Читать книгу Mythor 165: Verbotene Träume - Hans Kneifel - Страница 5

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Vergiss alles!

Nein! Vergiss es nicht. Keine Einzelheit darfst du wirklich vergessen! Aber dränge sie zurück, jene Abenteuer, in die Gedanken der Vergangenheit. Irgendwann wirst du jede noch so bedeutungslos scheinende Einzelheit wieder brauchen, weil sich dann alle Farben und Linien zu einem gewaltigen, nie geschauten Bild zusammenfügen werden.

Dränge die Erinnerungen also zurück!

Den Kampf gegen die Shrouks in der gigantischen Blase, die von Yhr geschaffen worden war. Den furchterregenden Anblick des dreigehörnten Shrouks Kytto.

Auch das Schicksal des Albtraumritters, des Freundes – denke nicht in diesen Stunden und seltsamen Tagen darüber nach. Es ist unmöglich, Coerl zu vergessen. Aber verliere nicht deine Wachsamkeit und das Misstrauen, das dich in dieser Welt der wirbelnden Monde überleben lässt.

Dränge das Bild des MOLOCHS zurück in den Nebel, der viele deiner Erinnerungen umgibt. Vergiss auch Burg Cruncalor und die seltsame Meeresfahrt mit der Lysca.

Überall lauern Gefahren im Mondlicht.

Noch drei Monde lang, haben sie dir gesagt. Glaube ihnen. Sie wissen es besser.

Auf deiner Brust schaukelt das Dreieck des Traumamuletts. Es wird nicht mehr als ein Erkennungszeichen sein, aber es kann dich nicht schützen. Weder vor den Elturks, den Kriegern mit den knackenden Greifzangen und Mundwerkzeugen, die allesamt wie Krebsscheren oder die Klauen von Albtraumwesen aussehen und tödliche Wunden reißen, noch vor anderem.

Für die nächsten Tage versuche auch, all das zurückzudrängen, was dich an Xatan und sein magisches Reittier, die Schlange Yhr, erinnert. Auch der Traumhändler Thoker, einer deiner Gegner – er wird sich am Ende deines Weges deinen Waffen stellen. Vergiss indessen, dass dein Verstand, dein Wissen und die Erinnerungen an das, was du »mein früheres Leben« nennst, sich noch lange nicht zu einem Ganzen zusammengefügt haben. Ilfa und die fast wirklichen Träume von Fronja – und das Kind, das ihr gehabt haben könntet. Was aber ist Traum, was Wirklichkeit?

Lasse dich nicht ablenken.

Erhebe deine Augen nicht zum Himmel, an dem die Monde ihre geistesverwirrenden Tänze und Figurationen ausführen, leuchtend in unterschiedlichem Licht.

Blicke zu Boden, in den Staub, zwischen die Zweige der wuchernden Mondsträucher und der kriechenden Ranken von bleicher Farbe. Von dorther drohen die Gefahren!

Und du, Mythor, bist mitten zwischen diesen Gefahren! Denke jeden Lidschlag, jeden Herzschlag nur daran, an nichts anderes!

*

Mythor, zurückgelehnt und hineingeduckt zwischen die lederartigen Teile der kastenförmigen Sattelsänfte, versuchte, seiner inneren Stimme zu gehorchen.

»Richtig«, murmelte er. »Wir sind erst am Beginn der Reise.«

Es war eine der seltsamsten Karawanen, die er je erlebt hatte. Er erinnerte sich nicht daran, jemals auf Tieren geritten zu sein, die wie jene Wisons aussahen.

Grün schillernde Panzer, die an den Gliedmaßen gegeneinander scheuerten und über die das wechselnde Licht der Monde spielte, trugen die eckigen Kästen aus Holz, Metall und Leder, in denen die Treiber und die Gäste saßen. Das wenige Gepäck war in flachen Taschen untergebracht oder an den Verstrebungen festgezurrt. Die Tiere, kaum größer als Pferde, waren stark und schnell, und obwohl sie mehr wie riesige Käfer aussahen, bahnten sie sich mit der Gewandtheit jener Reittiere ihren Weg durch den staubigen Sand, der am Fuß des Tafelbergs lag. Längst war Transur hinter der Karawane verschwunden.

