Читать книгу Das Tanzrad oder Die Lust und Mühe eines Daseins - Hans Leip - Страница 4

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Nun also beginne ich meine Lebensbeschreibung und bemühe mich, so klar wie möglich auszusagen. Unsagbares mengt sich hinein. Denn:

Wem wohl wäre gegeben,

unverrückbar das zu fassen,

was an Erleben

ihm zugestoßen

oder zugestreichelt ward?

Worte stehn da,

als wollten sie Leid tragen

an Gräbern des Verlorenseins;

doch schon stieben sie lachend ins Weitere.

Viel zarter schleierzart

und weit stichhaltiger erbost

sollte man aussagen können

über das, was geschah.

Bleibt da ein Trost?

Alle Zeilen sind Gassen

zu einem geheimen Eins.

Aber im Kleinen wie im Großen

bewährt sich allein: Das innig Heitere.

Meine Keimzelle

verdanke ich gewiß einer aufatmenden Erleichterung. So um Weihnachten 1892. Im August jenes Jahres, just zu Goethes Geburtstag, brach die Cholera über Hamburg herein, schrecklicher als je zuvor. Ende Oktober erlosch sie ebenso jäh. Man beklagte 8605 Tote, die Hälfte aller Erkrankten. Das war das Doppelte derer, die im Hafen und an Bord zur »Schiffsbevölkerung« zählten. Und man beklagte den Rückgang des Schiffsverkehrs um ein Drittel des Vorjahres. Die Gesamteinwohnerschaft hatte sich um 2% verringert. Fünfzig Jahre später waren es auf mehr oder minder noch grausigere Weise 10% der inzwischen auf rund eine Million angewachsenen Einwohner.

Die Freie und Hansestadt, von Wasser durchfädelt und mit den wohl meisten Brücken in Deutschland, hatte nie das beste Trinkwasser gehabt. Man entnahm es ungefiltert dem Elbstrom vor der Tür. Wie man sagte, nutzten auch Bierbrauer das Fleetwasser, das mit Abfällen aus Küchen, Müll und Kloaken saftig angereichert war. Daher der Wohlgeschmack, meinte ein Spötter. Ein paar abgelegene Feldquellen dienten nur wenigen Gescheiten.

Bei sommerlicher Schwüle hatte sich die Seuche, vom Hafen eingeschleust, in den engen Twieten, Gängen und Hinterhöfen der Gegend explosiv ausgebreitet und, von einem trägen dürren Südwest getätschelt, bis ins luftigere Hohenfelde. Dort wohnten meine Eltern mit ihren ersten drei Kindern. Sie blieben verschont, und ich war noch nicht. Mein Vater, im Krieg 1870/71 als Sanitäter geschult, half nach Kräften, dem Unheil Halt zu bieten. Tag und Nacht mit Lysoleimer und Handfeger unterwegs. Weihwasserwedel evangelisch, nannte es jemand. Zudem hatte er unweit der Wohnung einen artesischen Brunnen mit klarstem einwandfreien Wasser entdeckt, in einem vormaligen Parkgelände, das schon größtenteils den Baulöwen in die Pranken gefallen war, bei einer Reismühle, die aber nicht mehr bestand, obschon die Straße dort den Namen behielt.

Mein Vater wurde gerade 43 Jahre, als das Massengrab in Ohlsdorf geschlossen wurde. Zweihundertfünfzig Spaten waren tätig gewesen. Auch die rasch errichteten Cholerabaracken waren bald außer Dienst. Schwarz geteert, langgestreckt, wirkten sie später noch wie ungeheure Särge.

Auch in der Nähe unsrer Wohnung standen einige, und vielleicht dort hat mein Vater den unermüdlichen Arzt

Dr. Carl Lauenstein

kennengelernt, der zudem noch im Seemannskrankenhaus und nebenbei in der Diakonissen-Heilanstalt Bethesda wirkte. Seine Privatwohnung am Schwanenwik lag auch nur zehn Minuten von der Freiligrath Allee entfernt, wo er mich in Nr. 7, Erdgeschoß, am letzten Sommertag des Jahres 1893 morgens 9¾ Uhr holte. Und das an einem Freitag, der mancherorts, und so auch bei mir, keineswegs als Unglückstag gilt. Die übliche Hebamme allerdings reichte nicht aus. Ich zögerte mit Recht, mich ins ungewisse Dasein zu begeben. Der Senat verlieh meinem Helfer später den Titel Professor. Nicht meinetwegen, sondern erst zwanzig Jahre später, als der geachtete Chirurg seine amtlichen Posten aus Gesundheitsgründen aufgab.

Schon zwei Jahre darauf starb er mit 65, und das an einer Blinddarmentzündung, er, der so manchen in solchem Ernstfall erfolgreich beigestanden. Sein hochstirniges, vollbärtiges, gütiges Profil findet sich in Bronze auf einem Gedenkstein aus Muschelkalk im Garten des Hafenkrankenhauses. Es liegt im Blickwinkel des Dienstzimmers von Medizinaldirektor Dr. Küper. Da er mein Schwiegersohn ist, rundet sich die Angelegenheit zufällig und nicht unapart hinsichtlich des von ihm erwartbaren Nachrufs. Er hat überdies meine hier vorliegende Selbstbetrachtung angeregt.

In Hamburg war es üblich, den stattlichen Fronten der Etagenhäuser billigere Wohnungen hintanzufügen, um auch dort noch möglichst viel aus dem vormals begrünten Grundstück zu pressen. Namentlich die sogenannte Gründerzeit nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich war darin skrupellos. Nach der großen Seuche wurde allerdings manches allzu Enge und sanitär Bedenkliche niedergerissen. Immerhin war es meistens malerischer gewesen als das, was danach entstand. Schleunigst wurde nun auch der bislang lässig betriebene Bau einer Filtrieranlage oberhalb des Hafens nach englischen Plänen vollendet. Dadurch und im Fortschritt der Wissenschaften wurde die Elbmetropole vor weiterem asiatischen Unheil bewahrt. Immerhin hatte Robert Koch den Erreger schon zehn Jahre zuvor entdeckt.

Senior Pastor Behrmann hoffte – mit rosigem Haupt auf dem Teller der senatsgleichen Halskrause – abschließend: »daß unser Volk der Lehren der Gottlosigkeit innewerde, die viele wie Wasser einschlürfen, und nicht mehr vergeblich den Ruf der Kirchenglocken vernehme: Kommet zu dem Wasser des Lebens, kauft ohne Geld und umsonst!« Er bedachte nicht den Doppelsinn des Wortes »umsonst«, der jedem rund um die Alster als »vergebens« geläufig ist.

Die Hinterfrontzeilen hießen vormals Gang oder Hof. Jetzt taufte man sie hochtrabend Terrasse oder Allee. Letztere pflegte etwas geräumiger zu sein und hatte winzige Vorgärten. In einer solchen Allee, ich sagte es schon, kam ich zur Welt. Sie war nach jemandem benannt, von dem nur wenige Hamburger wußten, daß damit ein Dichter geehrt wurde. Meiner Säuglingssicht boten sich vorm Fenster ein paar Fliederzweige. Das war alles, was von den zerstörten Parkgefilden übriggeblieben war.

Meine Neigung zu mehr

scheint dort Wurzeln geschlagen zu haben.

Von nichts kommt nichts, sagt man. Meine Mutter und meine Schwestern Gretchen und Else, sie waren zwischen fünfzehn und fünf Jahre älter als ich, sangen mich mit kleinen Liedern in Schlaf. Mein zehnjähriger Bruder Willy bastelte mir einen Hampelmann und faltete mir aus einem Stück Papier ein Schiff. Mit seiner Laubsäge zauberte er aus einem Zigarrenkistendeckel überdies ein Pferd.

Liederverse, bewegte Figuren, Schiffe und Pferde

sind mir wohl darum mein Leben lang das gewesen, was eine gewisse Psycho-Forschung Statussymbole oder Archetypen nennt.

Auch ist eine mir früh geschenkte Negerpuppe zu erwähnen. Sie wirkte viermal literarisch nach, einmal als Knabe Kubi in der Erzählung »Der Nigger auf Scharhörn«, zum andern als Josua Burn im Roman »Die Blondjäger«. Drittens in der Komödie »Kolonie« und viertens in der Kurzgeschichte »Tanzinsel«.

Hingegen erschreckten mich die Geräusche einer soeben angelegten elektrischen Straßenbahn. Seitdem ist laute Technik nichts für mich. Jedoch das durch Ferne gedämpfte Brummen der Ozeaner hafenher tat mir wohl. So berichtete meine liebe Mutter. Sie fürchtete aber, ich würde Seemann werden wollen. Darum sang sie mir fromme Lieder vor, darin nichts von Schiffahrt klang. »Müde bin ich, geh zur Ruh ...« Und »Harre, meine Seele ...«

Wir zogen weg

ehe ich die Gegend auf eigenen Füßen erkunden konnte. Erst als ich ein halbes Jahrhundert hinter mir hatte, trieb es mich, das Gefilde meiner Geburt zu besuchen. Dort hatten britische Bomber unsinnig gewütet, obwohl es weder Industrie noch Militär gab. Ein Rest Mauer und Fensterhöhlen starrten mich an, dahinter der fast noch heile eiserne Ofen mit dem wie ein Fragezeichen gebogenen Rohr. Vorn auf dem bröckelnden Sims lag ein Strauß welker Stiefmütterchen. Darunter stand mit Kreide auf geschwärztem Bewurf: Mama, wo bist du?

Nein, mein Herz, es galt nicht meiner Mutter; sie hatte schon bald nach dem Ersten Weltkrieg die Erde verlassen. Sie befindet sich gewiß in dem Himmel, an den sie geglaubt. Und die zerfetzten Fliederbüsche unter der verzweifelten Frage, Mittsommer 1943, waren nicht mehr die, daran ich mich erlabt. (Heute ist das alles zu einem Sportplatz eingeebnet.) Ich war davongekommen und nur ein paar Tage daheim. Meine Geschwister alle ausgebombt, aber sie lebten, wenn nun auch weit verstreut. Mein Haus in Blankenese blieb mit Frau und Töchtern unversehrt. Aber die Vaterstadt war weit herum ein Schutthaufen.

Und fürchterlich auftobt

das Böse dieser Welt.

In Schutt zerfällt,

was deines Lebens Herberg schien.

Wo sollst du wieder Heimat finden?

Wie du auch weinst

nach dem, was nicht mehr ist,

die Stunde mißt

nur deine Gegenwart.

Sieh, schon erblühn der Winden

weiße Kelche auf dem Einst

und heben zart

sich zu dir hin.

So trinke einen neuen Sinn

und sei ihm hold wie einem alten Wein,

der dich begehrenswert und viel gelobt

beglückt. Und nenne ihn:

das trunkne Stillesein!


Meine Mutter

war klein und zierlich, immer gewillt, heiter zu sein, niemals laut, niemals ungütig, geschickt in allem und unermüdlich, und wo andere gingen, huschte sie.

Ihr einziger Ehrgeiz war, unbescholten zu bleiben, ihr einziges Streben, ihre sechs Kinder möchten etwas Ordentliches werden. Sie hat es, in dürftigen Verhältnissen, fertiggebracht. Geboren als Jus-primae-noctis-Kind eines adligen Gutsherrn bei Kraak nahe Hagenow-Land im Mecklenburgischen. Fürs Kirchenbuch mußte der Knecht Jochim Kröger herhalten. Der junge Freiherr fiel in einem Duell.

Meine Großmutter – die ich nie gesehen – heiratete einen Bahnbeamten. Ihr Kind, Maria, mußte gleich nach der Konfirmation aus dem Dorf, das Brot selbst zu verdienen. Und wurde Dienstmädchen in Hamburg bei einer Schulratsfamilie, wo sie bürgerlich norddeutsch gut Haushalt und Kochen lernte. Ich habe nie Großeltern kennengelernt.

Um 1930 sah ich mir die Gegend ihrer Herkunft an. Ein paar Bauernkaten in flacher Landschaft. Zum Frösteln karg. Mir begegnete ein zerknitterter Alter, und ich fragte ihn.

Marie? kröchelte er: Dee weur de best in Schaul. –

Wie war’s denn damals mit der Gutsherrschaft? –

Doa hebbt wi all Arbeit hatt, lütt Stünn vun hier to Faut. –

Un de Baron? –

Dee weur bald doot. Jagdunfall harn se seggt. –

Ich mochte nicht weiter forschen. Hier hatte meine gute Mama nicht viel verloren und nahm statt dessen viel Last auf sich, als sie mit achtzehn

einen von See an Land Gestiegenen

heiratete.


Im endlosen Sand

auf den mageren Wegen

zwischen Mecklenburgs Föhrenkratt

sah ich meine Mutter gehen,

und sie ging, als ging sie mir entgegen.

Kleine bloße Füße. Und es war

das kindliche Gesicht gesenkt.

Verborgen

weinten die hellen Augen.

Sie trug ein armes Bündel in der Hand

und die Schuhe, die bei jedem Schritt

schwerer wurden und noch lange taugen

sollten für schwerere Sorgen.

Der Mond stieg tränenklar

am Wald auf, mild gelenkt

von sieben Rehen,

und die gingen heimlich mit

in die große fremde Stadt.

Zeit ihres Vorhandenseins hat sie von Rehen geträumt. Ich seh sie noch – und hab sie gezeichnet – emsig an einem Wollstrumpf strickend – wie sich ihr zartes Gesicht verklärte, wenn sie mit ihrer Silberfaden-Stimme sang: »Paradies, / Paradies, / wie ist deine Frucht so süß. / Unter deinen Lebensbäumen / wird’s uns sein, als ob wir träumen ...« Die sehr genaue Zeichnung hatte mein großer Bruder Willy an sich genommen; sie verbrannte, als die Bomben 1943 seine Wohnung trafen. Es fand sich eine spätere.

Noch heute kann ich alle Strophen dieses überlieblich todes-sehnsüchtigen Herrnhuter Liedes auswendig. Mein Ohr speicherte leichthin derlei auf, was sich teils erst im Alter wieder hervortraut. Als Junge saß ich gern zur Andacht neben meiner Mutter in der Kapellengemeinde der Stiftskirche (die zu den vielen Altersheimen des Viertels St. Georg gehörte, Stiftungen reicher Handelsherren). Dort ging ich auch zur Sonntagsschule, gleich um die Ecke der Alexanderstraße.

Das letzte Mal aber in der größeren Barockkirche zur Dreieinigkeit, wo ich Chorjunge gewesen war. Ich stak in feldgrauer Uniform und war ein paar Tage auf Urlaub, Weihnacht 1914. Im schütteren Schein der Kronleuchter mochten die gelben emblemlosen Achselklappen des Gardisten den spitzenhäubigen Platzanweiserinnen wie golden und als etwas Höheres vorgekommen sein. Sie führten uns in eine der logenhaften Einbauten, in eine sogenannte Priölke, worin gemeinhin Senatoren die Predigt zu verdämmern pflegten. Da saß die liebe Seele so spinnwebfein neben mir in ihrem schwarzen Seidenkleid, dem einzigen Sonntagsstaat in fast fünfzig Ehejahren; niemals hätte sie ein neues erwartet oder geduldet. Und wie vormals folgten wir gemeinsam aus ihrem Gesangbuch dem Choral. Nahmen dann auch miteinander das Abendmahl, für mich das erste und letzte seit meiner Konfirmation.

Ihre scheuen Gebete

haben denn doch wohl geholfen, die drei Söhne verhältnismäßig unversehrt von der Front heimzugeleiten. Auch waren ihre drei Töchter gesund geblieben.

Sie hatte ihre Sprößlinge allein durch Sanftmut erzogen und durch ihr rührendes Vorbild an Fleiß und Umsicht und – notgedrungener – Sparsamkeit. Einmal, als ich eine fade Mehlsuppe nicht essen mochte, weinte sie still vor sich hin. Da hab ich mich denn doch überwunden.

Nach Fuhlsbüttel nie

höchstens nach Friedrichsberg, äußerte sie gelegentlich. Das eine war das Hamburger Zuchthaus, das andere die Irrenanstalt. Ihr ging das Schicksal einer entfernt Verwandten, ihrer Stiefnichte Selma, nahe, einer tüchtigen und reizvollen Putzmacherin. Die hatte sich aus heiterem Himmel in einem Modegeschäft als Königin von England aufgespielt und eine Menge bestellt. Erfreut vom Inhaber auf englisch angeredet, erklärte sie, sie spreche nur deutsch wie ihr geliebter Prinzgemahl Albert. Man wurde mißtrauisch, verständigte den nächsten Schutzmann, und das Ende war eben die Klapsmühle Friedrichsberg.

Und Tante Dora, Stiefschwester meiner Mutter, jammerte: Marie, dien Kinner sünd all goot to weg und klook sünd se ook. –

Ihre Älteste, Gertrud, war indes so schön, daß ich mich in sie verliebte und auf einem Heideausflug ihr unversehens einen Kuß gab, was sie mit einer Ohrfeige quittierte. Sie starb mit zwanzig an Tuberkulose. Tante Dora besaß ein vergilbtes Buch, »Hermann und Dorothea«, von ihrer Kraaker Mutter, meiner Großmutter also, her, Geschenk vermutlich jenes sagenhaften Barons. Zu spät erkannte ich den Wert der möglichen Goethischen Erstausgabe, da war sie unauffindbar. Und so auch ein in blauen Sammet gebundenes Gesangbuch mit goldenen Schließen. Daß Dorotheas Bruder ausgerechnet Hermann hieß, war sicher auch nicht von ungefähr. Dieser galt übrigens als

Abenteurer

Früh war er nach Kalifornien verlockt worden, weil dort das reine Gold glattweg in die Taschen zu raken sei. Zerlumpt war er heimgekommen. Sein hilflos gieriges Gesicht prägte sich mir ein, als er unter den Tisch tauchte, ein Stück Brot, das mir vor Schreck über seine wilde Erscheinung aus der Hand gerutscht war, zu verschlingen. Noch schluckend erzählte er, er sei drüben mal als Pferdedieb verdächtigt worden, wo es ihm doch nur um ein bißchen Hafer zum Brei zu tun gewesen. Schon stand er unterm Galgen, den Strick um die Gurgel. Da habe ihn ein Spelunkenwirt losgekauft, ein Landsmann. Mit dem sei er dann als Kohlentrimmer zurückgelangt. Zum Dank habe er ihm Dorothea zur Frau empfohlen. Und sie habe nichts dagegen gehabt. Denn dieser Barkeeper sei denn doch wohl ein doller Kerl. In der Tat sah er mit seinem gestutzten Schnauz wie ein echter Amerikaner aus, brachte es aber daheim nicht weit.

Mein Vater durfte von den »unsoliden Besuchen« nichts wissen. Aber meine mitleidige Mutter hängte eine blaue Schürze vors Fenster, wenn die Luft rein war, und ließ den Stiefbruder an unseren bescheidenen Mahlzeiten teilnehmen, bis er eine Stellung als Gepäckträger am Altonaer Bahnhof gefunden und heiratete. Er war ein stattlicher Mensch mit schwarzem Vollbart. Ich beneidete ihn um seine Abenteuer, ahnungslos genug, bis ich selber von solchen gekostet. Meine Mutter schüttelte den Kopf: Du bist in der Freiligrath Allee geboren. Die heißt zu Ehren eines Dichters so. Werde du lieber so einer. –

Nein, nicht gern, soll ich geantwortet haben: Ich will Professor werden oder Seeräuber. –

Denn einer hübschen Freundin meiner Schwester war ich mal auf den Schoß gehüpft und hatte sie stürmisch geküßt. Das tat ich mit allen hübschen ihrer Freundinnen. Diese nun hatte gelacht: Du bist ja ein Seeräuber! Warum tust du denn das? –

Da soll ich geantwortet haben: Du schmeckst nach Himmel, das weiß ich längst. –

Darauf hat die Lustige dann gesagt: Und nun redest du auch noch wie ein Professor. –

Wie sollte ich schon einen Unterschied erkennen?

Von Freiligrath wußte ich weiter nichts

Erst in der Schule lernte ich eins seiner langen Gedichte, das von den schlesischen Webern. Da wird der Berggeist Rübezahl vergebens angefleht, und so weben sie zum Hunger- bald das Leichentuch. Mein Glaube an die Macht von Geistern ist seitdem erschüttert. Sein Gedicht »Die Auswanderer« war mir lieber. Erst spät ersah ich, welch Wegweiser mir meine harmlose Mutter da vorgepflanzt. War doch dieser Poet ein vormärzlicher Demokrat und Rebell gewesen, ja, ein Sozialist, als das noch einem Staatsverbrechen gleichkam, ein Kämpfer für Freiheit, Frieden und Menschenrecht. Seine entsprechend flammenden Verse waren zudem gute Lyrik. Das ist bis heute selten. Er war in Europa weit umhergeirrt, nicht zum Vergnügen, sondern, daheim verfemt, als Handelsvertreter und Bankfachmann sein Brot zu verdienen. Erst 1867 bot sich ihm eine deutsche Zuflucht, und zwar in Württemberg, als dort ein altbackenes Ministerium frischeren Geistern Platz gemacht. In Norddeutschland gab es die ersten freien Reichstagswahlen. Der Dichter war fast schon sechzig. Eine nationale Sammlung enthob ihn für seine letzten sieben Lebensjahre der äußeren Sorgen. Er zeigte sich mit einigen patriotischen Versen anläßlich des Sedankriegs erkenntlich, sachlich und ohne Hurra.

Daß die Hitlerzeit diesen aufrechten Schriftsteller ablehnte, war klar. In den bezüglichen Literaturgeschichten ist sein Name nur dürftig erwähnt. Ähnlichkeiten mit seinem Schicksal – wie man mir nachsagt – sehe ich kaum, es sei denn seine Beziehung zu London und der Schweiz. Ich stand seit je abseits jeder Partei, war nie Rebell und Verfechter, sondern mehr

Beobachter und Darleger

Wohl gab ich meine Ansichten freimütig preis und geriet damit zeitweise in Schwierigkeiten. Nie aber habe ich jemandem meine Erkenntnisse aufzuheften gestrebt. Wie sagt Buddha etwa? Strebe jeder nach seiner Vollkommenheit! Nach der Vollkommenheit anderer zu streben ist sinnlos.

Die Einsicht meines Erzeugers lautete auf plattdeutsch etwas einfacher, nämlich:

Dat geiht mi wied vörbi

Das geht mir weit vorbei. Damit schirmte er sich ab. Er nahm keine Stellung zu erregenden Vorfällen. So robust er äußerlich wirkte, so unverzwickt sein Alltag schien, er war innerst empfindlich und verdeckte es mit besagter Wendung und Abwendung. Schwieg auch über empfangene Rippenstöße und Nasenstüber. Diese augenscheinliche Dickfelligkeit mochte sich früh bei der Seefahrt und im Gemetzel zu Gravelotte und St. Privat gebildet haben (Schlachtenorte, die er nur einmal finster genannt). Jede Kontaktnahme schien ihm zuwider. Das verhinderte ein gedeihliches Fortkommen.


Er stammte aus behäbigem Bauernbetrieb zu Trebel bei Lüchow am Rande der Lüneburger Heide. Das bescheidene Dorf fand sich anno 1979 plötzlich in der Presse erwähnt, als die Einwohner gegen ein unweit geplantes Atommüll-Entsorgungszentrum zu Felde zogen. Sein Vater, Jürgen Heinrich Leip (1791–1856), war nebenbei Schneideramtsmeister. Er selber hatte die Vornamen Johann Heinrich Friedrich. Sein Großvater, Johann Christoph, war als Schafhirte aus Lomitz eingewandert und hatte der Schulzentochter zu einem schon vorehelich sich vorne verkürzenden Kleide verholfen. Wie allen Hirten seit Urzeiten muß ihm einiges Hintersinnige vertraut gewesen sein. Von ihm hatte mein Vater sicher die Fähigkeit geerbt, zum Beispiel die Wundrose »zu besprechen«. Er wurde manchmal sogar ins Krankenhaus geholt. Eine Weitervererbung fand nicht statt. Fast noch ein Knabe, war er als überzählig gen Hamburg, Hafen und weite Welt abgeschoben und hatte die Seefahrt kennengelernt, als sie noch unsägliche Pön und Härte war. Von erlebten Urtümlichkeiten zwischen Las Palmas und Oahu, wo heute Hotellerie und Touristik blühen, hat er nur einmal und nie wieder etwas angedeutet. Er ahnte meine damit erweckten Wunschträume.

Ein früherer Bordgenosse von ihm, Hein Wiggers, später Gastwirt, soll mein Taufpate gewesen sein und heimlich einen Schuß Seewasser ins Taufbecken gegeben haben, angeblich vor der Landemole Alte Liebe zu Cuxhaven mit einer leeren Rumbuddel geschöpft. Und die Taufschale war britisches Porzellan von der Firma Davenport, wo mein Vater bei flauer Arbeitslage am Hafen als Packer und Kutscher aushalf. Mit Pferden konnte er umgehen, weil er nicht zu der noch kleinen Marine, sondern zur Artillerie nach Hannover eingezogen gewesen und einen Apfelschimmel geritten hatte.

