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Ein weiterer Mord

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Die beiden Beamten waren konsterniert, als hätten sie mit dem Mord an Annabelle nicht genug zu tun, gäbe es noch einen weiteren Mord, sie konnten nicht ahnen, dass es noch viel schlimmer kommen würde. Beiden stand mittleres Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie vor dem Präsidium in den Wagen stiegen und losfuhren, was würde sie wohl erwarten? Sie waren eigentlich ziemlich abgebrüht, hatten sie doch schon so manchen heiklen Fall erlebt, was sie aber dort auf dem Feld sahen, als sie am Tatort eingetroffen waren, überstieg bei Weitem ihre negativen Erwartungen. Es standen zwei junge Ortspolizisten am Feldrand, sie schauten ziemlich mitgenommen aus und wiesen hinter sich ins Feld, es war ein Maisfeld mit mannshohen Pflanzen, das bald abgeerntet werden müsste. KHK Kortner und KOK Schneider tasteten sich zwischen den Pflanzen durch und gelangten an den Ort des Verbrechens, es bot sich ihnen ein Bild, das sie so schnell nicht vergessen sollten. Vor ihnen lag eine nackte Frauenleiche, blutüberströmt, die Beine weit gespreizt, sie war vergewaltigt worden, so viel war sicher, sie trug eine große kräftig blutende Kopfwunde, die vermutlich von einem Schlag herrührte. Die Frau war noch sehr jung und hatte langes blondes Haar, ihre Kleidung lag im Feld verstreut. KHK Kortner rief gleich den Notarzt und die KTU an und wartete mit seinem Kollegen bis zu deren Erscheinen.

Die Leiche hatte den Ausdruck von Entsetzen im Gesicht, als hätte sich die Frau noch bis zu ihrem Ende gewehrt, sie war zwischen ihren Beinen voller Blut, sie war sicher mehrfach vergewaltigt worden. Die beiden Beamten fragten die Ortspolizisten:

„Haben Sie die Frau gekannt?“ und sie antworteten gleich:

„Es handelt sich bei der Leiche um Mareike Berenkötter, die Tochter des Bürgermeisters von Gernsbach, sie hat auf der Gemeindeverwaltung von Schüttbach gearbeitet und jeder in der Umgebung hat sie gekannt.“ Sie standen zusammen am Feldrand und kamen über den entsetzlichen Anblick, der sich ihnen geboten hatte, nicht hinweg. Wenn sie während ihrer Dienstzeit auch schon viel Unangenehmes gesehen hätten, der Anblick einer Leiche entsetzte sie immer wieder aufs Neue und der Anblick dieser Leiche besonders. Der Notarzt und die KTU erschienen und gingen gleich an ihr Werk, die Arbeit des Notarztes war ganz schnell erledigt, er musste nur Mareikes Tod feststellen und brachte sie, nachdem die Männer von der KTU die Leiche gesichtet hatten, zur Forensik in die Kreisstadt nach Mensingen.

Allen war der Schrecken anzusehen, den ihnen die Frauenleiche bereitet hatte, niemand war davor gefeit, tief berührt zu werden, wenn er eine Leiche sah, auch nach langen Dienstjahren nicht. Die KTU war damit beschäftigt, Gipsabdrücke von den Fußspuren zu nehmen, die am Tatort zu finden waren, KHK Kortner und KOK Schneider hatten beim Betreten des Tatortes darauf geachtet, einen Bogen zu laufen, damit sie die Fußspuren nicht verwischten oder mit ihren eigenen Fußspuren vermengten. Sie entließen die beiden Ortspolizisten aus Schüttbach, die noch jung und offensichtlich Berufsanfänger waren und warteten, bis die KTU mit ihrer Arbeit fertig war. Das Feld gehörte noch zu Bauer Steffens landwirtschaftlicher Fläche und sie fuhren erneut zu ihm, um ihm von dem schrecklichen Mord zu berichten. Sie trafen ihn wieder vor seinem Wohnhaus an und als sie ihm erzählten, was in seinem Maisfeld zwischen Schüttbach und Selldorf vorgefallen wäre, hob er kurz den Kopf und sagte nur, dass in dieser Gegend seit Jahren nicht passiert wäre, und sich nun die Mordfälle zu häufen begännen.

„Wir wissen ja nicht, wann Sie die Maisernte einzufahren gedenken, aber wir würden bitten Sie, damit noch zwei, drei Tage zu warten, bis alle Spuren aufgenommen sind“, sagten die Beamten und fuhren wieder weg. Ihr Weg führte sie nach Gernsbach zu Mareikes Eltern, ihr Vater war noch auf dem Rathaus, nur ihre Mutter war zu Hause. KHK Kortner und KOK Schneider waren schon oft in der Situation, nahen Angehörigen von Mordopfern die Todesnachricht überbringen zu müssen und jedes Mal war es ein Angang, zu dem sie sich überwinden mussten, die Todesnachricht wurde immer unterschiedlich aufgenommen, es gab unter den Empfängern solcher Nachrichten ruhige Gefasstheit und Kollaps.

Als sich die beiden Polizisten Mareikes Mutter vorgestellt hatten, schwieg die Mutter, sie fragte nicht danach, in welcher Angelegenheit sie kämen, so als hätte sie eine dunkle Vorahnung, ihr Gesicht nahm einen verspannten Ausdruck an, und als KHK Kortner ihr den Tod ihrer Tochter mitteilte, musste er sie auffangen, sie hatte einen Kreislaufzusammenbruch erlitten und brach zusammen, er musste sie in einen Sessel setzen. KOK Schneider holte schnell ein Glas Wasser aus der Küche, Frau Berenkötter weinte bitterlich, die Beamten konnten nicht viel tun, sie sprachen Worte des Trostes aus. Niemals waren sie während ihrer Polizeiausbildung auf solche Situationen vorbereitet worden, man verließ sich einfach darauf, dass die Beamten wie Menschen handelten und ließ sie damit allein. Als sich die Haustür öffnete und ein junges Mädchen und ein mittelalter Mann ins Haus kamen, wusste KHK Kortner und KOK Schneider, dass Tochter und Vater nach Hause gekommen waren und als die Tochter ihre Mutter im Sessel weinen sah, schrie sie und fragte, was denn passiert wäre und die Beamten klärten sie über den Tod ihrer Schwester auf. Das Mädchen, es war vielleicht siebzehn Jahre alt, stand wie versteinert und KHK Kortner nahm sie und setzten sie in einen zweiten Sessel, um zu verhindern, dass sie kollabierte und fiel, sofort fing auch sie an zu weinen. KOK Schneider lief in die Küche und holte Küchenrolle, damit sich die beiden Frauen ihre Tränen abwischen konnten.

Der Vater, bislang völlig ruhig, fragte:

„Wie ist meine Tochter zu Tode gekommen?“ und die beiden Polizisten nahmen ihn zur Seite und sagte ihm:

„Sie ist in einem Feld zwischen Schüttbach und Selldorf vergewaltigt und ermordet worden.“ Herr Berenkötter hatte Schwierigkeiten, seine Fassung zu wahren und KOK Schneider suchte einen Schnaps, er fand eine Flasche Weinbrand und schenkte Herrn Berenkötter ein Gläschen ein. Dieser nahm das Glas und kippte den Schnaps in einem Zug in sich hinein, er hatte seine Krawatte gelockert und stierte zum Küchenfenster hinaus, sichtlich von der Todesnachricht getroffen. Die beiden Beamten gossen sich auch einen Weinbrand ein, obwohl es strikt gegen die Vorschrift verstieß, während des Dienstes Alkohol zu sich zu nehmen, aber sie pfiffen in diesem Moment auf die Dienstvorschrift. Sie hatten es mit einem brutalen Mord zu tun, einem Mord an einer jungen Frau, die einem völlig fehlgeleiteten Täter zum Opfer gefallen war, wahrscheinlich waren es sogar mehrere Täter. Mareike muss mit einem Auto zum Tatort gebracht worden sein, denn ein Fahrrad hatten sie weit und breit nicht gefunden. Nachdem die Beamten festgestellt hatten, dass sich Familie Berenkötter ganz langsam wieder gefangen hatte, gab KHK Kortner Frau Berenkötter ebenfalls einen Weinbrand und fragte auch die Tochter:

„Möchtest Du auch einen?“, sie schüttelte aber ihren Kopf und lehnte einen Schnaps ab. Die Polizisten ließen sich die Telefonnummern von engen Angehörigen aus der Nähe geben, riefen sie an und baten sie, zu Berenkötters zu kommen und als Herrn Berenkötters Schwester mit ihrem Mann und ihren Kindern aus Mensingen eintrafen, berichteten die Beamten von dem schrecklichen Tod Mareikes. Die Verwandten hielten sich vor Ergriffenheit die Hände vor ihre Münder und setzten sich, die Beamten überzeugten sich davon, dass die Verwandten in diesem Moment der Familie eine Stütze sein könnten und verabschiedeten sich fürs Erste, sie wollten am nächsten Tag noch einmal wiederkommen. KHK Kortner und KOK Schneider machten für diesen Tag Feierabend, sie fuhren nach Feldstadt ins Präsidium und setzten sich noch einmal kurz in ihr Dienstzimmer, sie überlegten, ob es eine Verbindung zwischen dem Mord an Annabelle und dem an Mareike geben könnte, konnten in diesem Moment aber keine finden. Sie standen auf und liefen vor das Präsidium, wo sie ihre Fahrräder nahmen, um mit ihnen nach Hause zu fahren. Sie wollten an diesem Abend gemeinsam mit ihren Frauen in die Stadt zum Essen fahren, sie hatten schon vor Längerem besprochen, einmal wieder zum Chinesen zu gehen. Zum Chinesen ging man nicht gerne allzu oft, aber ab und zu überkam es sie, und es musste eben chinesisch gegessen werden. Sie trafen sich am Anfang der Reihenhaussiedlung und wollten mit den Rädern in die Stadt fahren, alle freuten sich auf das Essen, in diesem Moment war bei den Männern die Schrecknis der Polizeiarbeit vergessen.

Als sie beim „Goldenen Drachen“ ankamen, war zu ihrem Glück noch nicht viel los im Restaurant, sie nahmen draußen einen Tisch im Schatten, denn es war sehr warm. Sie bestellten sich erst einmal Wein und Bier und prosteten sich zu, nach einem kurzen Überfliegen der Speisekarte entschieden sich die vier für die Peking Ente, die sehr kross geraten war und zu der es viele Gemüsebeilagen gab, ihr ganzer Tisch stand voll mit kleinen Schüsselchen, in denen Reis und geraspeltes Gemüse aller Art serviert worden waren. Sie bestellten sich noch ein zweites Bier und ließen sich ihr Essen schmecken, als die Frauen plötzlich das Gespräch auf die Ermittlungen der Männer brachten und nach dem Fortschritt ihrer Arbeit fragten, Herrn Kortner und Herrn Schneider war eigentlich gar nicht danach zumute, in ihrer Freizeit über dienstliche Belange zu reden, aber ihre Frauen hatten damit angefangen und ihnen war aufgefallen, dass unter Frauen generell ein Interesse geweckt worden war, die beiden Morde aufgeklärt zu wissen. Herr Kortner und Herr Schneider standen aber ja selbst erst am Anfang ihrer Ermittlungsarbeit und konnten deshalb auch gar nicht so viel darüber berichten. Sie erwähnten zwar, dass ihnen der neue Fall, Mareike Berenkötter, besonders nahegegangen war, weil er so brutal gewesen war, Mareike war vermutlich mehrere Male vergewaltigt worden, Genaues würden sie aber erst noch erfahren, wenn die Ergebnisse aus der Forensik vorlägen.

Wenn man solche Kerle erwischte und sie der Öffentlichkeit überließe, würden sie an der nächsten Laterne aufgehängt, sagte Frau Kortner und Frau Schneider gab ihr Recht. Auch die Männer stimmten ihr zu, ergänzten aber:

„Es ist für solche Fälle doch gut, dass es eine unabhängige Justiz gibt.“ Die Frauen meinten, dass sie sich unsicher wären, ob für solche Taten nicht die Todesstrafe angemessen wäre, sie wollten im Restaurant aber keine Diskussion über die Todesstrafe aufkommen lassen. Nach zwei Stunden zahlten sie und fuhren zu Kortners, um gemeinsam noch Bier zu trinken. Sie sprachen über ihre Kinder und Frau Schneider meinte:

„Ich sorge mich um meine Tochter und überlege, ihr das Ausgehen am Abend zu verbieten, ich weiß nicht, ob ich damit nicht überreagiere, will aber auf Nummer sicher gehen.“ Frau Kortner erwiderte:

„Ich kann Dich in Deiner Angst um Deine Tochter verstehen und vermutlich würde ich ähnlich reagieren, wenn ich eine Tochter hätte.“ Herr Kortner warf ein:

„Ich bin mir gar nicht so sicher, dass die Taten sexuell motiviert waren, man muss zuerst die Untersuchungsergebnisse abwarten, klar ist aber, dass im Fall Annabelle Memmert keine sexuelle Handlung vorliegt, man weiß noch nicht genau, wo das Motiv für den Mord an ihr zu suchen ist und schließt eine Art Rachetat nicht aus.“ Bevor sie sich weiter in Mutmaßungen ergingen, wechselten sie das Gesprächsthema und sprachen über die Zukunft der Kinder. Der Weg ihrer Jungen läge fest, sagte die Kortners, der eine wollte Maschinenbau und der andere Biologie studieren. Ob sie denn schon wüssten, wie es bei ihrer Tochter weiterginge, fragten sie die Schneiders und die antworteten:

„Unsere Tochter hat sich noch nicht festgelegt, sie weiß noch gar nicht, ob sie überhaupt studieren will. Sie ist ja auch erst in der zehnten Klasse und hat mit ihrer Entscheidung noch viel Zeit, sie hat einmal anklingen lassen, dass sie sich für den sozialen Bereich interessiert, aber da gibt es mittlerweile so viele Ausbildungsgänge, dass man sich erst einmal einen Überblick verschaffen muss. Unsere Tochter ist noch sehr jung vielleicht kommt für sie ein freiwilliges soziales Jahr in Betracht“. Schneiders hielten diese Einrichtung für eine sehr gute Lebensschule.

„Die Kinder sind von Zuhause weg, weit weg im Ausland, lernen dort, selbstständig zu werden und leisten darüber hinaus auch noch eine sinnvolle soziale Arbeit, sie bekommen auch noch Geld dafür, das in jedem Falle reicht, den Lebensunterhalt in dem betreffenden Land zu bestreiten.“ Am nächsten Tag bekamen KHK Kortner und KOK Schneider die Ergebnisse der forensischen Untersuchungen in ihr Dienstzimmer, sie erhielten gegen 10.00 h einen Anruf aus Mensingen, man hätte die Leiche von Mareike Berenkötter noch am Vortag untersucht und festgestellt, dass sie durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand vor den Kopf, vielleicht einer Eisenstange, zu Tode gekommen wäre.

Sie wäre wiederholt vergewaltigt worden, die Täter hätten Kondome benutzt, sodass man keine Spermaspuren gefunden hätte, sie hätten aber unter Mareikes Fingernägeln Hautreste entdeckt, die von dem oder den Tätern stammen müssten und an die Mareike durch Kratzen gekommen wäre, es wäre noch nicht sicher, aber vielleicht reichten die Hautreste aus, um ein DNA-Profil zu erstellen. Der schriftliche Untersuchungsbericht ginge ihnen noch zu, teilten die Leute aus Mensingen mit, sie wollten diese Informationen nur schon einmal vorab übermitteln. Die beiden Kommissare mailten den Mitarbeitern der Forensik in Mensingen ihren Dank für ihre prompte Arbeit:

„Wir kommen im Laufe des Tages mit Mareikes Mutter zur Identifizierung vorbei und können danach den Bericht mitnehmen.“ Woher sie denn in Mensingen wüssten, dass Mareike mehrfach vergewaltigt worden wäre, wenn sie doch gar keine Spermaspuren gefunden hätten, fragte KOK Schneider und KHK Kortner antwortete:

„Das weiß ich auch nicht so genau, aber schon das äußere Erscheinungsbild der Leiche legt die Vermutung nahe, sie werden das aber in Mensingen in Erfahrung bringen.“

Sie fuhren noch am Vormittag nach Gernsbach und suchten Frau Berenkötter auf, ihr Mann war auf dem Rathaus und ihre Tochter in der Schule, Frau Berenkötter trug Schwarz, sie war in tiefer Trauer. KHK Kortner und KOK Schneider baten sie, sie nach Mensingen zu begleiten, um ihre Tochter zu identifizieren.