Wachsam glitt Mythors Blick über die Landschaft, die sie im eigenartig ruhigen Trab der Wisons passierten.

Blutmond war vorbei, aber die Karawane kreuzte ständig die breiten Spuren der entfesselten Elturks, die aus den Höhlen und Gängen aufgetaucht waren. Bisher hatte keiner der Treiber und auch nicht Mikel oder Mythor eines dieser Raubwesen gesehen.

Allerdings waren die zehn Tiere, deren große, als Waffe zu gebrauchende Zangengeweihe sich im Takt der Schritte bewegten, ausgesucht kräftige, gutgenährte und schnelle Wisons. Ursprünglich hatte Castovian die Gruppe für Hascarid zusammengestellt. Hascarid aber war tot. Der Unterschlupf Thokers war das erklärte Ziel Mythors und Mikels – aber wann würden die Fremden den Ort erreichen?

Der erste »Tag« war erst Stunden alt.

Die rauen Worte, mit denen sich die Treiber Scherze und Warnungen zuriefen, verstand Mythor nur zum Teil. Das Idiom Trazunts war ihm fremd und würde es auch weitestgehend bleiben. Er besaß nicht mehr Kenntnisse als Finger an beiden Händen. Aber die Gefahren würde er auch erkennen, ohne die Feinheiten der Sprache je erfasst zu haben. So blieb Mikel mehr oder weniger sein einziger Gesprächspartner, sah er von Versuchen in der Zeichensprache ab.

Mythor wartete förmlich auf einen Zwischenfall, auf eine Gefahr, die er ringsum vermutete und geradezu spürte. Quer über seinen Oberschenkeln lag das gezogene Schwert. Er wusste, dass er vielleicht lächerlich aussah in seiner Vermummung. Er trug einen weiten, aus Leder gefertigten Helm mit Nackenschutz und einer Art Visier, das aus Teilen von Wison-Panzern bestand. Handschuhe, eine knielange Jacke aus maggothischem Hartleder, seltsame Knieschützer und einen runden Schild, der noch mehr von seinem Äußeren verbarg.

Blinkmond stand einige Handbreit über dem Horizont zur Rechten der dahintrabenden Karawane. Der glühende Himmelskörper überschüttete das Land mit pulsierendem Licht. Der Mond war auf die Hälfte seiner größten Ausdehnung angeschwollen. Sein Blinken wirkte aufreizend und einschläfernd gleichermaßen, denn die Abstände zwischen den größten Helligkeiten waren unregelmäßig. Das Leuchten aller anderen Körper wurde von Blinkmond überstrahlt.

Das Tier, in dessen knarrendem Aufbau der alte Pfader saß, wurde schneller und setzte sich an die linke Seite von Mythor.

»Hast du eine Ahnung, wie lange wir reisen müssen?«, rief Mythor, froh darüber, einige Worte wechseln zu können.

Der Mond Riesin hob sich hinter einer breiten Staubfahne schräg hinter den letzten Tieren hoch. Ihr Licht war gelb, mindestens zwei deutlich zu unterscheidende Schatten lagen auf dem kargen Gras, das von den breiten Gehwerkzeugen der Wisons zertrampelt wurde. Der graue Staub begann sich niederzusenken.

»Wie ich schon sagte – einige Tage«, rief Mikel. »Die Maggoth-Vagesen meinen es auch. Denke nicht, dass die Gefahren schon vorbei sind.«

Mythor stieß ein kurzes, scharfes Lachen aus.

»Ich warte förmlich darauf, dass etwas geschieht.«

Ein Rudel der flugfähigen, grünhäutigen Wesen begleitete die Karawane. Meist flogen sie in einer langen, unregelmäßigen Doppelreihe zu beiden Seiten der Karawane. Die Spitzen der langen Stechlanzen und der kurzen Wurfspieße funkelten. Ab und zu sank einer der Krieger zu Boden, faltete seine drei Mannslängen weit spreizenden Fledermausflügel zusammen und lief mit seltsam grotesken Sprüngen einige Zeit lang über den sandigen Untergrund.