Der muntere Pate soll auch geunkt haben, wegen meiner Blondheit und blauen Augen und heftigen Strampelei sei ich zum Wikinger und Piraten geboren. Das haben meine Eltern nicht gern gehört. Obwohl an der Wasserkante fast jeder Junge dazu neigt, ein Störtebeker zu sein. Mag sein, solch Unkerei und Wasserzauber bleibt nicht wirkungslos. Vielleicht darum hat mich der Begriff Freibeuterei später des öfteren beschäftigt, wenn auch nur in sachlicher Darstellung und Romantik, die mir dennoch bis ins Mark griff.

Von echter

Tradition

wie jemand meinte, dürfte da kaum die Rede sein:

Tradition,

was meinen Sie?

Für mich ist dies

der Hafen meiner Vaterstadt

und seine Sirenen-Rhapsodie.

Ozeanerbaß und Schlepperpfiff

rumorten in meinen Knabenschlaf.

Hochgetakelte Drohung und das Verhüllte

der See, wo Gott sich mit dem Teufel traf.

Das war der Einfluß, der mein Staubecken füllte,

bis es überlief. Und daß an der Wand

im ersten Schuljahr der Sandtor-Kai hing,

wo mein Vater mit den Frachten umging.

Überdies, wie ein Forscher ertiftelt hat,

hieß mein Urahn vielleicht Leif Erikson.

Ihm weihe ich ein Buddelschiff,

weil er Amerika fand

und es auf sich beruhen ließ.

Der sogenannte Forscher machte sich mir telefonisch bekannt als Dr. Fritz Leip, Frauenarzt in Altona. Ehe die beabsichtigte Begegnung zwecks näherer Auskunft zustande kam, vernichtete ein Bombenangriff alles Anberaumte.

Ob dem Mann um eine illustre Untermalung seines Ahnenpasses zu tun war? Mir schwante doch bald, der Name Leif hätte nach den Gesetzen der mittelhochdeutschen Lautverschiebung ursprünglich Lief heißen müssen, um sich in Leip zu verwandeln. Gewiß gibt es den Leiptstrom der Edda, den Lebensstrom, und es wäre allzu schmeichelhaft, mich darin zu baden. Mich deucht denn doch, eine Herkunft von wendisch lipa = Linde ist auch nicht häßlich. Denn die Vorfahren meines Namens, soweit ich kraft Kirchenbüchern es erspähen konnte, stammen aus Hannoversch-Wendland zwischen Lüneburg, Hitzacker und Dannenberg, eingedeutscht seit Heinrich dem Löwen und früher. Frau Linde ist der Lieblingsbaum des deutschen Volksliedes, der Baum der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit. Elfen und Kobolde hausen darin und darunter, und Schlangen bewachen verborgene Schätze zwischen seinen Wurzeln.

In London und New York redete man mich mit Mister Leap an. Das bedeutet das Sprunghafte, auch Schlaftrunkene und das Federnde, das Setzen über Graben und Hindernis, sogar auch die Pirouette, das Drehen um die eigene Achse. Sieh da, da wären wir wieder beim Tanzrad.

Wie dem auch sei, muß jeder doch zufrieden sein mit dem, was ihm von den Vorfahren als Emblem oder Stigma oder Stempel angehängt wurde. Und es zu werten trachten.

In London beschlich mich oft der Gedanke

wenn nicht Hamburger, möchte ich wohl Engländer sein, trotz Soho und Whitechapel. Das war damals, als Great Britannia noch »ruled the waves«. Und seinen Söhnen noch weit um den Globus die Welt zu Gebote stand, wie den Deutschen nie. Und Churchill wurde von seinen internen Gegnern noch nicht »Churchyard« und »Totengräber des Empire« genannt, das uns doch wie das Pfund als Symbol unerschütterlicher Beständigkeit gegolten hatte. Auch gab es noch wirklich das, was man unter Gentleman versteht.

Wir wußten zu Haus wohl zu schätzen, was über den Chef der Hamburger Filiale Davenport uns gelegentlich als Mitbringsel erreichte: Chester Cheese und Strawberry Jam, auch Cake-Packungen mit der Tower-Bridge drauf und China Tea in schönen Blechdosen, auf denen Mandarine prangten. Weite Welt! Und weite Welt war auch auf mancher Postkarte einer von der Rose geheilten Patientin meines Vaters, der Kammersängerin Ernestine Schumann-Heink, mit dem Eiffelturm etwa oder der New Yorker Freiheitsstatue. Ich bestaunte die fremden Briefmarken. Ich sammelte sie, bis ein Klassenkamerad, der sich mein Freund nannte, sie sich auslieh, um sie, namentlich seltene brasilianische, seinem Vater zu zeigen, und ich sie nie zurückbekam. Das hat mich oft zu Unrecht mißtrauisch gegen sogenannte Freundschaften gemacht. Übrigens wüßte ich nicht, daß mein Vater irgendwann viel Freundschaft gepflogen hätte. Seine kargen Gefühlsäußerungen beschränkten sich auf Zitate von Bibelstellen und auf die Kosenamen, die er seinen Kindern gab. Mich nannte er Dudeldei, weil ich alle meine Spiele mit Singsang begleitete. – Er war stolz, den

Hamburger Bürgerbrief

zu besitzen. Heute gibt es derlei nicht mehr, sondern nur noch Einwohner.


Unsere Erziehung überließ er gänzlich unserer Mutter. Zu ihrem Geburtstag verfertigte er jeweils ein Gedicht. Und zeichnete eine Rose dazu, die aussah, als sei sie aus Meereswellen gefaltet. Meine beiden größeren Schwestern lächelten darüber und auch über das beigelegte Handtuch oder die billige Schürze; denn zu mehr reichte es nicht. Ich aber hätte das alles gern besser gekonnt.

Nur einmal hab ich erlebt, daß ihn die Gelassenheit verließ.

Da war Hein Wiggers da

der Fliegenwirt, weithin bekannt und beliebt, rot ziegenbärtig, mein Taufpate, und meistens auch schweigsam. Ich hoffte immer, er werde beim Kartenspiel etwas von der Seefahrt erzählen, und saß stumm lauernd in der Ecke. Meine Mutter war mit von der Partie; denn es spielt sich besser zu dritt. Auch sie schwieg und legte die Karten nur leise hin, indes die Männer es nicht an hartem Knöchelschlag fehlen ließen. Viel mehr als ein: Du speelst ut! – Oder: Solo! – Oder: Trumpf! hörte man nicht. Aber plötzlich sagte mein Vater halblaut: Pik-As ... – Er blickte auf, das gezückte Kartenblatt in der Hand. Seine Augen öffneten sich starr, weißlich umrandet, so stachen sie, erschreckend anzusehen, fast schwarz in eine Unwahrscheinlichkeit. Sein Macker lachte grob: Pik-As, jo, bi dat Aas von Tünn ... Tein Doog un nix to freten, dat holl ut. Dree Doog keen Woter, und du warst mall. Djä, Marie, dor seten wi fast, un dat weiht tein Jacken, un de Brück un dat Kartenhuus wegfegt in de Brekers un de meisten mit. Un de noch dor wörn, Klüten un Ei, de hebt Soltwoter sopen, anner Woter harrn wi jo nich mehr un nix, un denn wörn se dann klöterig un jumpten aff ... – Wie wörn de letzten, fügte mein Vater ein mit geisterhafter Stimme, so klang es mir.

Der Rotbart nickte: Un wenn Timm Pöppels nich mit sien oln Kutter sick ranwogt harr, denn seten wi nich hier, Marie. – Du speelst ut! – Ich saß atemlos geduckt und hätte gern Genaueres über die Strandung des mürben Frachters gehört.

Mein Vater kehrte zu sich zurück und trank einen Schluck, sah nach mir hin und kaute: Un dee will na See! –

Lot em doch! entgegnete der Wirt.

Nee! knurrte mein Vater und hieb seine Karte auf den Tisch.

Wieso denn nich? lachte Hein Wiggers.

Dee is veel to wek! –

Dat giwt sick. –

Ick will di watt seggn, nee! –

Meine Mutter ergänzte beklommen: So is dat! –

Der Macker zückte einen Blick in meine Ecke, er hatte mich doch mit Seewasser taufen lassen: Na, min Söten, watt meenst du? –

Doch nach See!

stotterte ich.

Da donnerte die Faust meines Vaters auf die Tischplatte, daß die drei Biergläser tanzten, und brüllte: Nee und nochmals nee und dormit basta! –

Meiner Mutter quollen die Tränen hervor, und dann wurde weitergespielt.

Seit den Tagen Babylons

wird gern gefragt, unter welchem Stern jemand geboren ist. Schiebt man doch nach Bedarf gern geheimen Einflüssen zu, an Wegen und Irrwegen mitzuwirken. Sich vom Weltall gelenkt zu wissen, entlastet die eigne Verantwortung. Aber die Sterndeuterei ist leider noch fragwürdiger als das genaue Erkennen jener Himmelskörper, die zur Aufhellung von Schicksal und Charakter herangezogen werden.

Die Astrologen berufen sich auf Gesetze aus tausendjähriger Überlieferung. Aber welche Gesetze wären nicht wandelbar? In der Praxis bedürfen diese Magier allerlei Angaben zur Person. Außerdem helfen ihnen Gedankenübertragung und Strahlungswertung. Handlinien und Ohrformen ergeben weitere Hinweise.

Zudem ist immer ungewisser, wie sich der unaufhörliche Stemstrahlungsprall noch durch das dichter und dichter werdende Netz der Radio- und Reaktorwellen hindurchschlängeln soll, ohne beeinträchtigt zu werden. Die Gestirnspielerei behält dennoch ihre Reize und verhilft wie eh und je Schlaumeiern zur Beachtung über sonstige Leistungen hinaus und übertrifft das übliche Kartenlegen durch den Hauch höherer Sphären. Wie denn ein okkult sich gebender Spiegel zumeist doch schmeichelhafter ist als der überm Waschtisch.

Anno 1928 veranlaßte ich den sternbewanderten Kollegen Ludwig Beil, die Mitglieder der »Hamburger Gruppe« – der Baumeister Fritz Höger, der Arzt Hans Much und der Schriftsteller Hans Henny Jahnn gehörten dazu – unter die Himmelslupe zu nehmen. Er tat es aus Jux, dann aber geradezu verblüfft. Die Ergebnisse standen im Almanach des Hamburger Künstlerfestes »Das Mondhaus zu Bimbelim«. Seine Deutung über mich lautete:

Horoskopisches Sonett, den Schriftsteller und Maler Hans Leip betreffend:

Die Sonne in der Jungfrau steht

sie hat mit Jupiter Trigon.

Der Wirklichkeit lebendger Sohn,

dem Glück durch Brust und Mantel weht.

Neptun, der Phantasie Magnet –

Der Sinne Stachel gibt Skorpion.

Männlicher Mystik Direktion,

darüber Mars im Aufruhr geht.

Uran mit Venus konjugiert:

Das gibt den kämpferisch Erregten,

doch pflanzlich und mit Chlorophyll.

Er jubiliert und spintisiert,

ist einer von den Unentwegten,

der sich gewollt, wie Gott ihn will.

Ich bewundere, wie dieser witzige schwarzlockige Zeitgenosse und Liebchen-Verbraucher solch krause Vorgaben in so nette Reime hat schmieden können. Er hatte einen beachtlichen Roman seiner Jugend verfaßt, »Martin«, den der S. Fischer Verlag veröffentlichte, was ein Güteausweis war. Ludwig Beil entglitt dann ins Journalistische unter Hans W. Fischers Ägide. Als ich ihn nach Jahren wiedersah, war er Gerichtsberichterstatter in Frankfurt am Main. Dort hatte ich 1946 im Hochstift gelesen. Wir saßen danach bei dünnem Tee miteinander im Hause einer seiner immer noch zahlreichen Freundinnen, saßen unter Wolken wunderbarster Rosen aus deren Züchtung.

Ergraut und müde zitierte er bekümmert den Schluß einer Kadenz meines Vortrages:

Und eine Zeit

fällt in die Hand der andern

als wie ein Kleinod

und ein Raub.


Unterdes einige der miteingeladenen Herren die Absatzmöglichkeiten und Verschiffungsaussichten gehorteter Wehrmachtsbestände erörterten, gedachten wir der zwanziger Jahre zwischen Jungfernstieg und Blankenese, die so arm und heiter, bedrückt und zukunftsfroh gewesen. Und plötzlich entsann er sich meines Horoskops und lächelte verkniffen: Hätte dir gern einige Finsternisse angehängt, offen gesagt ein bißchen dich beneidend um deine Bücher und Mädchen. Deine Mädchen sahen alle wie Heilige aus, und meine alle wie Huren. Das ist inzwischen seriöser geworden. Und bösartig wollte ich auch damals nicht sein. Vielleicht hat es alles sogar gestimmt. Dein Leitstern ist der Atair, der Schwebende im Sternbild des Adlers. Als du 1893 geboren wurdest, befand sich die Zeit sowieso in der Schwebe

zwischen Romantik und Technik

Ich stöbere nach: 1893: Fords erstes Auto. Diesels Ölmotor. Erste Antenne. Röntgenstrahlen schon fast entdeckt. Flugtechnik, Radioaktivität, Funk regen sich. Erster Film. Labour Party in England. Sozialdemokratie in Polen. Frauenstimmrecht auf Neuseeland. USA übernehmen Bau des Panamakanals von den Franzosen. Fridtjof Nansen segelte mit der »Fram« in die Arktis. Der deutsche Reichstag beschloß Verstärkung des Heeres. In Hamburg wurde die Literarische Gesellschaft eingeweiht. Von Hugo von Hofmannsthal erschien »Der Tor und der Tod«, von Tolstoj »Das Reich Gottes in uns«, von Beatrice Harraden »Ships that pass in the Night«, von Loti »Matelot«, von d’Annunzio »Odinavali«, von Rolland »Niobe«, von Engels »Entwicklung des Sozialismus«, von Korolenko »In schlechter Gesellschaft«, von Hamsun »Redakteur Lynge«. Schon liefen die ersten Rotationsmaschinen. Der sechzigjährige Johannes Brahms verliebte sich zum letztenmal (in die Liedersängerin Alice Barbi). Max Klinger widmete ihm einen Zyklus Radierungen. Richard Strauß dirigierte die Uraufführung von Humperdincks »Hänsel und Gretel«. Albert Langen aus Köln eröffnete in Paris einen Verlag und zog damit über Leipzig nach München, wo er dann die satirische Wochenschrift »Simplicissimus« gründete.

Deren erster Jahrgang, 1896, wurde mein erstes Bilderbuch neben Schnorr von Carolsfelds »Bibel in Bildern«. Eine bezeichnende Mischung, die sich lebenslang bemerkbar machte. Als ich dann lesen konnte, entdeckte ich im Bodengerümpel mehrere Bände »Lesefrüchte auf dem Felde der Literatur«. Sie stammten womöglich aus dem Besitz Friedrich Hebbels und waren über Elise Lensing in Hamburg hängengeblieben.

Nun wohlan! Alles Geschehen strahlt aus und wirkt unbewußt nach.

Da waren wir schon in

die Langereihe

gezogen, erst in einen Keller gegenüber der Turnhalle.

Meine Eltern betrieben dort einen kleinen Brotladen in noch vornehmer Gegend. Still nachschmeckend entsinne ich mich der Kuchendüfte. Aber die Wohnung sei – hörte ich später – feucht gewesen, und man war darum zur Erholung weiter längs auf die von Sonne bestrahlte Nordseite gleich so hoch wie möglich geflüchtet. Hausnummer 91. Das massive Gebäude hat die Bomben überdauert. Mit Vergnügen seh ich, es ist das einzige der Gegend mit einem griechischen Giebel. Und gleich darunter im 4. Stock haben wir gewohnt, runde sieben Jahre, glaube ich. Gegenüber lag ein Weinkeller mit einer Riesentraube überm Eingang, aus Metall natürlich. Als ich die erste echte zu Gesicht bekam, war ich über ihre Dürftigkeit enttäuscht, ahnte auch nicht, wie glücklich ich eines Tages sein würde, eigene Trauben von eigner Hauswand zu pflücken.

Bevor ich die vier Treppen bewältigen konnte, horchte ich begierig in den

Hinterhof

in die Schlucht, wo zwischen grauen niedrigen, sonnenlosen Bauzeilen auf zumeist näßlichen Kopfsteinen Kinder im Kreis gingen und sangen. Als ich mich da drunten endlich beteiligen durfte, kannte ich die meisten Melodien schon auswendig. Weiß auch bis heute die Worte dazu, von: »Ringel rangel Rosen ...« biszu »Wer hat den Schlüssel zum Garten ...« und »Schlafe ein, du meine Rosa ...«, »Ting tang Töchterlein, wer sitzt in unserm Turm ...«, »Paul putzet seine Schuh ...«, »Gloria, gloria, sind vergangen sieben Jahr ...« Besonders gefielen mir Verse, die von zwei Gruppen des Chors dramatisch gesungen wurden: »Es trieb ein Schäfer seine Herde, Herde aus ...«, »Die fleißigen Waschweiber ...«, »Wo bist du denn gewesen, mein ziegender Bock ...«, »Adam ging und wollte sich erquicken«, »Trauer über Trauer, hab verloren meinen Ring«. Und auch »Die Meiersche Brücke, die ist so sehr zerbrochen ...«, wobei zum Schluß die schuldlosen Engel gewogen wurden auf vier zusammengefaßten Armen, die schuldigen Teufel aber dazwischen tüchtig gerüttelt, und das nach dem kaum im voraus abzuschätzenden Gutachten der Anführerin, meistens des größten der Mädchen. Knaben waren sowieso nur in Kleinformat zugelassen. Ich war sehr unglücklich, einmal ausnahmsweise

unter die Teufel

geraten zu sein. Das ging mir nach bis in Schulzeit und Kommiß, bis ich mir endlich den Leitsatz meines Vaters zu Herzen nahm. Ich bin erträglich damit gefahren.


Seltsam, alle jene Reigen lauteten hochdeutsch. Indes war die tägliche Sprache im Stadtteil St. Georg damals durchweg Plattdeutsch. Auch meine Eltern sprachen Hamburger Platt, das sich aus den unterschiedlichen Dialekten der umgebenden Landesteile gebildet hatte, gröblich, saftig und klangvoll.

So auch im Hafen, wo daneben nur noch Englisch galt. Und da gab es noch Rahsegler und Galionsfiguren und Shanties. Zur Bastion Stintfang herüber und herauf vernahm man noch im Südwest das »Ick heff mol een Hamborger Veermaster sehn, to my hoday ...« und »Blow, boys, blow ...« beim Aufheißen der Segel. Das verband sich mit den vermutbaren Abenteuern meines Stiefonkels und den allgemein im Allerzonenduft und -dunst lauernden Süchten dieser von Ebbe und Flut und dem Abhauch des Golfstroms ruhelos benagten Welthafenstadt. Darin Engel und Teufel wie auf einem geheimen, unerforschlich getriebenen Tanzrad gleichermaßen gerüttelt und gewogen werden und sich zu halten suchen und zur Mitte streben, um nicht in die Weite oder ins Nichts geschnippt zu werden. Dennoch:

Immer will ich dich preisen,

grausilberne Vaterstadt,

und was dir weltweit

hansisch gedeiht

und das singige Platt

und die leisen

Lichter von See

und das Fernweh,

das man in deinen Straßen hat.

Für den Empfindsamen ist jede Schule eine Schulung zur


Abseitigkeit

Meine Mutter, immer das Richtige fühlend, hatte mich in der Kapellenstraße bei dem Hauptlehrer der Volksschule

Heinrich Wolgast

untergebracht. Der 1860 geborene Holsteiner galt als Reformer. Meine älteste Schwester, schon einige Jahre Lehrerin, hatte, halb bewundernd, halb bedenklich, von ihm erzählt und meinte, in seinem Kollegium seien die besten Erzieher versammelt.

Das stimmte nicht ganz. Der Behörde ging der fortschrittliche Pädagoge auf die Nerven. Freudigere Lesebücher? Klügere Lehrpläne? Klassenbelegung mit dreißig statt mit fünfzig bis sechzig Schülern? Turnen, Schwimmen, Wandern? Und gar künstlerische Erziehung? Gesündere Räume für den Unterricht? Staubfreie Pausenhöfe? Saubere Aborte? Und gar Schulgärten? Und weg mit dem Rohrstock? – Welche Verleitung zu Aufsässigkeit, Verwöhnung und Luxus! Und welche Überbelastung des Staatssäckels!

Man schickte daher dem kühnen Forderer nicht immer die ähnlich Denkenden, sondern Mucker und Halbinvalide. Mein Klassenlehrer war eine Weile ein sichtlich und hörbar schwindsüchtiger Prügler. Obwohl er mich verschonte und sich desto weidlicher an leicht Bedeppten austobte, empörte mich sein brutales Vorgehen einmal so, daß ich das eingelassene Tintenfaß herausklaubte. Glücklicherweise verschwand er jäh auf den Flur, ehe ich es schleudern konnte, und hustete sich dort luftringend aus anstatt wie sonst überm Papierkorb.

Übrigens übernebelte mich damals – wie soll ich’s nennen – eine Art Schlafwandel, eine Vorstufe wohl der väterlichen abschirmenden Erbschaft. Wieso ich trotzdem in der drangvoll engen Gemeinschaft immer wieder auf den ersten Platz rückte, ist mir schleierhaft. Nur ein paar Lichtblicke vermag ich nachträglich zu erspähen. Einmal las uns Herr Wolgast modernere und bessere Gedichte vor als die, welche damals in pädagogischen Ehren standen, las Verse von Storm statt von Sturm, von Liliencron statt von Gerok.

Gottfried Kellers »Im afrikanischen Felsental / marschiert ein Bataillon ...« hatte mir’s besonders angetan, wenngleich darin gar nichts von Seefahrt zu spüren ist, sondern nur die schaurige Verlorenheit an die Fremde. Das erwähnte ich später einmal, als ich hoffte, bei Wolgast als Junglehrer zu beginnen. Er saß noch immer auf seinem armen Posten, ergraut und mürbe und lächelte bitter: Lieber Heißsporn, Fremdenlegion? Das können Sie als geistig Regsamer in Hamburg unmittelbarer haben. Leider hab ich versäumt, rechtzeitig zu desertieren. Vielleicht gelingt es Ihnen. –

Plötzlich ermunterte er sich: Wissen Sie, was sich mal auf diesem Borgwischgelände befand? Eine Richtstätte. Darum geistert hier so viel voreilig ersticktes Leben. –

Er senkte den Blick auf meine dargereichten Personalien: Geboren am 22. September? Genau wie der Auch-Hamburger

Barthold Heinrich Brockes

Jaja, aber ein reicher Kaufmannssohn, der sich das Studieren leisten konnte, Juristerei natürlich, um Ratsherr zu werden. Und war auch Amtmann in Cuxhaven-Ritzebüttel. Und Bürgerwehrgeneral. Und – welch fingerweisendes Omen! – Protoscholarch! –

Doch drüberhin auch wohl ein begnadeter Dichter, wagte ich einzuwerfen.

Ganz gewiß! Weitschweifig bieder-frömmliche Naturbeobachtungs-Ausbeute. Wissen Sie, daß er auch höchst muntere plattdeutsche Verse machen konnte? Zum Beispiel mit einem Weinzettel an einen eben in den Rat Gewählten:

»So bald as düsse Post up den Borg-Esch erschald, reep ik den Deener gliek, gaf em en Handvull Heller un sede: Loopt geswind, dat ju de Schoh entfallt un haalt en Zedelken uht unsen Radeskeller!« –

Borgesch? Da haben wir’s: Genau hier hat der Hochmögende ein Landhaus gehabt und drum herum einen der schönsten deutschen Barockgärten, ein richtiges irdisches Vergnügen in Gott. Nach seinem Tode ließ man’s verkommen, anstatt es zu bewahren. Das ist bis heute die hansische Art. Und eines Tages erwuchsen hier die vier grausig abstoßenden Volksschulklötze, mehr Zuchthäusern ähnlich. Und da sitze ich immer noch. Waren Sie nicht als Schüler hier rechtzeitig entwischt? Und wollen dennoch zurück? –

Nur Ihretwegen, Herr Wolgast. –

Er winkte trübe ab: Nein, nein, ich bin nichts mehr. –

Als ich 1920 dennoch dorthin gelangte, war er eben gestorben.

Einen seiner früheren Kollegen will ich noch heraufbeschwören. Er hieß Klostermann und betreute die Nebenklasse, wo es beneidenswert heiter herging. Verstohlen sah ich dort mal einen gewaltigen Ozeaner an die Wandtafel gezeichnet. Oho, das war was! Einmal kam er sogar zu uns ins Haus, zusammen mit einigen jungen Musikanten, die meine Lehrerin-Schwester verehrten. Sie besaß

ein Tafelklavier

und Herr Klostermann, gewichtig breit und malerisch pockennarbig, griff in die Tasten und begleitete die Streicher und Flötisten zu etwas Köstlichem, wovon ich noch nichts verstand, außer beglückt zu sein.

Danach las er fast so gut wie sein Schulleiter, und ein Außenseiter wie der, Storms »Pole Poppenspäler« vor. Mein Gott, war das beklemmend schön!

Mich beachtete er nicht, strich mir nicht mal übers Haar. Heute weiß ich aus Erfahrung, er war in seiner Darbietung viel zu befangen, wie es nötig ist für eine gute Leistung.

