Читать книгу Margas Leben - Familien nach dem Krieg (1) - Hans Müller-Jüngst - Страница 3
Auf nach Holland!
ОглавлениеDer Krieg war vorüber, und es standen für Marga, Gerda, Siegfried, Gerdas Mann, Petra, Werner und Manfred Entscheidungen an, von denen der Verlauf ihres weiteren Lebens abhängen sollte. Marga war nach Deutschland zurückgekehrt und ist Deutsche geworden. Sie lebte zusammen mit Werner in Essen, wo sie Studienrätin am Goethe-Gymnasium war und die Fächer Geschichte und Deutsch unterrichtete. Werner war an den Lehrstuhl für Philosophie nach Düsseldorf gerufen worden. Sie waren seit einigen Jahren verheiratet und 1941 Eltern geworden, sie hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen und lebten mit Werners Mutter zusammen im alten Theißen-Haus.
Werners Mutter war inzwischen siebzig und von sehr stabiler Natur. Jetzt, wo ihr Haus mit Menschen gefüllt war, sah sie sich in ihrem Leben von Neuem herausgefordert. Sie hatte ein sehr gutes Verhältnis zu den Kindern ihres Sohnes entwickelt, und die Kinder mochten ihre Oma über alles. Werner hatte sich ein Auto zugelegt, mit dem er jeden Morgen nach Düsseldorf fuhr, Marga nahm für ihren Schulweg ihr Fahrrad, sie musste nur die Meisenburgstraße überqueren und in die Ruschenstraße einbiegen, das waren ein paar hundert Meter. In der Zeit ihrer täglichen Abwesenheit kümmerte sich Bärbel, so der Name von Werners Mutter, liebevoll um die Kinder und kochte für alle Essen. Auch Petra und Manfred waren während der Kriegszeit ein Paar geworden und hatten 1942 geheiratet. Sie hatten seit 1942 Kinder, zwei Jungen, mit denen sie auch in Essen lebten, allerdings nicht in dem alten Goldschmid-Haus, denn das hatten Manfreds Eltern 1934 verkauft, bevor sie zu Margas Eltern und ihren Verwandten nach Amsterdam ausgewandert waren. Sie hatten sich vielmehr ein Haus kaufen müssen und waren wieder nach Bredeney gezogen, ganz in die Nähe von Marga und Werner. Manfred hatte in der alten Praxis seines Vaters bei David Zuckerberg, dessen ehemaligem Kompagnon, seine Arbeit als Arzt aufgenommen und hatte die feste Absicht, genauso erfolgreich und mit aller Kraft seinen Arztberuf auszuüben.
Petra war Tierärztin geworden und hatte Praxisräume in Bredeney gefunden. Es war für sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht einfach, ihr Leben als Tierärztin zu bestehen, weil die Menschen natürlich andere Sorgen hatten, als sich um das Wohl ihrer Tiere zu kümmern. Zusammen mit Manfred schaffte sie es aber, ihrer Familie ein überdurchschnittliches Auskommen zu sichern. Gerda ist nach ihrem Studium in Göttingen geblieben und hatte einen ehemaligen Kommilitonen geheiratet, mit dem sie eine psychotherapeutische Praxis eröffnet hatte. Auch sie hatten zwei Kinder, die allerdings noch sehr klein waren und erst vor kurzer Zeit, also 1944 und 1945 geboren worden waren. Gerda, die immer wie das fünfte Rad am Wagen gewirkt hatte, war in Wirklichkeit schon seit Beginn ihres Studiums mit Siegfried, wie ihr Mann hieß, liiert, was niemand wusste, was aber auch niemanden überraschte, denn Gerda sah sehr hübsch aus und sie war intelligent. Die alten Rozenbaums, Margas Eltern und Goldschmids, Gerdas und Manfreds Eltern, lebten ein glückliches Leben in Amsterdam. Sie hatten während der deutschen Besatzung so manche Entbehrung hinnehmen müssen, waren aber mit heiler Haut durch die Zeit der Schrecknis gekommen. Goldschmids bewohnten an der Keizersgracht ein altes vornehmes Bürgerhaus mit sehr viel Platz, Rozenbaums wohnten seit eh und je in der Tuinstraat in ihrem alten Stadthäuschen, das die Firma seinerzeit Herrn Rozenbaum zur Verfügung gestellt hatte. Die Rozenbaums mussten, nachdem der Alte in Rente gegangen war, ein wenig Miete bezahlen, die aber kaum der Rede wert war.
Auch Herr Goldschmid arbeitete nicht mehr und hatte seine Arztpraxis in der Bergstraat verkauft.
Die Goldschmids trafen sich öfters mit Rosenbaums, auch Petras Eltern, die Gerrits, gehörten zu dem Kreis, in dem wie in alten Zeiten über Politik diskutiert wurde, wobei Piet Gerrits sich immer besonders hervortat und sich gelegentlich überengagiert zeigte. Es war nicht so, dass er Genugtuung empfand, wenn er auf das geschlagene und völlig am Boden zerstörte ehemalige Großdeutsche Reich blickte, aber er machte kaum einen Hehl daraus, dass ihn die Entwicklung in Deutschland bis zu dessen bedingungsloser Kapitulation mit Zufriedenheit erfüllte. Bärbel Theißen unternahm mehre Male im Jahr die anstrengende Zugfahrt nach Amsterdam, um sich mit ihren alten Freuden zu treffen und eine Woche, manchmal auch drei Wochen lang bei Goldschmids, ihren ehemaligen Nachbarn in Essen, zu wohnen. Wenn sie in der alten Runde zusammensaßen, meistens bei Goldschmids, weil die den meisten Platz hatten, ging es schon mal hoch her wie früher, Bärbel und Piet, Petras Vater, standen sich in ihrem politischen Eifer in nichts nach und zogen über alles her, was ihrem politischen Denkschema entgegenstand. Iris, Petras Mutter und Doris, Marga Mutter, hielten sich meistens zurück, wenn sich Bärbel, Piet und Max, Margas Vater und Robert, Gerdas und Manfreds Vater, in die Haare kriegten. Die Stimmung blieb aber immer sehr erträglich und niemand der Anwesenden fühlte sich im Anschluss auf den Schlips getreten, weil sie im Grunde alle einer Meinung waren wie schon in der Vorkriegszeit, als alle gegen das Hitlerregime waren und sich deshalb nie ernsthaft in die Wolle kriegten, höchstens dass sie sich einmal über Nuancen stritten.
Piet versuchte aber immer, in seiner provozierenden Art einen Kitzel in die Runde zu bringen. Er schien die Brisanz, die dadurch in die Diskussion gebracht wurde, zu brauchen und fühlte sich sichtlich wohl, wenn er die Gemüter hochgeschaukelt hatte. Kam es hin und wieder dazu, dass sich alle Familien mit ihren Angehörigen trafen, waren sie neunzehn Personen. Da wurde nicht gekocht, sondern sie gingen essen, nachdem sie sich ein Restaurant mit ausreichend Platz ausgesucht hatten. Das war in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland natürlich gar nicht möglich, denn es gab gar keine Versorgung mit Lebensmitteln, die ein Restaurant gebraucht hätte und es gab niemanden, der die finanziellen Mittel gehabt hätte, um in einem Restaurant essen zu gehen. Jeder dachte doch nur daran, irgendetwas zu essen zu bekommen, man war nicht wählerisch, die Hauptsache war doch, dass das Essen genießbar war und satt machte. In Holland sah die Sache anders aus, in Amsterdam fing, nachdem die deutschen Besatzer abziehen mussten, schnell wieder das normale Leben an. Es hatte ja in der Stadt keine Zerstörungen gegeben und die Vorkriegszustände waren im Nu wiederhergestellt.
Das Verhältnis zwischen Holländern und Deutschen war, wie man sich leicht vorstellen konnte, für lange Zeit auf das Schlimmste belastet. Aber das betraf den Familienclan ja nicht, zu dem auch irgendwann Gerrits gehörten. Wenn man als Deutscher zu einem Holländer in Kontakt treten wollte, zum Beispiel in einem Geschäft, konnte es einem passieren, dass man gar nicht beachtet oder sogar beschimpft wurde. Es gab Holländer, die einen regelrechten Hass gegen die Deutschen hegten, der natürlich in den gemachten überaus negativen Erfahrungen wurzelte. Die „Stunde Null“, wie der Neuanfang in Deutschland nach dem Krieg bezeichnet wurde, bedeutete für die Allermeisten den tatsächlichen Neubeginn in allen lebensrelevanten Angelegenheiten. Das betraf zumindest die Befriedigung der Existenzbedürfnisse Wohnen, Essen und Kleidung. An die Befriedigung weiterer Bedürfnisse dachte in den ersten Monaten nach Kriegsende, also vom 8. Mai 1945 an gerechnet, noch kaum jemand. Die Situation stellte sich in Essen für die beiden jungen Familien noch ganz passabel dar: Petra und Manfred wurden von ihren Patienten in Naturalien bezahlt und hatten deshalb eine ausreichende bis gute Versorgung mit Lebensmitteln.
Marga und Werner waren Staatsbedienstete und hatten als Beamte deshalb ihr festes Einkommen, das bei den Positionen, die sie bekleideten, recht gut ausfiel, sodass auch sie ihr Auskommen hatten. Das Gros der deutschen Bevölkerung hungerte aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit und war auf öffentliche Speisungen angewiesen.