»Siehst du dort den aufgewirbelten Staub?«, rief Mikel und zeigte auf den leuchtenden Halbkreis von Riesin.

»Natürlich. Kannst du sagen, was das ist?«

»Elturk-Horden!«

Mikels Stimme war so laut geworden, dass sowohl die Treiber als auch die spitzohrigen Vagesen seine Warnung hörten und verstanden. Schattenwelsch war ein kleiner, fremdartiger Bestandteil der Trazunter Sprache.

»Wir wehren uns«, schrien die Maggoth-Vagesen. Von ihnen wusste Mythor, dass sie während der Blutmond-Zeit durch besondere Wildheit und Besessenheit auffielen und Schrecken verbreiteten.

»Und was bedeutet dies?«, rief Mythor erschrocken und verwundert.

Thokers Unterschlupf und die Jagd nach Xatan und Yhr schienen mit einemmal in unerreichbare Ferne gerückt zu sein. Etwas Seltsames ging vor. Die Sprünge der Tiere und ihre langen Schritte wurden weicher und weiter. Es war, als würden sie zu fliegen versuchen. Gleichzeitig richteten sich die Ranken und Stängel der Nachtschattensträucher senkrecht auf. Auch sie schienen eine Art anderes Leben zu gewinnen.

»Trazunter Nacht, Mythor!«, gab der Pfader zurück. »Alles, was über dem Boden ist, wird leichter oder schwerer. Mondzeit. Vieles verändert sich gegenüber den Tagen.«

Mindestens fünf Monde, kleiner, größer, heller oder farbiger leuchtend, bewegten sich in schauerlicher Lautlosigkeit über den dunklen Himmel.

»Ich verstehe«, rief Mythor und fasste die Waffe fester.

Die Vagesen flatterten mit weniger aufgeregten Schlägen ihrer langen, dünnhäutigen Schwingen. Ihre hohlen Knochen hatten jetzt leichtere Lasten auszuhalten. Alles wurde leichter; die Kästen der Sattelaufbauten schwankten und knisterten. Das harte Klappern der Schultergürtel und der ledernen Schurze, an denen Waffen und Ausrüstungsgegenstände hingen, wurde leiser. Die Maggoth-Vagesen schienen diesen Zustand zu genießen. Aber die Staubwolken, jetzt auf beiden Seiten der Karawane, wurden breiter.

Mythor legte die Hand auf sein Traumamulett.

Gegenüber dem Traumbewahrer Pramat und seinen Dienern, den Yorvarern Esthan und Toskor würde das Amulett Aquims ihn als Freund und Vertrauten ausweisen. Gegen andere Gefahren half das Dreieck mit dem geschlossenen Auge im Strahlenkranz auf der einen, mit dem offenen Auge auf der anderen Seite überhaupt nichts.

»Wir werden sicherlich angegriffen werden!«, versicherte der Pfader. Auch er trug einen ledernen Panzerhelm, der für ihn viel zu groß war.

Außer ihm wusste niemand etwas von Mythors wahren Absichten.

Die Fremden wurden von den Treibern und den Vagesen für Verbündete des Traumhändlers gehalten. Das sollte so bleiben, sagte sich Mythor seit dem Anfang der Reise durch die seltsame, unwirkliche Nacht dieser Weltebene.

Ein Teil der Ebene, die von kleinen Hügeln unterbrochen war und von dunklen Gruppen sich schlängelnder Gewächse, schien sich zu verändern.

Während sich die Aufregung unter den Treibern und den Wisons langsam legte – sie gewöhnten sich an die scheinbare Leichtigkeit aller Bewegungen –, erwachte die Spannung in Mythor wieder.

