Читать книгу Atlan 640: Im Herzen SENECAS - Hans Kneifel - Страница 4
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ОглавлениеKAMILL, Ostaro, SZ-1, Cafeteria »Observatorium-Hill«, 01:23:15, 27. Februar 3808:
Es sind immer nur die anderen, die auffallen, sagte sich Ostaro, feuchtete seinen Zeigefinger an und tauchte ihn in die feinen weißen Kristalle. Zucker! Kristalliner, feinst raffinierter Zucker aus rohrartigen Gewächsen, gebunkert auf Anterf. Kein Zucker aus den Nahrungsmittelmaschinen der SOL. Er leckte den Finger zufrieden ab und begann, Zucker in die Tisch-Dosierungsbehälter zu füllen. Dann grinste er.
Aber die anderen haben auch weitaus mehr Verantwortung und Probleme als ein kleiner, einfacher Insasse des Schiffes, der bestenfalls von Heldentaten träumte.
»Wo liegt der Vorteil?«, fragte er sich laut.
Ostaro zuckte die Schultern. Er wusste es selbst nicht. Träume von Heldentum suchten weder ihn noch seine Freundin heim, jedenfalls nicht häufig. Er war mit seinem Leben zufrieden. Ab und zu wünschte er sich, die SOL würde endlich wieder die sagenhafte Erde erreichen und dort landen, dann wieder spielte er mit dem Gedanken, sich auf einem der angeflogenen Planeten aussetzen zu lassen, aber schließlich verwarf er diese Überlegungen wieder als »unsinnige Idee« und sorgte dafür, dass in seinem kleinen, wohlorganisierten Reich alles mit perfekter Gründlichkeit funktionierte.
Seit über einem Jahr war die Cafeteria sein Reich.
Er kannte so gut wie jeden seiner regelmäßigen Gäste. Es waren die Frauen und Männer von SPARTAC, viele derjenigen, deren Wohnkabinen hier in der Nähe lagen und ein ständiger, aber dünner Reigen von Solanern, die wohl nur zufällig in dieser Polgegend etwas zu suchen hatten.
Vor wenigen Minuten hatte er seine Schicht angetreten. Er bevorzugte die vorwiegend stillen Stunden der Bordnacht.
Nur wenige störten ihn. Er konnte, zusammen mit den Robots, die Theke, die Sitze und Tische putzen, für frisches Essen und sorgfältig gepflegte Getränke und eine Umgebung sorgen, die Ruhe, Sauberkeit und Erholung ausstrahlte. Er hob den Kopf, sah, dass der Robot die Scheibe des Interkoms im Hintergrund des Raumes reinigte und rief durch das leere Lokal:
»Schalte die letzen Bordnachrichten ein. Und den Ton stärker.«
Die schwebende Allroundmaschine blinkte antwortend und führte die Schaltungen aus.
Sofort erschienen auf dem Bildschirm in holografischer Wiedergabe die letzten Nachrichten; bebildert, kommentiert, zusammengestellt nach Wichtigkeit und Aktualität von SENECA, dessen Wirken innerhalb der SOL so selbstverständlich war wie die Sterne der Galaxis und die Beleuchtung oder die Luftumwälzung. Nur Störungen wurden bemerkt, nicht die Perfektion.
Ostaro füllte frisches Wasser in die Hydrokultur, zupfte vergilbte Blüten und Blätter ab und verfolgte die Neuigkeiten, die teilweise keine mehr waren.
Weiterhin kreuzte die SOL in der Doppelgalaxis Bars-2-Bars.
Überall an Bord wurde nach Mjailam und Mylotta gesucht. Breckcrown Hayes schilderte in einem Insert seine Sorgen. Atlan erzählte, dass er einen kurzen, in seiner Aussage verwirrenden, aber deutlichen mentalen Kontakt mit Tyari gehabt hatte.