„Wir wissen, dass das hart für Sie ist, es lässt sich aber nicht umgehen.“ Frau Berenkötter gab ihr Einverständnis, sie nahm eine Jacke und ihre Handtasche und folgte den Beamten zu deren Auto, sie blickte zu Boden, als sie vor die Tür trat, sie wollte nichts und niemanden sehen. Wortlos fuhren sie nach Mensingen, die Beamten kannten den Weg nach Mensingen, sie waren ihn schon x-mal gefahren und sie parkten ihren Wagen vor dem roten Backsteingebäude, KOK Schneider sprang aus dem Wagen und hielt Frau Berenkötter die Autotür auf. KHK Kortner griff ins Handschuhfach und nahm eine Packung Tempotaschentücher heraus, sie gingen geradewegs in die Untersuchungsabteilung und trafen dort auf ihren alten Kollegen Dr. Schulz. Er arbeitete schon seit mindestens dreißig Jahren dort und war verantwortlich für die Sektion der zu untersuchenden Leichen. Er verfuhr dabei immer auf die gleiche Art, nahm eine äußere Sichtung aller Körperregionen vor und untersuchte diese auf Spuren, dabei kam es auf sehr genaues Arbeiten an, wie leicht konnte man zum Beispiel Einstichstellen von Spritzen übersehen, mit denen dem Opfer vielleicht Gift verabreicht worden war.

Nach der eingehenden äußerlichen Inaugenscheinnahme der Leiche wurde ein Y-Schnitt an der Brust vollzogen und so eine Körperöffnung durchgeführt, der Arzt untersuchte die inneren Organe und den Mageninhalt. Er verschloss im Anschluss die große Schnittstelle wieder mit ein paar Nadelstichen. Als sie den Raum betraten, in dem Mareike aufgebahrt war, mussten KHK Kortner und KOK Schneider Frau Berenkötter stützen, und als Dr. Schulz das Tuch, das Mareikes Kopf bedeckte, etwas zurückzog und so den Blick auf ihr Gesicht freigab, fing Frau Berenkötter laut zu weinen an, sie wollte sich auf ihre tote Tochter werfen und sie umarmen, aber KHK Kortner hielt sie zurück. Die beiden Beamten hatten ihrer dienstlichen Pflicht Genüge getan, eine Opferidentifizierung hatte stattgefunden. Was ihnen aber menschlich abverlangt wurde, dazu hatte es während ihrer Ausbildung nicht auch nur eine Minute Unterricht gegeben, da waren sie ganz auf sich gestellt. KHK Kortner gab Frau Berenkötter eins von seinen mitgebrachten Tempotaschentüchern und sie wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich die Nase, längst hatten sie den Untersuchungsraum wieder verlassen und saßen davor auf einer Bank, KOK Schneider hatte für jeden eine Tasse Kaffee aus dem Automaten geholt und Frau Berenkötter nippte daran, sie war völlig apathisch und musste von den beide Beamten regelrecht betreut werden.

Wie oft hatten die beiden die Situation schon miterlebt, wie oft hatten sie die Opfermütter wieder aufrichten und ihnen Mut zusprechen müssen? Als Frau Berenkötter wieder ein wenig gefasster geworden war, standen sie auf und liefen zu ihrem Wagen. KOK Schneider hatte sich den Untersuchungsbericht geben lassen und Dr. Schulz gefragt, woher er wüsste, dass Mareike mehrfach vergewaltigt worden wäre, wo er doch keine Spermaspuren gefunden hätte. Dr. Schulz antwortete, dass dieser Schluss sich einfach wegen des völlig in Mitleidenschaft gezogenen Äußeren von Mareike Berenkötter aufdrängte. Mehr wollte KOK Schneider nicht wissen, bedankte sich bei Dr. Schulz und ging zum Wagen, sie fuhren nach Gernsbach zurück und brachten Frau Berenkötter nach Hause. Als sie die Tür öffneten, kam ihnen deren Tochter entgegen, KHK Kortner und KOK Schneider begrüßten sie und sagten:

„Wir sind mit Deiner Mutter in Mensingen gewesen, damit sie dort in der Forensik Deine Schwester identifizierte.“ Die Tochter nahm ihre Mutter in ihrem Arm und führte sie zu einem Sessel, in den sie sie setzte. Sie hätte Kaffee gekocht, ob sie alle eine Tasse Kaffee wollten, und die Beamten waren nicht abgeneigt, sie nahmen Platz und ließen sich eine Tasse Kaffee bringen. Als sie sich vergewissert hatten, dass Frau Berenkötter so weit wieder auf dem Damm war, und ihre Tochter ihr eine Stütze sein konnte, standen die Beamten wieder auf und verabschiedeten sich.

Sie fuhren nach Schüttbach zu Lise Memmert, der Tante von Annabelle. Die beiden schwiegen während der kurzen Fahrt, ihr Besuch in Mensingen und auch die Begegnung mit Frau Berenkötter hatten sie doch sehr mitgenommen. Sie schellten bei Frau Memmert und als sich ihre Haustür öffnete, erschien eine freundliche ältere Dame, die noch sehr gut aussah und sie beide ins Haus bat, sie bot ihnen einen Platz an und fragte gleich nach dem Stand ihrer Ermittlungen.KHK Kortner und KOK Schneider antworteten:

„Es hat sich im Laufe unserer Untersuchungen noch nichts Neues ergeben“, und sie begannen, Frau Memmert zu Annabelle zu befragen. Frau Memmert verlor ein wenig ihre Fassung, als sie sich zu ihrer geliebten Nichte äußern sollte, sie war noch sehr befangen in der Geschichte um Annabelles Tod, und man merkte, dass sie ihre Gelassenheit bis dahin nur vor sich hergetragen hatte. Nachdem sie einen kurzen Augenblick in sich gekehrt dasaß und sich sammelte, sagte sie, dass sie ein sehr schönes Verhältnis zu Annabelle gehabt hätte, „wir haben uns viel zu erzählen gehabt und wenn Annabelle zu mir gekommen ist, hat das Leben bei mir Einzug gehalten.

Annabelle hat mit ihrer heiteren und offenen Art Berge versetzen können, und Sie glauben gar nicht, wie sehr ich diese Auffrischung vermisse“, sagte sie den Beamten.

KHK Kortner und KOK Schneider nickten nur dazu, sie wollten Frau Memmert in ihrem Erzählfluss nicht unterbrechen und ließen sie reden, bevor sie einige gezielte Fragen stellten. So fragten sie Frau Memmert:

„Wissen Sie etwas von Freundschaften zu Jungen?“ und sie antwortete, dass Annabelle nie mit ihr darüber gesprochen hätte, „ich glaube aber nicht, dass sie ernsthaft ein Verhältnis zu einem Jungen unterhalten hat, Annabelle ist ja auch noch Jungfrau gewesen.“ Die beide Beamten schauten sich an und bemerkten, dass offensichtlich doch sehr viel Vertrautheit zwischen Annabelle und ihrer Tante geherrscht hatte. Sie fragten sie weiter nach Freizeitbeschäftigungen von Annabelle und Frau Memmert antwortete, dass sie dazu nichts sagen könnte.

„Ich weiß nur, dass Annabelle eine unglaubliche Leseratte gewesen ist, aber das wissen sie ja sicher.“ Darüber hinaus wäre sie sehr gern mit Miriam zum Schwimmen gegangen, aber auch das wäre den Beamten ja sicher nichts Neues. Sie wäre sogar einmal mit ihr zum Schwimmen gegangen, als Miriam verhindert gewesen wäre und hätte sich an ihrer modelhaften Figur erfreut, ihr wären natürlich auch nicht die gierigen Blicke der männlichen Schwimmgäste entgangen. Nach dem Schwimmen wären sie manchmal Eis essen gegangen, und sie hätte sich so wohl in der Begleitung von Annabelle gefühlt wie sonst kaum einmal.

„Sie glauben gar nicht“, sagte Lise Memmert den Beamten, „wie Annabelle mir fehlt“ und sie begann in ihr Taschentuch zu schluchzen.