Menschen, die auf dem Land lebten, hatten es da besser, und wenn sie auch noch einen Hof besaßen, waren sie Selbstversorger und gut mit Lebensmitteln eingedeckt, die eigentlichen Hungersnöte betrafen fast ausschließlich die Städter. Sie gingen aus Not „hamstern“, wie man es nannte, wenn sie, ausgestattet mit Pelzmänteln, kostbaren Teppichen und Schmuck, aufs Land fuhren und dort im Tausch Lebensmittel zu ergattern versuchten. Das war natürlich erst möglich, nachdem die Gleisanlagen, die durch die alliierten Bombardements arg in Mitleidenschaft gezogen waren, wieder repariert waren. Aber eins nach dem anderen!
Als Hitler von seinem Führerbunker unter der Reichskanzlei in Berlin aus seine letzten Befehle an die immer aussichtsloser kämpfenden Soldaten herausgegeben und eingesehen hatte, dass der Krieg für Deutschland verloren war, entzog er sich am 30. April zusammen mit seiner Frau Eva Braun durch Selbstmord der Verantwortung. Es dauerte im Anschluss daran noch eine ganze Woche, bis General Keitel die Kapitulationsurkunde unterschrieb und der 8. Mai das Ende aller Kampfhandlungen in Europa bedeutete. Deutschland war von da an ein besetztes Land, die Alliierten USA, Großbritannien, die Sowjetunion und später auch Frankreich kommandierten in ihren Zonen, die Stadt Berlin wurde in vier Sektoren eingeteilt, der Sowjetunion ist mit Ostberlin die halbe Stadtfläche zugestanden worden.
Berlin lag von da an wie eine Insel in der sowjetischen Besatzungszone. Selbstverständlich hatten sich die Alliierten im Verlauf des Krieges Gedanken darüber gemacht, wie sie im Falle des Sieges - und alle gingen von einem Sieg der Alliierten über Deutschland aus - verfahren sollten. Dass das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 in irgendeiner Weise unter den Siegermächten aufzuteilen wäre, war von Anfang an klar. Auch dass es Arrondierungen im Osten geben müsste, war klar und man traf sich zur Besprechung solcher Dinge in Teheran, Jalta und nach dem Krieg in Potsdam, wo im Juli/August 1945 das berühmte Potsdamer Abkommen verabschiedet wurde. Der Inhalt dieses Abkommens ließ sich passend mit Demokratisierung, Dezentralisierung, Demontagen, Denazfizierung und Demilitarisierung beschreiben. Wovon ließen sich die Alliierten bei ihren Überlegungen im Hinblick auf Nachkriegsdeutschland leiten, welche waren die Motive, aus denen sie an eine Politik in Deutschland herangingen? Sehr stark, wenn auch bei den Alliierten unterschiedlich stark ausgeprägt, war der Revanchegdanke, der noch Nahrung bekam, als man die Konzentrationslager geöffnet hatte und die Lagerinsassen befreite, die zum Teil nur noch Haut und Knochen und dem Tode näher als dem Leben waren. Die Deutschen zu bestrafen war die eine Seite der in Frage kommenden Maßnahmen, es überwogen am Ende aber die Meinungen derjenigen, die konstruktiv an einen Wiederaufbau Deutschlands herangehen und nur die Hauptkriegsverbrecher vor Gericht bringen wollten, unter denen sich Göring und Heß, aber auch der Industrielle Krupp befanden. Die Kriegsgefangenen kamen natürlich in Gefangenenlager und blieben dort wie einige, die in sowjetischer Gefangenschaft waren bis teilweise 1955!
Wie schon erwähnt, gab es interalliierte Zusammenkünfte während des Krieges, bei denen besprochen wurde, wie zu verfahren wäre, um Deutschland in die Knie zu zwingen, und was nach dem Krieg mit Deutschland zu geschehen hätte. Zuvor verkündete der amerikanische Präsident Roosevelt vor dem Kongress die „vier Freiheiten“, nach denen es in einem Land territoriale Veränderungen nur aufgrund des Selbstbestimmungrechtes geben dürfte, ein jedes Volk müsste über die Regierungsform in seinem Land entscheiden dürfen, jeder Nation müsste der freie Zugang zu allen Rohstoffen der Erde zugestanden werden, und ein dauernder Friede, der ein Leben frei von Furcht und Not ermöglichte, wäre anzustreben. Ferner trat das sogenannte „Leih- und Pachtgesetz“ in Kraft, nach welchem ab August 1941 Materiallieferungen an die UdSSR erfolgten, die Neutralitätspolitik der USA aufgegeben wurde und britisch-amerikanische Generalstabsbesprechungen begannen, die USA sahen sich als „Arsenal der Demokratie“. Vom 16. - 26. Januar 1943 fand die Konferenz von Casablanca statt, noch trafen sich dort nur Roosevelt und Churchill ohne Stalin, Roosevelt forderte dort die bedingungslose Kapitulation („unconditional surrender“) Deutschlands.
Im Laufe des Jahres gab es britisch-amerikanisch-sowjetische Verhandlungen in Moskau, bei denen eine Zusammenarbeit bis zum Endsieg vereinbart wurde. Auf der Konferenz von Teheran vom 28. November – 1. Dezember 1943 trafen sich Roosevelt und Churchill mit Stalin, und es wurde die Zusammenarbeit nach dem Krieg besprochen und die Landung in Nordfrankreich beschlossen, ferner wurde die Curzon-Line als polnische Ostgrenze festgelegt, im Westen sollte Polen auf Kosten Deutschlands bis zur Oder ausgedehnt werden. Die beiden Problembereiche Neuordnung Deutschlands und Modalitäten bei der Neuerrichtung des Staates Polen machten erste grundlegende Differenzen in der Anti-Hitler-Koalition deutlich, die zu diesem Zeitpunkt aber noch von dem vorrangigen Ziel der gemeinsamen Niederringung Deutschlands überdeckt wurden. Deutschland sollte als Großmacht ausgeschaltet, Nazideutschland sollte besiegt und der Faschismus ausgerottet werden. Die unterschiedlichen Vorstellungen der drei Staatsmänner fanden ihren Niederschlag in den Deutschlandplänen der Konferenz:
Die USA wollten die Aufteilung Deutschlands in fünf völlig voneinander unabhängige Länder, wobei die Wirtschaftszentren Hamburg mit dem Nord-Ostsee-Kanal, das Ruhrgebiet und das Saarland einer internationalen Behörde unterstellt werden sollten. Großbritannien wollte die Isolierung Preußens, weil man im Militarismus Preußens das Hautübel sah, ferner die Abtrennung von Baden, Württemberg, der Pfalz und Bayern und deren Zusammenlegung zu einer Donauföderation.
Die UdSSR formulierte ihre Haltung aus der Antiposition zu den Plänen der USA und Großbritanniens heraus. Stalin lehnte den Churchill-Plan unter Hinweis auf die Gefährlichkeit aller Deutschen ab, den Roosevelt-Plan sah er als Minimallösung an, obwohl für ihn die Zerstückelung Deutschlands nicht nur in der Schaffung von fünf Ländern und der Ausgliederung der Wirtschaftszentren bestehen sollte. Roosevelt wollte eine dauerhafte wirtschaftliche Schwächung Deutschlands und in diesem Sinne war auch der Plan seines Finanzministers Henry Morgenthau zu verstehen, der in Deutschland die Zerstörung der Industrie und seine Umwandlung in einen Agrarstaat vorsah. Noch im selben Jahr zogen Churchill und Roosevelt ihre Unterschriften unter diesen Plan wieder zurück, der aber gleichwohl die amerikanische Deutschlandpolitik noch bis 1946 beeinflusste. Churchill bezog schon sehr früh eine antikommunistische Position, er wollte ein starkes Deutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus. Stalin wollte die Beeinflussung bzw. Einbeziehung eines schwachen Deutschlands, das als Sprungbrett bis zum Atlantik dienen könnte. Bemerkenswert war, dass schon während der Kriegszeit Zerwürfnisse in der Anti-Hitler-Koalition deutlich wurden, die auf die grundsätzlich verschiedenen Politikauffassungen zurückgingen:
auf der einen Seite die kapitalistische Auffassung mit repräsentativen Demokratien, auf der anderen Seite die sozialistisch-kommunistische Auffassung mit volksdemokratischer Struktur. Die wichtigere und weitreichendere interalliierte Kriegskonferenz war die Konferenz von Jalta, die vom 4. - 12. Februar 1945 stattfand. Die Konferenz stand von Anfang an unter keinem guten Stern, die latent vorhandenen Spannungen führten dazu, dass sie die Unentschlossenheit und das Fehlen eines klaren Konzeptes offenlegte. Die wichtigen Fragen nach der Zerstückelung Deutschlands, der deutsch-polnischen Grenze und der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands blieben offen oder wurden durch Formelkompromisse geregelt. Die Verhandlungsposition der USA wurde dadurch gekennzeichnet, dass man glaubte, auf die UdSSR als Verbündeten im Krieg gegen Japan angewiesen zu sein, die Position Stalins wurde somit gestärkt. Der Gesundheitszustand Roosevelt verschlechterte sich zusehends, sodass er den körperlichen und geistigen Beanspruchungen einer solchen Konferenz nicht mehr gewachsen war. Franklin D. Roosevelt starb am 12. April 1945 an Kinderlähmung, sein Nachfolger wurde Harry S. Truman. Churchill gab den Forderungen Stalin widerstrebend nach, weil er die Einheit der Koalition und damit verbunden den verbürgten Sieg nicht gefährden wollte. Die Pläne zur Zerstückelung Deutschlands wurden einem Komitee übertragen, das die Modalitäten erarbeiten sollte („dismemberment comittee“). Als Ergebnisse der Konferenz blieben:
keine Einigung über die territoriale Zukunft Deutschlands, Verhaftung und Bestrafung der Kriegsverbrecher, Reparationen, die UdSSR erhielt 50 % der von Deutschland zu zahlenden Reparationen, Bildung einer französischen Zone, die von den beiden zu schaffenden Westzonen abgetrennt werden sollte, Einrichtung eines alliierten Kontrollrates, der aus den vier Oberkommandierenden bestehen und seinen Sitz in Berlin haben sollte, und dessen Beschlüsse einstimmig gefasst werden sollten, er sollte über die Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten bestimmen. Stalins Deutschlandhaltung änderte sich nach der Jalta-Konferenz radikal: sein Maximalziel bestand nun in einem gesamtdeutschen kommunistischen Einheitsstaat, sein Minimalziel in einem kommunistischen Teilstaat, wie er ihn später mit der sowjetischen Besatzungszone verwirklichte. Den jungen Familien Goldschmid, Theißen und Lamprecht, wie Gerda jetzt mit Nachnamen hieß, stellten sich in der „Stunde Null“ ganz andere Probleme. Es war aber nicht so, dass sie sich nicht für das interessierten, was um sie herum geschah, aber sie wurden von den Alltagsproblemen bedrängt, wenngleich sie über ausreichend Geld verfügten, um sich Nahrung und Kleidung zu beschaffen. Am schwersten war es für Gerda, Siegfried und deren Kinder. Die beiden Eltern bekamen mit ihrer Therapiepraxis so recht kein Bein auf die Erde, zumindest am Anfang nicht.
