Читать книгу Margas Leben - Familien nach dem Krieg (3) - Hans Müller-Jüngst - Страница 3
Die Alten
Оглавление„Uns sind natürlich die schrecklichen Folgen des Krieges erspart geblieben, und wir konnten uns einrichten so gut es ging, ich denke, wir werden auch immer dafür dankbar sein, dass es uns heute so gut geht“, sagte Agnes.
„Ich glaube, dass für Euch auch bald die Zeit anbrechen wird, in der sich alles wieder zum Guten wenden wird, und sich allgemein der Lebensstandard heben wird“, meinte Robert, „zuerst müsst Ihr noch die Kriegsfolgen tragen, aber Ihr seid ja nicht so betroffen wie andere, davon konnten wir uns überzeugen, als wir bei Euch in Essen waren, Euch geht es doch vergleichsweise sehr gut, ich denke, dass diejenigen, die hungern, die Konsequenzen aus dem Krieg als besonders schlimm empfinden, und mit denen sollten wir Mitleid haben!“ Piet entgegnete:
„Warum sollen wir mit denen Mitleid haben, die Kriegstreiber erfahren doch nur ihre gerechte Strafe, nach aller Not, das sie über ihre Nachbarvölker gebracht haben, müssen sie nun selbst unter solchen Übeln leiden“, und damit brachte er wieder eine seiner Thesen hervor, mit der sich die anderen auseinandersetzen sollten, so seine Vorstellung. Werner entgegnete:
„Dieser Bestrafungsgedanke lässt sich, wenn überhaupt, nicht auf ein ganzes Volk übertragen, große Teile des deutschen Volkes wollten diesen Krieg nicht, weil sie den Ersten Weltkrieg noch in schlimmer Erinnerung hatten, wenn man von Bestrafung sprechen will, dann doch nur auf die Befehlshabenden bezogen, die die anderen doch mit hineingerissen haben!“
„Als Außenstehendem fällt einem ein solches Urteil leicht und ich enthalte mich da auch, Agnes und ich sind ja noch rechtzeitig aus Deutschland weggekommen“, sagte Robert.
„Eins hat doch der Zweite Weltkrieg wie jeder andere Krieg auch gezeigt, kein Krieg kann irgendwelche Probleme, welcher Art auch immer, lösen, „si vis pacem para bellum“, dieser Grundsatz ist durch die Erfahrung und die Geschichte widerlegt!“
„Da gebe ich Dir Recht“, erwiderte Piet, „dennoch waren es doch Menschen, die den Krieg geführt haben und jetzt unter seinen Folgen leiden sollen!“ Die Diskussion führte zu keinem alle zufriedenstellenden Ende und sie brachen sie ab.
Agnes sagte:
„Wir sollten vor dem Abendessen alle noch ein paar Schritte laufen, auch wenn Ihr heute Mittag schon an der Gracht wart!“ Sie räumten den Kaffeetisch ab und die Kinder nahmen einige Süßigkeiten aus ihren Osterkörbchen, die sie auf dem Spaziergang essen wollten. Genau wie am Mittag verzichteten sie alle auf warme Kleidung und liefen in Pullovern die Gracht entlang. Sie genossen die milde Luft, die ihnen um die Nasen strich und redeten nicht viel, als sie am Ufer der Gracht entlangliefen, ganz langsam. Die Kinder packten ihre Bonbons und Schokoeier aus, damit hatten sie so viel zu tun, dass sie nicht dazu kamen, Steine ins Wasser zu werfen, was sie sonst immer taten.
„Wenn wir morgen nach Zandvoort fahren wollen, müssen wir uns aber früher treffen als sonst immer!“, sagte Bärbel.
„Wenn wir um 9.00 h bei Euch sind, sollte das doch wohl reichen!“, entgegnete Doris und Agnes sagte, dass das in Ordnung wäre. An der Herenstraatbrücke kehrte sie alle wieder um und schlenderten zurück, es war 17.30 h geworden, und es wurde langsam doch etwas frischer, sodass die Frauen zu frieren begannen, und alle froh waren, als sie wieder zu Hause waren.
„Soll ich den Kamin anzünden?“, fragte Robert und alle waren dafür. Robert knubbelte alte Zeitung zusammen und legte sie unter einen Stapel Anmachholz.
Er gab Peter die Streichhölzer, und er durfte das Papier anstecken, im Nu brannte das Holz lichterloh und die Kinder legten kurze Zeit später mit Roberts Hilfe dickere Holzstücke auf. Als die Flammen an den größeren Holzstücken entlangzüngelten, begann es im Kamin zu knistern und zu knacken, und der Kamin strahlte nach kurzer Zeit eine Wärme ab, die die Kinder zwang, ein paar Schritte zurückzugehen. Der lodernde Kamin war eine Reminiszenz an die Winterzeit, die den Frühling aber nicht aufhalten konnte. Dennoch genossen alle noch einmal das Wärme spendende Feuer und fühlten sich an ihm wohl. Gerda sagte:
„Im Sommer, wenn wir uns wiedertreffen, kommt ihr alle zu uns nach Göttingen in unser neues Haus, Siegfried und ich werden Euch unsere Stadt zeigen und einiges mit Euch unternehmen.“ Agnes hatte einen Rinderbraten im Backofen und wollte Erbsen und Möhren dazu reichen. Sie verschwand mit Bärbel in der Küche, schälte mit ihr zusammen Kartoffeln und setzte sie auf. Das Fleisch erwärmte sie noch zwanzig Minuten und kochte in der Zwischenzeit die Erbsen und die Möhren, bis sie weich waren. Die jungen Frauen deckten zusammen mit Martha den Tisch und alle setzten sich daran und warteten darauf, dass das Essen gebracht wurde. Als der Rinderbraten schließlich auf dem Tisch stand, duftete der ganze Raum nach dem guten Fleisch und den Zutaten. Die Kinder ließen sich Kartoffeln mit Soße und Erbsen und Möhren geben und waren zufrieden.
Die Erwachsenen fielen in höchstes Lob über das gute Essen und Agnes hörte es gern. Ein Rinderbraten galt als der Inbegriff exquisiten Essens und es gab ihn ausschließlich an Feiertagen oder wenigstens Sonntagen, weil das Rindfleisch sehr teuer war und man es sich deshalb nur selten leisten konnte. Sie redeten während des Essens über Göttingen und ihren geplanten Besuch bei Gerda und Siegfried im kommenden Sommer.
„Habt Ihr in Eurer Praxis auch harte Fälle?“, fragte Bärbel die beiden, ohne sich über die Arbeit eines Psychotherapeuten wirklich im Klaren zu sein. Sie hatte krude Vorstellungen wie jeder von irgendwelchen gestörten Menschen, mit denen niemand außer den Therapeuten umzugehen in der Lage war.
„Natürlich haben wir auch harte Fälle, wie Du das nennst, Fälle von Patienten eben, die nur sehr schwer therapierbar sind“, antwortete Siegfried, „ich denke da zum Beispiel an einen ehemaligen Kriegsteilnehmer, der so traumatisiert worden ist, dass er sich in Gewaltorgien gegen seine Familie verlor und seine Frau und Kinder brutal schlug, ein anderer hatte an der Ostfront dermaßen schlimme Dinge erlebt, Kriegsgräuel eben, dass er völlig in sich gekehrt dasaß und nichts von sich geben konnte, an den heranzukommen war natürlich besonders schwer!“ Bärbel hatte bei ihrer Frage gar nicht so weit gedacht und im Grund auch überhaupt keine Vorstellung von den Patienten, die zu Gerda und Siegfried kamen.
„Wenn Ihr uns im Sommer Eure Praxisräume zeigt, könnt Ihr uns ja mehr über Eure Patienten erzählen!“, sagte Bärbel mehr oder weniger hilflos. Agnes hatte sich schon öfter mal Gedanken darüber gemacht wie denn wohl die Arbeit ihrer Tochter aussähe, sie wusste es aber nicht und hatte auch noch nie mit Gerda darüber gesprochen, sie nahm sich vor, das im Sommer zu tun. Robert hatte sich auch noch nie um das Berufsfeld seiner Tochter gekümmert. Die Psychotherapie hatte auch keinen sehr guten Ruf, weil sie psychisch Kranke behandelte und psychisch Kranke wurden während der NS-Zeit ausgesondert und von der Gesellschaft ferngehalten.