Ob sie eine Erklärung für den Mord an ihrer Nichte hätte, fragten sie sie. Lise Memmert blickte auf und zuckte mit ihren Schultern, sie war eingefallen und hatte einen starren Gesichtsausdruck bekommen. „Nein, ich habe keine Erklärung“, murmelte sie vor sich hin, „ich kann mir nicht vorstellen, welchen Grund es hätte geben sollen, Annabelle zu ermorden, alle haben sie gemocht, sie hat keine Feinde gehabt.“

„Nur einmal ist sie leicht verstört bei mir erschienen“, ergänzte Frau Memmert kaum wahrnehmbar, „nachdem ein Mann sie in Schüttbach angesprochen und sie aufgefordert hat, mit ihm zu kommen. Sie hätten aber nicht weiter darüber geredet und die Sache auch schnell wieder vergessen.“ Diese letzte Erwähnung eines Treffens von Annabelle mit einem Fremden in Schüttbach ließen bei den Beamten die Alarmglocken läuten, sofort hakten sie nach und versuchten, Näheres in Erfahrung zu bringen, wie denn der Mann gehießen hätte, wo er hergekommen wäre und wohin Annabelle ihm hätte folgen sollen, aber all diese Fragen brachten Lise Memmert nur in Bedrängnis, und sie wusste nichts darauf zu antworten, Annabelle hätte den Vorfall wirklich nur ganz kurz erwähnt und wäre nicht weiter darauf eingegangen. Die Polizisten blieben aber am Ball, sie sagten Lise Memmert:

„Auch die kleinste Kleinigkeit ist von Belang und wenn Sie nichts über den Mann sagen können, so vielleicht über die Begleitumstände, wo er gestanden hatte, als er Annabelle ansprach und ob er einen Wagen gehabt hätte?“ Lise Memmert überlegte kurz und sagte:

„Annabelle hat von einem Auto vor der Gemeindeverwaltung geredet, mehr kann ich aber beim besten Willen nicht dazu sagen.“ Ihr Gesichtsausdruck hatte sich ein wenig gelockert, und sie wirkte gelöster, sie fragte die Beamten:

„Möchten Sie etwas trinken?“ und die beiden ließen sich eine Tasse Kaffee geben, sie selbst trank auch eine Tasse und stellte Kleingebäck auf den Couchtisch. Sie unterhielten sich anschließend über belanglose Dinge wie ihre Wohnungseinrichtung oder das Wohnklima in Schüttbach, bevor die Beamten wieder aufstanden und sich verabschiedeten. Sie wollten noch zum Gemeindeamt und sich dort nach Mareike Berenkötter erkundigen, vielleicht wüsste man dort etwas über Bekanntschaften oder gar Freundschaften, von denen zu Hause in Gernsbach niemand etwas ahnte. Sie ließen den Wagen bei Lise Memmert stehen und liefen die paar Meter bis zum Gemeindeamt, sie schauten auf die Uhr und stellten fest, dass sie noch eine Stunde bis zu dessen Schließung hatten, sie drückten die Tür auf und liefen hinein. Schüttbach war ein überschaubarer Ort mit 1200 Einwohnern, entsprechend klein war das Gemeindeamt, es gab zwei Räume mit jeweils einer Mitarbeiterin und sie gingen gleich in den ersten Raum und stellten sich vor.

Sie fragten die Mitarbeiterin nach Mareike Berenkötter, und sie sprudelte gleich los, wie überaus nett Mareike gewesen wäre, und wie gern sie mit ihr zusammengearbeitet hätte, auch ihre Kollegin wäre sehr gut mit Mareike ausgekommen, und sie rief sie gleich zu sich. Die Kollegin war voll des Lobes über Mareike und zugleich unendlich traurig darüber, dass sie eine so herzliche Freundin verloren hätte, sie könnte bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht fassen, was passiert wäre. KHK Kortner und KOK Schneider fragten nach möglichen Gründen für die Ermordung Mareikes:

„Wissen Sie etwas über Männerbekanntschaften?“ Aber die beiden Frauen schüttelten ihre Köpfe, sie wüssten nichts darüber. Mareike hätte seit sechs Jahren auf der Gemeindeverwaltung gearbeitet, sie wäre immer eine nette Kollegin gewesen, sie hätte ein heiteres Naturell gehabt und sich immer allem Neuen geöffnet. Sie könnte sich noch gut an einen Betriebsausflug erinnern, bei dem die Stimmung ziemlich im Keller war, und wo es Mareike gewesen wäre, die alle wieder aufgerichtet und zum Lachen gebracht hätte, sie wäre einfach kein Mensch von Traurigkeit gewesen.

„Sie hat aber immer ihre Grenzen gekannt, nie ist es vorgekommen, dass sie sich einem Mann an den Hals geworfen hat, da ist sie eher zurückhaltend gewesen. Ich kann mich noch erinnern“, berichtete die Kollegin, „wie Mareike einmal leicht verstört im Gemeindeamt erschienen wäre und auf ihre Rückfrage hin geantwortet hätte, dass sie auf dem Parkplatz von einem Mann angesprochen worden wäre, dem sie hätte folgen sollen. Sie hätte aber nicht viel Aufsehen um die Sache gemacht und sich nicht großartig in sie vertieft.“

KHK Kortner und KOK Schneider fragten aber gleich nach und wollten wissen, ob die beiden nicht genauere Angaben zu dem Vorfall machen könnten, aber die beiden wussten nichts Näheres, weil Mareike nicht darüber gesprochen hätte, wahrscheinlich hätte der Mann ein Auto gehabt, sonst wäre er kaum auf dem Parkplatz gewesen. Mareike hinterließ auf dem Gemeindeamt eine riesige Lücke, die so schnell nicht geschlossen werden könnte, jedenfalls gäbe es erst einmal niemanden, der sie ersetzen könnte. Die beiden Polizisten bedankten sich bei den beiden Mitarbeiterinnen auf dem Gemeindeamt von Schüttbach und verabschiedeten sich von ihnen, sie liefen zu ihrem Wagen, den sie bei Lise Memmert abgestellt hatten und fuhren nach Feldstadt zum Präsidium. Dort setzten sie sich in ihr Dienstzimmer hinter ihre Schreibtische und dachten nach, sie hatten sich einen Kaffee geholt und saßen in sich gekehrt. Die Tür ging mit einem Mal auf und der Chef stürzte ins Zimmer und fragte:

„Was machen Ihre Untersuchungen?“, und er schrie beinahe dabei, er trat neben ihre Schreibtische und erwartete eine Antwort wie ein Vater von seinen Kindern.

KHK Kortner und KOK Schneider kannten natürlich ihren Chef und wussten auch mit dessen Art, die nicht jedem behagte, umzugehen. KHK Kortner sagte:

„Wir sind vielleicht auf eine noch sehr dünne Spur gestoßen, die aber wirklich noch sehr, sehr dünn ist. Bei den ermordeten Frauen tauchte bei der Befragung der ihnen nahestehenden Personen ein Mann mit einem Auto auf, der sie auf dem Marktplatz in Schüttbach angesprochen und sie gebeten hat, ihm zu folgen, wir wissen aber, außer der Tatsache, dass der Mann Autofahrer war und auf dem Schüttbacher Marktplatz gestanden hat, nichts von ihm.“ Der Polizeichef hakte aber nach und bestand darauf, Näheres über diesen ominösen Mann zu erfahren, aber so sehr er auch eine Auskunft einforderte, die beiden Kommissare konnten ihm keine befriedigende Antwort geben. Zähneknirschend verließ der Polizeichef das Dienstzimmer wieder und KHK Kortner und KOK Schneider grinsten sich an, sie genossen es, ihren Chef kochen zu sehen, zu erleben, wie er sich wie ein Choleriker über Nichtigkeiten aufregte und wie ein Rumpelstilzchen mit den Füßen aufstampfte. Dennoch mochten sie ihn, denn es war absolut Verlass auf ihn, und sie hatten oft genug erfahren, wie er sie unterstützte, wenn sie seine Hilfe brauchten wie in einem Fall vor ein paar Jahren, als es um die Verhaftung eines Vergewaltigers ging. Gegen ihn war die Beweislage anfangs noch recht mager, weshalb es dessen Anwalt es beinahe geschafft hätte, ihn aus dem Polizeigewahrsam frei zu bekommen.

Da wäre der Polizeichef aufgestanden und hätte dem Anwalt zu verstehen gegeben, dass man mit Vergewaltigern nicht zu spaßen gedächte und hätte ihn so lange im Gewahrsam behalten, bis die DNA-Spuren eindeutig dessen Täterschaft bewiesen hätten. Die beiden Beamten fragten sich, nachdem der Polizeichef das Dienstzimmer verlassen hatte, wie sie dem Mann, von dem bei beiden Morden die Rede war, auf die Schliche kommen könnten, es würde ihnen vermutlich nichts anderes übrigbleiben, als ihm auf dem Marktplatz in Schüttbach aufzulauern, sie müssten sich dort mit ihrem Wagen hinstellen und auf ihn warten, stundenlang, vielleicht sogar tage-, wochen- oder monatelang. Das war eine schreckliche Vorstellung, beide waren sie nicht der Typ, der sich ohne Bewegung, ohne Action, an einem Ort aufhielt und sich nicht rührte, aber vermutlich müssten sie genauso verfahren. Sie könnten diese Arbeit auch an Kollegen delegieren, aber sie machte sie lieber gleich selbst. Der Hinweis auf den ominösen Mann war die einzige Spur, die sie hatten, wenn man das überhaupt eine Spur nennen konnte, aber es war ein Hinweis, dem sie nachzugehen gedachten. Am nächsten Tag begannen sie mit ihrer Parkplatzüberwachung, sie stellen sich zu Dienstbeginn der Gemeindemitarbeiterinnen um 8.30 h auf den Parkplatz und warteten.