Es gab in der Folge der unvorstellbar grausamen Kriegsereignisse genügend seelisch zerrüttete Menschen, die unbedingt einer Therapie bedurft hätten, eine Therapie kostete aber Geld. Das bisschen Geld, das die Menschen besaßen aber für eine Therapie einzusetzen, sahen sie nicht ein. So behalfen sich Gerda und Siegfried im Jahre 1945 damit, Nachhilfestunden zu geben und an ihrer alten Hochschule als Tutoren zur Verfügung zu stehen, damit sie wenigstens Geld für die grundlegenden Dinge des Lebens hatten. Die „Stunde Null“ bedeutete chaotische Zustände in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens:
Die Städte lagen in Schutt und Asche, gerade auch Essen, die Trümmerfrauen bestimmten das Straßenbild, große Teile der Bevölkerung waren vertrieben, vermisst, verwundet oder getötet, Familien waren zerrissen, Millionen waren nach ihrer Vertreibung aus dem Osten obdachlos, Wirtschaft und Infrastruktur waren weitestgehend zusammengebrochen, die Versorgung der Bevölkerung, die Essen, Wohnung und Arbeitsplätze mit den Flüchtlingen teilen mussten, konnte nur unzureichend gewährleistet werden , die Industrie erreichte nur einen Bruchteil der Vorkriegsproduktion wegen der Zerstörungen, des Mangels an Arbeitskräften und der schlechten technischen Ausstattung, es fehlte jedwede politische Steuerung, sodass diese Dinge in die Hände der Alliierten gelegt waren.
Der Zweite Weltkrieg hatte sechzig Millionen Tote gefordert, fünfunddreißig Millionen Verwundete und drei Millionen Vermisste, die UdSSR allein hatte zwanzig Millionen Tote zu beklagen. Wie sah nun der Alltag für die jungen Familien aus, wie nahmen sie ihre Erziehungsaufgaben gegenüber den Kindern wahr, wie übten die Erwachsenen ihre Berufe aus?Das härteste Los hatten, wie schon oben erwähnt, Gerda und Siegfried, die sich mit ihrer Nachhilfe so gerade über Wasser halten konnten und sich in der Erziehung von Gerlinde und Sven, wie ihre Kinder hießen, abwechselten, was sich relativ problemlos managen ließ. Sie besaßen ein Fahrrad, mit dem sie sich vorwärts bewegten, was in dem bergigen Göttingen nicht so einfach war. Aber Geld für ein Auto hatten sie nicht, sie lebten mit ihren Kindern in einer kleinen Wohnung zur Miete und kochten und heizten mit Kohleöfen. Sie hofften auf bessere Zeiten, die sich für sie sicher ab dem nächsten Jahr einstellen würden, wenn sich die Verhältnisse in Deutschland so weit wieder konsolidiert hätten. Marga und Werner schickten ab und zu ein Paket an Gerda und Siegfried, in das sie vornehmlich Lebensmittel gelegt hatten, und das die beiden dankbar annahmen. Gerlinde und Sven waren noch so klein, dass sie von dem ganzen Elend, das sie umgab, nichts mitbekamen. Marga fuhr mit dem Rad zum Goethe-Gymnasium und versah ihren Dienst als Studienrätin sehr gern. Sie war sich im Klaren darüber, dass sie es bei ihren Schülerinnen und Schülern mit Kindern aus den oberen Gesellschaftsschichten zu tun hatte, denn der Besuch des Gymnasiums kostete Schulgeld.
Werner setzte sich morgens in seinen VW und fuhr eine Stunde nach Düsseldorf zur Universität. Er musste über Werden fahren, um die Ruhr zu überqueren. Niemals fragte er sich, was die Menschen in ihrer großen materiellen Not mit Philosophie anfangen sollten, was etwa half die Kant´sche „Kritik der reinen Vernunft“ gegen den bohrenden Hunger, der die Studenten plagte? Um Christine und Peter, wie ihre beiden Kinder hießen, kümmerte sich Oma Bärbel liebevoll. Am frühen Nachmittag, spätestens gegen 13.30 h war Marga wieder zu Hause und erlöste ihre Schwiegermutter von ihren Erziehungsaufgaben. Bärbel Theißens Mann Georg war schon seit vielen Jahren tot, er ist nach dem Weltkrieg einem Lungenleiden erlegen. Oftmals war Werner auch schon um diese Zeit zu Hause, wenn er keine Nachmittagsveranstaltung hatte. Bei Petra und Manfred sah die Sache anders aus, sie hatten beide eine Praxis zu betreuen, Petra nur mit halber Stundenzahl, damit sie Zeit für ihre Kinder Peter und Daniel hatte, um die sich während Petras Abwesenheit eine Kinderfrau kümmerte. Petra hatte in ihrer Praxis gar nicht so viel zu tun, und es gab kaum Patienten, die mit ihren Tieren kamen. Sie wurde oft zu naheliegenden Bauernhöfen gerufen, um Kühen beim Kalben zu helfen. Bei Manfred brummte die Praxis, die Menschen litten unter den Krankheiten, die die Zeit so mit sich brachte, es gab mangel- oder fehlernährte Kinder, Atemwegserkrankungen, TBC, Würmer etc. Wenn Manfred abends nach Hause kam, war er geschafft.
In Ausnahmefällen, wenn die Kinderfrau einmal krank war, brachten sie Peter und Daniel schon mal zu Frau Theißen, der es nichts ausmachte, auch noch auf die beiden anderen Kinder aufzupassen, das kam aber zum Glück nur selten vor. Im Sommer 1945 stand ein Treffen in Amsterdam an, bei dem sich alle versammeln wollten, die zu dem Familienclan gehörten. Die Eisenbahnstrecke war wieder repariert und konnte befahren werden. Gerda und Siegfried nahmen mit ihren Kindern den Zug über Hannover, der sie direkt nach Amsterdam brachte, sie hatten den weitesten Weg. Die Zugfahrt von Essen nach Amsterdam dauerte nur vier Stunden, bei den zu der Zeit vollzogenen Gleisbauarbeiten konnte sie aber auch länger dauern. Marga und Werner hatten Sommerferien bzw. Semesterferien, Gerda und Siegfried hatten während der Sommerferien keine Nachhilfe und in den Semesterferien kein Tutorium, Petra und Manfred hielten ihre Praxen für vierzehn Tage geschlossen, David Zuckerberg würde in der Zeit die Patienten für Manfred mit versorgen. Es war Anfang Juli 1945, ein herrlicher Sommertag und reichlich heiß, wenn man in den strahlend blauen Himmel blickte, konnte man alles um sich herum vergessen, man schloss anschließend die Augen und wähnte sich im schönsten Sommerurlaub. Sobald man seine Augen aber wieder öffnete und sich umsah, hatte einen die traurige und niederschmetternde Realität wieder zurück, und man schaute über Trümmerfelder und in die ausgemergelte Gesichter von Menschen, die in abgerissener Kleidung steckten und hungerten.
Wenn sie in Amsterdam angekommen wären, hätte Peter kurze Zeit später seinen dritten Geburtstag. Was mochte so einem kleinen Erdenbewohner wohl durch den Kopf gehen, wenn er das gesamte Elend betrachtete? Aber Peter war wohl noch zu klein, um die Not in ihrer gesamten Ausprägung richtig einzuschätzen oder etwas ändern zu können.
