Читать книгу Kleptomanie oder die ganz normale Lust zu stehlen - Hans-Ludwig Kröber - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеUrsprünglich hat man sich unter „Kleptomanie“ ein „umschriebenes Irresein“ vorgestellt, das sich in einem einzigen Symptom, nämlich im Stehlen äußert. Das hat sich als Holzweg erwiesen. Heute spricht man bisweilen von Kleptomanie, wenn es Besonderheiten beim Tatmotiv gibt: wenn es nicht nur um das Einsparen von Geld geht, sondern auch oder sogar vorrangig um psychische Befriedigung durch das Stehlen. Gerade auch dann ist es schwierig, Kleptomanie vom normalen Ladendiebstahl zu unterscheiden. Die Grenzen sind ausgesprochen fließend, weil fast jeder erfolgreiche Diebstahl dem Täter auch psychische Befriedigung verschafft – so ist es schon bei den Kindern und Jugendlichen (die bei diesem Delikt besonders zahlreich vertreten sind). Die Sache ist spannend, man ist clever und erfolgreich (selbst wenn man sonst ein Versager ist).
Problematisch wird es, wenn diese psychische Befriedigung durch das Klauen immer wieder gesucht wird – zum Beispiel, wenn wenig andere Möglichkeiten zur Bewältigung von Langeweile und missmutigen Verstimmungen bestehen.
Bei Einbruchdiebstahl, also wenn es um ein komplexeres, aufwendiges Tatgeschehen geht, spricht ohnehin keiner von Kleptomanie, zumal solche qualifizierten Delikte von Frauen sehr selten begangen werden – Kleptomanie hingegen wird mit Weiblichkeit assoziiert. Dies hindert allerdings nicht, dass vereinzelt auch Männer über ihren Verteidiger eine Stehlsucht geltend machen. Im Prinzip aber und seit Beginn gilt Kleptomanie als Frauenleiden.
Allerdings sollte man nicht glauben, Ladendiebstahl wäre ein Frauendelikt. Insgesamt stellen Jungen und Männer etwa 60 % der Ladendiebe; nur bei den 14-jährigen sind Mädchen etwa gleichstark vertreten. Bei Frauen wird der ansonsten problemlos verstehbare Ladendiebstahl sehr selten, aber eben doch deutlich häufiger als bei Männern verrätselt und pathologisiert. Vorstellbar ist, dass Frauen eher als Männer so sozialisiert sind, dass es für sie in manchen Situationen nützlich ist, sich als hilfebedürftig zu präsentieren, ratlos zu sein und sich begutachten zu lassen. Wahrscheinlich besteht bei Männern eine größere Tendenz, wenig Aufhebens von der Sache zu machen und klaglos zu zahlen – es sei denn, die Folgen sind ganz gravierend (Verbeamtung etc.).
Man muss sich vergegenwärtigen, dass Diebstahl ein Massendelikt ist. Zwei Drittel der ca. 6,5 Millionen jährlichen Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) entfallen auf Eigentums- und Vermögensdelikte; Diebstahl allein ist mit etwa 45 % am Kriminalitätsaufkommen beteiligt. Der einfache Diebstahl ohne erschwerende Umstände wurde 1,5 Millionen Mal angezeigt, davon 500.000 Fälle von Ladendiebstahl. Täglich werden in Deutschland also fast 2.000 Ladendiebe erwischt. Während hier die Aufklärungsquote bei 95 % liegt, ist die Aufklärungsquote bei Diebstahl unter erschwerenden Umständen, der immerhin 1,4 Millionen Mal begangen wurde, mit 14 % nur gering; ermittelt wurden in diesem Sektor, der schon eher in den typischen Kriminalitätsbereich hineinfällt, 128.000 Tatverdächtige, davon ein Drittel Kinder und Jugendliche.
Der § 20 StGB (Schuldunfähigkeit) greift überhaupt nicht. Die 35 von 120.000 abgeurteilten Dieben, die jährlich wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen werden – das sind 0,3 Promille aller Diebe – waren sicherlich entweder schwer psychisch krank oder sturzbetrunken. Verminderte Schuldfähigkeit hat man 2 % aller Diebe zugesprochen, also jedem 50. Auch hier geht das aber sicherlich zu 90 % auf das Konto von Betrunkenheit oder psychischer Krankheit.
Das, was man Kleptomanie nennen könnte, ist keine psychische Krankheit, sondern Ergebnis einer psychischen Belastungssituation und nicht selten auch einer etwas akzentuierten Persönlichkeitsartung. Das führt im ordentlich begutachteten Regelfall nicht zum § 21 StGB, sondern wird allein als Schuldminderungsgrund gewertet. Eine ausführliche Darstellung der Diebstahlsdelinquenz und der dabei relevanten psychiatrischen, psychologischen und kriminologischen Aspekte findet sich in Band 4 des Handbuchs der Forensischen Psychiatrie (Kröber & Paar 2008, im Druck).