Meiner Schwester Gretchens Klavier lockte mich selbstverständlich zu abstrus atonalem Lärm. Meine Geschwister hielten sich die Ohren zu, aber mir klang es erbaulicher als etwa die krächzenden Märsche aus dem Trichtergrammophon des Kriegervereins-Präsidenten und Gipsermeisters Zehle gegenüber unserer Wohnung in der Alexander Straße, zweiter Stock. Meiner Mutter waren vier Treppen allmählich zu beschwerlich geworden. Hier gab es auch Vorgartengrün. Dazu mehr Zimmer. Die Kinder waren schon zu groß, um in eine gemeinsame Schlafstube zu passen. Aber somit war auch das Abendsingen im Bett und das gegenseitige Überbieten mit erfundenen Geschichten vorbei.

Du mußt nach Noten üben, sonst wird es nichts Ordentliches! –

Üben? Ein Wort, das mich nie begeistert hat. Damit kam ich auf den Tasten nicht voran. Das würdige Instrument wurde überdies bald für sechs Mark verkauft, weil Not und Noten schlecht zusammenklingen. Im Hafen wurde gestreikt, wohin mein Vater zurückgekehrt und am Kai bis in sein achtzigstes Lebensjahr tätig war. Damals liebäugelte er mit den Sozis wegen ihrer Forderung des Achtstundentages. Und einmal ist er sogar mitmarschiert bis nach Wandsbek zum Waldlokal Jüthorn, und ich war dabei, zur:

Maifeier

Nur einmal im Jahr

ist Erster Mai.

Als ich noch klein war,

nahm mein Vater mich mit.

Da waren alle in Sonntagskluft.

Und Musik war dabei

und Fahnen, tschingbumms, und Polizei

vorn und hinten je vier

hoch zu Pferd.

Und wir gingen, ohne Tritt,

tausendfüßig ins Grüne hinaus

in ein Gartenlokal. Und immer ritt

die Polizei mit. Da fragte ich bang:

Warum sehn die so finster aus?

Mein Vater hielt es der Antwort nicht wert.

Er trank sein Bier

und lächelte an den Helmspitzen entlang

in die mailiche Luft.

Von Unterstützung war nicht die Rede, den mageren Wochenlohn, achtzehn Mark, zu ersetzen. Und den letzten hatte er hoffnungsfroh beim Wetten verspielt. Es war seine einzige Leidenschaft, und ihr wurde in einem winzigen Tabakladen gefrönt, wo er jeden Sonntagmorgen seine Zigarre kaufte, das einzige, was er die Woche über rauchte. Nie hat er etwas gewonnen. Auch nicht beim Kartenspiel.

Das alles betrübte mich sehr, meiner lieben Mutter wegen, die stumm leidend Pfennige zählte; denn auch das Gehalt ihrer Ältesten reichte nicht, vier unmündige Geschwister mit satt zu kriegen. Mein großer Bruder Willy hatte in der Senatsdruckerei gelernt, war aber nun Soldat in Metz.

Ich schwor mir, niemals zu wetten oder Spielkarten anzurühren, und hab es bis heute gehalten und pfeife auf alles, was sich Toto, Roulette, Lotto oder Lotterie nennt. Mir ließ ich zugebilligt sein, nur durch Arbeit das zu verdienen, was ich brauchte oder als Entgelt mir zustand. Mein erstes Monatsgehalt aber betrug eine runde Reichsmark. Die bekam ich als

Chorjunge

unter der goldenen Drachenfahne der Barockkirche St. Georgs. Meine Mutter träumte, ich würde Pastor. Das galt in ihrer dörflichen Heimat als das höchste neben dem lieben Gott. Aber woher das Studiengeld nehmen? Zumal es in Hamburg noch keine Universität gab. Als Vorstufe des Unmöglichen erschien ihr immerhin der Kirchenchor. Ich überwand meine Schüchternheit und sang trotz der blitzenden Kneifergläser des Kantors ein paar von ihm angeschlagene Töne nach. Sein Tafelklavier wirkte anheimelnd. Und Herr Aleff verfügte in allen Lagen über eine unglaubliche Skala Charme und Liebenswürdigkeit. Ich war zehn und sang bis zum Stimmbruch runde vier Jahre bei ihm, anfangs zweiten Sopran, dann Alt. Und wurde aufgeriegelt für die Musik von Bach bis Reger. Dafür bin ich ewig dankbar.

Kantor Georg Aleff (sein Vorname glich dem des Kirchenpatrons), rundum musikalisch gebildet, vormals Fagottbläser im Orchester des Stadttheaters, der späteren Staatsoper, war durch und durch ein Gentleman – es gibt keine rechte Verdeutschung dieses noch immer sehr englischen Begriffs. Auch äußerlich vornehm, von mittelschlanker Figur, gelöst beweglich, gepflegt, das Gesicht angenehm geformt mit dunklen Augen, die auch ohne die dünn schwarzgerandeten Brillengläser mitsamt den Spitzen des flotten Wilhelm-II.-Bartes Blitze zu schießen vermochten. Darüber die schwarze Tolle, oft mit unnachahmlich brillanter Geste zurückgekämmt. Er sang einen vorzüglichen Tenor, mühelos bis zum Bariton hinab, griff auch, wenn’s nottat und unsere Stimmen abzusinken drohten, mit lichtem Diskant ein. So denn stand er in gemessener Achtung selbst bei den biederen, weniger umfangreich befähigten vier Herren, die sonn- und festtags antraten, unseren glashellen Chor markig zu untermalen.

Im ersten Sopran gab es bei uns wahrhaftige Wunderkinder, von Aleff Kanonen genannt. (Einige glänzten später im Funk.) Er war ein geistreicher Bändiger unseres zusammengewürfelten Haufens und brachte uns eine anständige Aussprache bei, soweit solches im niederdeutschen Raum möglich ist. Das gewohnte scharfe »st« merzte er geduldig aus, indem er uns oft das britische Wort »shipchandler« wiederholte.

Er stammte aus guter Uhlenhorster Familie. Auch sein Vater war geborener Hamburger, Opernbariton und Korrektor am Stadttheater, und hatte dem Sohn eine tadellose Sprechweise und Haltung beigebracht. Und hatte ihn anno 1870 sicherlich und nachwirkend in deutscher Siegesstimmung gezeugt.

Er war unverdrossen höflich zu uns, anfeuernd, und selbst, wenn ein seltenes »Raus!« einen gar zu Unbotmäßigen vor die Tür setzte, geschah es ritterlich. Gewiß wäre ihm das Amt an einer wohlbestallteren Kantorei gemäßer gewesen, zu Leipzig, Regensburg oder Wien, wo es berühmter oder lohnender war seit alters her. Oder doch an einer der fünf Hamburger Hauptkirchen, die ihre Chöre aus den staatlichen Fonds der Realschulen und Gymnasien zusammenstellten. Er mußte nehmen, was sich für dürftiges Kleingeld aus den ärmeren Schichten an Begabung ersieben ließ. Es war zudem ein Eiertanz, im gottlosen Norden erwachsene Männer zur Untermalung unserer Stimmen, zum Singen von Motetten und Chorälen zu bewegen gegen einen Obolus, der kaum ein Abendbrot deckte. Einer dieser Herren, zumeist Schulmeister, stand bäuchig und bierdunstend hinter mir auf der Orgelempore und ließ seinen Baß genüßlich über meinen Scheitel rollen. Und er war es, der uns mehr von oben herab denn gütig:

Drachenkälber

nannte, Abkömmlinge des Untiers, das der Nothelfer und Ritter Sankt Georg unablässig in der Wetterfahne der Turmspitze erlegte.


Meine Schwestern hielten unseren eleganten und temperamentvollen Dirigenten für einen Schwerenöter, obwohl sie ihn nur von weitem kannten. Sie hatten mal beobachtet, wie er in knarrenden Lackschuhen mit weißen Gamaschen, scharf gebügelter Hose, gelb flauschigem Covercoat und hellem Filzhut zur Probe eilte, schon unterwegs die edlen Glacéhandschuhe abstreifend.

Schorschi kümmt! – Mit diesem Warnruf vom Schlagballspiel aufgescheucht, stürmten wir dann ihm voraus ins Küsterhaus, in den muffigen Gemeindesaal, der zu seinem Leidwesen stets nach Katzendreck roch.

Ich, mit ähnlich prüder Nase geplagt, stieß Fenster und Läden auf und verweilte tiefatmend einen Wimperzuck lang im Anblick weiter Gärten, die zu den Villen der Patrizier am Alsterufer gehörten.

Seinen Mantel durfte ich oft behutsam auf zwei Stühle betten, das seidene Futter nach oben, das nach Havannas duftete und nach den Wässern des Friseurs.

Nur einmal sah ich ihn später wieder, da war er Repräsentant der Pianofirma Steinway & Sons, Filiale Hamburg, sehr vornehm am Jungfernstieg. Und ich war soweit, an einen Ersatz für unser so lang entschwebtes Tafelklavier denken zu können. Sein Haupt war fast kahl, der Schnurrbart gefallen, der schwarzgerandete Kneifer durch eine Goldbrille ersetzt. Mich erkennend, rief er ungebrochen lebhaft aus: Meister, Sie sind’s? Ach, wo sind die jungen lieblichen Tage von einst! –

Zur Dreieinigkeit

hieß es, wo ich Chorjunge war

in Hamburg-St. Georg

zwischen Hafen und Alster vor den Kriegen

inmitten rostender Zeit.

Damit wir während der Predigt schwiegen,

lasen wir Cooper und Gerstäcker

und waren in Texas und Buitenzorg

unbedenklich unter Dach.

Wer erkennt seine Erwecker?

Wo blieb das Ergründete

aus den Hinterhofspielen?

Noch verehrte ich Elise Averdiek.

Die Drachentöterfahne kündete

windwechselnde Gefahr.

Ich spann den Segeln nach,

die unter dem Taifun der Orgelmusik

im Uferlosen zerfielen.

1949 gedachte ich im Roman

Drachenkalb singe

meiner Chorjungenzeit.


Meine erste Beziehung zu Segeln ergab sich noch in der Langenreihe. Wenn ich dort im Nordzimmer aufs Fensterbrett kletterte, erspähte ich über Gärten, Dächer und Schornsteine hin manchmal die Spitzen weißer Segel.

Die gehören den Söhnen reicher Kaufleute, sagte meine große Schwester, die da in den weißen Villen wohnen, wo es immer nach Butterküche aus den Kellern duftet, weil die Dienstmädchen jeden Tag Beefsteak braten müssen. –

Warum singen die so traurige Lieder? fragte ich.

Wohl, weil die Söhne des Hauses eines Tages am Kongo oder Amazonas segeln wollen und den Eingeborenen billige bunte Tücher andrehn, ein Meter Kattun gegen ein Meter Elfenbein oder zehn Riesenschlangenhäute. –

Was solln denn die mit dem Kattun, die laufen doch nackt herum? – Das ist es ja eben, das ist unanständig, haben ihnen die Missionare erzählt, und dann kommt man in die Hölle, und dort ist es dreimal so heiß wie in Afrika. –

Aber ich hörte kaum mehr hin, allzu gefangen von den geheimnisvoll gleitenden weißen Dreiecken. Bis ich eines Tages mal unter den voll besetzten Rahen einer Viermastbark stand und hinaufstarrte in das schwindelhoch gleißende wölbende Gewölk und lange von nichts anderem mehr träumte. Wohl daher kommt es, daß mich niemals die Neigung befiel, ein eigenes kleines Segelboot zu besitzen, so reizvoll mir blieb, hier und da eine Fahrt mitzumachen. Ich habe sogar eine » Segelanweisung für eine Freundin« verfaßt. Ermuntert dazu hat mich Rudolf G. Binding, Verfasser der »Reitvorschrift für eine Geliebte«. Es war in den dreißiger Jahren. Er hatte in der Musikhalle gelesen, und wir waren danach bei einem musischen Arzt zu Gast und saßen einem Bildnis Napoleon Bonapartes gegenüber. Da sagte der vormalige Husarenoffizier: Geritten wie gesegelt, wird immer irgendwo gelandet, und was heute ausgetrabt hat oder versunken scheint, hängt morgen in der guten Stube überm Vertiko. (Das zielte sicher auf Hitler.) Wer kann unsereinem verdenken, das möglichst freundlich aufzuzeichnen, was uns Vergnügen gemacht hat und so auch zu anderer Vergnügen dienlich sein kann? –

Der joviale Hausherr, dick, blond und humorgewiegt, setzte hinzu:

Horizont oder Kimm,

Klamauk und Klimbim,

immer gut in Trimm

ist alles man halb so schlimm. Prosit! –

Am Rande der See

Ein geheilter Rose-Patient meines Vaters, Senator Roosen, saß im Kuratorium eines Erholungsheimes für Kinder, der Christian-Görne-Stiftung. Durch seine Vermittlung war ich dort viermal zur Behebung meiner großstädtischen Blässe, und das jeweils im Mai, außerhalb der Schulferien. Welch ein Vorzug! Meine Mutter überzeugte die Schulleitung jedesmal von der Notwendigkeit. Wie ich das Versäumte nachholte, sogar noch in der Seminarschule, bleibt mir ein Rätsel. Ich schlidderte mehr träumend als wachend immer eben mit durch.

Im evangelischen Hamburg war man mit Luther gern einig, allein durch den Glauben selig zu werden. Das war billiger als die geforderten guten Werke der anderen Konfession. Immerhin setzte man dem Hauptbuch der Firma ein »Mit Gott!« vorauf. Aber ob der ungefragt ernannte stille Teilhaber mit allem einverstanden sein konnte, was darauf folgte, mochte manchmal als allzu vertrauensvoll gelten. Darum schien geraten, vom Überschuß, der über die hohe Kante zu schwappen drohte, gelegentlich ein Gelindes abzuschöpfen und es steuerfrei abzubuchen. Es diente zur Unterstützung oder gar Versorgung derer, die weniger fett im Geschäft der Kontinente ernteten. So denn entstanden Einrichtungen für Alte und Bedürftige. Und die

Christian-Görne-Stiftung

gehörte dazu. Sie lag als stattlicher Backsteinbau hinter Cuxhaven am Strand des Dorfes Duhnen.

Gleich das erste Mal dort fühlte ich mich angeregt, ein vielgesungenes Wanderlied ins Lokale umzuformen. Mit zehn Jahren fällt es leicht; da kommt es nicht drauf an. Wir wurden von einem ältlichen Fräulein betreut, Emma Schweitzer, entfernt verwandt mit dem Urwaldarzt Albert Schweitzer, der damals noch als Theologe und Orgelmusiker unter der wachsenden deutschen und europäischen Bedrängnispolitik litt und erst 1913 nach Afrika auswich. Fräulein Emma, leicht säuerlich fromm, verstand nicht schlecht, uns zum Bemalen von Muscheln und zum Musizieren und Szenenspiel anzuregen. Dreißig Jahre später schickte sie mir ihre Tagebuchnotizen, darin sich auch Folgendes fand:

30. Mai 1904

»Den Abend brachten wir Frl. Eckolt

ein Ständchen

indem wir ein von einem unserer Knaben verfaßtes Gedicht sangen nach der Melodie ›Ein Ränzlein auf dem Rücken ...‹, das sehr niedlich von unserm Leben und Treiben hier handelt. Frl. E. war ganz gerührt und versprach den Knaben für den nächsten Abend einen Pudding nach Wunsch, was natürlich großen Jubel erregte. So ist hier alles auf gegenseitige Liebe gestimmt – möchte es immer so bleiben! –«

Fräulein Eckolt war die Heimleiterin, schon füllig, betagt und sehr vornehm nasal sprechend. Nebenbei malte sie eindrucksvolle Seelandschaften in Öl, das hatte ich bald erspäht und bewundert. Der Geist Lichtwarks war bis in die steifen Villen Pöseldorfs gesäuselt und hatte zumal die sitzengebliebenen Töchter ermuntert, sich künstlerisch zu trösten. Hier war noch eine ausfüllende Betreuungstätigkeit hinzugekommen. Von Herzensgüte leuchtend, belohnte mich die ungemein Respekt einflößende Dame, die sich übrigens nicht scheute, gegen Unbotmäßige auch mal den

Teppichklopfer zu zücken

mit einem Sonderklacks Grießpudding und Himbeersoße.

Die Ehrung geschah sogar in ihren eigenen Räumen, wo die Wände mit ihren Ölgemälden behängt waren und die Erklärungen dazu, etwa: Ablaufendes Watt – oder: Abenddämmerung bei Flaute – oder: Kutter bei aufkommender Westbrise, mir haften blieben. Und selten hat mir ein Honorar so gemundet wie dieses unversehens erste. Bezüglich solcher Anerkennung piepste den Abend ein Fips aus seiner Wolldecke hervor: Der kriegt noch wann ein Denkmal! –

Alle lachten. Ich auch. O Jugend! O Einfalt! –

Und draußen die berauschte Luft.

Es schrillt

und faucht

über Ziegel und Sände

von See her.

Spricht eine Stimme

den aufhorchenden Kleinen

vom wachsenden Grimme

irdischer Unzulänglichkeit?

Ach, meilenweit

sind sie schon davon, ausgebraucht

in die Schachteln der Stuben geknufft,

aus grenzenlosen Bereichen anderer gestillt,

wo über leuchtenden Kieselsteinen

Trauer und Weinen und Wind

und Milch und Meer

und die Jahreszeiten und Weltbrände

und alle Gelächter selbstverständlich sind.

Ich fädelte mich einigermaßen in die fremde Horde ein, spielte aber selten mit, las abseits und spähte umher, aß bedenkenlos, was vorgesetzt wurde, trottete mit zum Brockeswald, wo mittendrin ein weißer Perückenkopf ragte, der des Ratsherrn, nach dem das Gehölz hieß, so sagte das Aufsichtsfräulein, und er habe ein Buch geschrieben vom »Irdischen Vergnügen in Gott«. Das gefiel mir. Den Titel hab ich mir gemerkt, sozusagen als Devise.

Auf dem Galgenberg, einer merkwürdigen Erhebung in der platten Landschaft, horchte ich vergebens nach grusligen Erläuterungen. Zu sehen war da weiter nichts, aber ich malte mir aus, was da vormals an Seeräuber-Hinrichtungen sich mochte ereignet haben. Sah auch im grau-jagenden Gewölk wilde Reiter kämpfen.


Beim Musizieren von Vater Mozarts Kindersinfonie blies ich die Kuckucksflöte. Aber all das wurde überdeckt vom Geprassel und Donnern der Brandung. Oft entwich ich dahin, stemmte mich gegen den Wind und gaffte verhext in die heranrollende Unendlichkeit. Was war dagegen das eingeschränkte Gedröhn und Gekeife des Hafens? Hier hatte es seinen Ursprung und seine Erfüllung. Aber hier begann auch ein unfaßbares Erschauern und Grauen, herübersickernd von dort, wo Himmel und Wasser fern, fern einander begegneten. Das Unsägliche begann und eine bedrängende Ehrfurcht. Luthers Frage im Katechismus: Was ist das? – Und die Antwort: Wir sollen Gott fürchten und lieben! – schwenkte für meinen Bedarf über in alles, was See und Seefahrt heißt, und in die würgende Süße der Ferne.

Aber allzu begierig hatte ich die Schärfe der Luft in mich gesogen, die großstadtfremde Frische und salzige Kühle. Meine Mandeln meuterten. Mit Halsweh und Fieber mußte ich zu Bett. Und war allein in einem Zimmer abseits der riesigen Säle. Schön still war es hier und nichts als das Rauschen strandher. Ich glaubte, sterben zu müssen, und hatte nichts dagegen. Noch war ich fromm wie meine Mutter, auch gesänftigt vom Jenseits-Schimmer des Kindergottesdienstes beim apfelrunden Pastor Hoeck. Und die mich betreuende Diakonin sah sowieso wie ein Engel aus, der mich sicher ins Paradies geleiten würde. Natürlich war ich gleich in sie verliebt. Ihre Haube und Schleife wuchsen zu Flügeln. Unter ihren liebreichen Augen wandelte sich der gräßliche Duft essigsaurer Tonerde in Vanille und Zimt. Und ich genas.

Da denn erbat ich ihren Bleistift, mit dem sie meine Fieberkurve aufgezeichnet hatte; das sah aus wie Berge und Täler oder die Zacken der Brandung. Das Blatt, nunmehr nicht mehr vonnöten, lag auf dem Nachttisch neben einem Glas Zitronenwasser. Ich nahm es, als sie hinausgegangen war, und schrieb auf die Rückseite, so sauber ich konnte, als Überschrift:

Der Jüngling zu Nain

Den kannte ich von der Sonntagsschule her, über den hatte Pastor Hoeck ausgiebig berichtet. Nun fühlte ich wie jener Knabe mich gleichfalls auferweckt und faßte es ohne viel Federlesens in Vers und Reim.

Die Schwester kam, das Blatt wegzuräumen, erblickte mein Machwerk, las, lächelte engelhaft und fragte: Woher hast du denn das? –

Ich wußte nichts zu antworten, errötete wahrscheinlich, fühlte mich ertappt, etwas mir erlaubt zu haben, was mir nicht zustand, nämlich den medizinischen Zettel für meine Krähenfüße zu benutzen. Gern hätte ich das Gedicht mit nach Haus gebracht. Aber es entschwand. Und auch die Diakonin erschien nicht mehr. Ich hatte nun zu wandeln und mich wieder einzureihen. Dennoch blieb ein Hauch der Engelsstimme insgeheim in mir haften, als habe darin ein Glitz Erstaunen, ja, Zustimmung gesäuselt, hinreichend, für immer Trost und Ansporn zu sein.

Bald darauf hieß es, die Goerner Knaben sollten ein Spalier bilden. Wieso und für wen? Eine Senatskommission war beauftragt, wie alljährlich den äußersten Außenposten Hamburgs, die Insel Neuwerk, zu besichtigen. Und wir sollten die Stadtväter ehrenvoll begrüßen. Zu dem Zwecke wurden wir in blaue Anzüge gesteckt, in solche, wie sie früher die Hamburger Waisenkinder getragen und sich auf den Goerner Speicherboden verlagert fanden. Und es gehörte ein flacher weißer Umlegekragen dazu nebst einer blauen Schlipsschleife. Ich sollte eigentlich nicht mit; ich sei vom Fieber noch zu schwach, aber schließlich hatten die »Fräuleins« Mitleid. Doch ergab sich, daß die blauen Schleifen alle schon vergeben waren. Ich mußte mich mit einer roten begnügen.

Wir standen dann also aufmarschiert vorm Strandhotel, von wo aus die Herren auf hochrädrigen Wattwagen zur Ebbezeit übers dann freie Seegelände gen Neuwerk kutschieren wollten. Wir sangen »Stadt Hamburg an der Elbe Auen, wie bist du stattlich anzuschauen ...«. Die Herren ließen die Weile höflich halten, auch den Geringsten unter ihrer Verwaltung also Wohlwollen bekundend. Einer der Großmächtigen beugte sich aus seiner Hoheit von seinem Sitz herab, deutete belustigt auf mich, winkte mich heran und tippte lächelnd auf meine rote Schleife. Ist dein Vater in der Partei? fragte er leutselig.

Ich wußte nicht, was er meinte. Da lud er mich ein mitzufahren. Und Fräulein Eckolt erlaubte es mit einem Knicks. Hü! Los ging’s vierspännig über das graugrün naß schimmernde Watt, über krachende Muschelbänke und durch spritzende Priele, und die Seeschwalben mit ihrem Kyriegeschrei begleiteten uns, weil einer der Herren zum Spaß ein paar Frühstücksbrocken in die Luft warf. So denn gelangte ich

zum ersten Mal auf eine Insel


Wir wanderten dort deichlängs zwischen Schafen und Gänsen zu dem Leuchtturm, der mir dicker und höher schien als alles, was ich bisher gesehen. Einer der Herren hielt einen Vortrag. Man erfuhr, wie viele Jahrhunderte schon diese hansischen Ziegelmauern den Elementen und Ereignissen getrotzt. Unterdes sah ich einen schmächtigen knebelbärtigen Mann still über den kopfsteingepflasterten Turmhof gehen. Ich hätte wohl lieber eine der massigen Seeräubergestalten erblickt, die hier gehaust haben sollen. Der Freundliche, der mich eingeladen, hatte derlei gruselig geäußert. Nun hielt der vortragende Herr Syndikus ein wenig inne, als erwarte er zumindest einen Gruß von dem Vorbeigänger. Der aber schien unsere Versammlung überhaupt nicht zu bemerken. Und als nun jedermann dem Davongehenden wohl etwas erstaunt nachblickte, sagte jener Joviale, der mich mitgenommen, in den Kreis seiner Kollegen wie zur Entschuldigung:

Es ist ein Dichter

meine Herren, der hat Eigentümlicheres zu bedenken als die nüchterne Gegenwärtigkeit, und sei sie noch so hoch behördlich ...

Und er nannte auch den Namen. Alle lächelten verzeihend und nahmen es nicht wichtig. Mir jedoch war es seltsam, daß ein Mann nicht nur Rainer, sondern auch Maria mit Vornamen heißen konnte. Und mehr noch, wie jemand vermocht habe, an einer so gewichtigen Vertretung von Regierungsmacht und Weltgeltung, der ich mich stolz eingefügt fand, achtlos vorüberzugehen. Eine unbehagliche Ehrfurcht wehte mich erstmals an vor dem, der sich leisten konnte, ohne Blick auf andre und wie im Traum ungestört seinen Weg zu schreiten. Er hat schöne Gedichte gemacht, sagte jemand. Sicher waren es Verse, die meine übertrafen. Gern hätte ich einiges davon gehört. Aber die lieben Damen, die uns zu Duhnen betreuten, kannten Rilke noch nicht.