„Habt Ihr ein Geschenk für Peter mitgenommen?“, fragte Marga Petra und Manfred im Zug und Petra antwortete:
„Ich habe im letzten Moment noch daran gedacht, dass der kleine Kerl auch schon drei Jahre alt wird und ihm etwas zum Spielen besorgt.“
Bärbel, die mit nach Amsterdam fuhr, war eigens noch in die Stadt gefahren, um dem kleinen Peter ein Geschenk zu kaufen. Der Dampfzug fuhr bedächtig seine Strecke und musste gelegentlich abbremsen und manchmal sogar halten, wenn es die Gleisbauarbeiten erforderten. Das Ruhrgebiet war eine einzige Trümmerwüste, die vier Erwachsenen schauten gar nicht groß aus dem Abteilfenster, und die Kinder interessierte ohnehin nicht, was sie da zu sehen bekamen. Die Eltern mussten daran denken, wie sie in der Vorkriegszeit mit diesem Zug gefahren waren, und Marga fragte in die Runde:
„Wisst Ihr noch, wie wir uns immer vor dem Grenzübertritt gefürchtet haben, weil die Grenzer so unverschämt gewesen sind und sich aufgespielt haben?“ Natürlich erinnerten sich alle ganz genau an dieses absurde Schauspiel, das sich ihnen damals immer geboten hatte, und Werner meinte:
„Schlimm waren auch immer die Begegnungen mit den SA-Männern, die gleich zu Schlägereien aufgelegt waren, ich weiß noch genau, wie Manfred und ich damals im Zug beinahe eine Schlägerei bekommen hätten, wenn die SA-Tölpel nicht in Wesel hätten aussteigen müssen.“ Manfred und Werner waren beide Soldaten gewesen, machten darum aber nie viele Worte, weil ihre Kriegserlebnisse zu schrecklich gewesen waren. Manfred ist trotz seiner jüdischen Abstammung als Lazarettarzt an der Ostfront gewesen und hat dort unter den erbärmlichsten Bedingungen operieren müssen. Das Grauen, das ihm während dieser Zeit zu Gesicht gekommen war, war unbeschreiblich. Manfred stumpfte aber ab und war am Ende nicht mehr sensibel genug, um die Schrecknis in ihrer ganzen Härte an sich heranzulassen. Werner war zuerst als Heeressoldat in Frankreich und ist im Anschluss wegen seiner rudimentär vorhandenen Russischkenntnisse an die Ostfront gelangt. Sowohl Werner als auch Manfred hatten den Krieg von Anfang bis zum Ende als Soldaten mitgemacht, sie waren nicht an ihren schlimmen Erlebnissen zerbrochen, weil sie von ihrem Naturell her gut ausgestattet waren und über genügend psychische Abwehrkräfte verfügten. Sie sahen ihre Frauen und später ihre Familien nur, wenn sie Urlaub bekommen hatten.
Wie schwer danach immer der Abschied war, kann kaum jemand nachvollziehen. Auf dem Weg bis zur holländischen Grenze kamen mehrmals britische Soldaten in ihr Abteil und musterten die Reisegruppe argwöhnisch. Sie befanden sich in der britischen Besatzungszone und die britischen Soldaten hatten dort das Sagen. Es wurde kein Wort gewechselt, weil die Devise „no fraternization“ galt, und die wurde zumindest am Beginn der Besatzungszeit strikt eingehalten. Vor dem Passieren der Grenze wurde die Reisegruppe von den Soldaten ordentlich gefilzt und jeder dachte in diesem Augenblick, dass sich im Grunde nichts geändert hätte, die Soldaten trugen nur andere Uniformen. Schließlich wurden sie mit strengem Tonfall gefragt, wohin sie reisten, bevor die Soldaten den Reisenden ihre Papiere wieder zurückgaben und das Abteil verließen. Immerhin warfen sie dabei die Abteiltür nicht ins Schloss, wie das die Nazi-Zöllner immer getan hatten. Die Kinder hatten sich während der ganzen Zeit ruhig verhalten, und auch als die holländischen Zöllner in ihr Abteil kamen, um ihre Papiere zu kontrollieren, regten sie sich nicht. Die Holländer blickten mit feindseligen Augen in die Runde, die deutsche Besatzung der Niederlande war erst seit geraumer Zeit vorüber, genau gesagt seit dem 5. Mai 1945. Es hatte sich ein Hass gegen alles Deutsche aufgestaut, den die Zöllner aber zurückhielten. Den Kindern war die Feindseligkeit der Zöllner aber nicht entgangen, und sie fingen an zu weinen, als der Zug schon längst die Grenze passiert hatte. Marga und Petra nahmen ihre Kinder in die Arme und trösteten sie, bis sie sich wieder beruhigt hatten und aus dem Fenster schauten.
Der Blick, der sich ihnen dort bot, war ein gänzlich anderer als der Blick auf der deutschen Seite. Sie durchfuhren eine völlig intakte bäuerliche geprägte Landschaft, alles strotzte nur so von Gesundheit und Sauberkeit, und wenn sie in den wenigen Bahnhöfen hielten, die bis Amsterdam auf ihrem Weg lagen, zeigte sich ihnen ein quirliges Bild von vergnügten Menschen. Man hätte nicht glauben mögen, dass sie bis vor Kurzem noch unter der Knute der Deutschen hatten leben müssen. Die völlig veränderte Stimmung hatte sich gleich auf die Zugfahrgäste übertragen, die Kinder und auch die Erwachsenen lachten und waren guter Dinge. Als der Zug in der Centraal Station in Amsterdam hielt, sprangen alle auf den Bahnsteig, die Kinder tollten nach der langen Zeit des Sitzen herum und mussten von den Erwachsenen zur Räson gebracht werden. Bärbel sagte:
„Lasst die Kinder doch toben, sie haben doch lange genug sitzen müssen!“ Aber es war zu gefährlich, die Kinder auf dem Bahnsteig herum hetzen zu lassen, und sie störten dabei auch die anderen Leute. Petra, Marga, Werner und Manfred erinnerten sich noch wie sie früher auf dem Bahnsteig gestanden und sich zum Abschied geküsst hatten. Max, Margas Vater, war gekommen, um alle abzuholen, und als er seine Tochter vor sich stehen sah, überkam ihn eine riesige Freude, sie so gesund wiederzusehen, und er drückte und küsste sie, bevor er auch alle anderen in seine Arme schloss, besonders die Kinder.
Margas Kinder kannten ihren holländischen Opa ja gar nicht und taten sehr scheu, als sich der fremde alte Mann so aufdringlich zeigte und sie umarmen wollte. Erst als Marga ihnen durch gutes Zureden die Scheu genommen hatte, ließen sie die Umarmung des Opas zu. Max hatte auf dem Bahnhofsvorplatz geparkt, er fuhr immer noch einen Renault, allerdings seit damals den dritten, der moderner ausgestattet war als die Vorgängermodelle, vor allem aber einen stärkeren Motor hatte. Die beiden Essener Familien standen auf den Bahnhofsvorplatz und schauten sich um, sie sahen eine völlig unzerstörte und schöne Stadt vor sich liegen, die etwas Sauberes und Properes ausstrahlte, jeder musste sich bei ihrem Anblick gleich wohlfühlen. Max lud das Gepäck der Reisegruppe in den Kofferraum, und alle zwängten sich in den Wagen, die Kinder nahmen sie auf ihren Schoß. Sie fuhren in die Keizersgracht zu Gerdas und Manfreds Eltern, weil bei ihnen der meiste Platz für alle vorhanden war.
„Und wie geht es Dir so?“, fragte Max Bärbel und Bärbel antwortete:
„Wie soll es mir schon gehen, uns geht es in Deutschland allen schlecht, wobei ich eigentlich nicht groß klagen darf, ich bin gegenüber den meisten anderen noch ganz gut dran!“ Das riesige alte Bürgerhaus, über das Goldschmids in der Keizersgracht verfügten, bot wirklich für alle Raum. Als sie in die Keizersgracht eingebogen waren, parkte Max den Wagen direkt vor Goldschmids Haus, wo sie alle wie ein Empfangskomitee standen und auf sie warteten. Sie strahlten über alle Backen, als die jungen Essener Familien und Bärbel aus Max´ Wagen stiegen und sie sie begrüßen konnten.
Es hatte sich der gesamte Familienclan dort versammelt, das hieß, dass neben den Goldschmids auch Doris, Margas Mutter, die Gerrits, Petras Eltern und Gerda und Siegfried mit ihren Kindern vor dem Goldschmid-Haus aufhielten. Iris und Piet Gerrits nahmen ihren Tochter und ihre Familie in den Arm und freuten sich, dass sie ihren Anhang einmal wiedersehen konnten. Aber auch Gerdas Kinder fremdelten, als die holländische Oma und der holländische Opa ihnen zu nahe kamen. Gerda war mit ihrer Familie zwei Stunden vor den Essenern in Amsterdam eingetroffen. Das Hauptaugenmerk aller Großeltern lag natürlich auf ihren Enkelkindern und die flüchteten sich in die Arme ihrer Mütter, als die Alten auf sie losstürmten. Es dauerte eine Zeit, bis sie auftauten und sich der allgemeinen Begrüßungszeremonie anschlossen, sie hielten sich mit einer Hand aber immer noch am Rockzipfel ihrer Mutter fest. Als sie aber ihre Anfangsfurcht vor den vielen fremden Menschen überwunden hatten, packte sie doch die Neugier, sie liefen an das Grachtenufer und blickten auf die Schiffe, die dort lagen. Das war der Moment, in dem man kein Auge von ihnen lassen durfte, es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn eines der Kinder in die Gracht gefallen wäre. Nach und nach gingen sie ins Haus und allen fiel auf, wie geschmackvoll Agnes ihre und Roberts Bleibe eingerichtet hatte.
Robert war mit Sekt zur Stelle und gab jedem Erwachsenen ein Glas zur Begrüßung, die Kinder bekamen ihre Fläschchen. Agnes hatte auf ihrer Terrasse zwei Tische zusammengeschoben und rief:
„Alle bitte auf die Terrasse, seid herzlich willkommen, und fühlt Euch bei uns wohl!“ Auf den Tischen standen zwei große Schwarzwälder Kirschtorten, die Agnes zusammen mit ihrer Schwester Doris gebacken hatte, sie hatten früher zu Hause schon immer ihrer Mutter dabei geholfen.