Aus dem Boden der Fläche schoben sich Dinge, die wie weiße Lanzenspitzen aussahen. Sie drückten Erdreich und Kiesel zur Seite und wuchsen mit abartiger Geschwindigkeit in die Höhe. Ihre scharfkantigen Blätter und Stämme leuchteten schneeweiß und gespenstisch. Wo sie auftauchten, zogen sich die anderen Gewächse zurück. Sie schüttelten sich, zitterten und peitschten mit Zweigen und Ranken wild um sich.

»Sei ganz ruhig«, versuchte der Pfader, ehe sich sein Tier wieder vor Mythor einreihte, zu beschwichtigen, »die Fledermauswesen wissen, wo ihre Heimat liegt.«

»Das denke ich wohl auch.«

Mindestens an zwei Stellen näherten sich größere Horden der käferartigen, gut halb mannsgroßen Nachtwesen. Sie rannten und sprangen auf ihren zweigelenkigen, dünnen Beinen mit den kugeligen Gelenken auf die Spitze der Karawane zu. Die Treiber winkten aufgeregt zu den Maggoth-Fliegern hinüber, die aufgeregt zu zirpen und zu pfeifen anfingen und ihre Waffen schwenkten.

Flinke Läuferin, die während des ersten Teils der Reise von links über den Himmel gewandert war, verschwand hinter einem spitzkegeligen Berg und einer langgestreckten Wolke.

Mythor zog das Schwert unter dem Überwurf hervor und wartete.

Der Pfader hatte ihn schon vor einiger Zeit gewarnt. Während der langen Nacht veränderte sich alles, und nichts davon war vorhersehbar. Noch mitten in seinen Gedanken, als er zwischen den Büschen und den peitschenden Ranken die ersten Elturks auftauchen sah. Auf dem harten, glattpoliert scheinenden Material ihrer Panzer und in ihren Facettenaugen funkelten die Reflexe der farbigen Monde.

Als beide Gruppen der wie rasend zirpenden Elturks sich vor der herantrabenden Gruppe zusammenschlossen, schwärmten die Maggoth-Vagesen aus. Auch sie bewegten sich schneller und müheloser. Einige Treiber zogen die Schleudern heraus, legten gezackte Steine ein und schleuderten die Geschosse. Sie trafen auf die krachenden Panzer der Käfer, bohrten sich in die großen Augen und zerschmetterten die Gelenke.

Die Wisons kreischten und schlugen um sich. Die Treiber, ihre Schleudern schwenkend, lenkten die Tiere rücksichtslos geradeaus weiter. Elturks schwenkten die riesigen Mundzangen ihrer verstorbenen Krieger in den Greifklauen und versuchten, sie auf die Wisons zu schleudern. Rücksichtslos stürzten sich die Maggoth-Vagesen aus der Luft auf die vordersten Schattenwesen und stachen sie nieder.

Eine schmale Gasse bildete sich.

Mythor hatte sich halb erhoben, klammerte sich mit der linken Hand an eine Verstrebung und hob das Schwert. Die Schneide fuhr herunter, als sich ein Pulk der Käferwesen auf das Tier Mythors stürzte. In den Ohren des Kriegers summte und pfiff es. Die Elturks vermochten sich in einer derart schrillen Sprache zu verständigen, dass Menschen sie nicht hören konnten und nur als Schmerz empfanden. Dumpf traf die Klinge auf die Panzer. Gliedmaßen packten die Schneide und wurden in der Aufwärtsbewegung zertrennt. Über Mythor flatterten riesige Schwingen, und ein Schatten senkte sich. Ein Wurfspeer heulte herunter und nagelte einen Elturk an den Boden. Schnell und mit tödlicher Treffsicherheit zuckte die Spitze der Lanze herunter und bohrte sich in die Spalten zwischen den Panzerteilen des Körpers und des Kopfes.

Immer wieder fuhr das Schwert zwischen die graugrün gefärbten Klauen und Scheren der oberen Arme und zerschlug die klappernden Waffen. Mythor riss den Fuß zurück, als sich die Enden der Scheren ins knirschende Leder bohrten. Sein Wison machte einen Galoppsprung und setzte über einen halb mannshohen Felsblock hinweg.