Die beiden trudelten ein und sie konnten sie aus mittlerer Entfernung sehen, machten aber natürlich nicht auf sich aufmerksam, sondern sie blieben versteckt in der dritten Parkreihe, rechts und links von sich abgestellte Autos von irgendwelchen Menschen, die in der Nähe arbeiteten oder einkauften. So konnten sie beide Gemeindemitarbeiterinnen ins Gemeindeamt gehen und die Tür hinter sich zuziehen sehen. Es hatte ein Acht-Stunden-Arbeitstag für sie begonnen und sie kämen, wenn überhaupt, zur Mittagspause wieder heraus oder erst bei Feierabend um 17.00 h. So lange mussten KHK Kortner und KOK Schneider mindestens auf dem Parkplatz stehen und die Umgebung beobachten. Es würde ihnen mit Sicherheit irgendwann langweilig werden und sie würden ihre Arbeit verfluchen, aber es nutzte nichts, sie mussten auf dem Parkplatz warten. Der Parkplatz war der Schüttbacher Marktplatz, auf dem einmal pro Woche der Wochenmarkt abgehalten wurde, dieser Tag war der Mittwoch, der nächste Tag also. Der Parkplatz würde um die Hälfte verkleinert, damit die Markthändler ihre Stände aufbauen könnten, da KHK Kortner und KOK Schneider aber zu den Ersten gehörten, die sich einen Parkplatz suchten, sollten sie keine Probleme haben, einen Platz zu bekommen. Der Marktplatz war das Zentrum des kleinen Ortes, um ihn herum gruppierten sich die wichtigsten Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen, er hatte eine quadratische Grundfläche und einen Kantenlänge von ungefähr dreißig Metern.

An der einen Seite lag in der Mitte das Gemeindeamt in einem alten Backsteinhaus, das sicher an die hundert Jahre alt war, links neben ihm gab es die Post, auch in einem Backsteinbau und auf der anderen Seite die Drogerie Rossmann. Im Uhrzeigersinn weiter gab es an der nächsten Seite Aldi, Haushaltwaren Korsch, Reisebüro Müller, an der dem Gemeindeamt gegenüberliegenden Seite die Apotheke, ein kleines Ärztehaus und ein Sonnenstudio und weiter an der letzten Seite die Bäckerei Erben, Fahrräder Grossmann und eine Boutique. Um 9.00 h waren alle Läden geöffnet und es begann allmählich ein reger Kundenverkehr anzulaufen, die Leute kamen mit ihren Autos und fuhren wieder weg, oder sie kamen mit ihren Fahrrädern und stellten sie vor den Geschäften in die Fahrradständer. Die Polizisten standen mit der Vorderseite ihres Autos zum Gemeindeamt und beobachteten den Eingang, an dem sich so gut wie nichts tat. Neben dem Eingang zum Gemeindeamt gab es den Eingang zur Stadtbücherei, die aber am Vormittag nicht frequentiert wurde. Bei Rossmann wurden Werbetafeln draußen aufgestellt, auf denen auf billige Fotoarbeiten hingewiesen wurde, man könnte seine Speicherkarte in den Fotoautomaten stecken und gleich seine ausgedruckten Bilder mitnehmen.

Bei der Post herrschte auch schon am Morgen Hochbetrieb, die Kunden brachten oder holten Pakete oder schickten Briefe oder Karten ab, die sie im Postamt frankieren ließen. Draußen hing ein Briefmarkenautomat, aber die Leute ließen sich lieber im Postamt bedienen, daneben war ein Paketcenter aufgestellt, mit dem aber die wenigsten Menschen klarkamen, weil dessen Bedienung nicht ganz einfach war, besonders alte Menschen waren damit überfordert und liefen lieber ins Postgebäude, um ihre Pakete dort aufzugeben oder welche abzuholen, wie sie das seit jeher getan hatten. Zum Teil kannten sie auch die Postbediensteten, die dort in manchen Fällen schon seit über zwanzig Jahren beschäftigt waren. Bei den anderen alteingesessenen Geschäften verhielt es sich so ähnlich, sie waren meistens Familienbetriebe und wurden in der Nachfolge von den Kindern geführt. Der Vormittag dümpelte so vor sich hin, KHK Kortner und KOK Schneider beobachteten den Publikumsverkehr vor den Geschäften, der sich je nach Laden sehr unterschiedlich ausnahm. So gaben sich bei Aldi die Kunden die Klinke in die Hand, während bei Fahrrad Grossmann nichts los war, was nicht weiter verwunderte, denn Fahrräder kaufte man nicht jeden Tag. Aldi war in das alte Schüttbacher Kino gezogen, das es vormals auf der Platzecke gegeben hatte, es hieß früher Lichtburg, musste aber irgendwann aufgeben, als die Kinobesucher ausblieben, weil die Leute fernsahen oder die großen UCI-Kinos in Feldstadt oder Mensingen bevorzugten. Aldi hatte den Kinoparkplatz ausgebaut und erweitert, damit die Kunden bequem parken konnten. Die Schlange der Wartenden vor dem Ärztehaus hatte sich nach Öffnung der Arztpraxen aufgelöst, die Menschen hatten sich im Haus verteilt, nachdem sie vorher den gesamten Bürgersteig in Besitz genommen hatten.

Es gab einen Orthopäden unter den Ärzten, bei dem traditionell immer viel los war, weil die Menschen zunehmend Rückenprobleme davontrugen, denn es bewegte sich kaum noch jemand. Sie warteten zum Teil zwei Stunden auf dem Bürgersteig, auch bei Regenwetter, um danach beim Orthopäden innerhalb von drei Minuten abgefertigt zu werden oder sie wurden dort auf eine der sechs Liegen gelegt und bekamen Akupunkturnadeln verpasst, die sie dreißig Minuten stecken lassen mussten, um danach wieder aufstehen zu dürfen. Es gab im Ärztehaus noch einen praktischen Art und einen Zahnarzt, damit war der kleine Ort Schüttbach ärztemäßig gut versorgt und die Patienten mussten nicht nach Feldstadt oder gar Mensingen zum Arzt, es fehlte in Schüttbach eigentlich nur ein Kinderarzt. Die Apotheke nebenan lebte gut von den Ärzten, die Patienten kamen gleich mit ihren Rezepten und holten ihre Medikamente, es gab schon noch kleine Kundenstaus in der Apotheke, die sich in aller Regel aber schnell auflösten. Der Apotheker machte seinen Umsatz und hatte bislang Glück, dass sich noch kein Konkurrent in Schüttbach niedergelassen hatte.

Viele alte Kunden kannte er schon seit Langem, wenn sie kamen, nahmen sie die Apotheken-Umschau mit, um die Rätsel in deren Innenteil zu lösen. Das Ärztehaus lag hinter dem Wagen von KHK Kortner und KOK Schneider und die beide konnten deshalb nur schlecht darauf achten, was dort los war. Das Sonnenstudio war nur etwas für eingefleischte Sonnenanbeter, entsprechend wenig Publikumsverkehr herrschte dort und nachdem sich allgemein herumgesprochen hatte, wie schädlich die Sonnenbestrahlung der Haut, auch in Sonnenstudios, war, ließ der Besuch der Sonnenstudios merklich nach, die Kunden blieben weg und die wirtschaftliche Situation der Sonnenstudios war denkbar schlecht. Bei der ganz alteingesessenen Bäckerei an der Südwestecke des Platzes sah die Sache ganz anders aus, dort kauften die Einwohner von Schüttbach schon seit undenklichen Zeiten ihre Brötchen und ihr Brot. Die Bäckerei Erben war ein Traditionsbetrieb, der sich allerdings den geänderten Gepflogenheiten angepasst hatte, spätestens seit die Nachkommen der alten Familie Erben im Laden standen, gab es Stehtische im Verkaufsraum, an denen man Cappuccino trinken konnte, es gab Sandwiches, die jeden Morgen frisch von Frau Erben und ihrer Tochter gemacht wurden, und man konnte seit Neustem auch am Sonntagmorgen seine Brötchen holen.