„Schwarzwälder Kirschtorte!“, riefen alle, „das ist ja eine tolle Idee von Euch gewesen“, und Marga fügte hinzu:
„Ich weiß gar nicht, wann ich die das letzte Mal gegessen habe!“ Doris, Robert und Max halfen Agnes, alle Sachen herauszutragen und Agnes fragte Bärbel:
„Wie geht es Dir denn in dem zerstörten Deutschland?“ Bärbel, die die ganze Zeit still gewesen war und sich zurückgehalten hatte, erwiderte:
„Ihr macht Euch kein Bild, wie es in Essen aussieht, und wie die Menschen leiden müssen!“ Sie beließ es bei dieser kurzen Antwort und wollte die schöne Stimmung, die sich eingestellt hatte, nicht durch den Hinweis auf ihr zerstörtes Deutschland eintrüben.
„Wir haben uns ja lange nicht gesehen!“, sagte Robert, der sein Leben als Ruheständler genoss und voller Stolz auf seine Enkelkinder blickte:
„Erzählt doch einmal, was ihr so macht und wie es Euch geht!“
Aber in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er mit seiner Aufforderung ein Elend heraufbeschwor, und er korrigierte sich gleich und ergänzte:
„Wir können aber auch später noch darüber sprechen, erst einmal sollt Ihr Euch von der anstrengenden Fahrt ausruhen und Euch wohl fühlen.“ Alle lobten die sehr gut gelungene Schwarzwälder Kirschtorte, und jeder nahm noch ein zweites Stück, in diesem Moment erwies sich die Entscheidung von Agnes, zwei Torten zu backen, als richtig. Für die Kinder war die Torte nichts, nicht nur wegen des Kirschwassers, das sie enthielt, sie bekamen von Agnes Plätzchen mit Schokoladenüberzug, an denen sie ihre helle Freude hatten.
„Ich weiß auch, wer übermorgen Geburtstag hat!“, rief Agnes mit einem Mal und blickte Peter an, der neben Gerda saß und nicht wusste, wie ihm geschah. Doris schlug nach einer Weile vor:
„Wenn Ihr Euch alle genügend ausgeruht habt, könnten wir doch einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen!“ Aber Marga entgegnete sofort:
„Zuerst müssen die Kinder eine Stunde schlafen, danach können wir alle los.“ Die drei Mütter gingen mit ihren Kindern auf die Zimmer, die ihnen von Agnes zugewiesen worden waren und legten die Kinder in die Betten. Das gab zu Anfang ein höllisches Spektakel, als die Kleinen in einer für sie völlig fremden Umgebung und in einem fremden Bett schlafen sollten, aber Petra, Marga und Gerda lasen ihnen Geschichten vor und sangen ihnen Lieder, bis sie die Müdigkeit übermannte, und die Kinder ihre Augen schlossen.
Als die jungen Mütter wieder zu den anderen stießen, sagte sie ihren Männern, dass sie sich beim Überwachen ihrer Kinder abwechseln sollten. Mit einem Mal fragte Bärbel Agnes und Robert:
„Habt Ihr als Deutsche eigentliche irgendwelche Feindseligkeiten seitens Eurer holländischen Mitbürger zu erdulden gehabt?“ Robert wies das weit von sich:
„Dafür leben wir schon zu lange hier, es sind jetzt elf Jahre, dass wir Essen verlassen haben und nach Amsterdam gezogen sind, Agnes und ich sind Holländer geworden und hatten deshalb keine Ressentiments zu befürchten.“ Robert wollte das Gespräch über die deutsche Besatzungszeit in Holland nicht weiter vertiefen, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt, er wusste, dass die Zeit dafür noch kommen würde, vielleicht schon an diesem Abend. Bärbel ließ sich leicht zufriedenstellen und bestand auch nicht darauf, unbedingt mit dem Gespräch fortfahren zu wollen, sie sah ein, dass der Sinn der jungen Familien erst einmal nach etwas anderem stand. Die drei jungen Mütter ließen sich auf ihre Stühle sinken und waren froh, einmal etwas Ruhe von ihren Kindern zu haben, wohl wissend, dass die Ruhe in spätestens einer Stunde wieder vorüber wäre. Marga fragte Doris:
„Woran hast Du denn bei unserem Spaziergang gedacht?“ und Doris antwortete:
„Ich habe an nichts Bestimmtes gedacht, mir schwebte nur eine kleine Runde zum Damrak vor, wir können aber nach Belieben verfahren, und so lange gehen, wie Ihr wollt!“
„Ich denke, wir müssen in erster Linie an die Kinder denken, Gerda hat ihre ja im Kinderwagen, aber Petra und ich haben Kinder, die schon laufen und wir müssen unser Schritttempo deren Schritttempo angleichen!“, meinte Marga. Agnes fuhr dazwischen:
„Lasst und doch einfach loslaufen und sehen wie es klappt, wir können unseren Spaziergang doch jederzeit abbrechen!“ Robert fragte die Männer, wie sie in Deutschland so zurechtkämen und Manfred berichtete von seiner Praxisarbeit:
„Der Patientenstrom reißt nicht ab, bei den zu behandelnden Fällen hat sich aber etwas verändert, ich habe sehr viele TBC-Fälle und bin froh, dass ich mittlerweile Penicillin verabreichen kann, das gut gegen den Tuberkelbazillus hilft, wenn ich abends nach Hause komme, bin ich regelmäßig erschlagen so wie Du früher auch!“ Robert entgegnete:
„Ich weiß noch genau, wie anstrengend der Praxisbetrieb in Bredeney war, hier in Amsterdam ging es deutlich ruhiger zu, ich weiß auch nicht, woran das gelegen hat.“ Werner sagte:
„Ich fahre jeden Morgen nach Düsseldorf zur Universität, und wenn ich so manchen Hungerhaken von Studenten sehe, wird mir ganz anders, aber die Zeiten sind nun einmal schlecht in Deutschland, und den Studenten geht es im Vergleich zur Restbevölkerung doch noch gut.“ Siegfried meinte:
„Gerda und ich müssen schon ganz genau sehen, dass wir zurechtkommen, die Zeiten stehen für Psychotherapeuten schlecht, und wir halten uns mit Nachhilfe und Tutorien über Wasser, aber ich denke, dass sich ab dem nächsten Jahr das Blatt für uns wenden wird, und es uns besser geht.“
„Es ist sicher nicht ganz einfach für Euch als junge Familien, durch die schlimme Zeit zu kommen“, warf Bärbel ein, „aber ich sehe das wie Siegfried, im nächsten Jahr wird Vieles besser werden, mir als alleinstehender Frau mit relativ guter finanzieller Versorgung geht es nicht schlecht, und ich schaue voller Mitleid auf die hungrig aussehenden Kinder so mancher Familie, wenn sie bei mir vorbeikommen, ich gebe ihnen schon mal etwas zu essen.“ Als Manfred von seinem Kontrollgang zu den schlafenden Kindern zurück war, sagte er:
„Ich glaube, dass die Kinder gleich wieder wach werden, ich habe erste Geräusche hören können.“ Sofort standen die Mütter auf und liefen zu ihren Kindern hoch, sie kamen nach kurzer Zeit wieder runter und hatten jeweils ein Kind auf dem Arm, die schon etwas älteren Kinder schleppten sich noch ziemlich müde auf die Terrasse und klammerten sich an ihre Mütter, als sie die vielen Menschen dort sitzen sahen. Vor Verlegenheit nuckelten sie an ihren Daumen, und als Opa Robert ihnen sagte:
„Ihr braucht keine Angst zu haben, ihr könnt ruhig zu uns kommen!“, schmiegten sie sich noch fester an die Beine ihrer Mütter. Es dauerte eine Zeit, bis sie ihre Scheu verloren hatten, und erst gutes Zureden konnte sie dazu bringen, sich an den Tisch zu setzen und etwas zu trinken.
„Da sind wir ja alle wieder beieinander, und wir können gleich unseren Spaziergang machen!“, sagte Doris, und die Kinder sahen sie an, als hätte sie sonst etwas von sich gegeben. Doris hatte zwar Deutsch gesprochen, aber mit starkem holländischen Einschlag, sodass die Kinder sie nicht verstanden, aber sie wussten ohnehin nicht, was es hieß, einen Spaziergang zu machen. Siegfried war neu in der Familienrunde, und er fühlte sich auf Anhieb wohl, er wurde aber auch von allen herzlich aufgenommen. So langsam zogen die Mütter ihre Kinder an und machten sie fertig. Die anderen halfen dabei, die Terrassentische abzuräumen und allmählich begaben sich alle vor die Haustür, wo die Kinder gleich zum Wasser wollten und das in Begleitung ihrer Eltern auch durften. Die Kinder waren hoch aufmerksam und achteten auf alles, das ihr Interesse erregen konnte. Sie merkten gleich, dass vieles anders war bei Oma und Opa. Ganz langsam liefen sie alle zur Herenstraat hoch und bogen dort rechts ab Richtung Stadtzentrum, als sie an dem Haus vorbeikamen, dass Agnes und Robert sich seinerzeit angesehen hatten und Anges sagte:
„Hier wären Robert und ich beinahe eingezogen, wir haben uns damals dieses Haus angesehen, es aber für zu klein befunden, weil Robert seine Praxis mit im Haus haben wollte.“ Gerda entgegnete:
„Da könnt Ihr ja froh sein, dass Ihr Euer schönes Haus in der Keizersgracht genommen habt, das ist wirklich wunderschön, und man kann es mit diesem hier nicht vergleichen!“
Sie liefen über die Herengracht und den Singel, bis sie über den Dirk-van-Hasseltssteg zum Damrak kamen, das war bis dorthin für die Kinder schon ein anständiger Marsch. Sie wandten sich dort nach rechts und kamen zur ehemaligen Börse, die jungen Leute fühlten sich an alte Zeiten zurückerinnert, als sie den Damrak entlang geschlendert und anschließend in den „Bijenkorf“ gegangen waren. Die Mädchen hatten dort gleich die Abteilung für Damenoberbekleidung angesteuert und in den Sachen herumgestöbert.