Niemand hatte deshalb eine Ahnung, was mit solchen Menschen überhaupt los war und wie und ob man ihnen helfen konnte. Das gesamte Feld der Psychotherapie lag vollkommen im Dunkeln, es entzog sich auch dem öffentlichen Interesse und so wusste kaum jemand Bescheid. Nach dem Essen setzten sie sich auf die Sitzgarnitur im Wohnzimmer und Robert holte Getränke. Sie sprachen über ihren Zandvoort-Ausflug, der am nächsten Tag anstehen würde. Für Gerda bedeutete Zandvoort etwas ganz Besonderes, schon als Kind war sie ganz vernarrt, wenn es an die Nordsee in Urlaub gegangen war, und sie ins Meer gehen konnte. Sie hat sich die Affinität zur See bis heute bewahrt und war schon ganz verrückt darauf, nach Zandvoort zu fahren. Gerda wollte versuchen, etwas von ihrer Liebe zum Meer auf ihre Kinder zu übertragen, aber die waren ja noch sehr klein.
„Piet und ich sind früher nicht sehr oft mit Petra ans Meer gefahren, weil wir alle keine großen Schwimmer sind“, sagte Iris, „und bei der Hitze am Strand zu liegen fanden wir zu langweilig, das ist mit den Kindern natürlich etwas anderes.“
„Ich finde, wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir eine solche Erholungsmöglichkeit wie Zandvoort bei uns in der Nähe haben“, sagte Robert, „ich bin genau wie Gerda, Agnes und Manfred sehr gern am Meer, und ich meine, wir müssen auch der Kinder wegen zum Strand fahren, denn bei Euch zu Hause in Deutschland wird so etwas ja nicht geboten!“ Doris sagte:
„Wir sind schon öfter mit Marga nach Zandvoort gefahren, ich kann aber nicht sagen, dass mich das immer begeistert hat, Max war eher jemand, der sich am Meer wohlgefühlt hat.“
„Ich war früher in Deutschland ein leidenschaftlicher Schwimmer und fühle mich am Wasser immer wohl, und natürlich freue ich mich darauf, wenn wir morgen nach Zandvoort fahren!“, entgegnete Max.
„Ich denke, dass es noch eine ganze Zeit dauern wird, bis man in Deutschland an Nord- und Ostsee wieder Urlaub machen kann, die Menschen haben im Moment natürlich auch andere Sorgen“, sagte Werner. Gegen 20.30 h brachten sie die Kinder ins Bett und die Mütter setzten sich anschließend noch zu den anderen, sie beendeten den Abend aber schon um 22.00 h und gingen alle schlafen.
Der Ostermontag war ein Feiertag, der nicht ganz so heilig daherkam, es war immer noch Ostern, sicher, aber man war in Gedanken schon wieder beim Alltag. Dennoch gab es zum Frühstück wieder Soleier für die Erwachsenen, die die Kinder verabscheuten, daraus machten sich die Erwachsenen aber nichts und führten die alte Tradition mit den Soleiern fort. An diesem Tag erschienen die anderen schon um 9.00 h wie verabredet, wünschten sich Frohe Ostern und Piet machte sich auf die Schnelle ein Solei, während die Übrigen eine Tasse Kaffee tranken. Sie hielten sich aber gar nicht mehr lange bei Agnes und Robert auf, sondern alle nahmen ihre Sachen, die sie schon am Vortag zusammengelegt hatten und gingen, nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, vor die Tür zu den Autos und verteilten sich auf die Wagen, Robert fuhr vor, und die anderen folgten ihm nach. Sie passierten Haarlem, wo sie bei dem geringen Verkehr am Ostermontag keine Probleme hatten und kamen nach einer Dreiviertelstunde in Zandvoort an. Gleich fuhren sie zum Favauge-Boulevard und parkten dort, wie sie das immer taten, wenn sie in Zandvoort waren. Alle stiegen aus den Autos und warfen einen Blick auf den Strand, der bei dem frischen Wind, der dort blies, vollkommen verlassen war. Der Verkaufsstand mit den Kinderspielsachen war gar nicht aufgebaut, und so verzichteten sie auf den Kauf von Schüppen und Eimern für die Kinder. Sie standen an der Begrenzungsmauer zum Strand und schmeckten die salzige Luft auf ihren Lippen. Gerda lief gleich auf den Sandstrand und rannte barfuß zum Wasser, sie hatte die Kinder dabei, die sofort ins Wasser wollten. Aber da war natürlich kein Denken dran, weil das Wasser viel zu kalt war, und das merkten die Kinder auch, als sie mit ihren Beinen im Wasser standen. Sie schrien vor Schmerz, den ihnen das kalte Wasser an ihren nackten Beinen bereitete und Gerda nahm die Kinder und rieb ihre Beine mit einem Handtuch ab. Inzwischen waren auch alle anderen ans Wasser gekommen und hatten ihre Hosenbeine hochgekrempelt. Sie gingen mit ihren Füßen ins Wasser und schnell wieder raus, weil sie die Kälte des Wassers schreckte. Ganz langsam liefen sie eine halbe Stunde den Strand entlang, die Mütter sagten den Kindern mehrmals:
„Lauft nicht ins Wasser, und macht Euch nicht nass, Ihr holt Euch sonst eine Erkältung!“ Aber alles Ermahnen half nichts, die Kinder rannten immer wieder ein Stück ins Wasser und schnell wieder hinaus, um sich und ihre Sachen davor zu bewahren, nass zu werden. Einmal aber passte der kleine Daniel nicht genug auf, stolperte über seine eigenen Beine und fiel lang ins Wasser, das vorne an nicht tief war, es reichte aber, um Daniels Sachen vollkommen zu durchnässen. Wie war Daniels Geschrei doch groß, nicht nur, weil er sich erschreckt hatte, sondern auch, weil die Kälte des Wasser seinem Körper zusetzte. Petra riss ihn hoch und begann sofort, ihn auszuziehen. Jeder musste im Anschluss etwas von seiner Kleidung abgeben, in das Petra ihren Sohn wickeln konnte. Am Ende war Daniel in Handtücher, Schals und Pullover gepackt, nichts, was ihm als Kleidungsstück gepasst hätte, aber darauf kam es in diesem Augenblick auch nicht an, die Hauptsache war, dass Daniel nicht fror.
Natürlich war der Strandspaziergang in diesem Moment beendet, und sie liefen zur Strandbar, die sie ein Stück weiter liegen sahen. Petra trug Daniel und hielt die Sachen, in die er gewickelt war, eng an seinen Körper gepresst. In der Bar wurden sie von den Gästen angeschaut, sie wunderten sich, was Petra da für ein Bündel auf ihren Armen trug. Der Wirt sah gleich, dass es sich um ein Kind handelte, das offensichtlich fror. Er wies Petra gleich einen Platz direkt vor der Heizung zu, sie setzte sich daraufhin mit Daniel davor und wärmte ihn. Seine nassen Sachen legte sie auf die Heizung und hoffte, dass sie in der Zeit, die sie sich in der Bar aufhielten, trockneten. Daniel war ganz friedlich und wusste wohl, dass er nicht ganz unschuldig war an dem Missgeschick, das ihm geschehen, war, aber daran war in diesem Moment nichts zu ändern. Petra hatte ihren Sohn auf ihrem Schoß und drückte ihn an sich, damit er nicht fror, während Robert Getränke bestellte und sagte:
„Das war ein recht kurzer Strandspaziergang, aber er war erlebnisreich!“, womit er natürlich auf Daniels Sturz ins Wasser anspielte.
„Ich finde, es gibt Schlimmeres und Wasser hat noch niemandem geschadet!“, rief Bärbel aus, sie wusste aber, dass sich Daniel eine Erkältung hätte zuziehen können und das wollte ja niemand.
„Möchte jemand eine Kleinigkeit essen?“, fragte Robert in die Runde, er schlug vor, ein paar Sandwiches zu bestellen, und niemand war abgeneigt. So bestellte er beim Wirt zehn Käse-Schinken-Sandwiches und ließ sie von ihm halbieren. Er ließ ein Messer bringen und die Mütter schnitten den Kindern mehrere Hälften klein. Nach einer halben Stunde prüfte Petra, ob Daniels Sachen auf der Heizung getrocknet waren, aber sie waren noch feucht und Daniel würde wohl in seiner Wickelkleidung nach Hause fahren müssen. Dort würde sie ihm sofort frische warme Sachen anziehen. Als sie ihre Sandwiches gegessen hatten, wollte niemand noch länger in der Bar bleiben und Robert bestellte die Rechnung.