Seit der junge Erben seine Konditorausbildung beendet und im Elternbetrieb angefangen hatte, trug man sich mit dem Gedanken, aus der Bäckerei ein Cafe zu machen. Die Pläne gab es schon seit Längerem und man dachte auch daran, einen Straßenbetrieb zu eröffnen, brauchte dafür aber die Genehmigung des Ordnungsamtes, die Sache war in Arbeit. Bei Fahrräder Grossmann ging es beschaulicher zu, der Betrieb lebte mit Ach und Krach von der Reparatur und der Wartung der Fahrräder. Herr Grossmann sähe sicher lieber mehr Kunden in seinem Laden so wie früher, als alle Schüttbacher ihre Räder bei ihm kauften und sie auch dort warten ließen. Mittlerweile boten aber große Einkaufszentren Fahrräder an, zu konkurrenzlos günstigen Preisen, sie boten sicher nicht den kundenfreundlichen Reparaturservice, den Grossmann bieten konnte, wer aber bereit war, eine Zeit zu warten, der brachte sein Rad zum Einkaufszentrum und ließ dort die Reparatur oder die Garantiearbeit durchführen. Das war aufwendiger, als sein Rad zu Grossmann zu bringen, es war aber preislich viel günstiger. Bei Grossmann war man gerade dabei, auf Elektrofahrräder umzustellen, das aber erst, seit der Nachkomme den Laden führte. Mit Elektrofahrrädern kam man den Alten entgegen, denen das Radfahren doch zunehmend Probleme bereitete, und die mit einem Elektrorad auch gegen den Wind fahren konnten. In dem Laden, in dem zu diesem Zeitpunkt die Boutique untergebracht war, herrschte eine große Fluktuation, fast monatlich wechselte dort der Ladenbesitzer.

Das war eine Beobachtung, die man überall machen konnte, wo Boutiquen eröffnet wurden, vermutlich lag das an der minderwertigen Warenqualität, die man dort geboten bekam. Das war die Szenerie, die sich KHK Kortner und KOK Schneider aus ihrem Auto heraus zeigte. Die beiden hatten aber natürlich ihr Hauptaugenmerk auf den Eingang zum Gemeindeamt gerichtet, auch auf die Post und die Drogerie Rossmann. Um die Mittagszeit wurde es ruhiger auf dem Marktplatz, weil die Post und einige Läden, aber auch das Ärztehaus und die Apotheke eine Mittagspause machten. KOK Schneider war vor der Schließung der Bäckerei hinübergelaufen und hatte für seinen Kollegen und für sich zwei Sandwiches und zwei Cappuccino geholt. Nachdem sie ihr Mittagessen vertilgt hatten, machte sich bei ihnen Langeweile breit und sie kamen überein, dass sie abwechselnd ein Schläfchen machten und dazu ihre Sitzlehnen nach hinten klappten, der jeweils andere sollte in der Zeit die Augen aufhalten und den Marktplatz beobachten. KOK Schneider hatte von der Bäckerei den Feldstädter Anzeiger mitgebracht, das war die in der Gegend am meisten verbreitete Tageszeitung und in ihr standen alle wichtigen Ereignisse, die vorfielen. Natürlich wurde auch von den Morden berichtet, man war eigentlich mit dem Lokalredakteur so verblieben, dass er auf die Polizeiarbeit nicht eingehen sollte, er ließ aber erkennen, dass er davon nicht viel hielt, weil man in der Öffentlichkeit einfach nicht mitbekam, dass sich in den Ermittlungen etwas tat.

In zum Teil reißerischer Aufmachung wie:

„Polizei schon am Ende?“ schrieb er über Dinge, die er gar nicht wissen konnte, das hieß, er fantasierte, was man ihm nicht verdenken konnte, denn seine Leserschaft erwartete von ihm diese Berichterstattung, er hätte die Morde ja nicht unerwähnt lassen können. KOK Schneider nahm sich vor, mit dem Lokalredakteur ein Hühnchen zu rupfen, bei allem Respekt vor der redaktionellen Freiheit konnte es nicht zugelassen werden, dass solche Fantasiegespinste Verbreitung fanden wie:

„Bürger schützt Eure Töchter!“.

Gegen 15.00 h kehrte das Leben auf den Marktplatz zurück, KHK Kortner war längst wieder wach und KOK Schneider hatte eine halbe Stunde geruht, er konnte aber in dieser Position nicht schlafen und hatte nur gedöst. Es waren zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr Kinder und Jugendliche auf dem Marktplatz zu sehen als noch am Vormittag, weil die Schule um 13.30 h zu Ende war. Es gab am Ort eine Grundschule, Haupt-, Realschule und Gymnasium waren in Feldstadt. Mache Jugendliche nutzen die eben asphaltierte Fläche des Marktplatzes und fuhren Skateboard, andere, zumeist Mädchen, fuhren Inlineskater und nach langem Ringen hatte man sich in der Schüttbacher Gemeindeverwaltung bereiterklärt, den Jugendlichen eine Halfpipe auf den Platz zu stellen, an der sie ihre Kunststücke mit den Skateboards vorführen konnten.

Es gab auch vereinzelte BMX-Räder, mit denen die Halfpipe genommen wurde, die waren aber die Ausnahme, weil der Umgang mit einem BMX-Rad große Geschicklichkeit erforderte. Ein BMX-Rad hatte längst nicht jeder Jugendliche, weil ein solches Rad teuer war, die meisten bestellten es sich über das Internet, weil sie eine bestimmte Marke haben wollten, die sie im örtlichen Fahrradhandel, bei Grossmann also, nicht bekamen. Das Herumgefahre an der Halfpipe machte natürlich Krach und der störte viele Geschäftsleute, vor allem Erben, wenn bei ihnen der Außenbetrieb losginge, es fühlten sich sicher manche Cafegäste gestört. Das war auch der Punkt der Halfpipegegner in der Bürgerversammlung im Gemeindeamt. Zum Glück für die Kinder und Jugendlichen haben sich aber die Befürworter durchgesetzt, man wollte die Kinder und Jugendlichen nicht aus dem Ortsbild verbannen, sie gehörten dazu wie alle anderen Ortsbewohner auch. Man war übereingekommen, die Halfpipenutzung ab 19.00 h zu verbieten, denn der Krach war doch beträchtlich, die umstehenden Häuser reflektierten den Schall und machten den Platz zu einem Resonanzkörper. KHK Kortner und KOK Schneider beabsichtigten, ihre Beobachtung auf dem Platz um 17.00 h zu beenden, wenn die beiden Mitarbeiterinnen der Gemeindeverwaltung Feierabend hätten.

Sie hatten demzufolge noch eineinhalb Stunden zu warten und fühlten sich extrem gelangweilt. Um kurz vor 17.00 h schauten die beiden auf ihre Uhren und zählten fast die Minuten, bis endlich die Tür zum Gemeindeamt geöffnet wurde und die Mitarbeiterinnen herauskamen. Sie standen noch vor ihren Autos und redeten miteinander, bevor sie einstiegen und zu sich nach Hause fuhren, die eine fuhr nach Feldstadt, die andere nach Gernsbach. Damit war der erste Beobachtungstag für die beiden Polizisten beendet und KHK Kortner ließ den Motor an, es war nichts Auffälliges geschehen, das ihre Aufmerksamkeit hätte erregen sollen. Die beiden Beamten fuhren nach Selldorf, denn sie wollten noch einmal mit Miriam sprechen. Sie kamen an der Stelle vorbei, an der Annabelle Memmert ermordet worden war und schauten sich an, sie waren aber zu müde, um etwas zu sagen und fuhren durch den ganzen Ort, bis sie zu Miriams Haus kamen. Sie schellten und Miriam öffnete ihnen die Haustür, Miriams Mutter kam zu ihnen und fragte gleich die beiden Männer, die vor ihrer Haustür standen, wer sie wären. KHK Kortner und KOK Schneider zückten ihre Dienstausweise und hielten sie Miriams Mutter vor die Nase, sie sagten:

„Wir haben noch ein paar Fragen an Miriam und wollen sie nicht lange aufhalten.“ Miriams Mutter verlor ihre Skepsis gleich wieder, ihre Tochter und sie glichen sich sehr stark, beide waren groß und schlank und hatten lange Haare, nur in ihrer Kleidung unterschieden sie sich, Miriam trug Jeans und T-Shirt, ihre Mutter Rock und Bluse. Die Beamten traten ins Haus und Miriam fragte:

„Möchten Sie eine Tasse Kaffee trinken?“, sie nahmen das Angebot dankbar an. Nachdem Miriam beiden eine Kaffeetasse hingestellt hatte, fragte KHK Kortner sie:

„Hat Annabelle nie etwas von einem Mann erzählt der sie angesprochen und aufgefordert hätte, ihm zu folgen?“

„Doch“, sagte Miriam, „Annabelle hat mir von solch einer Begegnung mit diesem Mann berichtet, es ist aber nie großartig darüber geredet worden, es ist bei der bloßen Erwähnung geblieben, der Mann hat Annabelle auf dem Marktplatz in Schüttbach angesprochen, so viel habe ich behalten.“ Miriam fragte ob der zweite Mord mit dem Mord an Annabelle zusammenhinge, und die Beamten antworteten, dass bei dem zweiten Mord ebenfalls ein ominöser Mann eine Rolle gespielt hätte, der Mareike Berenkötter auf dem Marktplatz in Schüttbach angesprochen hätte. Ob ihr sonst noch Dinge einfielen, die sie für erwähnenswert hielte, fragten die beiden Beamten das Mädchen und Miriam antwortete, dass Annabelle einmal für ganz kurze Zeit mit dem älteren Sohn von KHK Kortner liiert gewesen wäre, aber das wüsste er sicher schon.