»Gut gemacht«, schrillte der Vagese, warf einen zweiten Speer und griff aus der Luft in den Zügel des Wisons. Das Tier schlitzte mit einem Hieb der Hinterlaufklaue den Körper eines Elturks auf und warf sich herum. Mythor wurde in die Tiefe des Sattels zurückgeschleudert und fluchte.

»Sie haben genug!«

Die zehn Tiere hatten sich aus der zangenförmigen Umschließung der gierigen Käferwesen gelöst. Ihre Angriffslust schien ungebrochen zu sein, aber die Gruppe der Reisenden war zu schnell gewesen. Viele verwundete und tote Elturks lagen hinter der Karawane im aufgewühlten Boden. Ein summendes, schrill zirpendes Wutgeheul verfolgte die Flüchtenden.

Die Wisons schüttelten sich, die Treiber sahen sich immer wieder um, und in einer dreifachen Reihe stob die Karawane weiter, ihrem entfernten Ziel zu.

Mythor schien es, als ob die Maggoth-Vagesen sich über diesen ersten Überfall mehr freuten als über den Umstand, dass sie alle überlebt hatten. Aber schon entdeckten Mythors scharfe Augen eine weitere Erscheinung, die schwerlich etwas Gutes versprach.

»Verdammtes Trazunt!«, stieß er hervor.

Die Wisons waren langsamer geworden. Die Bewegungen fielen nicht mehr so leicht wie noch vor kurzer Zeit. Im Gegenteil. Mythor meinte, dass auch das Schwert scheinbar schwerer geworden war. Die Gewächse, die aus dem Boden herausgeschossen waren, standen nicht mehr aufrecht, sondern bogen sich nach allen Seiten. Aber noch immer kämpften die weißen Pflanzen gegen die dunklen Triebe und Ranken.

Die beiden Gruppen der Maggoth-Fledermauswesen waren unverändert in großer Unruhe, als sich zwischen einer Reihe von Felsen riesige Motten oder Schmetterlinge erhoben. Eben noch hatten sie mit zusammengeklappten Flügeln an der Oberfläche der nadelförmigen, rot leuchtenden Steinpylonen geklebt, jetzt lösten sich ein Dutzend nach dem anderen und flatterte auf die Spitze der Karawane zu.

»Benador!«, schrie Mikel schrill. »Kennst du diese ... Flieger?«

Der Treiber, der die beiden ersten Tiere lenkte, drehte sich herum.

»Blutsauger. Schlimmer als die Elturks«, rief er nach hinten. »Wir müssen zum Wald. Dorthin.«

Er deutete auf die Kulisse einer Bergkette, die mindestens eine Stunde scharfen Trabes weit entfernt war. Die Hügel davor, ein Teil der undeutlich erkennbaren Schluchten und Teile der Ebene waren mit Wald bedeckt, dichten Kronen und Stämmen, die nach rechts und links geneigt waren und aus der Entfernung wie Gitter wirkten. Ein roter Nebel oder Rauch sickerte zwischen den Kronen hervor und verwandelte die Szene in ein Bild, das jedermann schaudern ließ.

»Das wird hart«, murmelte Mythor verdrossen.

Die Karawane änderte geringfügig ihre Richtung. Die Vagesen bildeten über den Tieren und den Kästen, in denen die Treiber und Reiter ihre Waffen bereithielten, eine annähernd runde Wolke und schwebten jetzt höher als bisher. Sie reckten ihre Stechlanzen in die Höhe und erwarteten die dunklen Schmetterlinge.

Die Wesen waren ebenso groß wie die Elturks. Unter dem Schlagen und Flattern ihrer Flügel wurde Staub aufgewirbelt, der sich nebelartig zwischen die Felsen und die Karawane hob. Zuerst waren es nur Dutzende gewesen, jetzt schwoll der Schwarm an. Hunderte und Aberhunderte bildeten eine gewundene Spirale, deren Spitze genau auf die Tiere zielte.