Als ich dann meinen eigenen Versen noch nachgrübelte, fiel mir eine andere und allererste scheinbare

Engelsbegegnung

nebst Verliebtheit ein, zwei Jahre zuvor auf dem Hamburger Dom, inmitten des gewaltigen Buden- und Rummelzaubers zu Weihnachten auf dem Heiligengeistfeld. Dom? – Tatsächlich besaß meine Vaterstadt bis 1805 einen großartigen mittelalterlichen Dom, der aber dem Erzstift zu Bremen gehörte und erst durch den Reichsdeputationshauptschluß, Aufhebung der geistlichen Fürstentümer, an Hamburg gefallen war. Schon lange nicht mehr hatte er kirchlichen Zwecken gedient, sondern Tischlern und Drechslern zur Werkstatt und auch für etlichen Jahrmarkt, besonders zu Weihnachten. Der Senat, die Kosten für eine Instandsetzung des ehrwürdigen Bauwerks scheuend, ließ es als »papistisches Überbleibsel« gnadenlos abreißen. Wertvolle Kunstschätze wurden verschleudert, zerteilt (wie der wundervolle Altar Meister Frankes) oder vernichtet, die Grabplatten in Siele verbaut, die Bibliotheksbestände dem Pöbel und der Müllabfuhr ausgeliefert. O schändliche Dummheit, schnöder Krämergeist!


Das einzige, was von all den mittelalterlichen Steinmetzarbeiten erhalten blieb, war eine der Törichten Jungfrauen vom Reigen des Lettners. Sie hat allen Grund, bitterlich zu weinen (im Museum für Hamburgische Geschichte).

Die große Glocke Celsa des Meisters Geert van Wou 1487 wurde nach Altengamme verkauft. Von der leidvollen Madonna darauf besitze ich einen Bronzeabguß. Die Bezeichnung Dom erhielt sich für einen wochenlangen jährlichen adventlichen Hochbetrieb auf einer ehemaligen Exerziersweide des Bürgermilitärs, dem Heiligengeistfeld, Überbleibsel eines anderen Sakrilegiums, des Hospitalis sancti spiritus. Und besteht mit irdisch gewandeltem Spiritus noch immer im Juhu steigender Technik des Karussell- und Schaustellergewerbes. Als ich sieben war, ging es einfacher zu, doch für mich noch betörend genug. Und dort war es, was sich später in Verse faßte und in der »Hafenorgel« anfindet:

Meine erste Liebe war

eine Dame auf dem Dom,

und sie kam wie jedes Jahr

als das Schwebende Phantom ...

Ein schwarzlockiger, schnurrbärtiger, hagerer Veranstalter in Frack und Zylinderhut ließ ein zartes Fräulein, das in langem lila Gewand auf einem Diwan ruhte, wie von seinen weiß behandschuhten Händen magisch gelenkt, waagerecht bis in Augenhöhe der Zuschauer emporschweben.

... und ein Reifen, den er frei

über ihren Körper zog,

war Beweis, wie echt es sei ...

Ob sie wohl ein Engel war?

Ich war gleich in sie verliebt.

Mancher glaubt mit sieben Jahr,

daß es wirklich Engel gibt ...

Ich wartete dann hinter der Schaubude in der Hoffnung, die Wunderbare plötzlich zum Himmel aufsteigen zu sehen, wohin sie gehörte. Statt dessen kam sie mit einer Ölkanne heraus, diese in ihrem Wohnwagen neu zu füllen. Denn die Scharniere, so verriet sie mir, auf denen sie, mit dem langen Kleide sie verdeckend, ruhte, mußten tüchtig geölt werden, damit sie nicht verräterisch quietschten. Und gerührt von meiner Treuherzigkeit, die ihr nicht verborgen blieb, gab sie mir einen Kuß. Ich erschauerte, aber weniger vor Andacht, sondern weil sie nach saurem Rollmops schmeckte und eben nicht nach Nektar und Ambrosia. Da sie mich auch darin durchschaute, erklärte sie, sie dürfe fast nichts als Hering und Schnittlauch essen, sonst würde sie zu dick und das Gestänge könne sie nicht mehr heben.

Erde ist der Augen Preis,

irdisch bleibt, was uns erscheint,

und kein Reifen ist Beweis

dessen, was das Herz gemeint.

Ich war mächtig ernüchtert. Aber diese

Entengelung

hat mich später doch oftmals bewahrt, bei so mancher geschickten Darbietung, zumal in der Politik, mehr zu erwarten als gut geölten Trick. Ich begegnete dem mit Achselzucken. Der Taschenspielerei der Welt hinter die Schliche zu kommen, ist das Vergnügen derer, die selber derlei machen. Denn bis in die Unerforschlichkeit hinauf ist man vor Überraschungen nicht sicher und muß sie hinnehmen als Erprobung oder Gnade.

Einer der Prediger meiner Chorjungenzeit war Alfred Kapesser, eine kraftvolle Erscheinung, erlauchter Redner und Sänger. Obwohl den Buben zwischen zehn und vierzehn die Seelenhirten weniger zu bieten haben als damals etwa die Buffalo-Bill- und Nick-Carter-Hefte, so horchte doch hin und wieder eins der Drachenkälber auf, wenn der Verehrte mit seinem Mühlsteinkragen hoch über dem Altar in der Kanzelgrotte erschien. Und manches Wort leuchtete herüber auch zu uns, die wir im Hintergrund der Orgelempore die Roßhaarbänke bevölkerten. Eins blieb mir bis heute gegenwärtig:

Das Heilige, meine Freunde, ist das, was man weder mit Du noch mit Sie ansprechen kann. Man kann es nur in stiller Scheu von weitem ahnen und es achten. Dann darf man gewiß hoffen, bei anständiger Haltung auch ohne fordernde Gebete in guter Hut zu sein. –


Zur Konfirmation gab mir dieser Aufrechte mehr zufällig als gezielt den Spruch Matthäus 7, 7:

Klopfet an, so wird euch aufgetan

Das war mir genehmer als die beiden zugehörigen Stellen: Suchet, so werdet ihr finden! – Und: Bittet, so wird euch gegeben! – Es klingt mir hanseatischer. Wenn hanseatisch bedeutet, nicht lange suchen zu müssen, um das Rechte zu erkennen, sich auch nicht lange mit Bittschön aufzuhalten oder gar mit demütiger Rückenkrümmung. –

Im letzten Chorjahr erwarb ich mein zweites Honorar. Unser schneidiger Stimmgabelschwinger (er benutzte sie als Taktstock) hatte uns zu einem Tagesausflug an die Ostsee gelenkt und auf dem Wege dahin ins Rathaus zu Lübeck. Für einen Bericht darüber verhieß er einen blanken Taler. Ich gewann ihn. Und schenkte ihn meiner Mutter.

Als ich doppelt so alt war, erkannte mir ein geborener Lübecker einen rund dreihundertmal höheren ersten Preis zu, Thomas Mann, für meinen Piratenroman »Godekes Knecht«. Das schöne Stück Geld vertat ich in Paris und auf Seereisen. Für den Rest, dreihundert Mark, erstand ich eine alte Lüneburger Bibel mit den Kupfern des Barockmalers Matthias Scheits. Das war alles, was aus den theologischen Sehnsüchten meiner Mutter geworden war.

Vom Auferweckten zum Aufgeweckten ist nur ein Plankenstudium. Denn Planken und Mauern erweisen sich seit je als öffentliche Fibel der Aufklärung. Auch mir wurde langsam klar, was da so dürftig hingeschmiert in Wort und Zeichnung gemeint war. Und gereichte zu

Freud und Leid


Was seit Sigmund Freud von allen Jugendbeschnüfflern als allgemein erotisches Frühstadium betrachtet wird, hat bei mir keine Rolle gespielt. Es beschränkte sich auf freigebige Küsse, vor denen selbst die rauhe Wange meines Vaters nicht sicher war, ohne Verlangen, Lippen zu küssen oder selber geküßt zu werden. Die reinliche Aura meiner Eltern wirkte sichtlich auf die ganze Familie. Das Hereinbrechen der Außenwelt geschah nur allmählich. Da war zum Beispiel in Wolgasts Schule ein sitzengebliebener Gastwirtssohn mit hemmungsloser Fähigkeit, Federhalter, Federkasten, Bleistiftspitzer und Radiergummi in kitzligen Szenen agieren zu lassen. Dem sah ich in mancher Pause mit Genuß und Gruseln zu, ohne mich einmischen zu können oder zu wollen.

Etwas gewählter, ja, fast literarisch, erging es sich im Treppenhaus der Alexander Straße. Da deklamierte der stramme Gymnasiast Julius Hansen lange Gedichte wie: Liebesbrief eines Kesselflickers. – Oder: Pastors Hochzeitsnacht. – Dessen letzte Zeilen lauteten: Nimm meinen Samen/ in Gottes Namen/ Amen.

In der Seminarschule vermißte ich geradezu solche Talente. Ich war mit zwölf dahin gelangt. Aber einer, der am harmlosesten aussah, wußte von einem Landaufenthalt zu berichten; eine sonst ganz kindlich wirkende Bauerndeern habe ihn unmißverständlich attackiert und dann gesagt: Längern hest nich, beeter kanns nich, denn mok dien Büx man to un sech, ick heff nich wullt! –

Auf Ferienausflügen, zu deren Betreuung man sich als junger Seminarist melden sollte, sammelten sich meistens ärmere Kinder, die nicht verreisen konnten. Da entfiel der Respekt vor der amtlichen Lehrmacht, und man vernahm aus unbedarften Mündern, ob Knaben, ob Mädchen, Lieder, Verse und Witze, die in ihrer Saftigkeit eher in eine Ulanenkantine gepaßt hätten. Man sieht, es ging auch ohne die heute so eifrig betriebene behördliche Aufklärung.

Dergleichen schleust sich nicht nur ins Ohr. Obschon mich vor allem die ausgewogene Klanghaftigkeit erfreute, wie sie dem plattdeutschen Volksmund besonders eignet. Natürlich entging ich nicht dem Reiz und der Plage, was irrtümlich laut 1. Mos., Kap. 38 dem Treiben des Judassohnes Onan unterschoben wird. Solche Selbstbehandlung war damals verfemt und mit schweren Ängsten belastet. In Kadettenanstalten oder sogar in der Lichtwarkschule soll manchem passiert sein, von übelwollenden Mitschülern »geschwächt« zu werden, namentlich vor Turn- und Sportstunden oder vor Mathematikarbeiten. Es blieb mir erspart. Wehe dem, der da petzen wollte! Ich hielt mich von all diesen Brüdern fern, immer versponnener,

als Einzelgänger abgestempelt

weniger geachtet als nicht beachtet.

Zwei ähnliche Außenseiter hielten sich halbwegs zu mir, blieben aber nicht lange. Der eine, begabter Musiker, schwenkte ab als Cafégeiger. Ein andrer, Sohn einer Hebamme, übernahm ausgerechnet die Grabsteinfabrik eines Onkels in Minnesota. Ein dritter, Ulrich Nabel, war, weil sitzengeblieben, uns ein Jahr voraus. Er wurde später als Kunstwissenschaftler Begründer des Althamburger Bürgerhauses. Schon früh bekannte er sich freimütig und zum Entsetzen Professor Jaegers zu Erlebnissen mit Prostituierten und in den Bordellen St. Pauli-Altonas. Neugierig versuchte dann eines Nachmittags auch ich, meine Erkenntnisse zu bereichern. Es mißlang ziemlich und wurde nie wiederholt.

Große und Kleine Freiheit

hießen zwei Straßen gleich hinter der Altonaer Grenze. Hier hatten vormals Handwerker ohne Zunftzwang siedeln können. Das hatte sich nun in allgemeinere Zwanglosigkeit gewandelt. Ausgespart war nur die barocke Fassade eines Gotteshauses, düster abwartend, umbrandet vom Neonlicht halbweltlicher Reklamen, die über eine unablässig flutende Menge hin das irdische Vergnügen ohne Gott meinten.

Zwei stille Straßen zweigten ab, niedrige lauernde Schlüfte, fast unbeleuchtet, die Marien- und die Peterstraße. Ihre sakralen Namen betteten sich unbefleckbar in die ewige Verzeihlichkeit, indes der flüchtige Kundendienst dessen weder sicher war, noch sich wohl darum sorgte. Ehe ich beherzt um die Ecke bog, verharrte ich doch lieber eine Weile in »Des Australischen Professor Woinke sein Museum«, wie ein Eingangsschild es nannte. Die hexenhafte Kustodin zeigte mir unter krächzender Erläuterung einige teils ausgestopfte, teils in Spiritus bewahrte Monstrositäten, einen Hund mit Doppelkopf, ein Kalb mit fünf Beinen, einen mühlsteingroßen Rattenkönig, alles mehr geeignet, die Träume eines verfolgten Mörders zu schmücken, als mein Vorhaben zu begünstigen. Auch ein meterhoher Eiffelturm, »hergestellt in jahrelangem Fleiß aus den Brotresten eines begnadeten Insassen der Irrenanstalt Friedrichsberg«, wirkte eher beklemmend. Vielleicht würde die »Katakombe« erbaulicher wirken. Ich zahlte die Sondergebühr. Und was war? Vor einem Altar aus Papierblumen standen sieben graue Kindersärge. Die Hexe hob die Deckel einen nach dem andern. Es lagen bräunlich verschrumpfte Totgeburten darin.

Ich hatte mir eine bessere Anregung erhofft und gönnte mir nun meinen allerersten Schnaps (Ausschank nur gegen bar), und die Inhaberin genehmigte sich auch einen auf meine Kosten. Er brannte mir fürchterlich im Schlunde, aber er schob mich doch glimpflich an den ausgehängten Vorlagen des Tätowierers Fincke vorbei.

Ich raffte mich zusammen, ein Mann zu sein und dem dicken Klassenkameraden Uli nicht nachzustehen. Halte dich in der Mitte der Straße, hatte er geraten, damit dir die Nutten den Hut nicht klauen und du dann nicht mehr wählen kannst. Und laß dir keinen Nachttopf übern Döz schütten! –

Ich hielt mich also gut ab von den öden grauen Mauern, sowieso abgestoßen von den mehlig bepuderten, geschminkten Gesichtern und Brüsten, die sich über Halbtüren und aus Fenstern reckten, legten, hängten. Ich wollte nichts sehen und sah doch alles, die getürmten Frisuren, die formlosen Arme, die schwarzen Florhemden, den glitzernden Talmischmuck. Und hörte Anerbietungen, die zu begreifen ich mich wehrte. Und fand mich dennoch krampfhaft lächelnd bemüht, ihre Saftigkeit zu genießen.

Außer mir war die Gasse ohne Passanten. Einsam einer allgemein spöttisch-gierigen Aufmerksamkeit ausgeliefert, tat ich, als sei dieser rüde zweiseitige Bilderbogen nur ein Hühnerstall gegen großartigere Märkte in Bombay, Yokohama oder Funchal und als wisse ich solches nicht nur aus Matrosenberichten. Ich schwalkte dahin wie ein ergrauter Seefahrer, indes mein Mut verpuffte wie der letzte Knallfrosch am Sedanstag. Nun um die Ecke und weg! dachte ich.

Da erklinkte sozusagen in meinen eingezogenen Nacken eine Haustür. Das klang so nett wie eine Gartenpforte zur Kinderzeit. Und eine Stimme sprach sanft: Komm herein, Hänschen! –

Ich bin nicht hartgesotten. Verhielt meinen Schritt, blickte mich um. Ein einfaches bäuerliches Gesicht lächelte mich an, nicht schöner als an der Küste üblich, blaßblond, blaßäugig, mit Stupsnase, der Mund nicht klein, aber kaum betüncht.

Sie stieg vor mir eine Treppe hinauf. Ihr kurzer Rock aus rosa Seide pendelte über bloßen strammen Beinen. Ihre Schuhe, brüchiger Lack, hatten schiefe Absätze. Der Ertrag der Liebe schien restlos den Besitzern der Bordelle zuzufließen.

Irma, sagte sie, als hätte ich aus verschnürter Kehle gefragt.

Ein dürftiges Zimmer. Durch dünnen Vorhang nebelte das sinkende Tageslicht.

Nun? sagte sie leise

Ich war hilflos, tat aber gelassen, betrachtete das ungemachte Bett und einen Spruch an der Wand, der, himbeerfarben auf Stramin gestickt, lautete:

Gute Nacht!

Gott wacht.

Die Freundliche, meine Unbereitschaft ohne Hohn erkennend, entkleidete sich. Das bestürzte mich mehr, als daß es mich erregte. Damals besaßen noch keine Kunstwerke kraft expressionistischer Verzerrung die Fähigkeit, neben sich alles Lebendige als liebenswert erscheinen zu lassen, selbst bei mangelhafter Ausstattung. Soeben drangen zudem die Geräusche des Hafens herein, murrend, blökend und bedrohlich. Meine Knie wurden matt. Ich setzte mich auf die Bettkante. Der Schnaps und hier der Dunst eines billigen Parfüms erstickten jede gehabte Vorahnung unsäglicher Seligkeiten. Ich winkte lässig ab, als habe mir die bloße Schaustellung genügt.


Meine Gastgeberin war so geschickt, die ausgebliebene Wirkung mit dem Hinweis zu bemänteln, sie habe sich sowieso umziehen wollen. Und entnahm dann einer Kommode ein paar ordentlich gelegte Wäschestücke. Dann wandte sie sich halb listig, halb verschämt wieder zu mir und wippte leicht mit der Zunge an der Oberlippe entlang. Und flüsterte dann etwas, was ich damals nicht erfaßte. Mir stieg nur eine abwegige Beziehung zu dem pfingstlichen Ereignis in der Apostelgeschichte auf. Und derweil mich niederdrückte, noch nicht befugt zu sein, den Tempel der Erotik zu betreten, schien mir ein anderer aufgetan, darin ich mit feuriger Zunge würde Zeugnis abzulegen haben. So geradezu pathetisch durchzuckte es meine Zerknirschung. Und ich entdeckte einen Seestern, der an der gußeisernen Hängelampe baumelte. Das gar nicht harmlose Meerestier, Andenken wohl an einen seefahrenden Besucher, schien der »Come and kiss me«-Straße sowohl ihrem Gewerbe als ihrem Muttergottesnamen gemäß.

Meerstern, ich dich grüße! – murmelte ich und legte ein Geldstück auf die Kommode, sagte höflich Adjö und ging. Ging die Gasse der Spießrutenblicke und unflätigen Mäuler entlang und aus dem Bumms und Rummel der Freiheiten St. Paulis

zurück ins Bürgerliche

vorerst ungelernt, aber auch voll heimlicher Verheißung.

Daß die naturgesegneten Freuden auch den Moralstreitern nicht fremd waren, erwies sich am Beispiel eines sehr beliebten Pastors zu St. Georg, der sich bemüßigt fühlte, von der Kanzel herab zu äußern: Liebe Gemeinde, tut nach meinen Worten, nicht nach meinen Taten! –

Im Gästebuch jenes Weinkellers, dessen Traubenplastik mir schon früh ebenfalls falsche Vorstellungen erweckt hatte, entdeckte ich bemerkenswerte Stammbuchverse einer dort verkehrenden Pastorenrunde. Zwei von denen sollen hier als Beweis auch geistlicher Munterkeit nicht verhehlt werden:

Der David und der Salomo,

das waren arge Sünder,

sie waren ihres Lebens froh

und machten viele Kinder.

Und als sie nicht mehr konnten

vor allzu großem Alter,

schrieb Salomo Proverbia,

und David machte Psalter. –

Und:

Selbst durch die engsten Latten

kann man sich begatten,

doch durch ein Fliegenfenster

können es nur Gespenster.

Gespenster

Wer als Kind hat sich niemals vor solchen gefürchtet? Mancher kommt sein Leben lang nicht ganz davon los. Ich entledigte mich ihrer durch ein selbstgebasteltes Schattentheater, da war ich etwa neun Jahre alt.

Schnitt Figuren aus der Pappe von Schuhkartons meiner Schwestern und machte sie mit Blumendraht beweglich: Gespenster aller Art, Mörder und Diebe und Seeräuber mit erfundenen Schandtaten, Verfolgungen und Strafen. Auch einiges Ungetier fehlte nicht zu Wasser und zu Lande. Meine Leinwand war der Rest eines Sommerhemdes, gespannt auf den Rahmen einer zerbrochenen Schiefertafel. Die Lichtquelle eine Petroleumlampe mit einem Metallspiegel hinter der Flamme, wie sie in Küchen damals üblich war.

In Nachwirkung ist mir bis heute manches Ereignis wie ein

Schattentheater

und dadurch leichter zu verdauen. Es zog mich oft auf die alten Friedhöfe vorm Dammtor. Sie waren unheimlich einsam, und ich seufzte in den modrigen Wind, der um die verwitternden Grabsteine strich, die später – ähnlich wie die des Domes – profan zu Treppenstufen oder derlei verwendet wurden, als das große Gelände sich ins Gegenteil verwandelte, in den Erholungspark »Planten un Blomen«. Ein bezeichnendes Gleichnis für den unbekümmerten Lebensnerv der Welthafenstadt.

In der Trauer über den Tod der schönsten meiner Kusinen entstand dort mein erstes gedrucktes Gedicht:

Wie feierlich die Taxushecken stehn.

Von Rosen sind die Gräber zugedeckt.

Wie damals singt die Drossel buschversteckt.

Mir ist, als sollte ich dich wiedersehn.

Unruhig lauscht mein Sinn den Hain entlang.

An jeder Wegesecke zagt mein Schritt.

Knirscht nicht der Kies? Ein Lachen klang?

Doch nur der Wind geht flüsternd mit.

Die alte Bank, von Buchen überdacht.

Es wär wohl an der Zeit. Bald kommt die Nacht.

Fern gleiten Glockenstimmen und verwehn.

Mir ist, als sollte ich dich wiedersehn.

Diese Verse sandte ich an eine winzige süddeutsche Zeitschrift »Junge Geister«, die mir im Lesesaal der Kunsthalle vor Augen geraten war. Sie wurden veröffentlicht. Mir schien es ein höchst gespenstischer Vorgang, das offen dargebreitet zu sehen, was heimlichst dem Gemüt entsprossen war. Dieses Empfinden hat mich auch später nicht verlassen, was auch immer von mir gedruckt wurde.

Ein gespenstisches Schattenspiel auch mein erstes richtiges Liebeserlebnis. Es war mit einer auf dem Wandsbeker Markt von einem Karussellpferd herunter gewonnenen Freundin, die so unerfahren war wie ich. Und selbstredend im Dunkeln, bebend und lautlos in der Laube des Schrebergartens ihrer Eltern. Nebenan im brettemen Lokus schnarchte ein Landstreicher. Auch das Wandsbeker Gehölz legte nächtliche Schatten über unsere verschwiegenen Zusammenkünfte, dort, wo Matthias Claudius wohl unbeschwerter gelustwandelt. Das Unheil blieb nicht aus. So denn mußte ich einmal eine Küchenlampe halten, die jener des kindlichen Schattentheaters glich, ein Gespensterstück auch dieses, kraß, mitleidlos makaber. Auf ein Inserat hin aus einem Zeitungsblatt: Beratung in diskreten Fällen –. Hansaplatz-Gegend, Hochparterre, vorhangverhangen, düster, süßlich parfümiert, Portieren, verschabte Teppiche. Die Masseuse, vormals Kabarett, Reeperbahn, die siebenundzwanzig Bildschönen, Stimme wie der verschlissene Sammet des Martersessels. Sichtlich vielgeübt. Halten Sie die Funzel gerade! zischelte sie mir zu. Ein Papagei gnäckerte: Wohl bekomm’s! –

Nun ja, es gelang. O Lieb, o Leid ... War es nicht Ehrensache, die Gepeinigte zu heiraten? Die so tapfer jeden Laut verbissen hatte? Ich habe nie gelernt, abgebrüht zu sein. Aber es vergingen sieben Jahre, bis die von meinem Gewissen diktierte Gutmachung möglich wurde.

Denn noch war ich weder mündig noch berufstätig, war noch Seminarist in der Lehranstalt Wall-Straße, wo die Saat Heinrich Wolgasts schon etwas aufgegangen war. Wir waren nur fünfundzwanzig in der Klasse, eine

Auslese

aus allen Volksschulen der Stadt, zumeist Lehrerssöhne. Kein Wunder, daß ich gleich auf den fünfzehnten Platz rutschte. Aber bei der nächsten Zeugnisverteilung kam ich auf den dritten. Die beiden vor mir hab ich nie übertrumpfen können. Es war auch nicht mein Ehrgeiz.

Nummer eins war geistig und körperlich ein Allround-Athlet, Herbert Becker, Sohn einer Krämerswitwe. Er wurde Pädagogikprofessor an der endlich entstandenen Hamburger Universität. Nummer zwei, Karl Hansen, Sohn eines sektenhaft strengen Schulmannes, von diesem unaufhörlich getrimmt, war eines Tages Direktor der Taubstummenanstalt. Im Kriege verlor er ein Bein. Einer seiner Söhne wurde Mediziner in einem ägyptischen Hospital. Er besuchte ihn, erkrankte und starb an Typhus. Und wurde am Ufer des Nils verbrannt, ähnlich wie Shelley, dessen »Ode an den Westwind« er wie ich geliebt.