„Sollen wir nicht alle in den „Bijenkorf“ gehen?“, fragte Petra, sie gab sich die Antwort auf ihre Frage direkt im Anschluss selbst, als sie in die Runde blickte und die geschafften Kinder sah, was sollten sie aber auch alle in dem Kaufhaus? Von den jungen Eltern hatte jeder ein Kind auf dem Arm und trug es den Rest des Weges wieder nach Hause. Sie liefen am Königspalast vorbei in die Raadhuisstraat, überquerten wieder die beiden Grachten und bogen an der Keizersgracht rechts ab, danach waren sie schnell wieder zu Hause. Die Kinder gähnten und schliefen in den Armen der Eltern schon beinahe ein.
„Bevor Eure Kinder sich in die Betten abmelden, sollten sie aber noch etwas essen!“, sagte Agnes zu den jungen Eltern. Sie verschwand mit den Müttern in die Küche und bereitete dort zusammen mit ihnen etwas für die Kinder zu. Die Großen würden einen Grillabend veranstalten, das Grillen war das Unproblematischste, wenn alle etwas essen wollten, und niemand brauchte sich in die Küche zu stellen und aufwändig kochen.
Für die Kinder gab es eine Art Obstbrei mit Haferflocken, den sie gern aßen und der gut sättigte, jedenfalls stopften sie den Brei widerspruchslos in sich hinein, und die Mütter und Väter hatten keine Probleme damit, ihre Kinder zu füttern. Sie saßen noch eine Zeit zusammen, bis das Gähnen der Kinder so stark überhand nahm, dass die Mütter sie sich schnappten und mit ihnen nach oben auf die Zimmer gingen. Dort zogen sie sie aus und legten sie in die Betten, und sie brauchten nicht einmal eine Geschichte zu erzählen. Sie sangen gerade einmal die erste Strophe von „Hänschen klein...“, und die Kinder waren eingeschlafen. Als sie wieder nach unten gegangen waren, hatte Robert schon den Grill aufgebaut und die anderen hatten Agnes dabei geholfen, aus der Küche alles für das Grillen nach draußen zu bringen. Robert steckte das Papier an, das er unter die dünnen Holzspäne gelegt hatte, für die er vorher gesorgt hatte und die im Nu aufloderten und zu knistern anfingen. Kurze Zeit später nahm er den Sack mit der Holzkohle und schüttete daraus etwas auf das Feuer, er achtete darauf, dass er die Flammen nicht erstickte und wartete, bis die Holzkohle gut durchgeglüht war. Erst danach nahm er noch einmal den Holzkohlensack und gab eine ordentliche Portion auf die Glut. Inzwischen stand ein Kartoffelsalat auf dem Tisch, den Agnes und Doris vorbereitet und sich dabei große Mühe gegeben hatten, sie hatten zu den Kartoffeln noch Gurken, Frühlingszwiebeln, Äpfel und Radieschen gefügt und die Majonäse selbst angerührt.
Gerda und Siegfried waren schnell zum Bäcker gelaufen und hatten frisches Baguette gekauft. Es gab noch Senf und Ketchup, das Fleisch hatte Agnes am Vortag bei ihrem Metzer bestellt und am Morgen abgeholt. Robert hatte für die Frauen Wein aufgemacht und den Männern jeweils ein Bier hingestellt, als Petra sagte:
„Ich trinke zu Hause auch schon mal ein Bier, aber wenn Du für uns Wein vorgesehen hast, ist mir das auch recht!“ Plötzlich meldete sich Piet zu Wort, stand auf und erhob sein Glas:
„Liebe deutsche Freunde, so nenne ich Euch trotz aller Schande, die Euer Land über und gebracht hat, aber ich kenne Euch seit früher, und Ihr seid mir ans Herz gewachsen, seid in Holland recht herzlich willkommen und fühlt Euch wohl bei uns!“ Alle hoben ihr Glas und stießen mit Piet an, seine Worte hatten in den Ohren des Besuchs etwas Warmes und Wohltuendes, und sie kamen sehr gut an.
„Werner, Du musst noch einmal hochgehen und bei den Kindern hören, ob sie auch alle schlafen!“, sagte Marga, und Werner ging ohne ein Wort des Widerspruchs nach oben und kam ganz kurze Zeit später wieder zurück.
„Die schlafen alle wie die Murmeltiere“, sagte er und setzte sich wieder zu den anderen. Robert hatte inzwischen für alle ein Stück Fleisch aufgelegt, sie mussten nicht lange warten bis es gar war, und er gab jedem ein Stück auf seinen Teller. Danach stand Robert auf und hielt eine Kurzansprache:
„Ihr Lieben, ich freuen mich zusammen mit den anderen Großeltern über den Besuch unserer Kinder und Enkelkinder, ich weiß, dass Ihr zu Hause eine schlimme Zeit durchstehen müsst, aber Ihr seid noch jung und nicht schlecht gestellt, Ihr werdet die Zeit ohne große Probleme hinter Euch bringen, ich wünsche Euch dafür jedenfalls die nötigen Energiereserven und alles Gute!“ Robert erhob sein Glas und stieß mit allen an, bevor er ausrief:
„Und nun lasst es Euch schmecken!“, und alle aßen mit ziemlichem Hunger von dem guten Fleisch und nahmen von dem köstlichen Kartoffelsalat und dem Baguette. Bärbel meinte:
„Ich fühle mich bei Euch wie im Paradies!“, woraufhin Piet einwarf:
„Das kann ich gut verstehen, wenn Du aus dem zerstörten Deutschland in das intakte Holland gekommen bist!“ Er wollte gerade loslegen und mit einer provokanten Thesen eine Diskussion vom Zaun brechen, aber Iris sah ihn mit drohendem Blick an, und Piet schwieg. Er würde sich das für den späten Abend aufheben, wenn sie mit dem Essen fertig wären. Den anderen war schon klar, dass Piet nichts von seinem alten Habitus eingebüßt hatte, mit dem er seine Provokationen vorbrachte und die Gemüter aller Diskussionsteilnehmer bis zum Kochen hochtreiben konnte. Sie sahen einem Gesprächsabend entgegen, bei dem die Jungen den Alten erzählen sollten, wie es sich in Deutschland unter dem Besatzungsregime lebte.
Als alle zwei Stücke Fleisch gegessen hatten, was für die Frauen ungewöhnlich war, aber sie hatten sehr viel Hunger entwickelt, holte Robert die Schnapsflasche und fragte, wer von den Anwesenden einen Cognac trinken wollte. Bei den jungen Männern regte sich auf seine Frage hin niemand, Schnaps war bei ihnen seit eh und je verpönt. Nur Bärbel und Piet gaben zu verstehen, dass sie gern eine Cognac hätten, und Robert schüttete jedem ein Gläschen voll. Er nahm sich selbst auch einen Cognac, die drei führten ihre Gläschen zum Mund und kippten den Schnaps in eins hinunter.
„So geht es einem schon besser!“, sagte Robert danach, wie man es immer tut, wenn man einen Schnaps in sich hineingeschüttet hat und er fragte, ob er noch einmal nachschenken sollte. Bärbel und Piet ließen sich einen zweiten Cognac geben und tranken auch den auf ex. In der Zwischenzeit waren die anderen damit beschäftigt, das Geschirr und die Essensreste in die Küche zu bringen und dort abzustellen.
„Spülen können wir Morgen noch!“, sagte Agnes, nahm ein paar Knabbereien und schloss die Küchentür hinter sich. Draußen auf der Terrasse legte sie Nüsse und Salzstangen auf die beiden Tische und fragte, ob jeder noch genügend zu trinken hätte, worauf Robert entrüstet sagte:
„Aber Agnes, darum kümmere ich mich schon!“ Es dauerte nur eine kurze Zeit, bis sich alle wieder gesetzt hatten und Piet mit einem Male sagte:
„Ich würde als Besatzungsmacht die Deutschen spüren lassen, was es heißt, andere Völker zu unterwerfen und Krieg gegen sie zu führen!“ Er war sich natürlich völlig darüber im Klaren, dass er provozierte und wollte damit auch nur ein Gespräch einleiten, die Provokation war in keiner Weise böse gemeint und wollte niemanden verletzen.