„Wir müssen aber unbedingt im nächsten Sommer noch einmal herkommen!“, sagte Gerda, „wir treffen uns zwar in Göttingen, müssen aber zu einem weiteren Treffen noch einmal nach Amsterdam kommen, ich schlage vor, dass Ihr im Juli alle nach Göttingen kommt und wir uns im August wieder in Amsterdam treffen!“
„Lasst uns das doch hier und jetzt verabreden!“, sagte Agnes, „wir kommen Mitte Juli zu Euch nach Göttingen, und Ihr kommt alle Ende August wieder nach Amsterdam!“ Damit war die Sache abgemacht, Manfred müsste sich unter Umständen ein, zwei Tage freimachen und sich mit David absprechen, auch Petra müsste sich freimachen und den Bauern Bescheid geben, dass sie für eine Zeit nicht verfügbar wäre, Gerda und Siegfried müssten ihre Praxis schließen, das ließ sich aber sicher alles einrichten. Sie liefen zu den Autos, stiegen ein und fuhren nach Amsterdam zurück.
Piet, in dessen Auto Petra mit Daniel fuhr, hatte die Heizung voll aufgedreht und kam selbst beinahe ins Schwitzen, aber er dachte natürlich zuerst an den Kleinen. Zu Hause angekommen, lief Petra mit Daniel sofort auf ihr Zimmer und zog ihm komplett neue warme Sachen an. Als Daniel wieder bei den anderen erschien, blickte er ein wenig verstohlen, so als wüsste er, warum sich alle über ihn so erregt hatten.
„Heute Abend kommt Ihr alle zu uns zum Essen!“, sagte Doris und sie freuten sich über die Einladung. Es war noch früher Nachmittag und sie hatten sich alle nach draußen in die schon leicht wärmende Sonne gesetzt. Die Kinder waren im Haus und spielten in ihrer Spielecke. Das ganze Spektakel am Strand in Zandvoort hatten sie schon längst wieder vergessen, und Daniel benahm sich so, als wäre nie etwas geschehen, er saß bei Christine, die mit den Kleinen ein Bilderbuch anschaute. Die Essener und Göttinger würden noch den Dienstag in Amsterdam verbringen und am Mittwoch Mittag wieder nach Haue fahren. Das fanden sie alle sehr schade, wäre aber nicht zu ändern, denn die Göttinger, Lisa, Petra und Manfred müssten wieder arbeiten, die anderen hätten noch Ferien, aber Christine und Bernd mussten sich darauf vorbereiten, danach in die Schule zu gehen und brauchten ein wenig Vorlauf. Aber sie sähen sich ja alle in drei Monaten in Göttingen wieder, von daher ließ sich die Trennung schon ganz gut verkraften.
Für die Großeltern war der Trennungsschmerz besonders stark, sie liebten ihre Enkelkinder abgöttisch, und Agnes und Robert zählten immer die Tage, die bis zu einem erneuten Zusammentreffen mit ihnen vergingen. Und wenn sie sich schließlich alle wiedersahen, verging die Zeit wie im Flug und sie waren anschließend wieder allein. Aber Agnes und Robert waren gefestigt genug, mit ihrer Zeit etwas anzufangen, sie lasen viel und gingen öfter ins Konzert oder ins Theater, von daher wussten sie die Zeit sinnvoll zu überbrücken. Auch Iris, Piet, Doris und Max kamen zurecht, weil sie mit sich etwas anzufangen wussten, im Übrigen trafen sie sich auch untereinander, spielten zusammen Karten und unterhielten sich. Doris und Max standen auf und gingen, weil sie noch Vorbereitungen zu treffen hatten, und auch Iris und Piet gingen noch einmal zu sich nach Hause, bevor sie sich alle wieder in der Tuinstraat trafen. Bei Goldschmids machten alle eine kleine Nachmittagspause, während der sich die Alten hinlegten, und die Kinder nach Möglichkeit keinen Krach machen sollten. Die Pause dauerte nur eine Dreiviertelstunde, und die jungen Eltern saßen draußen auf der Terrasse und sprachen über den Sommer, der nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen würde. Aber es waren immerhin noch vier Monate, die sie vom Sommer trennten, und in diesen vier Monaten würde für Christine und Bernd ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnen. Lisa und Marga wollten sie mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Kraft unterstützen, wenn sie Schülerin und Schüler geworden wären.
Als die Nachmittagspause vorüber war, zogen sich alle ihre Jacken über, denn es würde sicher frisch werden, wenn sie am Abend von Doris und Max wieder nach Hause laufen würden. Sie liefen vor die Tür und sammelten sich zuerst einmal alle, jeder überprüfte, ob er alles beisammen hatte und als das der Fall war, gingen sie los. Die Temperatur draußen war noch sehr angenehm, sobald die Sonne verschwunden wäre, würde es aber empfindlich kalt werden. Sie erreichten nach zehn Minuten die Tuinstraat und schellten. Früher war es immer Doris´ Angewohnheit, in der Tür zu stehen und dort auf den eingeladenen Besuch zu warten, heute hatte sie aber in der Küche zu tun. Max öffnete die Tür zu dem Haus, in dem damals alles mit den jungen Leuten angefangen hatte, in dem sie sich kennen gelernt hatten, und in dem sie ihre ersten Liebeserfahrungen machten. Da gab es schon ein großes Erinnerungspotenzial bei den jungen Leuten, aber sie hatten sich vorgenommen, nicht in Erinnerungen zu schwelgen, sondern Doris´ gutes Essen zu genießen. Iris und Piet saßen schon am Esstisch, Doris und Max hatten wie üblich den Terrassentisch und die Terrassenstühle hereingeholt und alles zusammengeschoben. Doris hatte ein großes Laken über die Tisch gelegt, und so war von dem Provisorium nichts mehr zu erkennen. Als sie alle saßen, war es sehr gemütlich, weil sie eng beieinander saßen, was die gute Stimmung förderte und als Max auch noch nach Schnaps fragte, und alle Alten einen tranken, war die Stimmung perfekt.
Max hatte immer schon einen jonge Genever und einen guten Remy Martin im Angebot, und Bärbel, Agnes und Martha ließen sich einen Cognac geben, Max nahm auch einen. Max hob sein Schnapsgläschen hoch und wünschte der Runde einen schönen Abend, alle kippten ihren Schnaps in einem Zug hinunter, und die Frauen und Max nahmen noch einen zweiten Cognac. Agnes und Bärbel halfen Doris dabei, das Essen hereinzutragen und auf den Tisch zu stellen. Doris hatte zwei Puten im Backofen gebraten, es gab deshalb ordentlich Fleisch für alle und Doris könnte mit Max noch einige Tage von den Resten essen. Vielleicht würde sie die anderen noch einmal einladen, hatte sie überlegt. Wenn man Doris und Agnes miteinander verglich, fiel auf, dass Doris in ihren Charakterzügen weicher war als Agnes. Sie war auch die Jüngere, aber das spielte bei dem Vergleich der beiden Frauen miteinander keine Rolle. Es gab auch nicht viele Situationen, in denen Doris ihre weichere Seite zum Vorschein kommen ließ, jedenfalls spielte diese Eigenschaft in Anwesenheit des deutschen Besuchs auch keine Rolle. Wenn sich die Alten aber in Amsterdam trafen und sich beim Kartenspiel zum Beispiel schon einmal zofften, konnte sich Agnes in eine Rage steigern, in der sie kaum noch zu bremsen war. Doris war bei solchen Gelegenheiten die Mäßigende, die die Gemüter wieder besänftigte. Das war schon früher in Essen-Werden so, als Agnes und sie noch als Mädchen zu Hause gelebt hatten.
Immer wenn Agnes sich höllisch aufregte, weil zum Beispiel ihre Mutter Dinge von ihr verlangte, die sie auf Grund ihres Altersvorsprungs vermutlich besser erledigen konnte als Doris, versuchte Doris ihre Schwester wieder auf den Teppich zu holen und brachte damit Agnes´ Wut beinahe zum Überkochen.