Unsere Lehrer waren ebenfalls Auslese und teils von auswärts herangeholt. Ich zeichnete ihre Profile mit dem Finger auf die beschlagene Fensterscheibe des Treppenhauses, und sie hielten sich wohl alle für klassischer und beargwöhnten mich. Nur der Zeichenlehrer schmunzelte und war mir wohlgesonnen, der titellose Oskar Schmidt.

Er beauftragte mich, das

Diplom für ein Sportfest

zu zeichnen, und es mußte das Seminargebäude darauf sein und ein Speerwerfer. Den durfte ich mir auswählen. Er hieß Seebörger und sah auch so aus und diente mir zu meiner ersten Aktstudie, und die war das erste, was von mir als Grafik gedruckt wurde; womöglich findet sich das mit Lichtpause vervielfältigte Blatt noch irgendwo. –

Mein wackerer Förderer, blondlockig, licht schnurrbärtig, scharf blauäugig, gut gewachsen und mit fast mädchenhaft heller Stimme, immer beweglich, war ein tüchtiger Zeichner und verschämter Lyriker, in mir anscheinend das gleiche ahnend. Als Vater zweier niedlicher Töchter und Gatte einer ungemein hübschen Frau war er verständlicherweise Kriegsgegner, wurde dennoch eingezogen und starb im Lazarett an einer Nasenentzündung. Schade um ihn! Und ewig Dank!

All meine Lehrer

trugen Bärte; bartlos war damals unmodern.

Den größten trug der Direktor,

seiner Stellung gemäß, einen Vollbart

bis übern Schlipsknotenschlauf.

Auch der Musiklehrer bewies Eigenart;

sein Bart glich dem Besen der Straßenkehrer.

So kehrte er unsere Stimmen zuhauf.

Indes die anderen Herrn

sich auf Henri quatre, Willem zwo oder fußfrei

hielten. Der Geschichtslehrer jedoch – nebenbei

bucklig, aber wir hatten ihn gern –

war nur mit einem Schnupftupf geziert.

Vielleicht ahnte er, wie die Mode marschiert,

hob auch oft die Römer hervor,

oder eine Dame war mehr für glattrasiert

(wer weiß, was alles privat passiert).

Jedenfalls, eines Tages war seine Lippe leer.

Was nicht gegenständlich vorstellbar war, entzog sich meiner Auffassung. Selbst der liebe Gott war mir nebst Engeln und Teufeln früh bildhaft nahe, natürlich Abklatsch des unbekümmerten Schnorr. Und ich sah riesige Engel über den Leitungsdrähten der Straßenbahnen schweben, mich zu beschützen.

Wie alle Kinder war ich Nutznießer der drei Grundlagen zur Einfügung in die Welt:

Augenweide, Wohlklang und Wortfindung

Wenn ich meine Schiefertafel bekritzelte, um mir den Schornsteinfeger oder die Aufwinder der Heizkohlen (Korb um Korb) länger sichtbar zu machen, so ging es nie ohne Singsang und plapprige Hinweise ab. Solcher Dreiklang und Musenakkord ist vielen Eltern vertraut. Er verschwebt meistens unter den Anforderungen der Schulzeit. Bei mir tauchte er unversehens gegen sechzehn wieder auf. Gelesenes pflegte ich auf der Handharmonika meines Bruders gern musikalisch nachzukosten. Dann dienten Geige und Mandoline, später auch Gitarre zur Vertonung erster Verse. Illustrationen mit schwarzer Tusche kamen hinzu. Zufällig sah mein Klassenlehrer, der weitgereiste Schwabe Professor Dr. Jaeger, etwas davon und urteilte wegwerfend: Leip,

konzentrieren Sie sich

Das versuchte ich vergeblich.

Viele Jahre später, kurz vor seinem Tode, hieß der kritische Herr meinen Roman »Das Muschelhorn« aufs erstaunlichste gut. Das hat mich gefreut wie keine noch so lobende Pressenotiz.

Sich konzentrieren? Was heißt das schon. Sich sammeln auf einen Mittelpunkt hin, allem Tanzradschnipp entgegen? Mir war immer, als könne ich selber wenig dabei tun, es war immer mehr ein ungewisses Es, das sich konzentrierte und mich mitriß, wenn etwas gelingen sollte:

Es läßt sich nicht erdrängen

mit Vorsatz und mit Zwängen,

es muß allein aus Gnaden

aufbrechen wider Willen.

So komm, du holde Stund,

schließ auf mir Herz und Mund!

Das war so ein frühes Gebet und hat bei mir noch immer Gültigkeit.

Die staubtuch-trockene Trigonometrie unseres Matheprofessors bot mir wenig. Da war z. B. der Begriff

Tangens

Ich vernahm, das seien Zusammenhänge zwischen Winkeln und Strecken. Das leuchtete mir malerisch ein. Anstatt mich nun im abstrakten Bereich mit einer Hausaufgabe herumzuschlagen, malte ich die Strecken und Winkel meiner Stube haargenau in Tempera. Hatte also anderntags das Erforderliche nicht vorzuweisen. Der Fach-Gewaltige holte empört den Direktor, Prof. Dr. Lepzien, einen zur Würde ergrauten, mager-ragenden mecklenburgischen Bäckerssohn. Der leicht musisch Geneigte ließ sich nach gehöriger Ermahnung den Frevel mitbringen. Wenig später sah ich das bunte Blatt gerahmt an seiner Bürowand.

Und als ich beim Ergängnis über Cosinus mehr an Kosen und an die Möglichkeit dreieckiger Verhältnisse dachte, da schickte mich der Alte – andere nannten ihn »Die lange Moral« – eines Morgens in die Lüneburger Heide. Dort mußte ich den Innenraum einer Hütte konterfeien, in die er gelegentlich eingeladen gewesen. Sie gehörte einem Schüler der oberen Klasse, wo schon ein vertraulicher Umgang mit den Lehrkräften gepflogen wurde. Auch das zierte dann sein Amtszimmer, und er schenkte mir zum Dank sein gerahmtes Foto, nicht ohne mich kameradschaftlich in den Achtersteven zu kneifen.

Der gute Mann ließ auch einen Vortrag gelten, darin ich behauptete, in uns müsse das Kindliche lebendig bleiben; denn nur so könne man Kunst verstehen oder sich selber mit Kunst befassen. – Wo ich das aufgelesen, weiß ich nicht mehr, möchte es jedoch auch heute nicht ablehnen. Seit je war ich scheu und schüchtern und wenig anpassungsfähig, mehr versponnen als Fäden spinnend, sozusagen geborener Eremit, höchst empfindlich und darum zurückhaltend. Und zumeist in einer Art Dämmerzustand. Das Kollegium nahm meine bescheiden bemühten Leistungen halb mißbilligend, halb gütig hin. Einmal sollte ich eine Klassenarbeit wegen »saumäßiger Pfote« zu Hause neu schreiben. Ich bat einen Chorgenossen, der inzwischen Kontorist und dessen Schrift wie gestochen war, es für mich zu bewerkstelligen. Seine Kalligraphie lieferte ich anderntags kaltnäsig ab. Der rotborstigkropfige, zwischen Säuseln und Bullern in sich fast weichmütige und hochgescheite Pauker, der Löwe genannt, nahm die Fälschung stumm zur Kenntnis und ließ mich von da an in Ruhe.

Eine privat musische Nebenerscheinung im Seminar war der Verein Haydn. Ich hab da manchmal mitgefiedelt. Haydns Kompositionen waren verhältnismäßig leicht zu spielen. Man wagte sich auch an Mozart, leider nie an Telemann, dessen Noten damals noch schwer zu beschaffen waren.

Aber in allem, was da Klang gewann, spukte mir das

Rauschen von Brandung, Wind und Gischt

Diese zwanglose Musikgesellschaft war eine Gründung der obersten Jahrgänge, brisant geleitet von dem Dirigenten Behncke. Dessen überragende Begabung und schwarzlockige Erscheinung schien großer Laufbahn gewiß. Seine Ergänzung war der nicht weniger begabte, aber unauffälligere Schusterssohn vom Nagelsweg

Fritz Jöde

Alles, was nicht Streicher war, vermochte er, zwischen Piano und Harmonium auf einem Drehstuhl kreiselnd, aus der Partitur hinzuzufügen. Es war immer neu erstaunlich. Schon als Chorjunge war ich mal in dieser illustren Vereinigung gewesen, als sie gemeinsam mit Georg Aleff auf Veranlassung Pastor Kapessers Schillers »Lied von der Glocke« zu Gehör brachte, in der Vertonung des sonst vergessenen gothaischen Hofkapellmeisters Andreas Romberg.

Behncke – ich weiß seinen Vornamen leider nicht mehr, und alle, die es noch wissen könnten, sind ihm, der als Offizier im Ersten Weltkrieg fiel, irgendwann nachgefolgt. Auch Fritz Jöde, der als der bedeutendste Anreger der deutschen, ja internationalen Jugendmusik gilt und ein reiches Werk eigener Kompositionen und sachdienlicher Schriften hinterlassen hat. Meine Schwester Gretchen gehörte zu seinem Singekreis. Als aber einmal von Mendelssohns »Meeresstille und glückliche Fahrt« die Rede ging, würgte mich die »Seesucht« und drängte auf Erfüllung.

Kalli Töge, mein Jahrgang, war gleich nach der Konfirmation zur See gegangen und schon Matrose, während ich im zweiten Sommer die Seminarbank drückte. Eben vor den großen Ferien traf ich ihn, wie er braungebrannt-drahtig einherschaukelte.

Na, macht das Spaß? fragte ich.


Kannst ja mal probieren

meinte er herablassend und zündete sich eine süßlich duftende Zigarette an.

Ja, in den großen Ferien. –

Ferien? Kenn ich gar nicht mehr. Schon morgen geht’s wieder raus. – Gern? –

No! Aber demnächst bin ich Vollmatrose und dann Bootsmann. Da könnt ihr mich alle! –

Wo kann ich anmustern

fragte ich.

Hast du drei Mark? –

Wahrscheinlich. –

Dann rutsch damit zu Tina Pösch. Altonaer Fischmarkt. –

Nicht Eier-Cohrs? –

Nee, der ist teurer und schwieriger. Und zieh dir drei Hemden an und doppelt Unterhosen! –

Warum das? –

Fischdampfer gehn mang die Eisberge. –

Fischdampfer? Ich will lieber auf’n Windjammer. –

Püh! Erstens sterben die aus. Zweitens nehmen die nur welche von der

Seemannsschule. Und drittens bist du nicht rechtzeitig wieder auf deiner Büffelschippe. –

Und wenn ich dabeibleib? –

Kalli zog den Hosenriemen strammer, zuckte mit der linken Achsel und paffte: Viel Glück! –

Klang das mitleidig? Ich hielt ihn am Ärmel: Wie hast denn du angefangen? –

Mit hundert Emm und Grips. Tjüs! Hab ’ne Verabredung. Söte Deern. Auch noch nichts für dich. –

Ich blickte ihm nach, wie er so senkrecht und sicher wiegenden Schritts entschwand.

Anderntags weihte ich meine Schwester Gretchen ein. Diesmal wollte ich keine Kühe hüten bei ihrer Freundin hinter Schwarzenbek, sondern auf Fischfang fahren. Das dürfe sie aber nicht verraten. Und sie pumpte mir drei Mark.

Ich also hin zu Tina Laßmichmal, wie sie auch genannt wurde. Eine resolute Alte, der nichts fremd war, ein Laternengesicht mit rötlichen Hängewangen und forschend, fast mütterlichem Ausdruck, der aber jäh wie ein Westwind auf Nord drehen konnte, mit Pupillen wie Eisnadeln und einem Tonfall, der dem eines Bootsmannsmaaten nicht nachstand. Ich nahte ihr erklärlich schüchtern und sammelte meinen Blick auf ihre goldene Brosche, die aus den drei Symbolen Glaube, Liebe, Hoffnung gebildet war, Kreuz, Herz und Anker. Und ich hielt ihr meinen Taler hin. Schweigend schob sie ihn zurück, sah mir schief zwischen die Ohren und flüsterte merkwürdig sanft und heiser: Hatte mal ein Küken wie dich, der konnte es auch nicht lassen, war schließlich sogar Käptn auf einem P-Liner. Und kam nicht wieder. –

Das tut mir leid, stammelte ich.

Ein gedrungener Mann trat herzu, eleganter gekleidet als die rauhen Gestalten, die an der Theke knobelten. Statt der üblichen Schiffermütze trug er einen weichen Panama.

Na, haben wir einen, Frau Pösch? –

Seine Stimme war hoch und singig, beinahe weinerlich.

Er stach mit einem umwickelten Finger nach mir: Kannst du

Kartoffeln schälen

Und ob! –

In diesem Augenblick meinte ich es zu können, da ich spürte, hier sei rascher Entschluß vonnöten.

Die Wirtin drückte den Finger des Herrn sacht hinunter und sagte unlaut, aber hart: Wohrschau, Smutje, bi düssen lot din Poten in din egen Büx! Versteihst mi? –

Der Smutje hob wehleidig zwei nußrundbraune Augen und äußerte: Liebwerteste Patronin aller Schiffahrt. Sie sollten mich doch genauer kennen als die üblen Gerüchte! –

Tina Pösch lachte knittrig: Pedd di man nich opn Slips, Herr Loitzikow! –

Dann streichelte sie rasch und scheu über mein Haar: Holl di fuchtig, Jung, lot di dat verleeden, un denn mok, dat du wedder no Hus kümmst! –

Mir war unheimlich. Der Schiffskoch schob mich zum Ausgang: Wir fahren gleich. Ich nehm dich als Passenger mit, hab mich geschnitten, brauch Hilfe. Los denn! Ab mit Eile! –

Mir war, als sollte ich stracks Richtung Reismühle abhaun. Aber der federnde Gang neben mir, die gewählte Sprechweise, die Zusage, mir’s leicht zu machen und daß wir bestimmt Pottwale zu sehen kriegten, hielten mich neben ihm. Und auf einmal waren wir hinter langen Fischhallen, an rasselnden Kränen und dem Betrieb von Laden und Löschen mehrerer großer Trawler vorbei. Der Koch schwenkte über eine Gangplanke auf ein weniger stattliches Deck. Es dämmerte schon, und gerade wurde die Positionslampe auf Steuerbord entzündet. Hoffnungsgrün. Das kannte ich von vielem Streifen am Hafen. Und schon rummelten die Maschinen, die Gangway wurde eingezogen, die Halteleinen losgeworfen. Wir waren schon in Fahrt, als mich Herr Loitzikow schnurstracks in die Kombüse gedrängt hatte. Ich merkte, wie jemand von der Brücke herunterpolterte und eine scharfe Stimme den Koch verhörte. Der aber redete sich rasch heraus: In Ordnung, Käptn, eigene Verantwortung, private Hilfskraft ohne Heuer und Anteil. – Es klang, als sei er der Küchenchef vom »Atlantik«.


Ein strenges, noch nicht altes Gesicht lugte rasch durch die Tür, eine straffe Marine-Erscheinung, nickte kurz: Mach’s gut! –

Und somit begann meine

erste Seefahrt

Fischdampfer! Das Schaurigste, was einem romantisch veranlagten jungen Menschen unter die Füße kommen kann. Es ist hier meine Absicht nicht, die bittere Notwendigkeit der Seefischerei oder gar ihre Tapferkeit zu bezweifeln. Meine Hochachtung ihren Männern allen! Was mich damals fast zur Strecke gebracht, hat mich doch auch gefestigt, gemäß der Erkenntnis des Zarathustra-Philosophen: »Was mich nicht umwirft, macht mich stärker.«

Und wo sonst hätte ich so rasch die See wirklich erfahren können? Die gnadenlose Schaukel zwischen Himmel und Erde, den ununterbrochen zuckenden, durch Schlund und Gedärm peitschenden Horizont, den haltlos wandernden Zirkelschlag zwischen Wasser und Gestirn, die saugenden Tiefen, die lockende, würgende, ewig ungreifbare Schlinge der Meeresweite. Schaumkronen sind keine Faschingsmützen und Sturzseen keine Daunenkissen. Und das Geheul der Lüfte ab Beaufort sieben übertrifft jede Vision der Hölle. Aber der rohe Bordton und die brutale Fischschlächterei waren mir Milchsemmel doch wohl nötig, mich etwa für den Kommiß hinreichend abzubrühen und mir

alles Sanftere desto lieber

werden zu lassen.

Zirpt in der Erinnerung doch auch Milderes: Gischtflocken springen über die schräge Kimm, tanzen golden in der Mitternachtssonne. Gewölk zaubert Ungeheuer und Engel. Der Wind streichelt unversehens zart und kühlend über fiebernde Stirn. Wie damals, als man noch Kind war, die Hand der Mutter und noch betörender die der Diakonin zu Duhnen, damals so nah der Brandung und der ersten Ahnung der Unsäglichkeit des Begriffs »Das Meer« ...

Die verlassene Kammerenge – daran denkt man plötzlich – baut sich übergangslos um in urweltliche Schrankenlosigkeit. Fern über Nord kringelt, speert und wabert lautloses Polarlicht. Darunter klafft aus dem Häsigen ein schwärzlich-weißlicher Rücken.

Ein Wal? –

Döskopp! Die Bäreninsel

Man weiß es noch, so sah es aus, wie sich’s nach sieben Jahrzehnten vorm Fenster gen Nord aus dem Morgennebel hebt, drüben über der diesig verhüllten Reichenau, meeresabseits der Bodansrück. Man nickt ihm gelassen zu aus unschwankem Stand, dem gelinden Spiegelbild verwehter, würgender, eisfrostiger Rauheit und Einsamkeit von einst.

Der Koch hantierte wie ein Zirkusjongleur mit Töpfen, Eimern, Pfannen und Kannen. Mir zerbrach einiges, ich steckte Ohrfeigen ein, stemmte mich gegen Übelkeit, Schmerz und Verzagen, lernte, mich dem schlingernden Rhythmus des Untersatzes anzupassen, verbiß Tränen und Gejammer, mühte mich, Eßgeschirr und volle heiße Schüsseln – es waren meistens nur ausgediente Konservendosen – in Messe und Logis auf den Hängetisch zu balancieren; lernte die schmatzend hämischen Bemerkungen einiger der zehn Besatzungstypen ungerührt zu schlucken. Zumeist zielten sie auf den Koch, den Smutje, den Schmott, den sie manchmal Doktor, manchmal Babette nannten. Warum das? fragte ich arglos.

Teils Hochachtung, Kleiner, weil ich die einzige Medizin verwalte, die sie schätzen, kräftiges Essen oder sogar etwas Rum. Und zum andern aber: Üble Nachrede! Dummes Geschwätz! fistelte Herr Loitzikow und leckte den Suppenschleef ab: Du bist noch zu jung, Moos, um alles zu verstehen. Ich bin nicht, wie manche denken, ein Knabenschänder. Aber ich habe Freundeswärme nötig, die ich bei Frauen nicht finde. An Bord gibt es eher so was als an Land, wahre Kameradschaft, und mehr auf kleinen Pötten, je gefährlicher, desto netter, und das wilde Schlingern hier, das Stampfen und Rollen und Geschaukel, das reine Jahrmarktsteufelsrad, das tut mir wohl, und darum bin ich hier und nicht auf den Luxusozeanern, Musikdampfern oder Seebäderkähnen, wo alles glatt hergeht und wie unter Polizeiaufsicht. Du allerdings gehörst eher dorthin. Mich rührt, wie du dich abmühst, dich hier einzupassen! Darum hab ich auch gestattet, daß nur noch Pellkartoffeln gekocht werden, weil mein Finger noch nicht heil ist und du es schlechter kannst als ein Säugling. Und wenn die da vorn auch fluchen, unser Käptn hat gesagt: Freßt die Schale man mit, da sind die Vitamine drin und das Beste, das hat schon James Cook gewußt. Und ob das nun wahr ist oder nicht, wir haben einen tüchtigen Kapitän. –

Einmal sagte er schwermütig: Moos, hast du hier schon eine Ratte entdeckt? –

Nein! sagte ich erleichtert.

Freu dich nicht zu früh! Der Käptn behauptet zwar, er habe alle vergiftet. Und die letzten seien vor Angst von selbst über Bord gehüpft. Irrt euch nicht! Wenn die Ratzen das Schiff verlassen, ist es dem Untergang geweiht. –

Man soll nicht unken

wagte ich bänglich zu äußern.

Der Smutje nickte feierlich: Alles Aberglaube. Unken sind kleine nützliche Tiere, fressen Mückenlarven, sind kleiner als ein Frosch oder ’ne Kröte. Als Kind hab ich damit gespielt. Im Garten meiner Eltern war ein Teich. – Seine Stimme versagte ihm. Seine Augen blickten wie irr in die Dampfspirale, die vom Suppenkessel aufquoll. Plötzlich fuhr er mich an: Los, los! Rin mit die Kartüften! –

Flehte ich innerst um himmlische Hilfe? Ich glaube, ich schämte mich, einem Engel zuzumuten, sich in diese von mir doch freiwillig erwählte Hölle zu begeben.

Auf Frachtern und kleinen Pötten unterscheidet sich der Koch kaum von der Mannschaft. »Babette« aber trug sich sonntags wie im Hotel: Weiße Jacke, Ballonmütze, hell karierte Hose.

Ich zuckte hoch aus todähnlichem Schlaf. Eine nackte pendelnde elektrische Birne stach mir in die Augen. Wo war ich? Riesige Männer zwängten sich in knatterndes gelbes Ölzeug und ächzende Riesenstiefel. Steurer Fese tauchte auf, in Triefendes gemummelt, kaum erkannte ich sein Gesicht.


Hoch, Moos

knurrte er freundlich barsch (den Namen hatte ich weg) und drückte ein paar lange Gummistiefel zu mir hin: Zieh die an und diesen alten Mantel. Alle Hände sind nötig! –

Die Männer waren längst draußen. Ich bewältigte die Logistür. Wind schlug mit scharfen Spritzern herein und brüllte in den schwarzen Lüften, darin der Scheinwerferkegel schwang. Man sah die Rücken der Männer grell spiegelnd über die Reling gekrümmt.

Den Wind überlärmend, arbeiteten die Trossentrommeln, das Netz einzuziehen. Auf einmal schwiegen sie. Nur der Sturm tobte weiter und die Brecher am Bug. Hoch am Galgen, grellrot vom Licht angeschnitten, pendelten die Scherbretter, die unter Wasser das Netz einladend auseinander halten. Nun wurde es Hand über Hand eingeholt, in triefenden, gittrigen Klumpen. Der Dampfer scherte aus, Gischt fegte über die Männer hin, die See warf das hereinschwingende Netz hoch über sie, als sollten sie alle darunter begraben sein. Aber dann hob sich das Schiff, die zurückgezuckten Fäuste krallten aufs neue zu und errafften Packen um Packen.

Gellend schrie Fese dazwischen: Hü jo! – Gib ihm! – Hiev op! –

Fese stand auf dem Peildeck überm Ruderhaus. Kapitän Billmann hatte selbst zuerst das Ruder übernommen und es wohl nun jemandem übergeben. Plötzlich nahm er Feses Platz ein, beugte sich weit übers Schanzkleid. Seine Stimme übertraf die seines Steuermannes.

Hoch das Ding! schrie er.

Ich erspähte, wie sich längsseits ein ungetümer Ballon wälzte. Vom Vormast schwebte jählings ein Hakenblock. Schwang tiefer, wurde befestigt. Die Männer wühlten durcheinander und stürzten zurück.

Hiev! – peitschte es vom Peildeck

Die Winde zog an. Das Ungetüm, am Flaschenzug hängend, hob sich aus der See, der ungeheure Netzsteert, prall triefend, zuckend von Lebendigem, grausig, unheimlich, stieg langsam über die Reling, ein fiebrig atmender Elefant, nein, größer als zehn Elefanten, so schien es mir, turmkuppelgroß, und nun schwang es herein, schwebte überm Vordeck. Der Kapitän hielt ständig den Scheinwerfer darauf gerichtet, schweigend beobachtend.

Los! brüllte er nun.

Fese ging rasch und federnd auf das Ungeheuer zu und bünzelte mit eckigen Griffen das untere Ende auf. Dann sprang er leicht und zack zurück. Das Ungeheuer platzte auseinander. Und wie ein tosender Wasserfall ergoß sich die silbrige Beute aufs Vordeck. Der reinliche Atem der Tiefe, fast metallisch würzig überwellte mich.

Jetzt wurde der abgeblendete Siriusstrahler am Vormast eingeschaltet. Die zappelnden Leiber der Fische, ihre weißen Bäuche, ihre schwarzen Rücken, ihre goldenen, grünen, apfelsinenfarbenen, gestreiften, gefleckten oder geflockten Flanken, ihre azurnen oder rubinfarbenen Augen, ihre rosig glitzernden Flossen, ihre fleischroten Kiemen, alles war wunderbar einzeln herausgemalt und gezeichnet, als wolle die der Verborgenheit entrissene

luftfremde Schönheit

prangend um Erbarmen flehen.