„Wie meinst Du das denn?“, fragte Doris nach und Piet entgegnete:
„So wie die Deutschen in fremde Länder einmarschiert sind und dort Vieles zerstört haben, ja sogar friedliche Menschen ermordet haben, so sollen sie auch miterleben, was es bedeutet, solche Zerstörungen am eigene Leib zu erfahren.“ Er hatte damit ein Gespräch losgetreten, in dem es eigentlich keine kontroversen Positionen gab, sodass sie sich alle einig waren, denn jeder empfand es als gerecht, wenn die Deutschen von den Alliierten bestraft werden würden. Nur Piets überzogene Spitze in seiner Aussage, das Apodiktische, das konnten sie nicht alle unterschreiben, und so erwiderte Werner auch gleich:
„Willst Du denn, dass die Alliierten in Deutschland ganze Bevölkerungsteile an die Wand stellen und erschießen?“, und es gehörte zu Piets Gesprächstaktik, dass er auf diese kalkulierte Replik hin der Schärfe seiner These ein wenig den Wind aus den Segeln nahm, und er entgegnete:
„Natürlich nicht, ich wollte mit meiner Aussage ja nur einen Denkanstoß geben, niemand kann wollen, dass Teile der deutschen Bevölkerung mit ihrem Leben für das bezahlen müssen, was die Nazi-Oberen verbrochen haben!“
Damit war ein Gespräch angestoßen, das den Rest des Abends ausfüllen sollte. Alle brachten sich ein, natürlich auch die Holländer, die unter der deutschen Besatzung gelitten hatten. Bärbel sagte:
„Ich habe mich die gesamte Kriegszeit über unwohl gefühlt und es gehasst, wenn im Radio die Erfolgsmeldungen propagiert wurden, bis es ab Ende 1943 kaum noch Erfolge zu vermelden gab.“
„Wir haben hier in Amsterdam den Kriegsverlauf aus den BBC-Nachrichten verfolgt und nach Stalingrad, also nach Ende 1943, die Niederlage für Deutschland vorausgesehen“, sagte Agnes.
„Fünf Jahre minus zehn Tage hat die deutsche Besatzung in Holland gedauert“, ergänzte Robert und er gab in der Folge einen kurzen Abriss zur Geschichte der deutschen Besatzung:
„In der Anfangszeit war die Besatzung durch äußerliche Ruhe gekennzeichnet, doch schon ab Juli 1940 gab es Restriktionen, primäre Lebensmittel und wichtige Dinge des täglichen Lebens wurden knapp gehalten, der Geburtstag von Prinz Bernhard wurde noch groß gefeiert und damit der ins Exil gegangenen Königsfamilie gedacht, in der Folge wurden aber solche Feierlichkeiten und alles, was an das Königshaus erinnerte, die Stadt Rotterdam wurde bombardiert und hatte über 800 Tote zu beklagen, verboten, ab etwa März 1941 verschärfte sich der Protest der Holländer gegen die ersten Razzien gegen die Juden und deren Abtransport aus Amsterdam, auch wir mussten zittern und gingen kaum einmal vor die Tür, die Nordseeküste wurde zum Sperrgebiet erklärt und es kam zu Massenevakuierungen ins Hinterland, ab April/Mai 1941 mussten die Juden einen gelben Stern tragen, allgemein verstärkte sich der Widerstand und organisierte sich, es gab Attentate auf Registrierungsstellen, um die Zwangsrekrutierung von Arbeitern zu erschweren, insgesamt sind 550000 Arbeiter nach Deutschland gebracht worden, von denen 35000 dort starben, die letzten acht Monate der Besatzungszeit waren geprägt von Kälte und Hunger, von Demütigung und Terror, von Raub und gesetzlicher Willkür, im September/Oktober 1944 wurden einige Städte und Provinzen befreit und die in Panik geratenen Deutschen versuchten, mit gestohlenen Fahrrädern, Autos oder Pferden nach Hause zu fliehen, man glaubte allgemein, dass die Besatzungszeit nur noch wenige Tage lang dauern würde, sie dauerte aber noch ein halbes Jahr, es stand in Holland ein sehr strenger Winter ins Haus, in dem die Versorgung der Bevölkerung sehr kärglich war, es gab ungefähr 25000 Hungertote.“ Piet ergänzte:
„Wenn man auf der Straße einen deutsche Soldaten getroffen hat, hat man eine Grimasse gezogen oder, wenn man an ihm vorbei war, hat man ihm einen Vogel gezeigt, die Besatzungszeit war in Holland schrecklich, Seyß-Inquart hieß der Reichsstatthalter von Hitlers Gnaden, und er hat sich hofieren lassen wie ein absoluter Herrscher.“ Max fuhr fort:
„Wir haben in der Tuinstraat natürlich auch mit der Angst gelebt und sind genau wie Agnes und Robert kaum einmal vor die Tür gegangen, auch wir haben unser Namensschild an der Haustür ausgewechselt, wenn die Deutschen Rozenbaum bei uns gelesen hätten, säßen Doris und ich heute wahrscheinlich nicht bei Euch, sondern wären abtransportiert worden, wir hießen während der Besatzungszeit van Gemmern.“ Agnes sagte:
„Fünf Jahre sind eine lange Zeit gewesen und viele Holländer haben sich sehr stark einschränken müssen, natürlich hat es auch Kollaborateure gegeben, Opportunisten, die es überall gibt und die den Deutschen zugearbeitet haben, wer das aber im einzelnen war, und wie viel Kollaborateure es am Ende gegeben hat, ist heute noch nicht ganz geklärt.“ Marga erwiderte:
„Der Hauptunterschied zwischen dem deutschen Besatzungsregime in Holland und dem alliierten Besatzungsregime in Deutschland besteht nach meiner Auffassung darin, dass es sich bei uns um vier Besatzungsmächte handelt, die die Nazi-Zeit aus den Köpfen der Menschen treiben und Reparationen entnehmen wollen, das heißt, es gibt einen durchaus konstruktiven Ansatz in der Besatzungspolitik der Alliierten, wenngleich das vielen Menschen im Moment natürlich noch nicht klar sein kann.“ Manfred meinte:
„Werner und ich sind erst vor gut zwei Monaten aus dem Krieg nach Hause gekommen und hatten Glück, nicht in russische Kriegsgefangenschaft geraten zu sein, wir haben beide eine Menge Schreckliches an der Ostfront erlebt, über das wir gar nicht gern reden und sahen, als wir nach Hause gekommen waren, alles in Schutt und Asche liegen, das zu sehen, war schon deprimierend, aber es ist alles auf Neuanfang gestellt, und darin sehe ich etwas Positives!“ Piet wandte ein:
„Die Alliierten wissen doch noch gar nicht, wie genau sie in Deutschland verfahren sollen, bei der Konferenz von Jalta im Februar dieses Jahres hat man sich zwar auf die Einrichtung von Zonen geeinigt und Berlin in vier Sektoren geteilt, man hatte die bedingungslose Kapitulation Deutschlands gefordert, die ja auch eingetreten ist, man wollte Entnazifizierung und Demilitarisierung, Einzelheiten zur Durchführung dieser Absichten und auch zur Abtretung deutscher Gebiete im Osten oder zur Festlegung der polnischen Westgrenze ließ man aber offen.“ Petra sagte:
„Wir leben im Moment jedenfalls in der britischen Besatzungszone und haben auf der Zugfahrt hierhin auch Kontakt zu britischen Besatzungssoldaten gehabt, die uns über alle Maßen misstrauisch beäugt und kontrolliert haben, sie wollten nur wissen, wohin wir fahren und haben sonst kein Wort mit uns gewechselt, weil sie so streng waren, haben unsere Kinder hinterher sogar geweint.“ Gerda meinte:
„Ich glaube, dass wir von Glück sagen können, überhaupt so eine Reise nach Amsterdam gemacht haben zu dürfen, wir leben auch in der britischen Besatzungszone und haben keinen Zonentransit absolvieren müssen, nicht zuletzt hatten wir auch genug Geld, um die Reise bezahlen zu können.“ Werner erläuterte:
„Im Moment könne wir kaum etwas über unsere Zukunft sagen, der Krieg ist erst seit gut zwei Monaten vorbei, und es gibt so gut wie keine funktionierende Infrastruktur in Deutschland, wenn man einmal von den halbwegs reparierten Eisenbahnstrecken absieht.“
„Ich glaube, dass auf Deutschland ein großes Problem mit den Flüchtlingen zukommen wird, Millionen von Vertriebenen strömen in den Westen und teilen sich dort mit der Bevölkerung die spärlich vorhandene Nahrung, den Wohnraum und die Arbeitsplätze, wenn es denn welche gibt, dass sie nicht überall willkommen sind, braucht man, glaube ich, nicht besonders zu erwähnen“, sagte Bärbel.
„Erst einmal müssen die Alliierten Ende des Monats noch einmal zusammenkommen und in Potsdam Nägel mit Köpfen machen“, sagte Robert, „erst wenn man in Deutschland genau weiß, woran man ist, kann man sich darauf einstellen und konkrete Lebensplanungen entwerfen, aber ich glaube, dass Euer Alltag durch die Sorge um Eure Kinder strukturiert ist und Ihr kaum Zeit findet, Euch um allgemeinpolitische Dinge zu kümmern“, meinte Robert. Als Piet bemerkte, dass das Gespräch an Brisanz zu verlieren drohte, brachte er eine neue Spitze und sagte:
„Ich kann die Alliierten verstehen, wenn sie sich von Revanchegelüsten leiten lassen und eine Bestrafungsaktion in Deutschland durchführen wollen.“ Dagegen hatte niemand etwas Ernstzunehmendes einzuwenden, Werner konterte aber:
„Ich finde die Gemütslage der Alliierten im Moment sekundär, bei uns ist nur wichtig, dass die Versorgung der Bevölkerung zur Befriedigung ihrer Existenzbedürfnisse gewährleistet wird.“ Iris, die bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts gesagt hatte, sagte, wie um das Gespräch über die Besatzungszeit in Deutschland einem Ende zuzuführen:
„Nehmt Euch Zeit im schönen Holland und zeigt Euren Kinder die heile Welt, bevor Ihr wieder in Euer zerstörtes Deutschland zurückkehrt!“ Damit hatte sie zwar reichlich dick aufgetragen, aber auch Recht.