„Annabelle fehlt mir unwahrscheinlich“, sagte Miriam, alle Freundinnen in der Schule dächten so, Annabelle hinterließ eine nicht zu schließende Lücke. Die beiden Polizisten tranken ihren Kaffee und bedankten sich bei Miriam für ihre Auskünfte, sie verabschiedeten sich von ihrer Mutter und ihr und fuhren nach Feldstadt ins Präsidium. Sie setzten sich eine Zeit lang in ihr Dienstzimmer und ließen ihren Beobachtungstag noch einmal Revue passieren. Am nächsten Tag wollten sie ihren starren Beobachtungsalltag aus dem Auto heraus aufgeben und auf dem Marktplatz herumlaufen, sie glaubten nicht, dass sie dadurch ihren möglichen Beobachtungsgegenstand aus den Augen verlören, wenn es ein Mann auf die beiden Mitarbeiterinnen der Gemeindeverwaltung abgesehen hätte, käme er ihnen zu Gesicht, sie würden die Tür zum Gemeindeamt immer im Auge behalten. Sie wollten einige CDs mitnehmen, damit sie während des Wartens wenigstens ein bisschen musikalische Ablenkung hätten, denn die Langeweile wäre fürchterlich. Am nächsten Morgen standen sie wieder auf ihrem Parkplatz, der Unterschied zum Vortag war, dass neben ihnen ein Obststand aufgebaut war, es war Wochenmarkt in Schüttbach und deshalb viel mehr los im Ort als am Vortag. Die Menschen kamen aus der ganzen Umgebung nach Schüttbach, um ihre Einkäufe auf dem Markt zu tätigen, vor allem kamen sie von den Bauernhöfen. KHK Kortner und KOK Schneider legten eine CD in den Player und beobachteten die Marktszene, es war ihnen ein wenig die Sicht auf die Tür zum Gemeindeamt versperrt, weil ein Blumenstand zwischen dem Gemeindeamt und ihrem Auto postiert war.

Deshalb verließ KOK Schneider den Wagen und stellte sich so hin, dass er den Überblick behielt, er würde KHK Kortner ein Zeichen geben, wenn es nötig wäre. Die Sonne schien an diesem Morgen vom Himmel und wärmte den Platz so richtig auf, es wehte kaum ein Windchen, das einen Luftaustausch herbeigeführt hätte und so wurde es im Auto schnell unerträglich, zumal der Wagen nicht im Schatten stand. Die beiden Gemeindemitarbeiterinnen waren längst im Gebäude verschwunden, die Tür war hinter ihnen zugeschwungen, als sich die beiden Beamten über den Markt bewegten, KHK Kortner hatte es nicht länger im Auto ausgehalten. Die Halfpipe lag eingekeilt zwischen einem Obst- und einem Fischstand und würde erst am Nachmittag wieder genutzt werden, wenn die Kinder aus der Schule gekommen und die Marktstände wieder abgebaut worden wären. An den Platzrändern standen Bänke, auf die sich die beiden Polizisten gesetzt hatten, sie saßen sich gegenüber, also etwa dreißig Meter voneinander entfernt und lasen im Feldstädter Anzeiger, den Blick gelegentlich auf die Tür zum Gemeindeamt gerichtet. Dickleibige Bauersfrauen mit einer vom Bluthochdruck herrührenden Röte im Gesicht durchstreiften die Marktstände und waren auf der Suche nach dem günstigsten Angebot für die Produkte, die sie suchten. Sie hatten große Einkaufstaschen am Arm hängen und schleppten diese über den Markt, es befanden sich schon Waren darin, die einiges wogen und ihre Tragarme lang werden ließen.

Die meisten dieser Frauen, die oft nur einen Haushaltskittel trugen, waren mit dem Fahrrad gekommen und würden die Taschen an die Lenkstange hängen oder auf den Gepäckträger setzen, wenn sie wieder nach Hause fuhren. Es gab aber auch elegant gekleidete Frauen unter den Marktbesucherinnen, die aus Schüttbach, Gernsbach oder auch Selldorf stammten, die kauften meistens Obst oder standen an einem Fleischstand an. Am späten Vormittag war der Markt brechend voll, es war heiß und die Menschen schwitzten, als sie sich durch die engen Durchgänge zwischen den Ständen zwängten. Es stand an diesem Morgen nichts über die Morde im Feldstädter Anzeiger, was die beiden Beamten doch wunderte, es hatte aber auch nichts gegeben, worüber es sich zu schreiben gelohnt hätte. Um die Mittagszeit hatte sich eine dermaßen starke Hitze entwickelt, dass die Markthändler in ihren Ständen stöhnten und, wenn irgend möglich, im Schatten standen, was den Marktbesuchern natürlich nicht immer möglich war, sie begaben sich zum Ausruhen in den Schatten der Hauswände und hielten ein Quätschchen. KHK Kortner und KOK Schneider wechselten ihre Bänke und nahmen welche, die wenigstens für kurze Zeit im Schatten lagen, denn das Sitzen war in der Sonne nicht auszuhalten. Am Mittag ebbte der Marktbesuch ein wenig ab, das war eine völlig normale Erscheinung, die Hauptgeschäfte waren auf dem Markt getätigt und man würde gegen 13.00 h mit dem Abbau der Stände beginnen.

Wie gern hätte man bei Erben seine Kunden auf dem Platz bedient und ihnen Kaffee und Kuchen herausgebracht, aber man wartete noch auf die Errichtungsgenehmigung für den Außenbetrieb. Die beiden Polizisten hatten sich in der Bäckerei etwas zu essen und zu trinken für ihre Mittagspause geholt, setzten sich wieder auf ihre Bänke und als sie mit ihrem Mittagsmahl fertig waren, begannen die Markthändler mit dem Abbau ihrer Stände. PKWs mit Hänger kamen auf den Platz gefahren und die Hänger wurden mit dem Standmaterial beladen. Manche Händler hatten Klappstände, die nur zusammengelegt und an den PKW gehängt werden mussten. Der Markt war innerhalb einer Dreiviertelstunde wieder geräumt und wurde gleich im Anschluss von städtischen Kehrmaschinen gereinigt, gegen 14.30 h war der Platz wieder zum Parken freigegeben. Es dauerte nicht lange und der Platz war wieder mit Autos vollgestellt, alle, die vorher ihre Autos wegen des Marktes in die Seitenstraßen gestellt hatten, holten diese wieder auf den Marktplatz und Parkten an den angestammten Orten. Der Blick war wieder frei, KHK Kortner und KOK Schneider waren aber in der Beobachtung der Szenerie längst nicht mehr so aufmerksam wie am ersten Tag, die Hitze nahm ihnen die Konzentrationsfähigkeit.

In der Mittagspause herrschte bis 15.00 h eine wärmebedingte Ruhe, die wohltat nach dem hektischen Marktvormittag und als um 15.00 h wieder die Geschäfte geöffnet wurden, waren längst wieder die Kinder und Jugendlichen auf dem Platz und übten an der Halfpipe. Die zwei Stunden bis zum Ende ihres Beobachtungstages verbrachten die beiden Polizisten auf ihren Bänken, das Auto stand die ganze Zeit in der prallen Sonne und wäre sicher kein angenehmer Aufenthaltsort gewesen. An diesem Tag hatten das Ärztehaus und die Apotheke am Nachmittag geschlossen, weshalb diese Platzseite sehr ruhig blieb und nicht von den Patienten mit Beschlag belegt wurde. Es gab Geschäfte, in denen Dauerbetrieb herrschte, zu diesen gehörte Aldi, und wenn am nächsten Tag die im Flyer angekündigten Produkte angeboten würden, kämen noch mehr Kunden. Es gäbe am Donnerstag, dem nächsten Tag also, Flachbildfernseher mit zweiunddreißig Zoll Bildschirmdiagonale und damit Geräte, die nach Maßstäben, die heute galten, nicht mehr als groß bezeichnet werden konnte, was aber früher durchaus respektvoll gewesen wäre. Die Kunden würden sich bei Aldi wieder die Klinke in die Hand geben und die Flachbildfernseher herausschleppen. Es war bei einer Verkaufsaktion bei Aldi, bei der es um Computer gegangen war, vor einigen Jahren in Süddeutschland zu Schießereien gekommen, als jemand einem anderen den letzten Computer vor der Nase wegschnappen wollte.