Doch im Nu waren die Männer drüber her. Rutschend und fluchend stürzten sie sich mit gezücktem Messer in den wimmelnden Haufen großer und kleiner Fischleiber. In wenigen Minuten war alles von Blut überschmiert, Hände, Stiefel, die silbrige Beute. Das Gebrüll und Ächzen der Schlächter wurde fast vom Gebrüll und Ächzen der See, des Sturms und des Schiffes verschlungen, es wurde eins damit in entfesselter Mordgier, angehetzt durch die hilflose Notwehr der stummen Kreatur, deren Glitschigkeit, Stacheln und nadelspitze Zähne den roh zupackenden Händen im rollenden Schwell elend zu schaffen machten.

Das alles nahm ich auf. Atemlos entsetzt und gefangen, verklammert um eine Windhuze, starrte ich in den Blutrausch.

Nun sprang auch der Koch hinzu

ohne Ölzeug, in seiner weißen Jacke und Schürze und in Pantoffeln, als handele es sich um Kuchenbacken, und begann wie ein Berserker zu wüten, im Augenblick blutüberfleckt wie ein Schlachthofmetzger. Er, den sie Babette nannten, der sonst so weich, so wehleidig, so betulich schien, warf sich gerade auf die größten der Fische und schlitzte ihnen, ohne sie erst zu kehlen, die Bäuche auf, riß ihnen die Eingeweide heraus, sortierte sie mit wirbelnden Fingern – ohne den noch immer verbundenen zu schonen – und warf die grüne Leber in ein bereitstehendes Faß. Es war Sonntag.

Dorschleber! betonte er später: Darauf bin ich Spezialist. –

Immer wieder durchgellte Feses Stimme den höllischen Aufruhr; er feuerte die Leute an, wie man Hunde anhetzt.

Der Kapitän, über die Reling des Peildecks gepreßt, blickte gespannt in das Gemetzel. Die Leute, mit der Achselhöhle über eine der kreuz und quer gespannten Leinen geklemmt, wurden von einer Seite auf die andere geschüttelt. Brecher fegten herein und über sie hin. Aber sie ließen nicht nach. Sie waren auf Tempo, gepackt von uralter Wollust des Mordens, die nötig ist, das Fischkehlen bei schwerem Wetter zu bewältigen. Außerdem waren sie alle am Ertrag beteiligt.

Schließlich, als der Orkan abflaute, mußte ich selber mit ran. Drunten im Lukenloch, wo die Fische, die übers Süll herunterprasselten, nach Sorte in Kisten zwischen Eis verpackt wurden. Schellfische erst, dann Lengfische, dann Rotzungen, dann Barsche, dann Kabeljau, dann Seelachs.

Stacheln, Flossen, Schuppen, Zähne, die toten Geschöpfe der See bissen in meine erstarrenden Hände, bissen mir ins Herz. Und rächten sich mit Verwesungsdunst. Meine Lunge verkrampfte sich. Ich rang dagegen an. Ich wollte ein Kerl sein und mich in die brutale Besatzung klaglos einfügen. Wie in einer ungeheuerlichen Nebelschaukel versuchte ich, gezielt ins Erforderliche zu greifen.

Von irgendwo heulte Feses Stimme:


Netz ist wieder draußen

Und Heizer Kludas knatterte: Alles verstaut! Twee Stünn Tied. Hau di hen, Moos!

Nach zweiundzwanzig Tagen landeten wir wieder an der Altonaer Pier. Die ergiebige Fracht wurde sofort gelöscht. Nichts als weg! dachte ich; nicht noch einmal Geschirr spülen müssen in dem Wasser, darin zuvor der Koch seine seidene Unterwäsche zu säubern pflegte, indem er mir bedeutete, frisch Wasser sei rar; man könne ihm nicht zumuten, es umgekehrt zu machen. Jetzt sah er mich traurig an: Hatte gehofft, endlich mit dem verrosteten Schloren abzusaufen, darum hatte ich dich heimlich Jonas getauft! Verdrück dich, eh es zu spät ist, und werd glücklich! –

Sie auch! murmelte ich beklommen.

Er winkte trübe ab.

Ich wandte mich zur Gangplanke. Meine Füße begriffen noch nicht recht den unschwanken Boden; ich rutschte aus auf dem schmierigen Brett. Jemand fing mich auf:

Hoppla, Bubi! –

Der Kapitän höchstselber, schnittig in Blau und vergnügt. Einige Papiere in der Hand waren etwas zerknittert bei dem Zugriff. Er achtete es nicht und drehte sich zu seinem Steuermann, der mit einem Auge die Entladung überwachte, die aus dem Vorluk erfolgte, mit dem anderen das Einbunkern von Eis und Kohlen achtern. Ich geh eben ins Kontor, Fese. Bis Mitternacht alles klar! –

Ay ay, Käptn, Klock twölf allns klor. –

Ich stand noch da wie schlaftrunken.

Gehn gleich wieder raus. Willst noch mal mit? fragte er im Davoneilen.

Nicht gleich! – stotterte ich

Da war er schon um die Ecke der Fischhalle. Schien aber was vergessen zu haben, kam zurück, holte etwas aus der Hosentasche, gab mir ein kleines Goldstück und lächelte: Anspruch hast ja nicht, aber anständig gehalten. – Und nun entschwand er wirklich.

Die zehn Mark reichten für eine Hin- und Rückfahrkarte Schwarzenbek. Von dort zu Fuß erreichte ich den Bauernbetrieb, wo ich das Jahr zuvor geholfen. Die Freundin meiner Schwester meinte besorgt: Du hast wohl selbst in den Ferien zuviel studiert, so hohlwangig siehst du aus. –

Und hast wohl nur Hering gegessen, das soll ja das Gehirn stärken, schnupperte Heinrich Stehr, ihr Mann: Nu sollst du dich aber die letzte Woche noch ein bißchen rausfuttern. –

Zu Haus dann konnte ich den

forschenden Augen meiner Mutter

begegnen und bestätigen: Ja, ich hab wieder Kühe gehütet. –

Aber den hunderttausend Ohren des Hafenbetriebs scheint nichts zu entgehen.

Nach geraumer Zeit meinte mein Vater mal so im Vorbeischlurfen: Na, hest de Nees nu vull? –

Ich schwieg betroffen. Er kam aber nie wieder darauf zurück.

Eine Weile noch plagten mich nächtens scheußliche Visionen: Das grausige Plumpsklosett, obschon die meisten sich in Lee über Seite entleerten. Riesige Kakerlaken, Mief und Schmauch und Unflätigkeit im engen Mannschaftslogis (sprich Loggis), wo ich trotzdem in der engen, stinkigen Koje wie ein Toter schlief. Am bedrohlichsten jedoch der Goliathskloben von Bootsmann (hieß er nicht Piggel?). Der schlug sein Wasser ohne Umschweif in seine hohen Stiefel ab als Mittel gegen Frostbeulen. Gelegentlich, dem Nachschub Platz zu machen, goß er sie rücklings über seine Schulter aus und möglichst dorthin, wo ich mich gerade befand.

Das ist alles, was ich mir von jenen Vorgängen heraufzaubern kann aus dem vagen Zwielicht der jungen Tage. Alles weitere ist fiebrig verwischt und durchflutet von ungestalt flüchtigen Schemen, die ich anderweitig nur mit angekurbelter Phantasie gestalten konnte. Ich denke aber, das Heraufbeschworene genügt, die Meinung meines Vaters bekräftigt zu finden, Seefahrt sei nicht das Richtige für mich.

Mein Schattentheater hatte mich früh von einigem Spuk erlöst, durch Sichtbarmachung beschworen und gebannt. So ähnlich geschah es ohne viel Überlegung auch diesmal. Indem ich mich wieder den Büchern zuwandte, schuf ich mir mein

erstes Exlibris

Es war auch das erste Mal, daß ich ein Schnittmesser ansetzte. Mein erster Linolschnitt entstand, nur 7 mal 5 cm groß. Und was stellte er dar? Einen Fischdampfer.

Alles Abgetane neigt zum Gegenteil. In den nächsten Sommerferien jedenfalls folgte ich dem Vorschlag zweier Klassenkameraden, zu denen ich sonst kaum Verbindung gefunden, mit auf Fahrt


gen Süden

zu gehn. Wir durchstreiften Rhön und Spessart, Schwäbische Alb, Taubertal, Neckar, Schwarzwald, Odenwald, Bergstraße und Vogelsberg auf die damals beliebte Art des Zupfgeigenhansls. Und lernten dort jenseits des Mains das Idyllische kennen, das uns Küstenknaben bis dahin nie vors Gemüt gekommen war, das Malerische des Katholischen, die wunderliche Spanne, Spange und Spannung zwischen der Qual des Kreuzgehenkten und der Lieblichkeit der Madonnen. Wir gingen wie in einem Traumspiel durch die Gassen Miltenbergs und Wertheims, wir, die doch aufgewachsen waren zwischen der Rauheit der See und dem Qualm und Lärm des Hafens in der grauen Öde von Barmbek und Hammerbrook, wenn auch nicht in der heutigen, kaum weniger gefühlstoten Architektur. Ich höre beglückt, wieviel Altfränkisches im Süden den alliierten Bombern entgangen ist.

Wir gelangten auch nach Rothenburg ob der Tauber und fühlten uns in die Ritterzeit versetzt, zu völligem Genuß noch kaum befähigt:

Erst lag es taltief,

dann turm- und dachreiter-gegipfelt.

Wir trampten albhinab und empor,

schwitzend und jung und dumm. Da rief

ein Ortolan nach einem Vesperchor.

Uns lechzte nach Beefsteak und Elbschloßbräu.

Am Kobolzellertor

wippte ein Schillerfalter.

War hier etwa Weimar oder Schwaben?

Nein: Fränkische Kunde und Mittelalter

unvergraben!

Und das gab es noch? Bürgergeborgensein

gegiebelt, geriegelt, geerkert, bebrunnt?

Neu

schienen nur zwei Mädchen und ein Hund.

Und der Wirt Zum Stern oder Stachelschwein

(oder war’s Zum Lamm?) beschürzt, bezipfelt,

brachte zeitlos Brot und Wein.

Meine beiden Gefährten waren sehr unterschiedlich, aber unverdrossen heiter. Otto Tewes, blond und rank, bezirzte manch Quartierstöchterlein, sich selbst am Klavier begleitend, mit Löwes »Tom der Reimer«, ohne daß Annäherungen sich ergaben. Man war damals noch sehr spröde. Er war in Barmbek schon Leiter eines Volksheims und hatte gewiß viel Zukunft, fiel aber 1914 als Freiwilliger in Ostpreußen. Der andere, Alfred Klopsch, ein behäbiger, stiller Schneiderssohn. Er überlebte und schrieb mir nach seinem Achtzigsten, eben vorm Hinscheiden, noch im Gedenken an unsere damaligen Unbekümmertheiten und daß wir mitsammen Theater gespielt, rückblickend: »Wir alle waren damals (1912) erstaunt über Deine Leistung der Regie; wohl kaum einer hätte Dir verschlossenem Einzelgänger soviel Schwung zugetraut.«

Unser Ordinarius (mit dem Spitznamen Jockel), dieser drahtige, großäugige, spitzbärtige, schmächtige Dinarier, gewesener Austauschprofessor in Persien, entsprechend durchlüftet, sprachenkundig und Lebensreformer, erteilte mir nur zweimal ein: Sehr gut! – und nur unter argwöhnisch gehißten Augenbrauen. Einmal für einen Aufsatz über den Ritterpoeten und Humanisten Ulrich v. Hutten. Zum andern über den Rebellen und Dichter Nikodemus Frischlin, einem Vorläufer sozusagen Freiligraths, von Behörden und Neidern verfolgt, Universitätslehrer, Hofbesinger, allzu aufrichtig, eingesperrt. Bei einem Fluchtversuch aus der Feste Hohen-Urach zu Tode gestürzt, erst dreiundvierzig Jahre alt. Er war wie ich am letzten Sommertag geboren. Theodor Jaeger glupte mich an wie ein Uhu die Maus: Bilden Sie sich nicht ein, an ein derartiges Schicksal heranzureichen! –

Lob und Dank! Die Vorsehung hat es verhütet.

Aber schon rumorte in mir die Neigung, wie Frischlin dramatisch mit menschlicher Größe und Schwachheit zu jonglieren. Er war vormärzlich vom Lateinischen zu seinem deutschen Schauspiel »Frau Wendelgard« gediehen, das ich aber vergebens aufzustöbern suchte. Denn ausgerechnet mir hängte man auf, ein Stück vorzuschlagen zur Feier des zehnjährigen Bestehens unserer Anstalt. Und es auch – o Himmel – zu leiten. Meine beiden Vormänner hatten nämlich abgelehnt und hofften sichtlich auf meinen Reinfall. »Frau Wendelgard«? – Nein, entschied Jaeger: Das ist eine Liebesgeschichte und paßt nicht hierher. Also bitte keine Damenrollen! –

Schließlich geriet ich an das Fastnachtspiel von Hans Sachs:


Der Kaiser und der Abt

schon wegen der beiden Titelrollen. Tewes sah sowieso aus wie der Bamberger Reiter. Und Klopsch mit dem runden Gesicht ergab mit bäuchiger Ausstopfung einen prächtigen Klosterbruder.

Die Kostüme entlieh ich unverfroren vom Thalia Theater, zwei Schließkörbe voll mittelalterlicher Tracht nebst Zubehör, die Schar Ritter, Knappen und Landsknechte auszurüsten. Des Abtes Mundschenk spielte geschickt – wie später einmal den persischen Gesandten – Hans Podeyn, eines Straßenbahners Sohn. Zur Auflockerung ließ sich eine Tanzgruppe des Mädchenseminars herbei, hübsch in zeitloser Dirndl-Tracht. Ich verfaßte ein Landstörzerlied und einen Prolog, den ich sogar selber sprach, zeichnete das Programm, malte Plakate ... Alles gelang wie ein Puppenspiel an unirdisch gelenkten Fäden.

Als Bühne wählte ich einen geräumigen ansteigenden Rasenwinkel in jenem Gartenlokal Groß-Jüthorn, dessen ich mich von einem früheren 1. Mai-Ausflug entsann, gleich hinter dem Wandsbeker Gehölz. Der kunterbunte Aufzug vor schütterem Laubwald, die strahlende Sonne, das eindringliche Spiel ... Der Unsterbliche des Gefildes, der Wandsbeker Bote, mag zutunlich gelächelt haben, milder als unser Professor, der sich – nie um Rat gefragt – nun als St. Jokelius spitzköpfig und ziegenbärtig auf einem Marterl prangen sah. Zum Entgelt rügte er mich, die Worte meines Prologs »Schwung« und »jung« allzu hamburgisch mit »k« gesprochen zu haben. Was tat’s! Ich hatte mich vor mir selber bewährt, zu meinem eigenen Erstaunen. Und fiel nun wieder zurück in die gewohnte Teilnahmslosigkeit und wäre fast durch die nicht mehr ferne Abschlußprüfung gerasselt.

Beim Entlassungsabschied sagte der Direktor jedem seiner Zöglinge ein väterliches Wort. Werden Sie ein großer Künstler und ein guter Mensch! sagte er zu mir. Da war mir, als erwache ich plötzlicher als der Jüngling zu Nain. Welche Forderung: Groß und auch gut sein zu sollen! Natürlich war es gütig gemeint und war dennoch wie ein voreiliger Eingriff in einen biologischen Prozeß, in eine noch höchst ungewisse Entwicklung.

Ab Ostern 1914 also hatte ich einen Beruf, ohne die Berufung dafür zu fühlen. Was an Jahren zuvor in gefaßter Benommenheit hin vertorkelt war, ballte sich nun zur

Bedrängnis

Ich sollte Schüler unterrichten, indes ich mich gerade erst jetzt als Schüler unabsehbarer Zukunfts-Ansprüche fühlte. Was hatte der zermürbte Heinrich Wolgast noch zu guter Letzt gelächelt: Werden Sie eines Tages glücklicher als ich! –

Die Behörde wies mich in den Stadtteil Rothenburgsort. Tröstlich war das nicht. Zuviel Fabrikqualm, öd-graue Beton-Wohnkasernen, zu den Elbbrücken lärmend wachsender Autoverkehr. Der Schulleiter ein kleinlicher Pedant. Gebäude und Einrichtung nicht besser als zu meiner Kinderzeit. Die Klassen überhäuft, die Knaben, Söhne von Hafenarbeitern, Handwerkern, Zöllnern, kleinen Angestellten und Geschäftsleuten, waren zumeist brav und säuberlich, einige aber mit Recht leicht aufsässig. Denn was der Lehrplan ihnen zumutete, war noch weitab von Vorstellungen Heinrich Wolgasts. Kollegen und Kolleginnen waren nett, aber wie ich zumeist mit sich selber beschäftigt. Ich gedieh zu keiner Beziehung. Ein Fräulein Anna Jacker schien von größerem Horizont. Ich erwähnte Rothenburg ob der Tauber. Welch Gegensatz! – Sie verfinsterte sich jäh, quittierte bald den Dienst und ging nach drüben, in die USA, war dort lieber Zimmermädchen als in Hamburg Lehrerin. Wir schrieben einander bis heute, wo sie als Witwe eines Bankbeamten in Karlsruhe lebt.


Auch ich spielte mit Plänen endgültigen Ausbruchs, und sei es erstmal als Urwaldredakteur und Schulaufbauer in Venezuela. Der Posten war gerade angeboten. Und du willst etwa allein? – Meine Freundin Liane verbat sich überhaupt und gründlich solche Hirngespinste. Sie schien von meinen ersten verdienten Goldstücken geblendet. An meinem einundzwanzigsten Geburtstag, wo man dem Bürgerlichen Gesetzbuch nach mündig wurde, holte sie mich mit einem riesigen Rosenstrauß von der Schule ab. Sollte ich nicht gerührt sein? Schweigsam überwanden wir die lange Strecke Heidenkampsweg, Berliner Tor in die Straße Reismühle. Dort wohnte jetzt die Familie, billiger und stiller als in der Alexander Straße, wo die Mieten gestiegen waren. Der Strichund Dirnenbetrieb hatte sich von der Gegend Hauptbahnhof ausgebreitet. Noch zur Seminarszeit hatten mich nächtens pausenlos zingelnde Orchestrions, Tanz und Gelagelärm im Schlaf gestört.

Liane stieg, turnvereins-behende und zielsicher, die beiden Treppen mit hinauf. Doch vor der Wohnungstür zögerte sie. Ich klingelte.

Meine Mutter öffnete und sagte sanft: Kommen Sie gern herein! –

Aber Liane drückte ihr den Strauß in beide Hände und enteilte.

Meine Mutter neigte sich über die üppige Duftfülle, blickte dann zu mir auf undnickte: Noch sind es Rosen ... Bemüht lächelnd vollendete sie den Satz nicht. Sie wollte mir keine Dornen weissagen. Aber dann äußerte sie leise wie zu sich selbst: Sie hat kalte Augen. –

War es das? Die übergroßen grauen, schwarz bewimperten, die mich von einem Karussellrappen herab blitzartig betört hatten? Und seitdem wie Polypententakeln an mir sogen? Die anfangs maßlos Geliebte und Liebende, sie ahnte, ich, der unreif Versponnene, begann, ihr zu entgleiten. In drei Jahren bist du pensionsberechtigt, sagte sie eisig: Dann wird geheiratet. Das hast du mir versprochen! –

Wie mir dabei zumute war, spiegelt sich in ein paar Strophen, entstanden das Jahr zuvor auf einer einsamen Ostseefahrt:

Schon sinken lilablaß geflacht

der Ufer bunte Würfelbecher,

schon trink ich Meerwind, ein gelaunter Zecher,

mein Blut erschallt, mein Ferntraum ist erwacht.

O Traum von Ferne, wo die Palmen pfeilern

bei Zelten, weiß an Halden aufgestaut,

von unerhörter Sonne steil umblaut,

in Nacht gepfercht, wo grell die Dünste meilern.

O Traum von Ferne, wo die Wüsten schauern,

verknirscht der Fuß dem Sande angezäumt,

das Blut in Fremdheit einsam sich verschäumt,

in weiter Welt eng in des Körpers Mauern.

O Traum von Ferne, wilder Tage Traum,

o Manneskampf mit blitzenden Gefahren,

o Jagd und Faustrecht nach dem Wunderbaren,

o aufgeschleudert Herz! O ungeheurer Raum!

O Traum von Ferne, ungehemmte Fahrt!

Verwettert und gebrannt in scharfen Falten,

verfemt, ruhlos, in hunderten Gestalten,

vergottet und verludert. Irgendwo verscharrt.

Die Wolken reigen, wie wenn Gott befiehlt.

Es taumeln ihre Farbenschmetterlinge

den Wellen zugespielt in gleitend ewigem Ringe.

So bin ich dir, o Ferne, zugespielt.

Das eisige Fischdampfererlebnis war umgeschlagen in die uralt nordische Sehnsucht nach Sonne und rücksichtsloser Entfaltung, terroristisch überheblich bis zur Selbstzerfetzung. Ungegoren romantisch, nicht wahr? Oder auch vorahnend die einsetzende allgemeine Zerrüttung der Welt?

Inzwischen war Krieg

Mein Gestellungsbefehl schob weitere Erörterungen hinaus. Als Bürger meiner Vaterstadt hätte ich im Infanterie-Regiment 76 einrücken können, hütete mich aber, der Vorsehung den Weg zu verlegen, und folgte der Einberufung zur Garde nach Berlin. Hoffte zudem, im Strahlungsbereich des Generaldirektors der dortigen Museen und Galerien, Exzellenz Wilhelm v. Bode, wenn nicht dem guten Menschsein, so doch dem Künstlerischen näher zu rücken, obschon beides in einem Feldzug kaum Platz hat. Lichtwark war im Januar verstorben. Hamburg war ärmer ohne ihn. Ich kannte die Reichshauptstadt noch nicht. War sie auch nicht die ganze weite Welt, so doch ein Zipfel davon.

Kommiß

das galt in Hamburg noch weniger als das, was Kunst heißt. Senator, Konsul, Kapitän, das waren Titel, die jeden militärischen Rang weit hinter sich ließen. Der Geist von Potsdam machte halt vor unserem geschlossenen Wappentor und spukte draußen als Popanz und Gespenst. Kriege, das waren doch nichts als piratische Greuel, an denen zu verdienen man keineswegs abgeneigt war, nüchtern das Risiko bedenkend.

Wohl hatten wir Jungs (bis 1914) jeden 2. September unsere Ehrenpforten gebaut, einen Sandhaufen mit eingesteckten Pappsoldaten, und Pfennige zusammengebettelt für ein Feuerwerk zu Unehren eines bei Sedan gefangenen französischen Kaisers. Kindlich glorreiches Schlachtenkrach-Echo. In der Schule hatten wir entsprechende Lieder gelernt: »Der Hauptmann, er lebe/ er geht uns kühn voran/ Wir folgen ihm mutig/ auf blutger Siegesbahn ...« Oder: »Drei Kolonnen Fußvolk, vier Batterien, wir haben sie niedergeritten ...« Oder: »Wie Grummet sah ich unsre Leute/ der Türken Glieder mähn ...« Oder: »Kein schönrer Tod ist in der Welt/ als wer vorm Feind erschlagen ...« Und, zur Unterbindung jeglichen Disziplinvergehens, Chamissos »Es geht bei gedämpftem Trommelklang ...«

Solche frühen Anregungen zu einem mörderischen Heldentum nahm man als Knabe hin, ohne viel dabei zu denken. Ihre Nachwirkungen erleichterten manchem das erzwungene, das gesetzliche Soldatseinmüssen, für das die Kirche und ihre Feldprediger auch noch den Segen hergaben. Als im Spanischen Bürgerkrieg der jüngere Bruder des Cellisten Casals eingezogen werden sollte, verhalf ihm die Mutter zur Flucht über die Grenze. Und sie sagte: Ich hab meinen Sohn nicht zur Welt gebracht, damit er zum Mörder werde oder selber auf scheußlichste Weise ermordet wird. –

Europa hatte lange Ruhe gehabt, und die Regierungen hatten Unmengen des Volksvermögens in Thronglanz, Kolonienschröpfung, Prahlerei und Regierungsangst in Kasernen, Armeen, Schlachtflotten und Aufrüstungen vergeudet, nicht ohne die Pläne auszuarbeiten für etwaigen Ernstfall. Alles Gelernte drängt zur Anwendung, so auch der gelernte Massenmord. Militär bedeutet lauernde Tragik. Das allgemeine Wettrüsten deutet auf Weltuntergang. Wenn auch teilweise kärglich, hatte doch jeder Arbeitswillige zwischen Nordkap und Gibraltar sein Brot gehabt. Die lauter werdende Forderung nach Gleichheit des Lebensstandards dämpfte sich nun eine Weile in der Gleichheit des Massengrabes.


O schöner Soldatentod

sang schon im voraus der ehemüde Hermann Löns. Es war auf Südwest-Afrika gemünzt, für dessen Schutztruppe er als untauglich zurückgewiesen war. Es ging ja nun auch näherbei.

Wir sangen es gerührt mit, noch besonnt vom Heldentalmi des Spiels mit Bleidragonern und zierlichen Kanonen, die, wenn’s hoch kam, mit Erbsen schossen. Wie sollten wir ahnen, was dahintersteckte an Qual, Elend und Scheußlichkeit.