Agnes war aber eindeutig die Intelligentere von beiden, sie hatten zwar beide ihr Abitur gemacht und brachten von daher gleiche Bildungsvoraussetzungen mit. Agnes baute aber ihr Bildungspotenzial aus und studierte Zeitungen und Bücher, sie interessierte sich für Politik und machte sich sachkundig, während Doris sich nicht regte und ihre Bildung mehr oder weniger verkümmern ließ. Max stellte sich mit einem langen Tranchiermesser an den Tisch und begann, die Puten zu zerlegen. Er gab jedem ein mächtiges Stück Fleisch auf seinen Teller und den Kindern die knusprige Haut, die sie am liebsten aßen. Max war von den Alten der vielleicht ruhigste Vertreter, das machte ihn auf der einen Seite sympathisch, erweckte aber auf der anderen Seite den Eindruck, dass er desinteressiert an allem, wenn nicht sogar apathisch war. Dass dieser Eindruck aber trog, stellte Max immer unter Beweis, wenn es darum ging, grundlegende politische Positionen zu verteidigen, was manchmal vorkam, wenn er sich mit den anderen und Piet stritt, ansonsten blieb er eher still und verhalten. Sie aßen das Putenfleisch alle mit Hochgenuss und fanden für Doris Kochkunst lobende Worte.
„Wollt Ihr nicht doch auch mal ein Stück Fleisch probieren?“, fragte Petra die Kinder, aber die Kinder winkten dankend ab. Doris hatte einen Feldsalat zu den Puten gemacht, der ausgezeichnet zu dem Geflügel passte, und als alle ihre erste Portion gegessen hatten, sagte Iris:
„Und Morgen Abend kommt ihr alle zu uns zum Essen!“ Die Männer nahmen alle noch ein zweites Mal von der Pute, während die Frauen sich zurückhielten. Robert lobte Doris noch einmal ganz besonders, als er sich einen Putenbollen auf seinen Teller legte:
„Du hast das Fleisch ganz hervorragend zubereitet!“, und Doris labte sich an Roberts Lob. Robert war ein Mann klarer Worte so wie auch Agnes, aber Robert war nie so direkt wie seine Frau. Wenn er etwas sagte, hatte das Bestand, das wussten auch alle, er war aber bereit, das, was er sagte, zumindest in Teilen zu revidieren, wenn er eines Besseren belehrt wurde, was aber nur sehr selten geschah. Wenn Robert etwas von Bedeutung von sich gab und dabei dozierend vor seinen Zuhörern stand, faltete er die Hände, drehte die gefalteten Hände nach innen und drückte sie vom Körper weg. Das tat er schon sehr lange und es war quasi sein Markenzeichen geworden, so wie Agnes ein „nicht wahr“ an bedeutungsvolle Worte hängte. Das gemeinsame Essen hatte für alle einen sehr hohen Stellenwert, weshalb sich diejenigen, die das Essen gerade ausrichteten, auch immer große Mühe gaben, und die Frauen standen sich dabei in nichts nach. Egal, ob sie bei Agnes, Doris oder Iris aßen, das Essen war bei ihnen immer von sehr guter Qualität und wurde immer in höchsten Tönen gelobt.
Doris brachte zum Nachtisch eine Schokoladencreme und stellte dazu geschlagene Sahne auf den Tisch. Die Kinder waren längst aus ihrer Spielecke angelaufen gekommen und taten sich an der Schokocreme gütlich, sie nahmen jeder zwei Portionen - mit Sahne. Als sie mit dem Essen fertig waren, fragte Max noch einmal nach Schnapsgelüsten und in der Altenrunde nahm jeder noch einen, die Frauen Max Remy Martin und die anderen jonge Genever. Sie dachten an den schönen Tag in Zandvoort zurück, die Sache mit Daniel war längst in Vergessenheit geraten. Max hatte allen noch einmal Wein und Bier gegeben, stand auf und richtete ein paar Worte an den Besuch:
„Ihr Lieben, Doris und ich freuen uns sehr, dass Ihr alle hier bei uns zum Essen sitzt, wir sind beide sehr gern mit Euch zusammen und genießen Eure Anwesenheit, wir wünschen besonders Euch Deutschen alles Gute und Glück!“ Alle waren still, als Max redete, und sie hoben sogar die Hände und applaudierten, so angetan waren sie von den Worten von Max. Iris war eine Frau, die man leicht unterschätzte, zum Beispiel applaudierte sie nach dieser Kurzansprache von Max auch, aber nur sehr verhalten, während sich ihr Mann hervortat und laut klatschte. Dabei war Iris sehr beschlagen, sie war nur keine Frau großer Worte und konnte das, was ihr durch den Kopf ging, nur nicht immer angemessen ausdrücken. Sie stand auch im Schatten von Piet, der sie zurechtwies, wenn sie etwas Falsches oder auch nur Halbrichtiges sagte, und das ließ Iris auf die Dauer nur schweigen und zuhören.
Piet war in dieser Hinsicht sehr dominant und ließ das auch alle Beteiligten spüren, er dachte dabei aber nicht daran, sich selbst zu erhöhen, sondern er war wirklich nur daran interessiert, Probleme anzureißen und darüber zu sprechen, wenn ihm das auch nicht immer jeder abnahm. Er war bei politischen Diskussionen ein enfant terrible, aber das war ihm gleichgültig, es ging ihm nur um die Sache. Und wenn er auch an seinen Standpunkt nichts herankommen ließ, so unterhielten sich doch alle anderen mit ihm und achteten ihn als Gesprächspartner. Bärbel hatte früher immer auf Piets Seite gestanden, sie war seit jeher ein politisch stark interessierter Mensch. Die Intensität ihres Interesses hatte allerdings in letzter Zeit nachgelassen, Bärbel diskutierte aber immer noch gern und ausgiebig. Martha und Otto waren da eher zurückhaltend, man hatte bei den beiden Ostpreußen den Eindruck, dass sie nicht anecken wollten und deshalb nie Position bezogen. Im Übrigen musste man sie nach dem, was sie hinter sich hatten, auch verstehen.
„Was wollen wir denn an Eurem letzten Tag in Amsterdam unternehmen?“, fragte Agnes und niemand hatte so recht eine Antwort auf ihre Frage.
„Wir können den morgigen Tag doch einfach auf uns zukommen lassen und beim Frühstück entscheiden, was wir machen!“, schlug Bärbel vor. Damit waren alle einverstanden und sie verabredeten, sich erst einmal wieder um 10.00 h bei Goldschmids zu treffen.
Daraufhin gingen alle, die bei Agnes und Robert wohnten, denn die Kinder mussten ins Bett, und sie verabschiedeten sich und dankten Doris und Max für das herrliche Essen. Zu Hause in der Keizersgracht wurden die Kinder gleich hingelegt, allerdings musste Manfred noch eine seiner Geschichten erzählen. Er setzte sich auf Peters Bett und hatte alle Kinder an sich hängen und auf sich liegen, er musste sich auf die Schnelle etwas einfallen lassen, was ihm aber keine Probleme bereitete:
„Es war einmal ein Junge, der hieß Christoph und hatte an Ostern sehr starke Bauchschmerzen bekommen, weil er zu viele von seinen Süßigkeiten in sich hineingestopft hatte. Christoph war erst fünf Jahre alt, und seine Mutter wusste mit ihm nicht ein noch aus, bis sie mit Christoph einen Notarzt aufsuchte, denn an Ostern hatten die Praxen normalerweise geschlossen. Sie erzählte dem Arzt, was mit Christoph los war und der Arzt sagte Christoph, dass er sich auf seine Liege legen sollte und Christoph tat es, hatte dabei aber große Schmerzen. Der Arzt tastete Christophs Bauch ab und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Er verschrieb Christoph einen Abführtee, den er so heiß wie möglich trinken sollte, wenn er danach auf der Toilette gewesen wäre, sollten seine Bauchschmerzen verschwunden sein. Christophs Mutter lief mit ihrem Sohn zu einer Apotheke, die an Ostersonntag Notdienst hatte und holte den Tee, ihr Junge schleppte sich wie ein Häufchen Elend neben ihr her. Zu Hause legte sich Christoph aufs Sofa und seine Mutter bereitete eine ganze Kanne von dem Abführtee zu. Sie gab den Christoph zu trinken und der verbrannte sich erst einmal den Mund an der heißen Tasse, er trank den Tee aber. Nach der zweiten Tasse regte sich bei Christoph etwas, und er musste dringend zur Toilette. Als er nach einiger Zeit wieder zurückkam, lachte er über sein ganzes Gesicht, die Bauchschmerzen waren wie weggeflogen und er dachte schon gar nicht mehr an sie.“
Manfred stand auf und die Mütter legten jedes Kind in sein Bett, es musste nicht mehr vorgesungen werden. Manfreds Geschichte hatte die Kinder so müde gemacht, dass sie sofort einschliefen. Die jungen Eltern gingen wieder nach unten und setzten sich dort noch zwei Stunden mit den anderen zusammen.
