Читать книгу Begegnung zur Nacht - Hans Leip - Страница 5

Bar an Bord um Mitternacht

Оглавление

Wenn man Southampton hinter sich hat und es kommt die letzte Nacht, die noch vom lieben Festlande trennt, so muß man ein hartgesottener Amerikaner sein oder aber ein furchtbar reines Gewissen haben, falls man diese Nacht wie andere Nächte mit mehr oder weniger Schlaf vergeuden soll. Mein Herz war weich und heimatzugewandt, obwohl ich nur von London kam, mein Gewissen jedoch, auf dieser Reise bislang unbelastet, hatte nichts gegen ein Abenteuer; denn der Obersteward hatte mich an einen Tisch zu zwei Plätzen gesetzt, und mein Gegenüber war eine sehr junge und angenehme Dame mit kastanienfarbenem Haar.

Wir unterhielten uns gut über verschiedene naheliegende Themen, von der frischen Seeluft, von der Vorzüglichkeit ebenfalls frischen Steinbutts, vom Glück und von den erträglichen unter den englischen Strandbädern. Danach setzten wir uns noch ein wenig in die Bibliothek, während die anderen Leute ihre Verdauungsmeile ums Promenadendeck abdienten, was wir später bei stillerem Verkehr nachzuholen gedachten. Und das zarte Wesen legte mir eine schmale Hand auf den Arm und erzählte mir, wie sehr dort in England jemand gern gehabt worden sei.

Trauer war in dieser sanften und noch ein bißchen kindlichen Stimme, und ich betrachtete die kleine Hand, die leicht bräunlich überhaucht war von Golf und Sommertennis. Ich hatte gar keine Lust, hier die Rolle eines guten Onkels und Beichtvaters zu spielen, und ich sagte mir: Diese Hand auf meinem Arm ist viel zu jung, zu aufgeweckt und zu leichthin, um so schrecklich tief sich an das zu klammern, was da sozusagen als Liebe genannt war.

Ich setzte an, um zu erklären, daß solcherlei eine schwebende, wandelbare, ja fluoreszierende Angelegenheit sei, da schnitt plötzlich eine lange magere Gestalt in meinen Faden. Sie kam durch den Raum und sah nach Mütze, Jacke und Gesicht aus wie ein ältlicher Bootsmann und hatte hier kaum etwas zu suchen, deuchte mir.

Der Büchersteward, der dabei war, die Liste seines Schrankes nachzuprüfen, sah mit einem Ruck zu ihm auf, so als schnappe eine Feder in seinem Genick in die gewöhnliche Lage: »Na, und wie . . .?« fragte er, indem seine Augen an den Mann geheftet waren und sein Tonfall keine Annehmlichkeit vermuten ließ.

Der Bootsmann legte ein Buch auf den Tisch, wandte keine Miene und sagte, ohne Weg und Haltung zu unterbrechen, breitschlächtig und würdig: »Werden ihm woll kaum dorchkriegen bis Cuxhoben.«

Danach war eine gewisse Stille, von den davonschreitenden Stiefeln auf den Teppich geheftet, und es fiel mir schwer, meiner Nachbarin zuliebe (die sich nicht getraute) mich zu erkundigen, ob jemand krank sei an Bord.

»Ach, nur der Ober von der Zweiten; er hatte ein Buch geliehen, mein Eigentum«, antwortete der Steward wegwerfend, ließ seine Genickfeder wieder ausschnappen und stürzte sich wie ein pickendes Huhn in seine Bücherrevision zurück. Man merkte ihm die allgemeine Vorschrift an, alle Beunruhigung der Passagiere zu vermeiden. Und da der Mensch seit Urzeit geneigt ist, sich den bequemen Auffassungen des »Ach nur . . .« anzuschließen, horchten wir auf die Musik, die vom Teesalon herüberflirtete.

Aber wir gingen nicht sofort hin. Wir nahmen unsere Mäntel und spazierten ein wenig an Deck. Es war noch rot im Westen; doch dort, wohin wir fuhren, war schon finstere Nacht. Sehr friedlich war alles bis auf das Zischen des Wassers tief unten an der Schiffswand, und an der englischen Küste blitzte ein unruhiges Leuchtfeuer. Wenn man an den Fenstern des Teesalons vorbeikam, hörte man die muntere Tanzmusik. Auch sah man durch die Vorhänge, daß ein, zwei Paare schon auf dem Parkett waren. Wir gingen daran vorbei. Ich dachte, es ist richtig, man soll nicht tanzen, wenn andere darniederliegen. Und wir sprachen von Hannover, wo der Typ der Frauen ersprießlich ist, und es komme von der englischen Herrschaft einst, meinte sie, und sie war daher.