An einigen Stellen der SOL hatte es, ausgehend von der sicheren Vermutung über SENECAS Teillähmung, Unfälle und teilweise ernsthafte Störungen gegeben. In den meisten Fällen konnten Hilfsaggregate schwere Ausfälle verhindern. Hundertfünfundzwanzigtausend Kubikmeter Plasma von der Hundertsonnenwelt – dieser Name sagte Kamill kaum etwas – waren durch die paralysierenden Strahlen Mylottas ausgefallen. Der Eindringling war nicht zu erkennen und von SENECA nicht zu greifen. Es war aber offensichtlich endgültig gelungen, die einstige BANANE, die sich jetzt ARSENALJYK nannte, abzuhängen.
Prüfend sah Ostaro sich um und zählte die Gedecke, Servietten, das Besteck und die Gläser. Sie blitzten im Licht der heruntergedimmten Beleuchtung. Er war zufrieden.
Weitere Nachrichten:
Die Ergebnisse der letzten Ortungen nach Beendigung einer Linearetappe. Es gab in erreichbarer Nähe keine Planetensysteme, auf denen sich eine Landung gelohnt hätte. Überdies würde es auch keinen Landeversuch geben, denn die bordinternen Vorgänge hielten mehr als ein Viertel aller Solaner pausenlos in Atem. Nicht nur die Stabsspezialisten und das Atlan-Team. Eine Druckdampfleitung war in der SZ-2 geplatzt und hatte einen Wohnbezirk beschädigt. Die neu eingesetzten Bäume, Blumen und Beerensträucher in den Grünflächen des Solariums, teils von Anterf, zum anderen bizarre Sträucher von Duusnorz, gediehen prächtig. SENECAS Schaltungen, nur noch mit dem ungelähmten positronischen Teil ausgeführt, funktionierte noch immer mit einer Zuverlässigkeitsquote von 91,7 Prozent. Als wollte man den Ernst dieser Aussage unterstreichen, flackerte für einen Zeitraum von etwa fünf Sekunden die gesamte Beleuchtung. Klickend schaltete sich eine Batterieleuchte ein und etwas später wieder aus.
»Verdammt!«, sagte Ostaro Kamill, desaktivierte den Robot, der daraufhin wieder seinen ständigen Platz im Fußteil der Theke aufsuchte, und dann entschloss sich der Nachtdienstler, den Interkom eingeschaltet zu lassen.
Er wusste, dass die Lage der SOL mehr als bitter ernst war.
Aber was sollte er tun? Der schmale, kleinwüchsige Mann fuhr über sein kurzes, blondes Haar und hörte auf dem Korridor Stimmen. Dann schwang die Tür auf, und neun Solaner kamen herein. Sie wirkten müde, hungrig und niedergeschlagen. Ostaro hob grüßend die Hand und wandte sich an die Chefin des Teams aus Sicherheitsleuten.
»Ich sehe es schon an euren Gesichtern. Ihr habt keinen Erfolg gehabt?«
Sie setzten sich an den größten Tisch der Cafeteria und bestellten, obwohl sie dienstfrei hatten, alkoholfreie Getränke.
»Nein. Kein Erfolg. Hundert verschiedene Ideen, und keine davon ist wirklich etwas wert. Was hast du heute auf dem Programm, Küchenmeister?«
Kamill nannte ein halbes Dutzend verschiedener Gerichte, die, frisch zubereitet, in den Vorratsbehältern lagerten. Man konnte sie miteinander und mit verschiedenen Zutaten kombinieren. Kamill war stolz darauf, dass er immer etwas Besonderes parat hatte.
»Hört sich gut an.«
Die Mannschaft nahm ihre Tabletts, er stellte sich hinter das Buffet und teilte aus. Plötzlich machte ihm der Anblick seines eigenen Essens Appetit. Er füllte zwei Schalen, häufte Salatmischung auf einen Teller und setzte sich zu den Sicherheitsleuten. Sie hatten ihre Waffen über die Sessellehnen gehängt, die Schutzhelme in den Nacken geschoben und die Beine ausgestreckt.
»Wisst ihr etwas Neues? Ich kenne nur die Nachrichten«, sagte Ostaro und holte sich ein Glas Wein vom holzverkleideten Fass.
»Niemand weiß«, antwortete die junge Frau mit dem entschlossenen, hartgeschnittenen Gesicht, »wie sich dieser Kerl in SENECA aufhalten kann.«
»Aber ihr müsst doch Baupläne haben, aus denen hervorgeht, welche Verstecke es für Kerness gibt!«, widersprach Kamill.