„Die Puten bei Doris und Max waren wirklich ganz hervorragend!“, sagte Bärbel und auch Martha unterstrich, wie gut es ihr bei Doris geschmeckt hatte.
„Wir haben heute Abend gar nicht über Politik geredet“, sagte Werner und Robert entgegnete:
„Von mir aus muss das auch nicht immer sein, ich rede gern über Politik, aber man kann es meiner Meinung nach auch übertreiben.“
„Sollen wir Morgen nicht wieder in den „Bijenkorf“, und die Männer in eine Kneipe gehen?“, fragte Marga und alle überlegten eine Weile. Sie wollten sich aber in diesem Augenblick noch nicht festlegen und verschoben die Entscheidung darüber auf den nächsten Morgen. Sie unterhielten sich noch kurze Zeit über Belangloses und gingen gegen 22.30 h ins Bett.
Am Dienstag nach Ostern waren die Sinne wieder auf Alltag eingestellt, was den Holländern aber egal war, denn sie mussten ja nicht arbeiten. Die Deutschen aber dachten daran, dass sie noch diesen und den nächsten Tag frei hätten und danach wieder an ihre Arbeit müssten. Christine und Bernd müssten am folgenden Montag in die Schule, sie freuten sich beide darauf, sie waren noch nicht vom Lerntrott befallen, der ihnen geradezu beinahe die gesamte Energie rauben könnte, aber das müsste man erst noch sehen, wie sie sich gegenüber dem Lerndruck verhielten. Beim Frühstück war der Alltag wieder zu spüren, vorbei war die Zeit der Soleier und Süßigkeiten, es gab wieder Rührei mit Speck. Und als Piet und die anderen um 10.00 h eintrafen, ließ er sich wieder von Agnes einen Teller geben und aß davon. Aber wenn das alles war, worin sich die Normalität des Alltags abbildete, konnte jeder damit leben, und sie machten sich keine weiteren Gedanken darüber. Sie beschlossen am Ende, am letzten Besuchstag einfach loszulaufen und unterwegs zu entscheiden, ob die Frauen in den „Bijenkorf“ gingen oder nicht. Als sie beim Frühstück saßen, während die Kinder in der Spielecke waren, machten sie alle den Eindruck von zufriedenen und sogar glücklichen Menschen, denen es an kaum etwas mangelte.
Sie waren sich selbst dieses Eindrucks nicht bewusst, was vielleicht auch gut für sie war. Sie standen nach einer Stunde auf und liefen die Gracht entlang, das heißt, sie schlenderten mehr, als dass sie zielstrebig irgendwo hinliefen, denn die Kinder zwangen sie immer wieder zu Pausen, wenn sie Steine aufhoben und ins Wasser warfen. Es legte sich eine große Ruhe auf alle, als sie die Gracht entlang schlenderten, niemand redete groß, und alle genossen sie die milde Luft, die ihnen um die Nase wehte. Die Gedanken der Essener und Göttinger kreisten um den nächsten Tag, wenn sie wieder nach Hause führen und sich ihren Alltagsverpflichtungen widmen müssten, aber sie sahen das nicht als Belastung an, sondern freuten sich sogar darauf. Sie hörten die Glocken der Westerkerk schlagen, aber die jungen Eltern verfielen nicht in eine sehnsüchtige Erinnerung an alte Zeiten, sondern sie vernahmen den Glockenschlag als angenehmen Klang, dem sie gerne zuhörten, und der zu Amsterdam gehörte wie der Damrak oder der Leidse Plein. Als sie die Raadhuisstraatbrücke erreichten, bogen sie nach links in die Stadt ab und kamen schließlich auf den Damrak. Die Frauen sahen den „Bijenkorf“ und entschieden sich am Ende doch, in das Kaufhaus zu gehen und nach Sachen für sich Ausschau zu halten. Sie trennten sich von ihren Männern, die sie in drei Stunden im Bahnhofscafe treffen wollten und gingen in das Kaufhaus. Die Männer überlegten nicht lange und machten sich auf den Weg zum Bahnhofscafe, sie wollten Bier trinken, sich nicht besaufen, aber sich auch nicht zurückhalten.
Schließlich erreichten sie das Cafe und setzten sich an einen freien Tisch, Robert bestellte für alle Bier. Sie kamen in ein Gespräch über ihre momentane Situation und die jungen Männer stellten fest, dass die Alten in ihren Augen zufrieden in sich ruhten. Sie hatten in letzter Zeit nie solche Überlegungen angestellt, wie sie das jetzt taten, und wo die Jungen die Alten aufforderten, ihnen mitzuteilen, worauf sie bei ihrer weiteren Lebensplanung zu achten hätten. Es war ihnen klar, dass sie damit ein schwergewichtiges Thema angeschnitten hatten und erschöpfende Antworten auf ihre Fragen nur von jemandem bekommen könnten, der über Lebenserfahrung verfügte und sich mitzuteilen in der Lage wäre. Robert, Otto, Piet und Max hatten alle ihre Lebenserfahrung gesammelt und waren auch gebildet genug, sich mit jemandem darüber auszutauschen. Sie sahen untereinander aber keinen Grund dazu, es sei denn, sie unterhielten sich über gemeinsame Erinnerungen. Jetzt aber, in der Runde mit den drei jungen Männern, gab es schon Gelegenheit, ihnen Tipps zu geben und überhaupt erst einmal zu eruieren, wo sie standen und wie sie sich fühlten. Manfred sagte:
„Wenn man Euch so sieht, kann man geradezu neidisch werden und wünscht sich beinahe in Eure Altersgruppe, um ein Leben zu führen, wie Ihr es tut!“ Otto antwortete bestürzt:
„Wie kannst Du Dir nur so etwas wünschen, Du musst doch erst einmal Dein Leben leben, Du siehst uns alte Männer und denkst, dass wir vollkommen relaxt unser Leben genießen, aber täusche Dich da nur nicht allzu sehr, es stellen sich im Alter schon besondere Probleme ein, meist gesundheitlicher Art, bei mir zum Beispiel macht mein Rücken regelmäßig Probleme, und die sind manchmal so schlimm, dass ich im Bett nicht weiß, wie ich liegen soll!“
„Da hat Otto vollkommen Recht“, sagte Max, „zu den körperlichen Problemen gesellen sich aber noch weitere Probleme wie Langeweile oder Gedanken über den Sinn des Daseins.“ Auch Robert sagte etwas zu dem angeschnittenen Themenkreis, der sich um das Leben im allgemeinen drehte und er bat Manfred darum, einmal zu präzisieren, wie er sich und seine jetzige Situation beschreiben wollte. Manfred überlegte kurz, bevor er antwortete:
„Ich stelle mir manchmal die Frage, ob wir unser Leben in Essen so führen, wie es richtig ist, oder ob wir uns nicht vielmehr von äußeren Umständen treiben lassen!“ Piet fuhr mit einem Mal dazwischen und sagte beinahe erbost:
„Was willst Du denn, Ihr lebt in Deutschland im Moment in einer Situation, die von den Kriegsfolgen bestimmt ist und Du überlegst, welche Gestaltungsmöglichkeiten Du für Deine Lebensführung hast, Ihr müsst bei Euch erst einmal wieder zu Luft kommen und Verhältnisse schaffen, wie sie einmal bestanden haben, und erst danach kannst Du darüber nachdenken, wie Du Dein Leben zu gestalten gedenkst!“ Werner und Siegfried hatten Piet zugehört und schauten ihn mit großen Augen an, sie haben nicht damit gerechnet, solche Worte aus seinem Mund zu hören zu bekommen.