Die Menschheit war von patriotischem Haber gestochen, der so gern die Form von Geschossen und Granat- und Bombensplittern annimmt.

Hurra denn! Hurra! Und Marschmusik in allen Lüften.

Aber dem

Haßgesang gegen England

des rührigen Ernst Lissauer vermochte ich nicht beizustimmen. Zwischen Elbe und Alster lag uns das von Fontane angekreidete Kattun-Christentum der Vettern jenseits der Nordsee wesentlich näher als den Spree-Athenern. Bestürzend aber wirkte auf mich die eben erschienene Vision des heimischen Schulmeisters Lamzsus, »Das Menschenschlachthaus«, unparteiischer geeignet, das hereingebrochene Unheil zu kennzeichnen. Meine Phantasie zögerte nicht, sich dem anzuschließen. Zugleich aber wuchs mein Entschluß, der Sachlage nicht auszuweichen, sondern sie als Vorwurf anzusehen, sie zu betrachten wie der Maler sein Objekt, als etwas im doppelten Sinne Vorgeworfenes, es zu bewältigen, zu widerlegen und darzustellen. Laß werden, was will, sagte ich mir: Du bist Betrachter und enthältst dich des lauten Urteils. – Sicher aber kannst du dem Vaterland lebendig besser dienen als durch Metzelei oder als Krüppel oder tot.

Es ist leichter, brav zu sterben, als wertvoll zu leben.

Indes ein Drückeberger wollte ich auch nicht sein. So denn überließ ich mich dem Kurs des Schicksals.

In Berlin wurde ich dem Ersten Gardegrenadier-Regiment zugeteilt, den wegen ihrer weißen Beschläge so genannten Mehlsäcken. Die Garnison in Potsdam lag mir zu weit ab der ersehnten Galerien, und ich hatte das Glück, mit einem Schustergesellen tauschen zu können, der zu den Gardefüsilieren sollte. Diese hießen im Volksmund

Maikäfer

Vielleicht waren sie mal bei einer Maikäferplage eingesetzt worden. Wo sie auftauchten, wurden sie mit sumsenden »Bs« begrüßt. Hatten zudem in der Affäre Hauptmann von Köpenick für Gelächter gesorgt. Kurzum, sie waren beliebt, stellten auch zumeist die Schloßwache. Die Zeit der vormals gepflegten Langen Kerls war vorbei. Die Maikäfer waren von ziemlich gleichmäßig mittlerem Hochwuchs, den Kaiser nicht zu sehr überragend. Ich wurde gleich Flügelmann.

Da war ich nun den behäbigen Holsteiner Bauernburschen beigesellt, und aufs angenehmste war da jeder für sich erstmal nur er selber und reihte sich dennoch notgedrungen geduldig in Joch und Kummet und Geschirr wie daheim das liebe Vieh. An Muskelkraft ihnen unterlegen, ersetzte ich’s durch Gewandtheit.

Vorerst wurde Präsentieren geübt und ein Parademarsch mit aufgepflanztem Bajonett für die erwarteten Siegesfeiern. Zum Einsatz an der Front würde dieser Novemberhaufen bestimmt nicht mehr gelangen. So dachte man bis in den Generalstab, erklärte uns unser Spinner, der Unteroffizier, der schon draußen gewesen war, im Osten irgendwo, gelernter Buchdrucker, der zwei Finger verloren hatte und vielleicht seinen Beruf, aber den strammen Max markierte, weil er gern Feldwebel werden wollte, Spieß sogar, militärischer Bürohengst, möglichst auf Heimatposten.

Und zu Weihnacht durften wir auf Urlaub, schon in Feldgrau.

Es war noch duster, als ich anlangte, hatte auch gleich eine bemerkenswerte

Begegnung

Die große Stadt lag tot und leer

die Nacht, als ich auf Urlaub kam.

Die Mauern dröhnten wundersam

von meiner Stiefel Wiederkehr.

Da kam mein Vater noch vor Tag

die graue Straßenschlucht entlang,

ging seinen Werktag-Mühegang

so klein und alt, daß ich erschrak.

Ich lebte noch und war gesund

und reckte mich so vogelfrei.

Er sah kaum auf und ging vorbei

und murmelte: Du armer Hund! –

Potz Heldentum und Not und Tod!

War’s Mitleid? Lag Verachtung drin?

Eh ich mich faßte, schwand er hin

in Hafenschwalch und Morgenrot.

Anderntags fuhr ich mit Liane in die Heide. Wir gerieten zufällig an die Hütte, deren Innenraum ich für den Seminarleiter hatte wiedergeben müssen.

Hoppla, mein Hausschlüssel paßte ins einfache Schloß. Ein sanfterer Einstieg als dem Kommiß seit alters angemessen. Auf dem Rückweg zur Bahn durch leicht verschneites, alt vertrautes Gelände war es dann fast so schweigsam wie ein Vierteljahr zuvor auf dem Heidenkampsweg. Ich sann nach, woher die Bezeichnung stammen mochte. Welche Sorte Heiden hatte dort kampiert? Vorfahren vielleicht, Heimatlose auf der Suche nach Halt und Bleibe wie sie und ich? Nicht nur in Furcht vor Verkommen und Umkommen?

Ich spürte die immer drückendere Umrankung durch diese Liane, ihre saugend erstickenden Küsse, ihre Unersättlichkeit, ihren


jähen Umschwung

von Märchen-Niedlichkeit ins Triviale. Wer weiß, ob ich wiederkomme, dachte ich laut. Die einsame Gegend schien ihr geeignet, wild zu schreien, zu weinen und meine schwächlichen Beklemmungen zu zerstampfen. Was war da zu entgegnen? War doch alles in der Schwebe, ungewiß, nebelhaft, ja, gänzlich schlafwandlerisch. Nun hier im Unwegsamen die knallende Forderung: Du hast etwas zu werden, meinetwegen, und mußt wiederkommen, sonst nichts! –

Und ich war doch gerade recht zufrieden gewesen, der ungeheuren Aufbürdung durch die Abschiedsworte Lepziens nun beim Militär enthoben zu sein. Als Soldat braucht man mit den Begriffen Guter Mensch und Künstler seit alters her nichts gemein zu haben. Auf denn! Zurück nach

Berlin

Der bunte Zauber unserer anfänglichen Uniform, das Preußischblau, die weißen Gardelitzen auf rotem Grund, die silbernen Helmspitzen, der Stern vorne drauf, Kinnkette und blitzender Rand, die silbernen Knöpfe, die reingelben Achselklappen, die lackschwarzen Koppel mit gleißendem Schloß, dieser ganze Zirkus Sarrasani, wie jemand es nannte.

Ab 1915 war alles bis in die Stäbe griesegrau, grabesfarb- und freudlos wie die anrollende Lawine der Umweltverschmutzung. Man war an der Front zu hübsch Zielscheibe gewesen bei der neuen Reichweite der Vernichtungswaffen. Die Verluste waren ungeheuer. Los mit dem Ersatz! Es wurde eiligst zum Abmarsch gerüstet. Munition empfangen, eiserne Ration, Verbandspäckchen, Sandsack, Feldspaten, Stacheldraht-Schere und – nicht zu vergessen – die münzenkleine graue Scheibe aus Aluminium, die Erkennungsmarke, der Leichenorden, der an dünner Schnur auf der bloßen Brust zu tragen war. Ich sah sie mir an, wollte mir die eingeprägte vielstellige Zahl merken, sie flimmerte auf meiner Netzhaut und zerrann, als wolle sie sich jeder Deutung entziehen. Abergläubisch wie jeder Küstenbewohner, hielt ich’s manchmal mit der Zahlenmystik. Die 4 war mir genehm als dem Jupiter-Stemzeichen ähnlich, die 8 als aufgerichtetes Unendlich, die 7 aber heilig wie eh und je. Das ließe sich weit ausspinnen.

Der graue Mantel wurde wurstförmig übers Kochgeschirr und den elend schweren Tornister gerollt. Angetreten in Linie zu zwei Gliedern! Abzählen! In Gruppen linksum ... marsch! –

Ade also!

Aber im letzten Augenblick nochmals: Haaalt! –

Der dicke Spieß trippelte vor die Frontgeweihten und verlas ein paar Namen. Meiner war dabei. Wir mußten vortreten und zurück auf Stube. Die andern verschwanden durchs graue Tor des Kasemenhofes auf Nimmerwiedersehn. Sie wurden wenige Tage später beim Kampieren von Kosaken überrascht. Keiner kam davon.

Die Zurückgebliebenen hatten nun einen

Offiziers-Kursus

zu absolvieren. Sie durften privat außerhalb wohnen. Die Strohsäcke der Kasemenbetten wurden vom anschwellenden Nachschub benötigt.

Wir mieteten ein Zimmer nahebei, gegenüber dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, dritter Stock, Klaas Deterts und ich. Er, rotbäckiger Müllerssohn aus Ostfriesland und Schulmeister, war der Nächstlängste neben mir.

Unsere Logiswirtin: Rennstallbesitzers-Witwe Stolzenberg, bejahrte Fülle, Häubchen schwarz auf grau-schütterem Haar, quellend vorwurfsvolle Augen und die nagende Stimme derer, die bessere Tage gesehen. Ihr Abbild in klein war Fifi, ein übermästeter Zwergpinscher, unentwegt dünn kläffend. In ihn schien das Vermögen und Gestüt des Hausherrn hineingeschrumpft. Eigentlich hätte ich mit Schalli Müller, einem Hamburger Milchmannssohn, ins Gemeinsame ziehen sollen. Aber Landsleute vertragen sich selten. Müller tat sich mit einem anderen Ostfriesen zusammen.

Ein durch Fußschuß leicht behinderter, höchst scharfer Feldwebel leitete unsere nun vorrangige Gefechtsausbildung, und es ging heiß her, so daß wir nach dem Dienst kaum die vielen Stufen in unser Quartier entern konnten. Den theoretischen Teil besorgte ein adliger Oberst, preußisch kalt und kalkig, auf tadellose Haltung erpichter als auf tiefgründige Kenntnis. Nur einmal ein Abschweifen und sicher mehr warnend als erbaulich gedacht. Er hatte eben Nachricht erhalten über einen gewissen Zamba, Kameruner Neger, der im Jahr meiner Geburt ans Regiment gelangt war und es bis zum Unteroffizier gebracht hatte, immerhin Untertan seiner Majestät. In der Schutztruppe seiner Heimat, der deutschen Kolonie, wurde er sogar Feldwebel. Schließlich aber wegen heimlichen Sklavenhandels (zur Versorgung seiner Untergebenen mit Liebchen und Gespons) abgehalftert. Dann selbstgefälliger Stammeshäuptling. Ende 1914 ging er französischen Verlockungen ins Garn, wurde ertappt und wegen Landesverrats verurteilt und erschossen. Letzter Flitter deutscher Kolonial-Herrlichkeit. –

Achtung! Diesen letzten Satz hätte damals niemand, selbst nicht im Traum, zu denken gewagt. Wie ungnädig doch pochte unser Oberst mit dem Mittelfinger aufs Pult, als einer aus dem Kursus, und gar der wohlerzogene und gescheite Sproß einer Generalsfamilie, äußerte, ein Zweifrontenkrieg habe sich nur selten als kurz erwiesen. Wie nasal zerschmetternd erschnob sich da ein: Bitte, meine Herren, keine negativen Mutmaßungen! –

Der Getadelte mußte erleben, sich in der abschließenden Beurteilung keineswegs als zum Offizier tauglich bezeichnet zu befinden. Man hatte Maul halten zu lernen wie nie zuvor.

Versorgung mit Liebchen ... Das war doch wohl die reizvollere Vokabel im Unterschied zur gesamten Schießvorschrift für Infanterie und den Anweisungen der Felddienstordnung. Einen Zamba gab es für uns nicht, jedoch hat seit Nebukadnezar und Gilgamesch wohl kaum ein Waffenträger sich über Mangel an schöner Zuneigung zu beklagen brauchen.

Da war doch unter unserer fontanisch atmenden Zivilbehausung ein Gemüsekeller, und dort hantierte zwischen Kartoffeln, Sauerkraut und Flaschenbier jung, braungelockt, glutäugig und agil

Betty-Lili


Wir hatten durchs Flurfenster eräugt, wie sie im schmächtigen Hinterhof ein paar Hühner mit zärtlichem Pipi pipi! an den Futternapf lockte, ganz wie bei Goethe in Lilis Park. Seitdem hieß sie bei uns Lili. Der nicht ganz schüchterne Klaas verliebte sich gleich in sie. Ich spürte ebenfalls eine sengende Regung, ja, ich meinte, innerst schon befreit zu sein von einschnürenden Tentakeln; nein, nein, sie reichten nicht bis hier, sie vergingen mitsamt riesiger Iriskreise in der Berliner Kälte des Daseins. Aber Klaas schnappte wie ein ertrinkender Schellfisch, als ich erklärte, ich wolle mit dieser Lili-Neuausgabe den Sonntag in den Grunewald. Da überließ ich sie ihm.

Hatte denn doch auch vor, begonnene Kunststudien fortzusetzen, und vertiefte mich in Arbeiten des wenig bekannten Flamen Jacob de Gheyn dem Älteren, der so zwischen Bosch und Rembrandt irrlichtert. Schon kitzelte mich das Thema einer Doktorarbeit. Ablenkend jedoch tirilierten die geschmeidigen Linien der Gemüsetochter durch die vergilbten Blätter und unverkennbar modern impressionistisch. Watete ich in Moder? Was ging mich das allzu Vergangene noch an? Ich begab mich zur Nationalgalerie, mich gegenwärtiger zu erfrischen.

Es gelang, wenn auch anders, als ich mir vorgenommen. Nicht gerade mit Böcklins Kolossalgemälde »Gefilde der Seligen« wollte ich beginnen, aber mein Schritt verhielt: In die Farbenmaskerade paßte sich wunderlich eine Schwanenfiederwolke. Sie schmiegte sich um den Nacken einer Erscheinung, die mir für mich angemessener deuchte als die entgangene Lili.

Museen als Ort der Anbändelung ähneln sterilen Behördentees. Der Tiergarten war sodann zuständiger, das Herz klopfen zu fühlen. Sie hatte viel Flämisches an sich, als sei sie, mich zu mahnen, einer Gheynschen Grafik entstiegen, stammte aber aus Mecklenburg (wie meine Mutter, die in Figur und Wesen allerdings nichts von Derbheit an sich hatte). Die Schwanenfiedrige war nicht nur blond, sondern groß mit genehmen Kurven. Anliegende Ohren, ja, auch leicht angehobene Nasenspitze bei zierlichem Grat; die Lippen schön geschwungen, der Kopf schmal, auch die Hände, obschon so, als könnten sie kräftig zupacken. Wenn sie nicht sprach, sog sich ihr Mund leicht nach innen, als wolle sich ein verräterischer Zug verbergen. Das meinte ich auch bei meiner lieben Mutter beobachtet zu haben.

Was mich unversehens betörte, war ihre Stimme; die glich den Anläufen einer Bö aus Nord, gemischt mit südlichem Zephir.

Die Dame hieß? – Ich muß bekennen, ihren Nachnamen hab ich nie erfahren. Wir hatten uns wie Kinder alsbald unserer Vornamen bemächtigt. Sie hieß

Marleen

Und darin lag für mich genug, um rettungslos zu versinken. Marleen – Meerlan und der Zauberer Merlin und die Marlien, die aus zwei Garnen zusammengedrehte Leine zur Segelbefestigung an Rah und Gaffel. Das war Zauber genug, mich blindlings zu fesseln. Aus zwei Garnen zusammengedreht und verdreht. Und das Segel befestigt, noch eben gebändigt mitten im Windsausen der Epoche.

Und so auch, wenn sie den Mund öffnete: Die Eschenzweige knospen noch nicht. Eine Weile hin. Der Türklopfer, das Spiegelnde dort, nur Rückschlag. So gehen wir hindurch. –

Klang das nicht ähnlich sprunghaft und spinnig, wie es mir bei mir seit je verdächtig war? Die grimmligen Wege der Anlagen führten durch leise ergrünende Triumphbögen glatt ins Elysium, so war mir. Ach ja, das betagte Spiel, das mir doch noch ziemlich neu war. Außer Liane hatte ich keine gekannt.

Und so gerieten Studien, Galerien, Kasernen, Kunst, Schlachtfeld und Vaterland ein bißchen ins Hintertreffen. Melusinisch ihre blaugrünen Augen, weicher als das harte Grau Lianens, heller gebettet, abseitiger, einsamer, unergründlicher. Etwas Meereshauch im Duft. Meine Nase ist empfindlicher, als mir gelegentlich zupaß ist. Sie merkte es und erklärte wie abwesend, sie sei ihrem Vater, einem Militärarzt, nach Berlin gefolgt und als Hilfsschwester in einem Lazarett tätig, zumeist als Nachtwache. So war denn ihr die Aura eigen aus Bettwäsche, Seife, Jod und Kreosot, den Seelüften verwandt, der leicht mandelbittere, trocken sengende Geschmack der Desinfektion, darin – so wußte sie – der Teerosenhauch des Guajakholzes sich verbirgt und das Beklemmende aus Buchenteer. Sie erwähnte es wie aus einer Unterwasserlandschaft hervor, die zwischen den Tropen und ihrer heimischen Ostseeküste lag, und ich spazierte neben ihr, weit unterm Wogentumult der Ereignisse. Soweit meine Phantasie.

Der Invalidenpark, das Invalidenhaus, die Invalidenstraße, der Invalidenfriedhof, das war krasse Wirklichkeit und mußte als Nebenbei wahrgenommen werden, und daß die Invalidensäule aussah wie ein Stelzfuß-Monument:

Wer jemals schaute klaglos zu,

wenn die zuckenden Schlachten

Glieder, Haupt, Bauch und Brust

der Väter und Söhne

zerfetzen?

Wer in den donnernden Horizonten

schrie nicht auf aus bitterster Lust:

Sei, Vaterland, du

der größere Schlächter!

Zerstampfe die Saaten,

daraus des Menschen friedloses Trachten

sich nährt, die Städte tilg aus, die das Entsetzen

nicht bannen konnten!

Auf daß ein Neues werde

und aus dem Blutsumpf der Erde

schöne,

heitere Geschlechter

ersprießen zu klügeren Taten!


So ähnlich äußerte sich in maßlos kühler Einfalt und Einsicht sie, die im Hilfsdienst des Lazaretts noch nicht genügend für ihre Tätigkeit abgebrüht war.

Schon gab es neue Invaliden in vormals ungeahnten Scharen. Genesende vom nahen Garnisonshospital, Augenlose, von Schwestern geführt. Uniformen, denen man Front und Reinigung ansah, Amputierte, sich selber im Rollstuhl voran hebelnd. Einer ging grinsend vorbei, ohne Nase und Oberlippe. Einer, ohne Arme, wurde von einem Wärter gefahren. Marleen erriet meine geheime Befürchtung, Auge oder Hand zu verlieren; denn noch schwebte mir vor, Maler oder Kunstwissenschaftler zu werden. Jeder Seefahrttraum war verweht, als sei er längst im Atlantik oder im Gelben Meer als mein vormaliges Ich ertrunken.

Einmal haben wir

ein paar Frühlingszweige

mit auf mein Zimmer genommen (Klaas war nicht da) und eine Flasche Burgunder. Sie wartete nicht, bis diese entkorkt war, ließ unversehens ihre Kleider fallen, lehnte sich an den warmen Kachelofen. Sie wußte, wie gut sie gewachsen war. Der Burgunder blieb unberüht.

Die Schlummermutter war mit Fifi auf Kaffeeklatsch. Schalli Müller hütete mit ihrer pummligen Nichte deren Kämmerlein, nicht das Haus. Klaas war mit Betty-Lili unterwegs. O Liebe, o ungeheuerliche Brandung jenseits aller Erfaßbarkeit und Vernunft!

Die Tante kam voreilig heim. Es setzte eine gellende Predigt. Begossen standen wir zu viert im ungastlichen Flur und drehten unsere Gesichter weg von den schrägen goldumrahmten Spiegeln.

Aber Marleen raffte sich auf aus unserer Beschämung und stieß märzenkühl und durchdringend redlich hervor: Oh, die Palmkätzchen! Liebe, bedenken Sie ... – Ihre Stimme versagte wie bei einer schrecklichen Vision.

Schalli, als könne er Gedanken lesen, ergänzte: Das eventuelle Massengrab. –

Da schwieg selbst Fifi und wandte sich zur Küche.

Ein andermal sahen wir uns noch auf jener Bude, die Schalli mit seinem Ostfriesen Pridath innehatte. In Gesellschaft weiterer Mädchen. Marleen saß unbeteiligt im eifrigen Geplänkel. Plötzlich versagte die Gasbeleuchtung. Man suchte nach Groschen für den Stundenautomaten, der sich im Keller befand. Alle, bis auf uns beide, stürmten hinunter, wollten auch frisches Bier holen oder so was.

Marleen schluchzte an meiner Schulter, untröstlich, unansprechbar. Wir gingen betrübt von dannen, eh es wieder hell wurde. An der Bushaltestelle sagte sie gefaßt: Ade solange! – Und fügte jäh heiter auflachend hinzu: Nein, nein, keine Sorge! Leb wohl! Die blasen gleich Zapfenstreich. –

Ich konnte sie nicht begleiten. Denn auch die nicht Kasernierten mußten um zehn Uhr abends die Straße räumen. Ich stand im Drill und hatte tatsächlich den Ehrgeiz, nach soviel Schinderei die niedersten metallischen Achselstücke zu gewinnen. Ade solange?


Schon

anderntags

standen die Kursusteilnehmer zu feldmarschmäßigem Appell angetreten, an die vierzig Mann, Studenten, Kandidaten aller Sparten und Fakultäten in tadelfreier Linie zu einem Gliede. Der Etatmäßige, füllig wie eine Dranktonne und an der unteren Grenze des Gardemaßes, nahm stramm Erläuterungen einer abseits lauernden Inspektionsgruppe entgegen, uneingeschüchtert durch die hohen Ränge, deren Mäntel hell waren wie die dem Volke verheißene Zukunft. Die silbrig blitzenden, überlangen Helmspitzen stachen wie Blitzableiter ins Weltgewitter und ritzten doch nur den grauen Zenit und unsere Besorgnis.

Endlich löste sich der Spieß. Zügig wie auf Trommelstöcken schnüffelte er unsere Reihe entlang. Die suchen einen Dummen, zischte neben mir Klaas Deterts durch die Zähne. Da kam der Depot-Gewaltige zurück und schmetterte: Flügelmann, vortreten! –

Ich bin’s zwar nicht gewesen, sagte ich mir, aber der Bibelspruch: Wer denn hat größere Liebe, als daß er sein Leben lasse für seine Freunde ... durfte auch auf dem Schindanger des Exerzierreglements gelten.

Weiter unten im Gliede ward noch jemandem befohlen, drei Schritt ins Ungewisse zu tun. Auch dort mochte geflüstert worden sein. Dann trommelte der Dicke sich dicht zu mir heran, blickte mich starr an und knatterte: Ihr Vater? –

Schauermann, Herr Feldwebel! antwortete ich mit dem berechtigten Stolz meiner Welthafen-Herkunft.

Er zuckte seine von Silberlitze eingerahmte doppelt beknopfte Achselklappe und stöckelte zu dem anderen Vorgeprellten, einem fast mädchenhaft hübschen angehenden Juristen. Wir hörten den beklommen erwidern: Fabrikbesitzer, Herr Feldwebel. –

Die hohe Kommission beriet sich mit abschätzenden Seitenblicken. Dann wurde mir bedeutet, mich ins Glied zurückzuscheren. Dem andern aber, mit seinen Sachen ins Lager Döberitz abzuschwirren, zur umgehenden Erklimmung der untersten Offiziersstufe, also ohne vorhergehende Feldbewährung.

Er kam sehr bald an die Ostfront, ein Leutnant wie aus dem Modeheft, und fiel beim ersten Sturmangriff. So erzählte mir Schalli später. Und erzählte auch, daß nun endlich das noch 1870/71 übliche säbelgezückte Vorneweg der Zug- und Kompanieführer nicht mehr statthaft sei. Zu viele Offiziere waren auf diese Weise ausgeschieden als beliebtestes Ziel des Feindes oder, wenn bei den Leuten verhaßt, von hinten abserviert.

Uns aber war damals noch eine zufällige Gnadenfrist gegönnt. Es fehlte an Transportraum. Klaas griente: Noch einmal aufgespart. Hätte Lust, stante pede zu den Sozis abzuhaun, linker Flügel Liebknecht! –

Das war eine Redensart wie manches. Wir von der Wasserkante wünschten nichts als unsere persönliche Freiheit. Kommiß oder Partei? Uniform war beides. Eines genügte.

Die Nacht hatte ich Wache

vom 3. auf den 4. April 1915 am Seiteneingang der Kaserne, Kessel-Straße, wo auch das Kasino lag. Und man gewöhnlich aus dem Präsentieren der Knarre nicht herauskam. Jetzt aber wurde hinter den erleuchteten Fenstern Abschiedsmahl gefeiert. Ab und an erbebten die Scheiben von zündenden Trinksprüchen und Hippras. Mir war nicht danach. Denn als ich pünktlich die Stolzenbergsche Wohnung verlassen hatte, war ich im Treppenhaus auf Betty-Lili gestoßen. Sie wollte wohl hinauf zu Klaas. Jäh aber umhalste sie mich, küßte mich und flüsterte: Bleib hier! Bleib hier! – Und war entwetzt.