Gegen 16.00 h hatte sich das alte Bild auf dem Marktplatz eingestellt, die Kinder und die Jugendlichen fuhren auf der Halfpipe, die Mädchen fuhren Inlineskater über den ebenen Platz und die Kundschaft besuchte die Geschäfte. Beim Reisebüro war einiges los, nachdem es in Ägypten zu Unruhen gekommen war und die Leute ihre gebuchten Ägyptenreisen stornieren lassen wollten. Um 17.00 h kamen die beiden Frauen aus dem Gemeindeamt, gingen zu ihren Autos und unterhielten sich dort wie üblich noch eine Weile, bevor sie einstiegen und nach Hause fuhren. Damit war der zweite Beobachtungstag beendet und die Beamten stiegen in ihren völlig überhitzten Wagen, um zum Präsidium nach Feldstadt zurückzufahren. Als sie in ihrem Dienstzimmer saßen, kam ihr Chef hereingestürzt und wollte von ihnen wissen, ob ihre Beobachtung des Schüttbacher Marktplatzes etwas brächte, er verlangte von ihnen eine Einschätzung. KHK Kortner musste zugeben:

„Es ist noch nicht viel dabei herausgekommen“, und er musste sich von seinem Chef sagen lassen, dass er ihnen beiden noch einen Tag gäbe, danach müssten sie die Aktion abbrechen, schließlich würden seine Beamten nicht dafür bezahlt, dass sie untätig herum säßen. Der Steuerzahler hätte ein Recht darauf zu erwarten, dass die Polizei etwas sichtbares unternähme, wenn Verbrechen passiert wären. Eigentlich waren die beiden Beamten froh, als am nächsten Tag ihr letzter Beobachtungstag angebrochen war, sie wussten nicht, ob sie noch einen weiteren Tag mit Nichtstun verbringen könnten. Viel Hoffnung hatten sie nicht, als sie sich am Morgen auf den Marktplatz stellten und ihren Posten bezogen.

Alles nahm seinen normalen Verlauf, die Geschäfte öffneten um 9.00 h, die beiden Frauen waren im Gemeindeamt verschwunden und die Kunden strömten zu Aldi und kamen mit riesigen Verpackungen wieder heraus, in denen die Flachbildfernseher steckten. Sie hatten schwer daran zu schleppen und wenn sie keinen Einkaufswagen gehabt hätten, wären sie wohl überfordert gewesen. Sie wuchteten auf dem Kundenparkplatz die Geräte in ihre Autos und mussten dazu zum Teil die Verpackung abreißen, weil sie zu groß war, sie brachten anschließend die Verpackung zurück und warfen sie in den dafür vorgesehenen Behälter neben dem Aldieingang. Die Beamten holten sich bei Erben wieder ihre Mittagsverpflegung und eine Zeitung und verbrachten die Mittagspause draußen auf den Bänken. KHK Kortner nickte kurz im Sitzen ein und KOK Schneider weckte ihn wieder, nachdem er ihn eine halbe Stunde hatte ruhen lassen. Sie lasen beide in ihren Zeitungen und stellten fest, dass eigentlich immer das Gleiche darin stand. Als die Kinder und Jugendlichen auf dem Marktplatz erschienen, wurde es auf dem Platz richtig laut und die Beamten hätten die Gegner der Halfpipe fast verstanden meinten aber am Schluss, dass die gefundene Regelung schon ganz in Ordnung wäre.

An ihrem dritten Tag verging nach ihrem Empfinden die Zeit merkwürdigerweise beinahe wie im Flug, sie hatten keine Erklärung dafür, sie waren selbst überrascht, als es schon 15.00 h und die Mittagspause vorbei war. KOK Schneider lief zu Aldi und holte für sich zu Hause ein paar Sachen zu essen, seine Frau hatte ihm einen Zettel mitgegeben und gemeint, wenn er schon in Schüttbach vor Aldi stünde, könnte er doch auch etwas einkaufen. Er packte seine Sachen ins Auto und setzte sich für die letzte halbe Stunde ihrer Beobachtung neben KHK Kortner auf die Bank. Er sagte ihm:

„Ich finde es schade, dass wir so erfolglos gewesen sind“, und KHK Kortner pflichtete ihm bei:

„Das haben wir ja nicht vorhersehen können und einen Versuch ist die Sache doch wert gewesen.“ Um 17.00 h kamen die beiden Frauen wieder aus dem Gemeindeamt und liefen zu ihren Autos, wo sie für eine Zeit lang stehen blieben und miteinander redeten, als sich ihnen von der Boutique-Seite her zwei Männer näherten und sie ansprachen. KHK Kortner und KOK Schneider waren plötzlich wie elektrisiert und sprangen von ihrer Bank auf, sie liefen zu den beiden Gemeindemitarbeiterinnen und als sie von diesen bemerkt wurden, schrien sie auch schon um Hilfe. KHK Kortner und KOK Schneider begannen zu rennen, aber die beiden Männer flohen wie von der Tarantel gestochen zu einem metallicsilbernen Mercedes Kombi, es war ein alter 123er 230 TE, KOK Schneider konnte noch gerade den ersten Teil des Kennzeichens lesen: MEN..., mehr entzifferte er aber nicht, als die beiden fremden Männer mit qietschenden Reifen davonrasten.

Die Beamten beruhigten die beiden Frauen, „wir hätten nicht gewusst, was wir hätten tun sollen, wenn Sie nicht gekommen wären“, sagten die Frauen zu ihnen. Die Beamten baten die beiden, mit ihnen zu einer Bank zu gehen und eine Beschreibung der Männer abzugeben, sie selbst konnten auch etwas dazu beitragen, hatten die Männer aber nicht so deutlich gesehen wie die Frauen. KHK Kortner machte sich Notizen, ihnen allen war die Glatze des einen Mannes aufgefallen, die beiden waren höchstens Mitte dreißig gewesen und von guter sportlicher Statur, sie waren groß, der andere hatte blondes mittellanges Haar. Von der Glatze abgesehen waren die beiden Allerweltstypen und es wäre sicher schwer, sie dingfest zu machen. Die Beamten dankten den Frauen für ihre Beschreibung:

„Fahren Sie nach Hause, so schnell kommen die beiden wohl nicht wieder, nachdem sie bemerken mussten, dass die Polizei sie beobachtet.“ Es hatte keinen Zweck, die Verfolgung der Männer aufzunehmen, sie wären längst über alle Berge, bevor die Polizisten ihren Wagen erreicht hätten und losgefahren wären.

KHK Kortner gab einen Fahndungsauftrag nach einem silbermetallicfarbenen Mercedes Kombi Typ 123 heraus, er erhoffte sich aber nicht viel davon, denn sicher würden die Männer nicht großartig mit dem Wagen durch die Gegend fahren, sondern ihn irgendwo geschützt in eine Garage stellen. Immerhin hatten die Beamten eine ungefähre Beschreibung der Männer, das markanteste Merkmal war wohl die Glatze eines der beiden, wenn es inzwischen auch häufiger Glatzen zu sehen gab, so waren sie doch noch etwas Besonderes, das auffiel. KHK Kortner und KOK Schneider beschlossen, über Selldorf ins Präsidium zurückzufahren und auf dem Weg noch einmal bei Bauer Steffens vorbeizuschauen, sie wollten ihm sagen, dass er das Maisfeld, in dem die Leiche von Mareike Berenkötter gefunden worden war, nun abernten könnte. Sie verließen Schüttbach wieder, in den vergangenen drei Tagen hatten sie die Idylle des verschlafenen Nestes kennen lernen können, sie empfanden ein wenig Wehmut, als sie wegfuhren. Beide ließen sie ihren Blick noch einmal über den Marktplatz schweifen, den sie in allen seinen Erscheinungsformen haben erleben dürfen, als Parkplatz, als Wochenmarkt und als Spielplatz für die Kinder und Jugendlichen. Sie fuhren die vier Kilometer nach Selldorf und passierten die Mordplätze, bevor sie Selldorf durchquerten und zu Bauer Steffens einbogen. Sie kamen über den Zufahrtsweg wieder an der Kuhweide mit dem Fleckvieh vorbei und sahen die Kühe mit so prallen Eutern, als hätte Bauer Steffens sie zu melken vergessen. Als sie auf den Hof fuhren, sahen sie niemanden, alles wirkte so verlassen, als wären die Bauersleute weggefahren, auch von Benjamin war nichts zu sehen.

KHK Kortner rief laut nach Bauer Steffens, er ging mit seinem Kollegen um das verkommene Wohnhaus herum und sie betraten die Scheune, wieder rief KHK Kortner, als KOK Schneider ihn anstieß und zur Seite wies.

Morde und Leben - Kortner und Schneider

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