„Ich weiß, was Manfred meint“, sagte Werner, „und ich befinde mich im Moment in einer ganz ähnlichen Situation, es stellen sich schon solche Fragen wie die, ob es alles richtig ist, was man so macht und ich würde mich auch darüber freuen, aus Eurem erfahrenen Mund etwas dazu zu hören, ich glaube, dass das, was Piet gerade gesagt hat, vollkommen richtig ist, wir haben es nur so noch von niemandem vernommen, aber wir müssen wohl tatsächlich erst durch die Mühsal unseres besonderen Alltags schreiten, wie er sich in der Nachkriegszeit bei uns einstellt, bevor wir Überlegungen zu sinnvoller Lebensführung anstellen können.“ Bei aller Ernsthaftigkeit ihres Gesprächs kam aber auch der Spaß in dieser Runde nicht zu kurz und Robert sagte:
„Ich weiß sehr wohl, welche Gedanken Euch jungen Leuten durch den Kopf gehen, Ihr solltet Euer Leben aber auch von seiner lustigen Seite zu nehmen wissen und nicht alles so genau und ernst nehmen!“, und er lachte Manfred, Werner und Siegfried an, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Er bestellte für die vier Alten jonge Genever, und ließ für alle eine neue Runde Bier kommen. Die Frauen gingen mit den Kindern durch das Kaufhaus und schon unmittelbar nach Betreten war den Kindern langweilig, auch weil sie wussten, welchem Einkaufsstress sie sich unterziehen mussten. Sie sehnten schon ganz am Anfang den Zeitpunkt herbei, an dem sie in das Kaufhauscafe gehen, ein Eis essen und einen Kakao trinken könnten.
Doch bis dahin mussten sie ihren Müttern und Omas hinterherlaufen, sich durch die Gänge mit Blusen und Oberteilen quetschen, die sie vollkommen einrahmten und nach Möglichkeit nicht quengeln. Unten im Erdgeschoss waren die Verkaufsangebote alle noch in einem lockeren Verbund aufgestellt und man konnte sich umsehen. Das änderte sich aber drastisch, sobald sie in der Abteilung für Damenoberbekleidung waren. Sie nahmen wie immer die Rolltreppen, um nach oben zu gelangen und streiften zwischen den Kleidungsständern her, die Frauen vergaßen die Kinder beinahe, so sehr waren sie in ihrem Kaufrausch befangen. Die Kinder versuchten, ihrer Langeweile auf der Rolltreppe Einhalt zu gebieten und fuhren auf und ab. Bis sie aber wie schon beim letzten Mal von einer Verkäuferin angegangen wurden, die ihnen das Rolltreppenfahren ohne Begleitung verbot. Sie liefen also wieder zu den Frauen zurück und bekamen mit, wie sie abwechselnd Blusen anprobierten und sich gegenseitig wegen ihres Aussehens mit höchstem Lob bedachten. Die Zeit bis zum Ende des Einkaufs erschien den Kindern endlos, bis aber schließlich jede Frau eine Bluse kaufte, sie zur Kasse gingen, bezahlten und die eingepackten Blusen mit ins Cafe nahmen. Sie fuhren mit der Rolltreppe bis ganz nach oben und standen mit einem Mal vor der Kuchen- und Eistheke. Marga sagte den Kindern:
„Weil Ihr so lange geduldig auf Eure Mütter und Omas gewartet habt, dürft Ihr Euch jetzt alle ein Eis aussuchen!“
Dazu ließen sich die Kinder nicht zweimal auffordern und nahmen jedes einen großen Becher mit Schokolade, Vanille und Erdbeere mit Sahne. Gerda hatte erst Bedenken, ob die Kleinen einen so großen Becher überhaupt schaffen könnten. Sie ließ die Kinder aber und wollte abwarten, sie wusste, wenn sie ihnen das viele Eis jetzt verbieten würde, gäbe es ein Riesenspektakel und die Kinder würden das Cafe zusammenschreien. Die Frauen bestellten sich Tortenstücke und am Tisch Kaffee. Merkwürdigerweise gerieten sie wie die Männer ins Sinnieren, sie vertieften ihre Gedanken aber nicht sonderlich. Wie vorhergesehen, schafften die Kleinen ihr Eis natürlich nicht, es war einfach zu viel in ihren Bechern und auch die Angestellte des Kaufhauses, die ihnen an der Eistheke das Eis fertig gemacht hatte, hatte schon ein erstauntes Gesicht gemacht, als die Kleinen ein so großes Eis für sich bestellten. Aber die Mütter schimpften nicht und ließen das Eis im Becher schmelzen, es hätte auch nicht viel genutzt, in diesem Augenblick zu schimpfen. Die Kinder tranken ihren Kakao und waren zufrieden, besonders die Großen, die ihr Eis geschafft hatten und hoffentlich keine Bauchschmerzen bekämen. Die Frauen genossen ihren Kaffee und ihre Torte, sie sprachen darüber, dass es für sie immer ein Erlebnis wäre, durch den Bijenkorf zu stöbern und priesen ihre Blusen. Schließlich bezahlten sie und verließen den Bijenkorf wieder in Richtung Centraal Station. Als sie den Damrak hochliefen, wurde den jungen Frauen doch ein wenig wehmütig ums Herz, als sie daran dachten, am nächsten Tag wieder nach Hause fahren zu müssen, aber es half ja nichts, sie mussten schließlich wieder nach Essen und nach Göttingen zurück.
Sie trafen die Männer in feucht fröhlicher Runde an und die älteren Frauen hatten schwere Bedenken, ob sie ihre Männer denn noch nüchtern vorfinden würden. Aber zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, dass sie zwar leicht angesäuselt, aber keineswegs betrunken waren. Sie setzten sich alle zu den Männern, die noch zwei Tische herangeschoben hatten und bestellten für die Kinder Limonade und für sich Wein.
„Na, was habt Ihr Euch denn gekauft?“, fragte Otto eher, um die Frauen anzusprechen, denn aus wirklichem Interesse.
„Wir haben uns alle Blusen gekauft!“, antwortete Martha. Aber bevor die Frauen alle ihre Blusen auspackten und vorführten, erzählte Robert:
„Wir haben hier ernste Lebensprobleme gewälzt und über den Sinn des Daseins parliert“, er sagte wirklich „parliert“, was dem Gesagten einen ironischen Unterton mitgab. Nachdem sie noch eine halbe Stunde gemeinsam in dem Cafe verbracht hatten, zahlte Robert, und sie verließen das Cafe zum Damrak hin. Ganz gemütlich schlenderten sie nach Hause, sie liefen durch den Dirk-van-Hasseltssteeg und die Herenstraat, bevor sie in die Keizersgracht abbogen und wieder zu Goldschmids kamen.
Die Besucher packten schnell ihre Sachen zusammen und setzten sich mit allen zum Kaffee hin, den sie noch gemeinsam tranken, bevor sie zu Iris und Piet zum Essen gehen würden. Agnes hatte Stroopwafels auf den Tisch gestellt, an die sich die Kinder hielten, aber ihre Mütter sagten ihnen, dass sie vor dem Essen nicht zu viele davon in sich hineinstopfen sollten. Iris und Piet gingen früher zu sich nach Hause, weil sie das Essen vorbereiten wollten. Auf Werners Frage hin:
„Was gibt es denn bei Euch zum Essen?“ antwortete Iris ihm:
„Das wird nicht verraten, lass Dich überraschen!“ Die Alten legten sich bei Goldschmids wieder für eine Dreiviertelstunde hin. In der Zeit saßen die jungen Eltern auf der Terrasse und tranken Bier und Wein, die Kinder spielten im Haus.
„Am 20. April finden bei uns und bei Euch Landtagswahlen statt“, sagte Manfred zu Siegfried und sie unterhielten sich über ihre parteipolitischen Präferenzen.
„Wir sind in Essen alte Sozis und wählen aus Überzeugung sozialdemokratisch!“, sagte Manfred fest und Gerda antwortete:
„Es stimmt zwar, dass wir beide in einem sozialdemokratischen Elternhaus groß geworden sind, ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob die SPD auch in Niedersachsen die richtige Partei ist!“ Dazu sagte Siegfried:
„Für mich steht fest, dass ich sozialdemokratisch wählen werde, alles andere würde gegen meine tiefsten Überzeugungen verstoßen.“
„Vermutlich werde ich mich Dir anschließen“, schob Gerda hinterher.
Als Bärbel nach eine Dreiviertelstunde zu ihnen auf die Terrasse gekommen war und mitbekam, worüber sie sich dort unterhielten, wurde sie ganz hellhörig, das war früher exakt ihr Thema:
„Ich werde bei der Landtagswahl SPD wählen!“, rief sie aus. Nach und nach kamen auch die anderen Alten hinzu, sie beteiligten sich aber nicht an dem Gespräch über die Parteien, sondern Agnes sagte:
„Nehmt Eure Jacken mit, wir müssen gleich zu Iris und Piet!“ Also standen sie alle auf, riefen ihre Kinder zusammen, nahmen ihre Jacken und gingen mit allen Alten vor die Tür. Sie hatten sich mit Piet und Max verabredet, die mit ihren Autos vorbeikamen und die riesige Gruppe transportierten, denn zum Laufen wäre es bis zu Iris und Piet zu weit gewesen, jedenfalls für die Kinder. Nachdem sich alle auf die Autos verteilt hatten, fuhren sie los und erreichten nach zehn Minuten ihr Ziel. Sie liefen ins Haus und begrüßten Iris, die gerade dabei war, die Tische zu decken. Die drei älteren Frauen halfen schnell mit, und als alles Besteck und Geschirr an seinen Platz gelegt war, setzten sie sich und Piet versorgte jeden mit einem Getränk.