»Haben wir. Aber in einer Kugel mit fünfhundert Metern Durchmesser, geschützt durch zwei Meter dicken Spezial-Panzerstahl, da gibt es Hunderte von Möglichkeiten.«
»Und ... SENECA? Was tut er?«
»Das Kommunikationssystem für sämtliche Kontakte nach draußen, also in unsere Welt, ist ernsthaft gestört. Er kann uns nicht helfen. Wir haben genug zu tun, um Notabschaltungen wieder zu neutralisieren.«
»Atlan?«
»Er unternimmt immer wieder Versuche, in SENECAS Reich einzudringen. SENECA scheint aber Freunde und Feinde nicht mehr zu erkennen. Er verweigert sich.«
»Ich verstehe«, sagte Kamill. »Aber dennoch verfügt er über genügend Pflichtbewusstsein, das Schiff weiterhin mit Energie und wichtigen Schaltungen zu versorgen.«
Die Sicherheitsleute blickten kurz von ihrem Essen auf, musterten ihn und schüttelten dann ihre Köpfe.
»Mann!«, sagte einer, soviel falsche Sicht der Wirklichkeit bewundernd. »Dein Salat ist erste Klasse. Aber lasse die Finger von SENECA.«
»Ich habe nicht vor, ihn zu reparieren!«, versicherte Ostaro Kamill beleidigt.
Offensichtlich, sagte er sich abschätzig, war seine Ansicht von SENECA als einem quasi lebendigen Wesen, das besonders viel, schnell und richtig rechnen und schalten konnte, doch nicht ganz zutreffend. Sein Salat schmeckte tatsächlich gut; es mochte an der neuen Gewürzmischung liegen, die er gestern zusammengestellt hatte.
Er entschied sich zu sagen: »Ich möchte wirklich nicht Atlans Probleme haben.«
*
In derselben Sekunde, im Mittelteil des Schiffes, sagte der Arkonide:
»Und wieder einmal beginnt das Chaos erfolgreich Hand an uns zu legen, Breck! Ich weiß nicht mehr weiter.«
Atlan hob verzweifelt die Schultern und stützte sein Gesicht schwer in beide Handflächen. Seine Ellbogen ruhten auf den Kanten des großen Terminals. Es war das Spezialgerät, das ihn mit SENECA verband und neu in SOL-City, im Arbeitsraum des Atlan-Teams, installiert worden war. Damals hatte der Bordrechner seinerseits bei der Einrichtung mitgeholfen. An Bord gab es nur vier Terminals, die einen derart direkten Zugriff zu SENECA hatten.
Auf dem Bildschirm war in flirrenden Buchstaben ausgedruckt:
MEIN PLASMA RUHT.
»Niemand weiß in diesen Stunden Rat, Atlan«, antwortete der wuchtige Mann mit den narbigen Zügen, der neben dem Arkoniden saß. »Wir sind ebenso verunsichert wie der verstörte Rest des Rechners.«
SENECA fühlte sich angesprochen und gab über die akustische Verbindung eine Antwort. Die Vocoderstimme des Rechners klang unendlich müde. Schon seit vielen Stunden verkehrte SENECA auf diese schleppende Weise.
»Ich werde meine Selbstvernichtung einleiten. Dann stirbt auch mein persönlicher Feind Kerness Mylotta.«
Sofort erwachte Atlan aus seiner Erstarrung. Seine Stimme war scharf.
»Nein! Seit der Kiellegung der SOL haben wir gemeinsam Dutzende von ähnlichen schweren Zwischenfällen erlebt und überstanden. Jedes Mal sind wir klüger daraus hervorgegangen. Wenn du die Selbstvernichtungsanlage aktivierst, tötest du nicht nur hunderttausend Menschen!«
SENECAS Denkprozesse liefen mittlerweile mit der Geschwindigkeit eines debilen Hirns ab.