Da stand ich nun, mit dem Schießeisen locker über. Um mich herum lauer April, regenfeucht. Von der Chausseestraße her dunsteten Autobus und Siel, vom Invalidenpark keimfrohes Erdreich und aufbrechendes Buschwerk. Der näßliche Bürgersteig spiegelte den Schein einer Laterne. Goldenes Vlies, dachte ich: Wo bleibst du, sagenhafte Helle, darauf mit mir ins ewige Vergessen zu flüchten? – Und ich sagte Marleen und dachte an Lili und sagte Lili und dachte Marleen. Und vergaß fast die Achtungsbezeigung, als der Morgenspieß heraustrat. Leutselig stach er einen Wurstfinger gegen meine sich vorschriftsmäßig wölbende Brust und gackerte: Männeken, bin ooch nur aus janz eenfache Vahältnisse, vastehn Se? –

In diesem Augenblick ging Marleen vorüber, auf ihrem Weg zum Nachtdienst. Sie spähte zu mir hin, verhielt den für ihre Statur so zieren Schritt und kam dann nahe herzu. Ihre Augen irrten wie an einer Klippe entlang, weit weg, ohne meinen Vorgesetzten zu beachten, der genüßlich wartete, meine eingefuchste Haltung eigenmächtig entspannt zu sehen.

Den Gefallen tat ich ihm nicht. Ich sog begierig Marleens fast tonlose Stimme ein. Was war es denn? Sagte sie dasselbe, was da ein paar Tage zuvor mit dem abrasselnden Bus verweht war? Ade solange? –

Schon tipptappte sie auf ihren hohen Absätzen über das Laternen-Vlies davon.

Der Spieß zwinkerte mir zu wie ein Nilpferd, das einen Apfelbaum begutachtet.

Prinzessin Schwanenweiß

knäckelte er. Und ohne Überleitung: Saan Se mal, watt is Schauermann eejentlich fürn Jewerbe? –

Löscht Schiffe, Herr Feldwebel. –

Dacht ick mir doch, nickte er: Wissen Se, Feuerwehr, det is nich satisfraktionsfähig, vaschtanden? –

Jawoll, Herr Feldwebel! – Krachend schlugen meine eisenbeschlagenen Hacken zusammen. Und er entstöckelte mit fast kameradschaftlichem Gruß dem nächtlichen Rumor Berlins entgegen. Ich hatte ihn mal beim Bajonettieren, in das er schwadronierend eingegriffen, weidlich in die Enge getrieben. Sein Groll darüber war sichtlich verraucht. Prinzessin Schwanenweiß... Vielleicht war der Titel des Strindbergschen Märchenspiels von einer Litfaßsäule in sein sonst strikt unmusisches Gemüt geträufelt. Nicht mal ich war darauf gekommen.

Wie beglimmert starrte ich auf die golden sickernden schmalen Fußstapfen in der

Laternenspiegelung

Ade solange! – So lange! Wie lange? –

Mich überrann eine dumpfe Todesahnung. Und stieg mir in die Gurgel. Verdimmichte Beulenpest! In solchen Fällen neigt man zu Galgenhumor oder zur Ergebung in höheren Schutz und Willen.

Dazwischen aber liegt eine dritte Notwehr, die sogar den Moritaten des Bänkelsangs das Grausige nimmt, die das Erwürgende bannt und das Zerstörende verkleidet in Form und Klang: das Schöpferische.

Es erleichterte sich mir zu Gesumme im Gleichmaß der Schritte, die ich zwischen den grauen Torpfosten hin und her pendelte. Der von Kindheit geläufige Singsang rankte sich um die beiden Namen, die mir zugeflogen waren hier in der Fremde Berlins, und als sei daran mein Halt und Talisman. Sie verschmolzen in eins und wurden fast gestaltlos zu einer einzigen Lust und Bedrängnis, liebreich neugeboren zu einer vereinten Erscheinung, nicht Lili, nicht Marleen, sondern Lili Marleen.

Da schwand vor mir der ganze Wust aus Verängstigung und Bängnis. Mir wurde bewußt, ich lebte noch und vermochte nachzuschmecken, was mir so freundlich gespendet worden war. Als seien das die rechten Lockspitzel und Vorschüsse gewesen für zukünftige Wunder des Daseins.

Plötzlich war mir gewiß, ich würde heimkehren, und sei es nur als Wiedergänger, der uns an der Küste vertraut ist. Wie von selber formte sich da Vers an Vers und schrieb sich musiziert in den Spiegelglanz des Asphalts. Und nach mechanischer Ableistung der Vergatterung von meinem Posten erlöst, begann ich’s noch stehend ins Notizbuch zu kritzeln und setzte es auf der Pritsche des Wachlokals fort, und es war später daran nichts zu ändern und blieb, wie es entstanden war:



Vor der Kaserne

vor dem großen Tor

stand eine Laterne,

und steht sie noch davor,

so wolln wir uns da wiedersehn,

bei der Laterne wolln wir stehn

wie einst, Lili Marleen.

Unsre beiden Schatten

sahn wie einer aus;

daß wir so lieb uns hatten,

das sah man gleich daraus.

Und alle Leute solln es sehn,

wenn wir bei der Laterne stehn

wie einst, Lili Marleen.

Schon rief der Posten:

Sie blasen Zapfenstreich;

es kann drei Tage kosten! –

Kamerad, ich komm ja gleich. –

Da sagten wir auf Wiedersehn.

Wie gerne wollt ich mit dir gehn,

mit dir, Lili Marleen.

Irgendwann fand ich jenes Notizblatt wieder, es war angegilbt, die Bleistiftzeilen verblaßt und die Notenskizze meiner eigenen Melodie dazu. Nur die ersten drei Strophen waren da aufgezeichnet, die vierte nur angedeutet, die und die letzte gedachte ich zurückzuhalten, die Zauberkraft solchen Geschreibsels abergläubisch erwägend, das offen Beschwörende. Hatte ich doch die ätzende Frage nach meinem Liebes-Nachfolger eingeflochten und die Verheißung, den Raum des Grabes in nebelhafter Gestalt zu verlassen zu einem Wiedersehen so oder so:

Deine Schritte kennt sie,

deinen zieren Gang.

Alle Abend brennt sie.

Mich vergaß sie lang.

Und sollte mir ein Leids geschehn,

wer wird bei der Laterne stehn

mit dir, Lili Marleen?

Aus dem stillen Raume,

aus der Erde Grund

hebt mich wie im Traume

dein verliebter Mund.

Wenn sich die späten Nebel drehn,

werd ich bei der Laterne stehn

wie einst, Lili Marleen.

So hätte es wohl sein können, aber das Schicksal änderte das abgründige Vorhaben in ein Wiedersehen mit dem Leben. Und nicht mit den beiden Mädchen. Als im Zweiten Weltkrieg eine Zeitschrift danach fahndete, meldeten sich nicht wenige und wollten es gewesen sein. Man legte mir die Fotos vor. Aber sie waren es alle nicht. Hätten es wohl sein mögen, weil das kleine, so unkriegerische, ganz private Liebeslied weit in die Öffentlichkeit gelangt war und sich zu meiner Betroffenheit auf jedwedens Liebchen ausdehnte. Entnommen meiner ersten Lyriksammlung, der »Hafenorgel«, 1937, von Norbert Schultze, ohne mein Wissen, vertont und mit seiner – nicht mit meiner im Dunkeln verbliebenen – Melodie. Von Lale Andersen gesungen, hatte es sich über den Belgrader Soldatensender um die Welt, bei Freund und Feind verbreitet. Nein, die beiden Mädchen hab ich nie wieder gesehen. Als ich die alten Stätten noch einmal aufsuchen konnte, war Frau Stolzenberg tot. Ihr Klavier gelangte später in eine Gedenkstube der einstigen Maikäferkaserne. Betty-Lili hatte nach auswärts geheiratet. Marleen war ihrem Vater ins Feld gefolgt und in Polen verschollen. Ade ... ade!

Carlton Jackson, Historiker an der Western Kentucky University, ist dem Entstehen und der Verbreitung des Liedes Lili Marleen nachgegangen. Sein Buch darüber: »The Great Lili« erscheint demnächst. Es sei hier auch noch des Kollegen Horst Lange gedacht, Autor u. a. des Romans »Schwarze Weide«. Nach einer Begegnung in der Deutschen Akademie, Darmstadt, schrieb er mir: »Eins hab ich vergessen, nämlich Dir zu danken für Dein Lied Lili Marleen. Es war Tröstung und Einkehr für die Landser der ganzen Ostfront, zu der auch ich gehörte. Ein Friedens- und Sehnsuchtslied, ein echtes innerstes Soldatenlied ohne Vergleich.«

So ähnlich meinte kürzlich auch die »Frankfurter Allgemeine« und noch analysierender das große Wochenblatt »Die Zeit«, fühlte sich bemüßigt zu bekräftigen, das Lied sei keine Schnulze. Dafür sei Walter Rudolf Leonhardt bedankt!

Der Norddeutsche Rundfunk äußerte, es sei zugleich inniges Volkslied und große Dichtung. Mir persönlich bleibt es immer etwas unheimlich durch den Inbegriff des Wiedergängers, was aber wohl nur an der Küste nachgefühlt werden kann.

Belgrad aber, sagte ein englischer Offizier zu mir, dieses Prinz-Eugen-Belgrad sollte sich freuen, noch durch etwas Freundlicheres berühmt geworden zu sein als durch Schlachtengemetzel, Partisanenmorde und Rebellion. Zumal ein serbisches Mitglied des damaligen Orchesters die einleitenden Takte geliefert hatte.

Als im September 1978 neun österreichische und fünf kanadische Urlauber arglos – so berichtet die europäische Presse – bei abendlichem Umtrunk das noch immer nicht verwehte meistgesungene Lied des Zweiten Weltkriegs gemeinsam anstimmten, schien niemand auf der jugoslawischen Insel Korčula etwas dagegen zu haben. Auch jener nicht, der anschließend zur Polizei ging und Anzeige erstattete. Der Denunziant wurde nicht etwa beruhigt und nach Haus geschickt, man belegte vielmehr die vierzehn Gäste mit einer erheblichen Geldstrafe und verwies sie des Landes mit der Auflage, das »Staatsgebiet der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in den nächsten zwei Jahren nicht mehr zu betreten«. Die Touristen hätten die patriotischen Gefühle der jugoslawischen Bürger beleidigt.

Eine Pressenotiz faßt zusammen: »Das kommunistische Regime in Belgrad, das solche Exzesse gegen unpolitische Ausländer ermuntert, meint offenbar, die durch Propaganda ins Land gelockten Urlauber behandeln zu können wie die eignen Untertanen. Schließlich ist es Jugoslawien, das auf die Devisen seiner zahlenden Gäste angewiesen ist – und nicht umgekehrt –.«

Blenden wir doch einmal zurück, bis zum Anfang April 1915. Damals ergab sich noch eine kurze

Gnadenfrist

wenn auch nur für einen Tag. Das nötige »Transportmaterial« war noch nicht zur Stelle. So denn konnten wir zu viert richtig Abschied feiern, die beiden Hamburger, Schalli Müller und ich, und die beiden Ostfriesen, Klaas Deterts und Fritz Pridath. Und es geschah auf dem Logierzimmer bei der Stolzenberg-Witwe. Sie ließ es schweigend geschehen, und auch ihr Hündchen kläffte nicht. Schalli hatte es besänftigt mit in Bier getauchten Brocken Kommißbrot. So konnten wir ungestört uns selber besänftigen mit entsprechenden Liedern von »Morgen muß ich fort von hier ...« bis »Innsbruck, ich muß dich lassen ...«. Schalli hieb emsig in die Tasten und brillierte mit ungehemmten Träumen von großer Zukunft, von einer beifallumrauschten Laufbahn, der eines Caruso ähnlich, und ohne Ahnung oder jede Ahnung übertönend, bewies er es sich und uns, die wir begeistert ihm Glauben schenkten, mit Kosthappen aus »La Traviata«, »Carmen«, den »Hugenotten«, dem »Fidelio« und was derzeit die Opernhäuser füllte. Ein Jahr später lag er stumm verscharrt in Galizien. Nun aber genossen wir mit ihm, was sein Tenor zu bieten hatte, von keinem Andie-Tür-Klopfen gehindert.

Als er innehielt und wir ein wenig betäubt dasaßen, da denn verlockte es mich, mein taufrisches Erzeugnis zum besten zu geben, als sei es ein längst an den Sohlen verwetztes Volksgut von irgendwoher. Man war durch Arien, Bier und innerste Verhangenheit hinreichend benusselt, somit fiel es nicht weiter auf; ich sang vor, man sang nach, und Schalli packte es in rauschende Akkorde.

Mir war bald, als solle ich die Bloßstellung bedauern. Es ging auch das vorüber und war vergessen. Wir hatten die Hängelampe nicht angeknipst. Das Neonlicht vom Theatereingang drüben drang rötlich durch die Gardinen, und deren Muster zeichneten unsere Gesichter und grauen Röcke mit wunderlichen Flecken, Schrammen und Rinnsalen. Der in sich gekehrtere Pridath sah es zuerst – er trug eine Brille – und machte uns unbarmherzig darauf aufmerksam. Zerschunden und zerstückelt! – kaute er neben seinem Pfeifenstiel hervor. Er fiel als erster.


Wir wurden in Ungarn vor den

Karpaten

in Munkacs ausgeladen. Von ferne murrte Geschützdonner. Jetzt beginnt der Aufstieg, lächelte Klaas zweideutig. Seine Apfelwangen waren in der Rauheit letzter Schleiferei blasser geworden. Ich verlor ihn aus den Augen. Der Kursus wurde auseinandergerissen. Vor, hinter, neben mir, ich kannte niemanden. Bergstöcke wurden verteilt, schlichte Bambusstäbe, gestiftet von der Gattin eines reichen Reservehauptmanns für ihre geliebten Maikäfer. Sehr dienlich bei der soeben einsetzenden Schneeschmelze (und später für einige Litzenträger zum Prügeln, wie zur Zeit Friedrichs des Großen). Schaurig aufgeweichtes Terrain. Stur einer hinter dem andern, von Kolonnen riesiger Lastwagen an die Wegkante gedrängt, immer in Gefahr, unter die ungeheuren Räder oder in den Abgrund zu geraten. So ging es langsam bergauf.


Übernachtung auf verlauster Holzwolle? Dann lieber in einer Pferdebaracke, wo grad ein Platz frei geworden. Der dürre Kadaver des allzu Beanspruchten wurde herausgeschleift.

Kaum noch ein Filet bei über, schimpfte ein klappriger Muskote.

In dieser Nacht vernebelte sich mein Zustand, ich möchte sagen, gnädiglich. Alles weitere schält sich nur schmerzhaft in mein Bewußtsein zurück. Und ich hatte mir doch vorgenommen, alles sozusagen mit Maleraugen genau aufzunehmen, ungerührt, wie ein geprüfter Chirurg. Das wachsende Gedröhne fronther, das von Kratern aufgewühlte Gelände, die versumpften Erdlöcher, die knatternde, krachende flache Kammlinie des Zwinin und die schwärzlich aus dem Schlamm tauenden Gefallenen vieler vergeblicher Angriffe ...

Wir Neuankömmlinge blieben vorerst in Reserve, indes mit herangeschafften Minenwerfern die russischen Stellungen sturmreif geschossen wurden. Sie erwiesen sich als geradezu komfortabel in Beton ausgebaut.

Die Russen mußten durch die neue Waffe in Panik geraten sein und flohen bis hinter den Beskidenpaß. Nur einige sibirische Scharfschützen hatten sich in abseits stehenden zerfledderten Hochtannen verborgen und wurden abgefangen. Unsere Verluste waren diesmal gering. Die neuen Handgranaten, deren Anwendung noch kaum hatte geübt werden können, trugen überdies dazu bei.

Nun auf nach Galizien! hieß es. Oder war es die Walachei? Der Zugführer, ein adretter Berliner Rechtsanwalt, die langspitzige Pickelhaube in grauem Bezug – Stahlhelme gab es noch nicht – elegant und ragend, sagte abschätzend zu mir, und es klang wohlgemeint vertraulich: Nichts hier für unsere Figur. Die Ruskis schießen meist zu hoch für die Allgemeinheit, da trifft es uns. Nehmen Sie den kleinen Aufschub wahr! –

Ein Feldpostbrief

an meine Schwester verdeutlicht besser als das, was ich aus dem Dämmer der Vergangenheit hervorgrüble:

Ers. Batl. G. F. R.

April 1915

Liebes Gretchen!

Wann diese Post Euch erreicht, ist nicht abzusehen; denn wir liegen weit weg aus aller Welt im Schneeschlamm am Zwinin. Die Verbindungswege sind sehr dürftig und nur für die armen abgetriebenen Maulesel gangbar, und die bringen nur Munition und etwas Schiffszwieback (österreichischen) und kaum Post. Und nehmen, wenn’s gutgeht, die schmutzige Offizierswäsche mit zurück. Ob auch diesen Brief? Verwundete müssen auf Zeltbahnen zu Tal geschleift werden, aber meistens sterben sie vorher oder bleiben gleich sowieso im metertiefen Tauschlamm stecken, wo die, die den Winter über gefallen sind, langsam herauskommen, eine schwarze Hand erst, dann ein Knie, dann das schwarze arme Gesicht. Auf den Kleidungsstücken hält sich der Schnee länger. Die ganze Front riecht schaurig süßlich nach den Verwesenden. Es riecht wie Hamburger Aalsuppe, sagte einer aus meiner Gruppe, Möller (nicht Schalli Müller), auch aus Hamburg. Er ist gestern gefallen und war ein netter Junge. Er wollte zeigen, daß er nicht bange ist, und stellte sich auf eine M. Kiste und sah zu den Russen hinüber, die oben gut eingebaut sitzen. Und – zick – hatte er den hier üblichen Kopfschuß. Sein Gehirn spritzte uns aufs Zeug, es sah aus wie die Mettwurst, die hier einer, Bauer von Beruf, geschickt bekam und alleine ißt, und er ließ sich auch heute nicht dabei stören. Ich kann diesen Brief vielleicht selber mitnehmen nach Tucholka, wo ich zwei sibirische Gefangene abliefern soll, die viel besser ausgerüstet sind als wir und einen trefflichen Eindruck machen. Es sind Bauernsöhne, hörte ich. Jetzt sind Österreicher aus Fiume zwischen uns verteilt. Nach Fiume möchte ich auch mal, wo du ja schon einmal warst ... –

Man merkt diesem Brief eine gewisse Dumpfheit an, wie hätte ich sonst meiner empfindlichen Schwester

so viel Scheußliches

berichten mögen. Wollte ich es damit von mir wegschieben? Unsere Verbündeten, Kamerad Schnürschuh, waren noch unzweckmäßiger als wir versorgt. Und deswegen ziemlich unlustig, sagten offen, sie wüßten nicht, wofür sie krepieren sollten. Es waren Kroaten. Menage und marode waren ihre gängigsten Vokabeln. Wir fühlten es ihnen nach, natürlich nicht lauthals. Sie wurden je einer zwischen zwei von uns gesteckt, weil sie verdächtig waren, nachts heimlich mit den Russen Fühlung zu nehmen und im Angebot letzter Meldungen Zigaretten zu erbetteln.

Schnee, Schneeregen, Regen, Schlamm. Da hilft nur stumpfe Apathie, nicht in irre Ausbrüche zu geraten oder sich erledigt ins Nichts fallen zu lassen:

Schnee, der uns bedeckt,

Regen, der uns beweint,

ich muß euch hassen;

denn des Grabes Vorspann

seid ihr wie wir.

Blut,

das um uns rinnt,

brüderlich reckt

unser Puls sich zu dir.

Keiner sieht keinem an,

was in ihm sinnt.

Hüte

die geheimste Glut!

Wir haben das Zarte verlassen

wie unsre Mutter, Frau oder Braut.

Der Teufel zerhaut

die letzte Ahnung von Güte.

Wir verkommen in dem, was wir niemals gemeint.

Reserveleutnant B. hatte mir drei robuste und schon abgebrühte Leute für den Transport mitgegeben. Wie der vonstatten ging, weiß ich nicht mehr, nur noch, daß wir uns eine ganze Strecke an einen Maultiertroß gehängt und so mehr komisch als militärisch talwärts schlidderten. Doch entsinne ich mich einer wärmenden Kohlsuppe mit Pferdefleisch aus einem Feldküchenkessel als ungemein wohltuend. Erst was auf dem Rückmarsch sich als unvorhergesehen ergab, ist mir noch soweit klar. Da war eine Behelfsbrücke über einer Bachschlucht. Ein Schub Artillerie hatte den Elan oder bloß den Befehl, die Kanonen mit kaum noch fähigen, brutal gepeitschten Gäulen bergauf zu bringen. Und kam auch wirklich voran. Wir, grad auf der Brücke, drückten uns ans Geländer, das heißt an einen quergelegten Fichtenstamm, ich in die Mitte, die beiden Begleiter – einer war in Tucholka verduftet – links und rechts. Bei der wilden Erschütterung, knacks, brach der morsche Halt.

Ich stürzte rücklings

hinunter, fühle noch, wie angenehm das jähe Schweben war.

Kam aber bald wieder zu mir, weil mir Wasser eisig übers Gesicht sprühte. Hatte aber Neigung, trotzdem liegenzubleiben. Warum auch nicht? Ich lag am Strand bei Duhnen an der Nordsee und war ertrunken.

Die beiden Kameraden hatten sich besser halten können, kletterten zu mir herunter und halfen mir nach oben. Die Schlucht war nicht tief, wohl etwa sechs Meter. Ich suchte mein Taschentuch, wischte mir’s Wasser vom Hals und aus den Augen. Mein Zeug war kaum naß, das Wasser nicht tief, der Tornister hatte viel abgehalten und troff entsprechend. Ich fühlte kaum Schmerzen. Sechs Meter, was ist das schon! lachte ich. Das Lachen zog mir ins Kreuz, dort, wo der Tornisterrand die Wirbelsäule drückte. Und meine Beine waren ein bißchen außer Takt.

Es wird dunkel, sagte ich: Los denn! –

Immer langsam! knurrte der eine: Kommst immer noch früh genug, dir den Rest zu holen. –

Und der andere: Haste eben dein Genick nicht gebrochen und jieperst schon nach ’ner neuen Probe. –

Wir tüffelten schweigsam weiter; das Wetter wurde schlechter, dünner Schnee wehte umher. Mir war, als kämen wir vom Wege ab. Grabkreuze zuseit, hier und da ein zerbeulter Helm draufgestülpt. Ein eingeklemmter Papierfetzen. Sicher stand ein Name darauf. Es gelüstete uns nicht, ihn zu entziffern.

Der derbe Metzgergeselle (im Zivilberuf) knurrte mich an: Dösbattel, wenn ich du wäre, nichts als abhaun! So ’n Hupf überlebt kein Kalb. –

Endlich erreichten wir eine Art Dorf. Gleich vorn ein unbeschädigt wirkendes Strohdach (oder was war’s?) und verrammelte Fenster darunter. Mein Begleiter zur Linken, in Zivil Packer in einer Margarinefabrik, erklärte, nicht weiter zu wollen. Er wisse genau, hier gäbe es noch Wölfe.

Der Metzger entgegnete, die seien doch satt vom Leichenschmaus, war aber schon an der Tür, und siehe da, wir brauchten nicht einzubrechen. Drinnen war’s kerzenhell und lebhaft.

Und wie gern verschnaufte ich mich. Wir wurden nicht weiter begrüßt oder beachtet. Ein paar Landser spielten Karten an einem breiten Holztisch, einer durchlauste sein Jackett, einer versuchte, mit einem Mädchen ins Gespräch zu kommen. Sie hielt sich unbewegten Gesichts zwei Schritt von ihm weg. Ihre Tracht war bunt, doch Genaues habe ich vergessen; nur ihre langen schwarzen Zöpfe nicht, die waren mit rotem Garn durchflochten. Das hier sind Ruthenen, sagte einer, und unsere Verbündeten. –

Dann langte jedermann ungeniert unter die Holzbänke. Da lagen Kartoffeln gestapelt. Kochgeschirre wurden gefüllt, Wasser drauf und an ein offenes Herdfeuer gerückt. Auf einmal war auch unser vierter Mann da. Höhö, spottete er, das hättet ihr einfacher haben können! Ihr Dussel seid im Kreis gerannt. Dies hier gehört zu

Tucholka

wie das Hemd zur Hose. –

Und was machst du hier? fragte ich, obwohl es mir schnurz war.

Nur keine saudicken Töne! knurkste er: Ich hab auf euch gewartet. Schrumm! –

Mir wollten die Kartoffeln nicht schmecken. Ich bat die rosenwangige Matka um etwas Milch. Sie brachte mir tatsächlich einen zierlichen Krug voll.

Lot di man nich vergiften! rief einer, der aus Flensburg stammte.

Die Schöne erwiderte flott auf deutsch: Den nicht. –

Es ging alles völlig harmlos zu. Bis denn ein k. u. k. Kavallerist für Musik sorgte, indem er auf zwei Kartenblättern »Die schöne blaue Donau« blies. Mir schwamm es mählich vor den Augen.

Das Tanzrad oder Die Lust und Mühe eines Daseins

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