Für Mythor waren die Gefahren der Nacht von Trazunt nicht weniger wirklich als jede andere Gefahr. Aber das Licht der Monde, die merkwürdige Welt, die aus dem BUCH DER ALBTRÄUME zu stammen schien, Staub und Nebel und leuchtende Felsen, jene Wesen von unüberbietbarer Bizarrheit, das alles zusammen überzeugte ihn, dass er sich in einer Welt befand, die seine Aufmerksamkeit vom Kampf und vom Ziel ablenkte.

Die ersten Tiere scheuten kurz, dann schwangen sie sich den flachen Hang abwärts. Unter den Greiforganen rollten und kollerten große Steine. Das schwarze Wasser eines breiten, aber flachen Flusses spritzte und schäumte.

Die Schmetterlinge mit den langen, spiralig aufgekrümmten Fühlern waren näher herangekommen. Die letzten Exemplare hatten sich von dem Felsen gelöst.

Nicht länger wurde Mythor von seinen Gedanken und Erinnerungen an Träume eingekesselt und belästigt. Er wusste, dass sich die Angriffe verstärken und die tödlichen Gefahren größer werden würden.

In einem Wirbel gischtenden Wassers versuchten die Wisons, den Fluss zu durchqueren. Das schäumende, graue Nass reichte den ersten Tieren bis an die Bäuche. Die Treiber schrien und schlugen mit den Leitstöcken drein. Die Fledermauswesen bildeten über der Karawane einen rasenden, aufgeregten Wirbel und schrien grell durcheinander. Mythor ahnte einen weiteren Zwischenfall und blickte nach rechts. Von dorther kam ein zischendes Geräusch. Gerade, als ein Leittier zur Seite kippte, mit den Läufen schlug und gurgelnd im Wasser versank, rauschte eine Flutwelle heran.

Mythor schrie Mikel eine laute Warnung zu und deutete mit der Schwertspitze auf die riesige Welle. Sie war höher als zwei oder zweieinhalb Männer, und auf der breiten Krone, deren Wasser sich überschlug, drehten sich Trümmer, verdorrte Äste und Kadaver von unbekannten Tieren.

Gleichzeitig erreichten die ersten Flugwesen die Abwehr der aufgeregten Maggoth-Vagesen. Wieder stachen die Lanzen zu, und ihre blitzenden Spitzen bohrten sich in zuckende Körper und zerrissen die weichen Flügel.

Ein Tier rutschte aus, ging unter und tauchte mitsamt dem Treiber nicht wieder auf.

Mikel und Mythor trieben ihre Wisons an. Die langen, hornigen Läufe der Tiere arbeiteten sich durch das steigende, rauschende Wasser. Blindmond überschüttete die wildbewegte Szene mit unregelmäßigen Lichtblitzen. Im letzten Augenblick, dicht vor dem Zusammenprall mit der Flutwelle, griffen die Klauen der Vorderläufe in das Geröll des Ufers.

Als sich die Tiere hochzogen und aufgeregt schrien, warfen sich Mikel und Mythor herum. Sie klammerten sich an Griffen und Verstrebungen fest und stemmten ihre Beine gegen die schwankenden Stangen der Sättel.

Dann schlugen die Wassermassen über den Teilen der Karawane zusammen.

Das heranwirbelnde Schwemmgut warf die Tiere herum. Die Käferartigen strampelten und versuchten, sich schwimmend in Sicherheit zu bringen, Mythor und Mikel und einige Treiber wurden unter Wasser gedrückt, aber die kräftigen Wisons stemmten sich wieder hoch und erreichten das Ufer. Das zunehmende Gewicht, das alles auf diesem Teil der Ebene niederdrückte, hatte auch Tiere und Krieger gepackt. Sie sackten zusammen, bewegten sich noch langsamer.