Nach einer endlos langen Weile antwortete er:
»Du hast wohl Recht. Ich bin verwirrt. Ich weiß nicht, was logisch ist und was nicht. Ich frage euch, ob ich mich mit meinen eigenen Schaltungen selbst schädige. Kann das sein?«
Die Meldungen, die in der Zentrale ununterbrochen aus allen Teilen des Schiffes eintrafen, bewiesen es. Neun Minuten und vierzig Sekunden lang war die Ortungsabteilung ohne einen Funken Energie gewesen. Automatische Batterielampen hatten verhindert, dass sich die Frauen und Männer die Schädel einrannten. Mehr als fünf Minuten lang hatten Breck und Atlan auf SENECA eingeredet wie auf ein störrisches Kind, dann erst gab er wieder die blockierte Schaltung frei.
Sektorenweise fielen Schutzschirme aus. Schleusentore hatten sich geöffnet und wieder geschlossen. Ein Hochenergiegeschütz begann unkontrolliert zu feuern. Es war, als würde Mylotta irgendwo dort drinnen wahllos Tasten drücken – die es nicht gab.
»Das kann nicht nur sein, SENECA«, antwortete Breckcrown Hayes nachdrücklich, »das ist die bittere Konsequenz. Um wieder arbeiten zu können, solltest du die Notschleuse öffnen und Atlan in dein Reich hineinlassen.«
»Das ist eine unzumutbare Forderung!«, ächzte der Rechner.
Ratlos sahen sich Atlan und Hayes an. Seit Tagen führten sie Diskussionen mit SENECA, die einander ähnelten und von der gleichen Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet waren. Es gab wenige »lichte Momente«, in denen der Bordrechner ihnen gestattete, über die Überwachungssensorschaltungen Einblick in sein Inneres zu nehmen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatte keiner von ihnen den seltsamen Saboteur zu Gesicht bekommen. Aber sie wussten definitiv, dass er dort eingedrungen war – dort, irgendwie, durch die Schleuse oder den so genannten Todesgang. Mittlerweile lag längst das komplette Dossier über den Vierundfünfzigjährigen vor; alle Erkenntnisse halfen hier, gegenüber dem SENECA-Desaster, nicht weiter.
»Warum unzumutbar?«, fragte Atlan. »Ich würde dich von Mylotta befreien. Du könntest wieder vollkommen funktionieren.«
»Mylotta kann mit seiner Hochenergie-Körperwaffe«, stöhnte SENECA voller Qualen, »mein Zellplasma zerstören.«
»Gerade davor will ich ihn zurückhalten«, erklärte Atlan behutsam. Der Rechner schrieb eine weitere Zeile aus.
ES BESTEHT EIN UNVERÄNDERBARES PATT!
Wieder zuckten beide Männer hilflos die Schultern und schwiegen bestürzt. Neue Nachrichten wurden übermittelt. Schlechte Nachrichten. Ständig fielen Teile der SOL-Versorgung aus. Wichtige und weniger wichtige Unterbrechungen der Versorgung fanden statt, über längere und kürzere Zeitspannen hinweg. Mittlerweile waren an unzähligen Orten transportable Notaggregate aufgestellt worden, von denen ein Teil der Ausfälle überbrückt werden konnte.
Atlan schaltete sich kurz in die Zentrale.
»Gibt es irgendwelche Beobachtungen über Aktivitäten außerhalb des Schiffes?«, fragte er.
»Nicht im Moment. Du hast zur Kenntnis genommen, dass Observatorium, Ortung, Schutzschirme und andere wichtige Zentralen immer wieder ausgefallen waren?«
»Das wissen wir. Ich frage nur zur Sicherheit.«
»Irgendwelche mechanischen Beschädigungen im Bereich der Hülle wurden weder über die gestörten Anzeigenleitungen noch über die Sensoren und auch nicht durch die Sicherheitsteams registriert.«
Atlan stieß einen Seufzer aus.
»Es erleichtert mich, das zu hören«, sagte er leise. »Danke.«
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es gab weitere Versuche, SENECAS Verhalten zu ändern, für die nächste Zeit auf. Vielleicht war es besser, auf den nächsten Zug des Gegners zu warten. Aber unablässig kreisten seine Gedanken und seine technische Phantasie um diese Probleme. Der Name war die einzig präzise Note in all dem Chaos.
Das SENECA-Desaster.