Als wir das zweitemal den glasabgedeckten Gang unterhalb der Brücke am Vorschiff rundeten und mir nicht unbeklommen war in der Nähe des zierlichen Geschöpfes, öffnete sich die Tür backbords, die dort hinausführt auf eine Treppe zur dritten Kajüte und auf das Vorschiff, wo die Mannschaft wohnt, und herein trat in einem Schwall von Wind und Rauschen die lange Gestalt des Bootsmanns von vorhin. Er sagte nichts, sah uns auch wohl kaum, ging mit seinem starr schwebenden Taubenschritt, wie alte Seeleute zu gehen pflegen, davon und die Treppe zum Bootsdeck hinauf.

Wir gingen nicht dort auch hinauf, so sehr es mich reizte, sondern vollendeten unseren zweiten Rundgang und begannen den dritten, und als wir achtern an der Laube vorbeikamen, hörten wir vom Lukendeck einen näselnden Singsang. Es waren da ein paar Matrosen bei einer Lampe tätig, an einer Winsch etwas auszubessern, wozu morgen keine Zeit mehr sein mochte.

Es schien immerhin der Melodie nach eine Art Revolutionslied, aber es wurde ziemlich ins Lächerliche gezogen, und der Text war ein bißchen verändert und hieß: Flunki muß sterben, ist noch so jung, jung, jung . . . So ging es eine Weile, immer dasselbe, bis einer unter großem Gelächter einen Gedanken faßte und den Reim in breitem Hochdeutsch vollendete: »Wenn wir was erben, ist es bloß Stunk.«

»Wer ist Flunki?« fragte meine Begleiterin. Sie zitterte, ich merkte es durch ihren Pelz. Ich fürchtete, sie denke an ihren betrüblichen Abschied in Bornmouth oder so und wen sie da geliebt, und ich erwiderte behutsam: »Flunki nennen sie die Stewards.«

»So ist es also der Oberflunki«, entschied sie und fügte energisch hinzu: »Und jetzt gehen wir in den Salon.«

Im Salon vereinigten wir den Mosel, der von Tisch her in uns war, mit einer edleren Sache, und wir tanzten lange nicht, jedoch unsere Stimmung war freundlich. Die Kapelle ließ nichts zu wünschen übrig; wir begutachteten die Tanzpaare, und es war nicht viel bis auf eine blonde Dame und zwei Kavaliere, die es nicht übel verstanden und sogar im Smoking waren, obwohl nur Grünhörner oder Snobs sich den letzten Abend umzaubern.

Ich sagte das, und sie fand es auch und meinte, was die an Tango könnten, könnten wir auch, und somit tanzten wir, obwohl sie so klein und zierlich war, daß von einer gewissen Perspektive jedermann hätte glauben können, ich tanze gänzlich solo. Sie war weiß der Himmel sehr niedlich und elegant und tanzte leicht wie eine Eiderdaune.

Ich merkte, wie die Augen der beiden noch in Betracht Kommenden wohlgefällig auf ihr ruhten und kalt an mir vorbeiglitten, was mein Gefühl zu heben wohlgeeignet war. Gewiß, deren beider Figur hätte womöglich besser zu ihr gepaßt, hingegen zu mir gegebenenfalls die Hochblonde. Dennoch, die Verteilung der Verhältnisse darf im Leben nicht das Ausschlaggebende für die Stimmung sein. Gott sei Dank verschwand das Trio bald, und es wurde gegen Mitternacht. Sie sprach von Mammi und Pappi, die Kleine, und daß ein weißer Lancia, links geschaltet zu vier Gängen, in hundertzwanzig Kilometer Tempo ihr Ideal sei. Als der Steward kam und kassierte, flüsterte er mir zu, in der Bar werde weitergetanzt.

Ja, es war eine letzte Nacht an Bord, wer konnte ahnen, wie es am lichten Morgen und an Land wieder daheim sein würde. Mochte zu Bett gehen, wer wollte. Wir gingen in die Bar. Sie lag einen Stock höher, und als wir die Tür aufmachten, war es eine ganz kleine Bar mit drei Hockern, nicht mehr, und auf einem saß einer der beiden Smokingkavaliere und hatte neben sich ein Grammophon und legte gerade eine neue Platte auf. Der andere und die Blonde saßen an dem einzigen Tisch in diesem dämmerigen, von atemwarmen Flipdünsten erfüllten Raume, und er hielt gerade ein Glas vor der Nase, es war groß wie eine halbe Pampelmuse, und er sagte gedämpft: »Ihr Wohl, Frau Baronin!«

Es hatte den Anstrich einer privaten und geschlossenen Gesellschaft; ich hätte mich gerne zurückgezogen samt meinem Mäuschen. Jedoch der Mixer hob einladend die Hand, und es war einer jener Barkeeper, die begnadet sind, so daß man ihnen schlecht etwas abschlagen kann. Auch seufzte nunmehr die Platte los, es war eine süße Sache, ›The bench in the park‹ oder so was, und wirkte wie ein Magnet auf meine Begleiterin.

