Herren jetzt eins zu eins war.

Höhepunkt des Abends sollte später eine Tombola sein, mit interessanten Preisen, die Kasseler Geschäftsleute gestiftet hatten.

Frau Riebezahl-Schondorf trug sehr flache, schwarze Lack­schuhe, um die ein Meter einundachtzig nicht nennenswert zu überschreiten. Ihre Stimme erinnerte an eine ketten­rauchende Münsteraner Staatsanwältin. So als hätte sie mit Rohrreiniger gegurgelt. Herr Pahlhuber-Hurnstein hatte sich extra neue Schuhe im Internet bestellt, die ihn sieben Zentimeter verlängerten, sodass er in der Lage war, mit Frau Riebezahl-Schondorf zu tanzen, ohne eine Genickstarre zu kriegen. Seine quengelnde Stimme glich der von Homer von den Simpsons. „So ein Päarchen vergisst man nicht, meine Liebe“, flüsterte Alma Hildegard ins Ohr.

Die Tanzlehrer baten alle Herren ohne Partnerin auf die eine Seite der Tanzfläche und alle Damen, die solo erschienen waren, auf die andere Seite.

Der Ball begann mit einer Damenwahl.

Alma, die Sportliche, erreichte knapp vor einer etwas korpulenteren Dame ihren Wunschpartner: Otto.

Mitte siebzig, ziemlich schlank und gut erhalten, sehr breiter, glänzender Scheitel zwischen den stark behaarten Ohr­wuscheln. Der verbliebene Haarkranz war so übersichtlich, dass Otto jedes einzelne Haar mit Namen kannte. Die helle Hose hatte noch einen ordentlichen Schlag und der schwarze Blazer war mit rustikalen Schulterpolstern gefüttert. Leicht erhöhter Cholesterinspiegel, aber an­sonsten noch willig und belastbar.

Fräulein Saurbier wurde kurz vor ihrem Zielobjekt von einer energischen Konkurrentin abgedrängt und landete bei Waldemar.

Ebenfalls mitte siebzig, sehr gut entwickelter Bauch, aber auch noch relativ volle Haare, schwarzer Anzug. Und bereits jetzt schon durchtranspiriert. Der Bauch und das gerötete Gesicht ließen darauf schließen, dass Waldemar weder Probleme mit hopfenartigen Getränken noch mit zu niedrigem Blutdruck hatte.

„Er hieß Waldemar, weil es im Wald geschah“, erinnerte sich Hildegard an den alten Gassenhauer aus ihrer Jugend, als sie Waldemar zum Tanz bat.

Nach den ersten Tänzen ohne Ansage hatte sich Fräulein Saurbier durchgesetzt. Der dicke Waldemar ließ sich jetzt anstandslos führen.

Alma gab sich gleich den gelenkigen Vorgaben von Otto hin, sodass beide Paare die erste Runde ohne Blessuren überstanden hatten.

In der Pause fragten die beiden Kavaliere höflich, ob sie sich zu den beiden Damen an den Tisch setzten durften. Sie durften.

Beide waren seit langen Jahren befreundet. Und beide waren verwitwet und kamen aus dem Kurs von Herrn Pahlhuber-Hurnstein. Nach dem Tod ihrer Frauen hatten ihnen ihre Kinder nach einer Anstandsfrist einen Tanzkurs geschenkt, damit sie wieder unter nette Menschen kamen. Denn Tanzen war gut für Körper, Seele und Gehirn, wie die Kinder sie motivierten.

Die nächste Tanzsession klappte noch harmonischer. Vielleicht lag es ja auch an der glitzernden Discokugel, die sich unter der Decke drehte, Lichtsprenkel auf die ver­schwitzten Gesichter warf und alle zusätzlich motivierte.

Hildegard war erstaunt, dass Waldemar trotz seiner Leibes­fülle ein wieselflinker, gelenkiger Tänzer war, der sich aber bedingungslos ihrer Führung unterwarf.

Bei einigen Pärchen ging es allerdings nicht ganz so harmonisch zu. Sie stritten offensichtlich, welcher Tanz nun gemeint war, welcher Fuß zuerst kommt und wer führen durfte.

„Das sind bestimmt ziemlich alte Paare“, meinte Alma lachend, als sie sich beim Disco Fox mit drei peppigen Schritten auf Otto zubewegte, um dann in eine Drehung abzugleiten.

In der nächsten Pause wurden Lose verkauft. Alle vier Tischpartner kauften je drei Stück.

Die ersten zwei waren wie immer Nieten. Aber beim dritten Los krachte es richtig.

Der dicke Waldemar hatte passenderweise einen Gutschein für ein Essen zu zweit in einem bekannten Kasseler Restaurant gewonnen.

Alma wusste sofort, dass sie den gewonnenen Golf Schnupperkurs ihrem Sohn Klaus schenken würde.

Ottos drittes Los war ein Gutschein für eine Stadtrundfahrt zu zweit in einem offenen Doppeldeckerbus. Hop on - Hop off.

Aber Hildegard hatte den Vogel abgeschossen. Als sie ihr Los geöffnet hatte, atmete sie vor Aufregung flach durch die trockene Nase, und die Hände zitterten, als sie sprachlos vor Glück ihr Los der Tanzlehrerin überreichte.

Sie hatte ein verlängertes Wochenende mit einem Leih-Cabriolet eines Kasseler Autohauses gewonnen.

„Das ist mein erster Gewinn seit dem Freiflug mit dem Zeppelin vor über sechzig Jahren“, strahlte Hildegard wie bei einem Kindergeburtstag.

Allerdings hatte Hildegard gar keinen Führerschein.

„Aber dann fahre ich halt“, schlug Alma spontan vor, die froh war, außer ihrem alten Jetta mal so ein flottes Luxus-Cabrio fahren zu dürfen.

Alle waren sich schnell einig. Außer dem Golfkurs könnten sie ja die Preise doch als Grundlage für zukünftige, gemein­same Unternehmungen nutzen.

Und so verabredeten sich die vier für die nächsten Wochen, um weiterhin zusammen bei Frau Riebezahl-Schondorf zu tanzen und die Gewinne gemeinsam zu verbrauchen.

Es wurde halb zwölf, als sich die beiden Herren von den Damen mit einem galanten, angedeuteten Handkuss verab­schiedeten.

„Wunderbare alte Schule“, schwärmte Fräulein Saurbier selig, als ihre Freundin Alma sie nach dem wunderschönen Ball nach Hause fuhr.

Vatter - es kostet nix

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