Über dem Chaos am Rand des Wassers und im Flusslauf kämpften die Maggoth-Vagesen mit der riesenhaften Übermacht der Schmetterlinge. Die Fühler der Angreifer rollten sich auf wie Peitschen, wickelten sich mit den hakenbewehrten Enden um Waffen, Flügel und Gliedmaßen der fliegenden Krieger. Immer wieder fielen Schmetterlinge mit zerfetzten Schwingen, zuckend und summend, ins gurgelnde Wasser.

Mit gellenden Schreien verständigten sich die Lanzenkämpfer und flatterten, ohne sich um die Karawane zu kümmern, wild umher, von einer Art Rausch befallen und von schierer Mordlust.

Mythor hielt in einigen Dutzenden Schritten sein Reittier an. Das Wison keuchte und zitterte. Aus den Atemschlitzen fuhr heiße, stinkende Luft wie leichter Nebel.

»Sieben Wisons«, zählte Mikel und befestigte seine nassen Körperbinden. »Drei sind weggerissen worden.«

Benador trabte langsam heran und schwang ebenso langsam seine Schleuder.

»Zwei Freunde ... ertrunken, fortgerissen ...«, sagte er voller Wut und Trauer. »Und alles ist schwerer und mühsamer geworden.«

»Es wird sich bald wieder ändern«, meinte Mikel und zeigte auf die Fläche des auf- und abschwellenden Mondgebildes.

»Wir alle sind erschöpft. Besonders die Wisons.«

»Dann müssen wir rasten«, erklärte Mythor, ließ sich zu Boden gleiten und wehrte eine Gruppe von mehr als zehn Schmetterlingen ab, die mit ausgefransten Flügeln, aber zielgenau vorwärtsschnellenden Fühlerpeitschen das Tier und die Männer angriff. Erbarmungslos führte er die Schwerthiebe gegen diesen gespenstischen Feind.

Immer wieder gelang es einigen Schmetterlingen, durch die Gruppen der flatternden und schreienden Maggoth-Vagesen durchzubrechen. Die Teilnehmer der Karawane wehrten sich erfolgreich mit allen ihren Waffen.

Benador schickte einen weiteren Treiber flussabwärts, als der Kampf sich dem Ende zuneigte.

»Sieh nach, ob noch einer lebt. Hilf ihnen, wenn nötig.«

»Da wird nicht viel zu helfen sein«, meinte Mikel und senkte seinen Lanzenstab.

Die ersten Fledermausflügel falteten sich zusammen, als die Krieger erschöpft zu Boden sanken und sich in einer Gruppe zusammenkauerten. Ihre Körper glänzten vor Schweiß, die grünlich schimmernden Panzer waren mit Fetzen der Flügel bedeckt, die ihre Lanzen zerschnitten und zerrissen hatten. Die Krieger schwiegen, aber ihre Aufregung war nicht schwächer geworden.

Auch Mythor spürte jetzt sein eigenes Gewicht. Es war doppelt so groß, denn jede Bewegung erforderte die zweifache Menge an Kraft und Anstrengung. Er suchte den Himmel und die Umgebung ab. Die Wisons ließen matt ihre runden Köpfe hängen.

»Im Moment sind wir sicher«, murmelte er. »Wenigstens kann ich keinen Gegner mehr sehen.«

Hinter ihnen gurgelte und rauschte das Wasser des Flusses. Nachdem die Flutwelle mit vernichtender Gewalt vorbeigerast war, sank der Wasserspiegel wieder. Die Wellen schäumten nicht; die unsichtbare Kraft lähmte sogar die Bewegungen des Wassers.

Mythor holte tief Atem.

»Eine seltsame Welt, wahrlich«, sagte er unruhig und reinigte die Schneide des Schwertes. »Wir sind alle erschöpft.«

Muergan und Benador stellten sich zu Mikel, der sich aus dem Sattel beugte.

»Zur Schlucht. Dort finden wir Wasser und ein gutes Versteck. Los, auf die Tiere«, ordnete der Karawanenführer an. »Du hast gut gekämpft, Fremder.«

Mikel übersetzte auch die Antwort.