Somit saßen wir denn auf den Barhockern. Und George, das war der Mixer, schenkte ein. Oh, es war der beste Mixer auf den gesamten atlantischen Linien und ein wahrhaftiger Mensch, so daß es mir nicht an Unterhaltung mangelte.

Die Stunde rückte vor. Die liebe Dame, mit der ich gekommen war, tanzte mit dem einen, der auch die Platten aufzulegen pflegte und blond war wie eine gebleichte Kokosmatte; es stellte sich heraus, daß er gewissermaßen ein Tanzstar sei und von einem amerikanischen Turnier kam. Er war durchaus ein Ritter und fragte mich manchmal, ob er auch dürfe, als ob ich über das gute Kind zu verfügen gehabt hätte, weil ich etwa an einem Tisch damit gesessen; nein, es war ihr eigenstes Risiko.

Wir tranken viele hübsche kleine Sachen, namentlich einen sogenannten Maracaibo, so eine Mischung aus Wermut, Angostura und Gin, denke ich, die wegen Venezuela so bezeichnet war, woher der andere recht dunkle Herr kommen mochte, der nicht abließ von der blonden Baronin und wohlerzogen auf sie einredete. Die Baronin lachte laut auf und sprach Gewagteres, und meine kleine Freundin, von Maracaibo heiter gelaunt, meinte dicht an meinem Ohr, sie glaube nicht, daß es eine wirkliche Baronin sei, und ob ich es übelnehme, wenn sie so viel tanze.

Ihr Atem ging wie ein brennender Flip durchs Ohr in meine Seele; ich war nicht glücklich, aber was sollte ich übelnehmen? »Tanze, tanze!« entgegnete ich milde, wollte auch väterlich über ihr Haar streichen, das der Mode nach ein wenig auf »Großer Kurfürst« gehalten war. Ach, sie war schon lange entglitten und hing an dem blassen Turnierstern. Ihre Liebe und der Abschied und was sie mir gebeichtet, das schien schon alles verflogen. George philosophierte auf eine weltmännische Art, sein Horizont war weit, er hatte den Kronprinzen geduzt und den ausgedörrten United States derzeit manche nasse Kiste in die Gurgel gelotst und hatte eine andere große Sache vor, woran ein Vermögen zu machen war, und wir tranken auf frohes Gelingen, und er zwinkerte mir zu, der gute Junge, in bezug auf mein Mädchen, und ich schluckte es (denn der Maracaibo ließ wenig Widerstand zu) und sah zur Seite und sah, wie die Baronin herüberlächelte.

Blond, sagte ich mir da, ist eigentlich mehr mein Fall als der herbe und nicht ungewöhnliche Kastanientimbre, und lächelte zurück, gehalten und weltkundig, wie ich mich fühlte. Aber sie erhob sich, kam herbei und wandte sich an George, zog eine große Perle aus ihrem winzigen silbernen Täschchen: Was George meine, ob er sie drüben absetzen könne, und die oldenburgische Prinzessin habe damit gespielt.

Das beweise die Echtheit, sagte George höflich und nahm die teure Kugel zwischen die Zähne; denn sie muß sich dann rauh anfühlen, so glatt sie ist. Und wir fühlten es alle der Reihe nach zwischen den Zähnen, zuerst ich, da ich George am nächsten saß, dann das Kastanienfarbene; ich achtete scharf darauf, daß sie es nach mir bekam, und hätte es noch lieber umgekehrt gehabt. Nun hätte es genug sein können, sie hätte die dicke Perle an George zurückgeben sollen, aber auch die Kokosmatte wollte sich überzeugen und erhielt sie, die zuvor den süßen Mund berührt.

Der Venezuelaner hatte inzwischen das Grammophon wieder in Schwung gebracht; ich wandte mich nach der Baronin um. Ich kam zu spät, sie tanzte schon mit ihm, und die andern beiden tanzten auch. George und ich waren wieder allein, und er sagte, er mache das alles, zwotausend Dollar diese Perle, ein geringfügiger Job zwar, aber man müsse sehen. Dann wurde er bedenklicher, nicht wegen dieser, wegen der anderen großen Sache, und zog in Erwägung, daß oft die besten Freunde die größten Schweinehunde seien, wenn es darauf ankomme.

»Meinst du, George, daß es hier darauf ankommt?« fragte ich vieldeutig.