„Du hast mich doch gefragt, was es bei uns zum Essen gibt“, sagte Iris zu Werner, „jetzt kann ich es Dir ja verraten, es gibt Schweineschnitzel mit Kartoffeln und Salat!“
Als Werner das hörte, war seine Freude groß, denn Schweineschnitzel gehörten seit jeher zu seinen Leibspeisen, und auch die anderen nickten erwartungsvoll und freuten sich auf das leckere Essen. Die Frauen trugen auf und stellten die Sachen auf die Tische. Sie saßen alle etwas beengt, was der Gemütlichkeit aber keinen Abbruch tat, im Gegenteil. Noch bevor sie anfingen zu essen, stand Piet auf, hob sein Glas und sagte:
„Ihr Lieben, nachdem es schon fast Tradition geworden ist, bei solchen Gelegenheiten wie unserem heutigen Essen ein paar Worte zu sprechen, möchte auch ich an diese Tradition anknüpfen und Euch alle bei uns willkommen heißen, ich hoffe, Ihr habt Hunger mitgebracht und wünsche Euch einen guten Appetit!“ Daraufhin stieß Piet mit allen an und jeder nahm im Anschluss ein Schnitzel auf seinen Teller, die Kinder verzichteten und nahmen nur Kartoffeln mit Soße und ein wenig Salat und sie waren schnell mit ihrem Essen fertig. Die anderen ließen sich aber Zeit und genossen die guten Schnitzel, immer wieder stießen sie miteinander an, bis alle Schnitzel, die Iris gebraten hatte, vertilgt waren. Die Männer hatten jeder zwei genommen und waren hinterher mehr als satt. Natürlich lobten sie Iris, und Iris hörte sich die lobenden Worte gern an. Zum Schluss brachte sie Obst mit Schlagsahne und als die Kinder das sahen, wollten sie gleich davon haben und streuten sich noch Zucker über ihre Obstportion, weil sie es nicht süß genug haben konnten, und von der Sahne ließen sie sich von ihren Müttern auch geben.
Piet bot nach dem Essen Schnaps an und alle Alten nahmen einen, er, Bärbel und Max tranken auch noch einen zweiten Schnaps. Als wollte Piet seinen Heimvorteil nutzen, kam er plötzlich auf Politik zu sprechen und behauptete frei heraus:
„Bei Euch in Westdeutschland stehen die Zeichen auf konservativ, und die CDU wird die Geschicke bei Euch lenken!“ Alle schauten sich an und waren von Piets unvermittelt vorgetragener These überrascht, aber Manfred erwiderte:
„Das kann man doch noch gar nicht sagen, wir haben doch erst am 20. April Landtagswahlen, und erst danach wird sich zeigen, welche Partei die Wahl gewinnen und die Landesregierung stellen wird.“
„Wenn der Trend, der sich bei der Kommunalwahl angekündigt hat, fortgesetzt wird, könntest Du vielleicht Recht behalten, aber ich wage noch keine Prognose!“, sagte Werner.
„Immerhin ist die kommende Wahl die erste, bei der die Parteien alten Typs wieder antreten dürfen, wobei die CDU eine echte Neugründung ist“, sagte Robert.
„Die CDU ist ein Sammelbecken für die alten Nazi-Eliten“, erwiderte Piet, „die hoffen, nach der Wahl wieder an die Macht zu gelangen, und ich bin davon überzeugt, dass ihnen das auch gelingen wird!“
„Ich finde, man muss sich die Parteien der Nachkriegszeit einmal genau ansehen, bevor man solche Pauschalurteile fällt wie Du, Piet“, konterte Bärbel mit einem Mal.
„Man muss doch sehen, dass sich die SPD nach jahrelangem Verbot nach dem Krieg neu konstituiert hat und ihr Vorsitzender Kurt Schumacher nach Ausgrenzung und KZ-Haft einen wirklichen Neubeginn will, ich weiß nicht, wer sich in der CDU gefunden hat, glaube aber, dass sie nahtlos an das Zentrum, die DNVP und die DVP aus der Weimarer Zeit anknüpft“, führte Robert aus.
„Das ist es doch, was ich meine“, entgegnete Piet, „sie ist ein Sammelbecken rechter Kreise und inwieweit sich auch alte NSDAPler in ihr aufhalten, liegt doch auf der Hand!“
„Mit Deinen Kommunisten will die SPD ja partout nichts zu tun haben, Kurt Schumacher scheut die KPD wie der Teufel das Weihwasser!“, entgegnete Manfred.
„Und das ist der große Fehler, den die westdeutschen Sozialdemokraten begeht“, antwortete Piet, „statt mit der KPD zusammenzugehen, wie das erfolgreich in der sowjetischen Besatzungszone vorgelebt wird, bestimmt Schumacher eine strikte Parteientrennung!“
„Ich denke, dass Schumacher dafür seine Gründe haben wird“, warf Otto plötzlich ein, „er hat sich einfach angesehen, was die Kommunisten in der Ostzone so treiben und daraus seine Schlüsse gezogen!“
„Die SPD besteht in diesem Jahr seit vierundachtzig Jahren und ist in ihrer Existenz durch Höhen und Tiefen gegangen, sie war in der Weimarer Zeit die Partei, die die Demokratie in Deutschland verankert hat, sie war während der Nazi-Zeit verboten und lebt jetzt gerade wieder auf, sie will als eigenständige Partei ihre Tradition fortsetzen und deshalb ermuntere ich Euch, wählt SPD!“, appellierte Robert.
Piet, der seine Felle davon schwimmen sah, blieb ruhig, weil er wusste, dass er gegen Roberts Worte nichts in der Hand hatte. Sie saßen noch eine Weile bei Iris und Piet zusammen und Doris sagte:
„Morgen werden wir alle wieder zu Euch kommen und Euch Essener und Göttinger zum Bahnhof bringen!“, und als wäre das ein Schlusswort gewesen, standen alle auf und bedankten sich bei Iris für das gute Essen, sie verabschiedeten sich von ihr und ließen sich von Piet und Max zur Keizersgracht zurückbringen. Dort legten die jungen Eltern gleich ihre Kinder in die Betten, und als die von Manfred noch eine Geschichte hören wollten, vertröstete er sie auf die Zugfahrt, sie sollten ihn Morgen im Zug daran erinnern. Da die Frauen schon alles gepackt hatten, konnten sie am nächsten Morgen in aller Ruhe frühstücken.
Es gab am Morgen das übliche Rührei mit Speck und Kaffee. Als die Kinder ihre Schnitten mit Hagelslag aßen, und Bärbel sich einreihte, sagte sie:
„Erinnert mich im Bahnhof daran, dass ich ausreichend Hagelslag kaufe und mit nach Hause nehme!“ Um 10.00 h kamen Iris, Doris, Piet und Max und sie saßen noch bis zum Mittag mit ihnen zusammen und erzählten von den schönen Tagen, die sie gemeinsam verlebt hatten. Sie hatten Mitte Juli als nächsten Trefftermin in Göttingen angepeilt und wollten sich über nähere Einzelheiten noch verständigen. Agnes sagte:
„Es wurde schon lange einmal Zeit, dass wir Euch in Göttingen besuchen kommen und uns Eure Heimatstadt ansehen, Gerda und Siegfried!“ Am Mittag nahmen alle ihre Sachen und bestiegen die Autos vor der Tür, die sie zum Bahnhof bringen würden. Sie standen um 12.30 h auf dem Bahnhofsvorplatz, nahmen ihr Gepäck aus den Kofferräumen und die Deutschen genossen einen letzten Blick auf die schönen und intakten Häuser von Amsterdam, bevor sie in die Bahnhofshalle liefen.