»Mir blieb kaum etwas anderes übrig. Wie lange brauchen wir bis zu deiner Schlucht? Ins Versteck?«

»Ein, zwei Stunden. Wenn die unsichtbare Kraft nachlässt, geht's schneller.«

»Worauf warten wir noch?«

Die Maggoth-Vagesen hockten in kleinen Gruppen im staubigen Gras. Sie redeten und tuschelten in höchster Erregung. Ihre blutigen Lanzen ragten wie die Stacheln eines phantastischen Tieres nach allen Richtungen in die dunkle Luft.

Treiber fütterten und tränkten die Wisons. Die Männer kletterten wieder hinauf in die breiten Sättel und zwischen die Lederplatten der Aufbauten. Schwerfällig, ohne auf die Fledermauswesen zu warten, setzte sich die dezimierte Karawane wieder in Bewegung. Nach etlichen Dutzend Schritten, zwischen den Stämmen abgestorbener Bäume hindurch, über einen knirschenden Teppich faulenden Laubes, hörte der lastende Druck auf jedem Muskel langsam auf.

Hinter dem letzten Wison stemmten sich die geflügelten Krieger schnatternd in die Höhe und folgten den Tieren in weiten, langsamen Sprüngen. Schließlich trabte der ausgeschickte Treiber heran und berichtete, dass er weder die Kadaver der Tiere noch die Leiche der Kameraden gefunden habe.

Mikel meinte verdrossen:

»Blinkmond sendet sein zitterndes, unregelmäßiges Licht auf uns. Das hat seine böse Bedeutung.«

»Wenn ich mehr über diese Welt wüsste ...«, begann Mythor und dachte an Coerl O'Marn. Würde er ihn finden, am Ende dieser bedenkenswerten Reise durch das Albtraumland?

Der Wald und die Schlucht wurden deutlicher, ihre Umrisse schärfer. Zwischen den Stämmen wehte den Wanderern eine kühle Brise entgegen. Von selbst wurden die Wisons schneller, und abermals ließ die drückende Kraft nach. Eine Stunde später ließ sich Benador aus dem Sattel gleiten, hob den Kommandostab und rief:

»Hier bleiben wir! Ein paar Stunden Ruhe und Schlaf tun uns gut!«

»Einverstanden«, gab Mikel zurück und packte den Knoten, mit dem ein aus Sehnen geflochtenes Seil an einer der Geweihzangen seines Reittiers mit einem metallenen Ring verbunden war. Geschickt schwang sich der kleine Pfader an dem Seil hinunter.

»Wir sind noch lange nicht in Sicherheit«, meinte er und beobachtete die Treiber. »Auch hier ... wir müssen Wachen aufstellen.«

»Ich übernehme die erste Wache«, versicherte Mythor.

Muergan und Benador und die beiden anderen Männer banden, nachdem sie die Tiere von den Sattelaufbauten befreit hatten, paarweise je eine der Geweihzangen mit den dicken Sehnenseilen zusammen. Eine Quelle rieselte über weißgewaschene Felsen herunter. Die ersten Maggoth-Vagesen kamen heran und tranken gierig das Wasser.

Mythor reinigte sich, ohne allzu viel von seiner Vermummung abzulegen. Er aß eine Kleinigkeit, kletterte neben der Quelle über die Felsen und setzte sich am Eingang, hoch über dem Einschnitt der Schlucht, unter einen Busch mit dunkelgrünen Blättern und purpurnen Blüten.

Grünmond, der Winzling, verschwand im Nebel des Horizonts.

Aber Blinkmond stand furchtbar groß, leuchtend und funkelnd, mit seiner abgehackten Lichtflut, über der Schlucht und den dösenden Tieren. Sein Leuchten brach sich auf den Körperpanzern und den Schwingen der Grünhäutigen.

Mythors Augen hefteten sich auf die Umgebung.

Aber seine Gedanken schwirrten fort, gingen zu Xatan und Fronja, zu Ilfa und zu seinen schwachen Versuchen, Inseln des Lichtes zu gründen.

Mythor 165: Verbotene Träume

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