»Man darf es niemals tragisch nehmen, old judge!« lächelte er. »Sie sieht zwar fast aus wie . . .«

Und nun ergingen wir uns in gemeinsamen Hamburger Erinnerungen. Als aber die, die sich noch außer uns in diesem Raum befanden, die Nadel immer wieder zurückschoben und ihre Füße nicht aufhörten, stets nach demselben English Waltz über den Teppich zu schmelzen, und sie auch laut mitsangen, da ging ich teuflisch an den Kasten, um ihn knacks überzudrehen, das heißt, ich wollte, aber eben war ich von meinem Hocker herunter, da sah ich den langen Bootsmann zur Tür hereintreten, lautlos, starr schwebend, mit braun hölzernem Gesicht, die Augen überhell spitz vorausgerichtet. Er sah nicht links und rechts, sagte nicht guten Abend, nahm die Mütze nicht ab, ging stracks durch den Raum in die kleine Tür neben der Bar. Das Grammophon schluchzte weiter, es wurde auch weiter getanzt, niemand schien den Mann gesehen zu haben außer mir. Ich wußte nicht, sollte ich George fragen. Es gibt Augenblicke, die man seinen Augen nicht zutraut.

George schüttelte den Mixbecher für eine neue Lage, als sei nichts geschehen. War ich schon so betrunken? Da auf einmal kam der Bootsmann wieder heraus, starr und gerade, und sagte im Hinausgehen, ohne sein Gesicht zu wenden, mit dem gleichen unbewegten Tonfall wie in der Bibliothek: »Denn laß ihn man mal ’n Glas heißen Rotwein kriegen. Ist sein letztes.«

Seine harte klare Stimme drang durch den mürben Schwall aus Tanz und Musik und Gemixe. Und siehe da, nun brach alles ab. George verschwand mit einer Flasche Bordeaux in die Kombüse nebenan, wo ein kleiner Heißwasserspeicher war für die Grogs.

Die Kokosmatte aber taumelte ein wenig, ließ das Einglas fallen und schnarrte: »Wat hat denn hier ejalweg det Personal zu suchen?«

Es war eine Weile unbehaglich still. Meine holde Tischgefährtin aus Hannover war blaß und sah mich angstvoll an, ihre großen kindlichen Augen rührten mich, aber ich verbiß es, verliebt zu sein oder gar unglücklich wegen ihres Wankelmuts. Und auch die Baronin sah mich an und die beiden Kavaliere auch, als ob ich hier Aufklärung zu geben hätte.

»Ja«, sagte ich da, um keinen zu enttäuschen: »Das ist eben nun mal so, da ist nichts zu machen.«

Der Venezuele hatte blaue Schatten ums Kinn; es war bald Zeit, sich wieder zu rasieren.

»Nein, da ist nichts mehr zu machen!« sagte da auch George. Er war wieder hinter die Theke getreten. Ergebung lag auf seinem guten Antlitz: »Wenn Bootsmann es sagt, dann ist es so. Der weiß mehr als jeder Schiffsarzt. Mich soll wundern, wenn er es noch bis Cuxhaven macht. Wenn erst Land in Sicht ist, dann wird er wohl Ruhe haben!«

»Liegt er denn hier und wer überhaupt?« fragte einer entsetzt.

»Natürlich, wo denn sonst? Hier hinter der Wand, Obersteward von der Zweiten!« antwortete George: »Erstens ist da sein Zimmer, und zweitens hört er so gern Musik, und drittens freut es ihn, wenn der Umsatz floriert. Er hat Wasser am Herzen. Meine Herren, einem Seemann soll das Wasser am Herzen liegen, bei einem Flunki ist es ungesund. Prost!«

»Eine Runde Maracaibo ist besser!« faßte sich der Venezuele.

Mir aber schmeckte es nicht mehr. Ich ging hinaus, wo die Sterne schwankten. Anfangs vernahm ich noch die Musik wie ein Radio aus fernen Sälen.

Es dämmerte. Auf einmal stand meine kleine Dame neben mir, verhüllt und stumm. Was sollte man viel sagen? Die Nacht war ungefähr dahin. Vorm Bug erglomm der Himmel, knallrosa Wolken waren wie ein Vorhang aufgetan vor der feurigen Helle.

»Ob er so ins Paradies sehen wird oder wir eines Tages?« sagte sie da leise an meiner Schulter.

Ich strich über ihr Haar, wie ich es vordem hatte tun wollen; es war feucht vom Tau. Ein Stück Küste schimmerte grau und messerdünn hinter der lila See und schnitt eine blasse Scheibe Sonne über die Kimm. Das Schiff wurde lebendig, es erscholl von Arbeit. Der Tag war da. Wir gingen zurück an den Niedergang.

Da, als unser Blick nach achtern fiel, hißte man gerade die Heckflagge; aber sie stieg nicht ganz empor, sie blieb auf Halbmast stehen.

Begegnung zur Nacht

Подняться наверх