„Bärbel, Du wolltest noch Hagelslag kaufen!“, sagte Marga zu Bärbel in der Halle, und Bärbel war dankbar für den Hinweis und lief zu dem Bahnhofsshop, wo sie sechs Pakete Hagelslag kaufte. Wie oft hat es die sich anschließende Abschiedsszene auf dem Bahnsteig schon gegeben, alle umarmten und küssten sich, zuerst Gerda, Siegfried und ihre Kinder und danach die Essener. Nachdem die Göttinger abgefahren fahren riefen die Essener:
„Bis zum Juli in Göttingen!“, nachdem sie in den Zug gestiegen waren. Sie gingen wie üblich in ihrem Waggon ans Fenster und winkten den auf dem Bahnsteig Stehenden zu, so lange, bis ihr Zug außer Sichtweite geraten war. Nach einer Zeit, lange nachdem sie sich auf zwei Abteile in ihrem Waggon verteilt hatten, kamen die Kinder zu Manfred und erinnerten ihn daran, dass er ihnen eine Geschichte erzählen wollte.
Manfred stand auf und setzte sich mit den Kindern in ein leeres Abteil und ohne große Umschweife fing er zu erzählen an, die Kinder hatte es sich an ihm und auf ihm gemütlich gemacht:
„Es war einmal ein Junge, dessen Name war Arndt und er sollte mit dem Zug von seiner Heimatstadt Köln zu seinen Großeltern nach Hamburg reisen, er war elf Jahre alt, also gerade alt genug, um eine solche weite Reise allein zu unternehmen. Seine Eltern brachten ihn zum Bahnhof und sagten ihm, dass er still in seinem Abteil sitzen und nach fünf Stunden wieder in Hamburg aussteigen sollte. Arndt hatte von zu Hause aus Essen mitbekommen und fing gleich im Abteil an zu essen und die ältere Dame, die neben ihm saß, wünschte ihm einen guten Appetit. Sie fragte ihn, warum er als noch so kleiner Junge denn ganz allein mit dem Zug reiste, und Arndt antwortete, dass er so klein nun auch wieder nicht, und er unterwegs zu seinen Großeltern wäre. Als der Schaffner kam, um die Fahrkarten zu kontrollieren, fragte auch der, warum Arndt in seinem Alter ohne Eltern im Zug säße, und Arndt zuckte nur mit seinen Schultern. Als die alte Dame viel später in Bremen aussteigen wollte, bat sie Arndt, ihr doch beim Gepäck zu helfen, und Arndt war natürlich bereit, der Frau ihre Tasche auf den Bahnsteig zu tragen. Die alte Frau war aber sehr unbeweglich und brauchte endlos lange, bis sie vor Arndt aus dem Waggon ausgestiegen war und er kam mit ihrer Tasche hinterher. Sie bedankte sich überschwänglich bei Arndt und wollte ihm für seine Hilfsdienste etwas Geld geben und Arndt, der beim Thema Geld hellhörig geworden war, merkte gar nicht wie der Zug plötzlich wieder anfuhr, und er in Bremen auf dem Bahnsteig zurückblieb.
Die alte Dame überlegte eine Weile und sagte anschließend, er sollte doch mit ihr kommen, ihr Sohn müsste ihn mit seinem Wagen nach Hamburg bringen. Und so geschah es, der Sohn holte seine Mutter in Bremen am Bahnhof ab und fragte zuerst noch, wen sie denn bei sich hätte, und als die alte Dame ihn über Arndt aufgeklärt und gesagt hatte, dass er nach Hamburg müsste, erklärte sich ihr Sohn sofort bereit, Arndt dorthin zu bringen. Sie erreichten den Hamburger Hauptbahnhof kurz nach dem Zug und Arndt rannte gleich in den Bahnhof, wo er seine Großeltern noch auf dem Bahnsteig antraf, sie hielten seinen Rucksack in der Hand, den ihnen der Schaffner ausgehändigt hätte.“ Manfred beendete seine Geschichte, als sie kurz vor der Grenze waren und alle wieder in ihre Abteile zurückgingen. Der Grenzübertritt war überhaupt kein Problem, mittlerweile kontrollierten nicht einmal die deutschen Zöllner die Ausweispapiere, und sie wünschten ihnen noch eine angenehme Weiterreise. Der Anblick der Verwüstungen nahm alle wieder mit, besonders, wenn man aus einer völlig unzerstörten und sauberen Stadt wie Amsterdam kam. Als sie in Essen den Zug verlassen hatten, liefen sie zielstrebig zu ihrem Bus und fuhren mit ihm zum Bredeneyer Kreuz.
Sie bahnten sich dort ihren Weg durch die Schwarzmarkthändler und liefen zu Bärbel, wo Otto gleich den Ofen in der Küche in Gang setzte und zunächst einmal eine Menge Gestank erzeugte. Als der Ofen aber eine Zeit lang brannte, zog er gut und der Qualm entwich durch den Schornstein. Es war nicht mehr so kalt, und niemand fror in Bärbels Haus, aber ein wärmendes Feuer im Ofen konnte nicht schaden. Bärbel bat Petra und Marga, doch schnell zum Bäcker zu laufen und ein Roggenbrot und Kuchen zu besorgen und die beiden wollten gleich los.
„Können wir mitkommen?“, fragten Christine, Bernd und Peter und sie nahmen die drei mit zum Bäcker. Natürlich hatten die drei Kinder darauf spekuliert, beim Bäcker etwas Süßes zu bekommen, und als sie in der Bäckerei vor der Theke standen und große Augen machten, gab die Bäckersfrau jedem ein Bonbon und die Kinder waren glücklich. Petra und Marga nahmen ein Roggenbrot und für jeden ein Stück Kuchen und liefen mit den Kindern zu Bärbel zurück. Die hatte mit Martha inzwischen den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht und alle setzten sich an den Kaffeetisch und aßen von dem frischen Kuchen. Die Kinder bekamen einen Kakao und natürlich auch Stücke vom kleingeschnittenen Kuchen, es gab zu dem Kuchen auch Sahne und die Kinder ließen sich davon geben.
„Uns trennen noch eineinhalb Wochen von den Landtagswahlen“, sagte Bärbel, „ich bin wirklich gespannt, welche Partei die Wahl gewinnen wird!“
„Ich fand Piets Äußerungen über die Parteien völlig überzogen, aber so ist er eben, ich mag seine Direktheit sogar, mit der er allerdings manchmal auch verletzend sein kann“, sagte Petra und die anderen pflichteten ihr bei.
„Ich bin ihm ja einmal zwischen seine Flügel gegangen“, meinte Otto, „ich mag es eben nicht, wie er den Sowjetkommunismus in den Himmel lobt!“
„Ich denke, dass Piet mit solchen Retourkutschen immer rechnet und sie in sein Kalkül mit einbezieht, er will ja eine Diskussion und er will, dass man sich an ihm reibt!“, erwiderte Petra, „nur so sind doch seine teilweise abstrusen Thesen zu verstehen!“ Am Abend saßen sie bei dem guten Roggenbrot und belegten es mit allem, was das war, etwas Käse, Leberwurst und Schmalzfleisch, auch die Kinder aßen von dem Roggenbrot, allerdings streuten sie sich Hagelslag auf ihre Schnitten. Gutes Brot stand bei ihnen für Solidität und beinahe für Leben, sie verbanden mit gutem Brot Kraft, Energie und Ausdauer, es war etwas Herausragendes für sie, dabei hatten sie in den letzten Tagen in Holland zurückstecken müssen. In den folgenden Tagen stellte sich im Nu der Alltag wieder ein, nur Marga und Werner hatten noch Ferien, bei Lisa, Petra und Manfred setzte der Arbeitsstress gleich wieder ein und nahm sie in Besitz. Aber die drei mochten es, gefordert zu werden und nicht vor sich hin vegetieren zu müssen. Lisa verstand es, das für sie Beste aus ihrem Job zu machen, Arzthelferin war weiß Gott kein Beruf, der hohe gesellschaftliche Achtung genoss und in dem man großartig kreativ tätig sein konnte.
Sie konnte aber ihren Beruf über die geforderten Ansprüche hinaus mit ihren Attitüden füllen und den Patienten im Wartezimmer das Gefühl zu geben, dass man sich auch schon dort um sie kümmerte. Das lag einfach daran wie Lisa mit Menschen umzugehen verstand wie sie ihnen zuhörte und sich ihrer annahm. Sie gab ihnen zu verstehen, dass sie mit ihren gesundheitlichen Problemen schon im Wartezimmer ernst genommen wurden und nicht erst im Praxisraum des Arztes Gehör fanden.