„Manfred, Du musst einmal zu den Kindern hoch und hören, ob noch alle schlafen!“, sagte Petra, und Manfred stand ohne Worte auf und lief nach oben. Als er kurze Zeit später wieder heruntergekommen war, sagte er:
„Die weckt so schnell keiner, die waren so geschafft, als sie ins Bett gegangen sind!“
„Robert, hol doch jedem noch etwas zu trinken!“, forderte Agnes ihren Mann auf, und Robert ging und besorgte Wein, Bier und Schnaps. Er füllte die Weingläser der Frauen noch einmal auf und gab jedem der Männer ein Bier. Er fragte auch noch einmal, wer einen Cognac trinken wollte und wieder meldeten sich nur Bärbel und Piet, obwohl sie schon zwei Schnäpse getrunken hatten, nahmen sie noch einen dritten und tranken den gemeinsam mit Robert.
Am Ende des Abends redeten sie über weitere Planungen der jungen Familien in Amsterdam.
Marga schlug vor, doch einmal einen Ausflug nach Zandvoort zu machen und den Kindern das Meer zu zeigen. Alle nickten und fanden Margas Vorschlag in Ordnung, schon allein, um den Kindern eine Freude zu machen, sollten sie nach Zandvoort fahren.
„Ich finde, wir sollten unseren Ausflug Morgen machen, wer weiß wie lange wir noch so schönes Wetter haben werden und die Kinder ins Wasser können!“, sagte Marga.
„Wir sollten aber vorher den Kindern noch Eimer und Schüppen kaufen, damit sie im Sand graben können“, meinte Gerda. Danach beendeten sie ihren schönen Abend auf Goldschmids Terrasse, Iris und Piet fuhren genau wie Doris und Max nach Hause und wollten nach dem Frühstück am nächsten Morgen gegen 10.00 h wieder erscheinen. Piet und Max brächten ihre Autos mit, sodass sie alle Personen auf die Autos verteilen könnten. Agnes hatte in ihrem Haus so viel Platz, dass sogar Bärbel noch ein eigenes Zimmer abbekam und nicht im Wohnzimmer schlafen musste, sie hatte ihr angestammtes Zimmer im ersten Stock, in dem sie immer schlief, wenn sie bei Goldschmids zu Besuch war. Alle verabschiedeten sich voneinander und wünschten sich eine gute Nacht, danach verließen die Auswärtigen das Haus und die Übrigen gingen in die Badezimmer, um sich bettfertig zu machen.
Die jungen Eltern schlichen sich zu den Kindern in die Zimmer und waren peinlichst darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Marga musste daran denken, wie sie früher zu Hause immer leise die Treppen hinunterlief, um zu Werners Zimmer zu gelangen, in dem eigentlich auch Manfred schlief, der aber danach hochging und sich in Margas Bett legte. Sie und Werner liebten sich im Anschluss immer sehr intensiv, natürlich liebten sie sich immer noch, aber ihre Liebe wurde inzwischen von anderen Dingen getragen, es gab nicht mehr das unbändige Feuer, die Vernunftlosigkeit der Frischverliebten. Das bedeutete nicht, dass die Leidenschaft zum Erliegen gekommen war, im Gegenteil, die kriegsbedingte Enthaltsamkeit hatte Marga und Werner nur noch heißer aufeinander gemacht und sie liebten sich gerne und innig. Nur in diesem Augenblick war zusammen mit den Kindern im Gästezimmer kein Denken daran, sie waren auch zu müde und wollten beide gleich schlafen. Marga schmiegte sich an Werner und küsste ihn, das hat sie schon immer sehr gerne getan und das mochte Werner auch über alles. Schließlich schliefen sie aneinander geschmiegt ein, wie sie das früher schon immer getan hatten. Bei Petra und Manfred, Gerda und Siegfried sah es ganz ähnlich aus, auch bei ihnen war die Zeit des Frischverliebtseins vorbei, und die Leidenschaft war nicht zum Erliegen gekommen, sie schliefen aber ebenso schnell ein wie Marga und Werner.
Am nächsten Morgen saßen sie alle um 8.00 h beim Frühstück, Christine und Peter waren schon um 6.00 h wach geworden und Werner hatte sie angezogen und war mit ihnen nach draußen gegangen. Auch Gerlinde, Sven, Peter und Daniel waren schon wach, sie blieben aber bei den Eltern im Zimmer. Werner ging mit seinen beiden Kleinen noch vor dem Frühstück an die Gracht, und die Kinder konnten ihre Augen nicht von den Schiffen und dem Treiben auf dem Wasser lassen. Er setzte sich mit ihnen eine Zeit lang an das Grachtufer und hatte ein Auge auf sie. Sie nahmen kleine Steinchen, die sie von der Ufermauer aufhoben und warfen sie ins Wasser, bis Werner dem Treiben ein Ende bereitete und mit seinen Kindern zu Goldschmids zurücklief. Dort roch es schon aus der Küche nach gebratenem Speck, Agnes und Bärbel standen in der Küche und bereiteten eine Menge Rürhei. Die anderen saßen am Tisch, und die Kinder spielten mit Autos und kleinen Puppen, die Agnes und Robert ihnen geschenkt hatten, alle wünschten sich einen guten Morgen.
„Wie habt Ihr denn geschlafen?“, fragte Agnes die jungen Eltern und Gerda antwortete:
„Ich habe geschlafen wie ein Stein, und erst als gegen sechs Gerlinde und Sven anfingen zu quengeln, bin ich auch wach geworden, und Siegfried und ich haben die beiden zu uns ins Bett geholt.
„Als unsere Kinder wachgeworden sind, wollten sie sofort angezogen werden und raus, ich bin mit ihnen zur Gracht gegangen, die hat sie von Anfang an fasziniert“, sagte Werner.
„Ihr habt wieder Rührei gemacht, das erinnert mich total an die alten Zeiten, als wir in der Tuinstraat immer Rührei zum Frühstück gegessen haben“, sagte Marga. Und zu Bärbels Freude standen auch zwei Pakete Hagelslag auf dem Tisch, „ich habe damals zwei Pakete Hagelslag am Bahnhof gekauft und mit nach Hause genommen, seitdem bin ich davon nicht mehr losgekommen, ich habe im Moment in Essen aber große Schwierigkeiten, an Schokoladenstreusel zu gelangen.“ Agnes hatte für die Kinder Kakao gekocht, den es zu Hause nicht zu kaufen gab, keines der Kinder hatte jemals in seinem kurzen Leben schon Kakao getrunken, und sie schauten ganz verdutzt auf die Becher, in die Agnes den Kakao gefüllt hatte, er war noch heiß und die Mütter pusteten, bis er so weit abgekühlt war, dass die Kinder ihn probieren konnten. Sehr vorsichtig nahmen sie jeder einen ganz kleinen Schluck und schmeckten ihn im Mund. Sie waren gleich Feuer und Flamme von dem Kakao und ließen sich ihren Becher von ihren Müttern immer wieder zum Mund führen, bis jedes Kind einen ganzen Becher getrunken hatte und Agnes neuen Kakao kochen musste. Bis der fertig war, gab es für die Kinder weiches holländisches Brot mit Hagelslag, und auch das mochten sie sehr, denn die Schokoladenstreusel waren süß. Die Erwachsenen hielten sich zunächst nur an das Rührei mit Speck und konnten nicht genug davon bekommen. Die Kinder probierten von dem Ei, mochten es aber nicht. In dem Moment kam Agnes mit einem neuen Kakao für die Kinder, und die Mütter pusteten wieder, bis er so weit abgekühlt war, dass sie ihn trinken konnten.
Danach tranken sie in großen Schlucken, als ihre Mütter ihnen die Becher hinhielten, und die Mütter kamen kaum dazu, selbst etwas zu essen. Bärbel und Agnes lösten die jungen Mütter ab, und die Kinder blickten zunächst befremdet, als die alten Frauen sie füttern wollten, ließen es aber mit sich geschehen. Als Marga sich eine Schnitte mit Orangenmarmelade bestrich und Christine neugierig schaute, was ihre Mutter da aß, ließ Marga sie probieren. Das Ergebnis waren ein angewidertes Gespucke und Gehuste, die Orangenmarmelade schmeckte eben leicht bitter und war deshalb längst nicht nach jedermanns Geschmack, am wenigsten nach dem der Kinder. Also beließ man es bei den Kindern mit Kakao und Hagelslag, der Kakao hatte ja auch seine Nährwerte. Die Erwachsenen tranken guten holländischen Kaffee, „bei uns zu Hause Kaffee zu bekommen ist sehr schwer, und der Bohnenkaffee ist immens teuer, wir müssen uns mit Zichorienkaffee behelfen, der natürlich unvergleichlich viel schlechter schmeckt“, sagte Manfred. Die jungen Leute aßen, als hätten sie seit Monaten nichts gehabt, und Agnes fragte:
„Soll ich noch Rührei für Euch machen?“ Aber das lehnten alle ab, sie wollten ja nicht gefräßig erscheinen. Bärbel sagte mit einem Mal:
„Ich fühle mich bei Euch wie in einer anderen Welt, in der Milch und Honig fließen wie im Schlaraffenland eben, ihr seid hier in Holland eigentlich mit allem ausgestattet, was das Leben schön macht.“ Die jungen Väter waren ganz still und stopften in sich hinein, sie blickten Agnes dankbar an, bis Siegfried sagte:
„Ein so gutes Frühstück hat es bei uns in Deutschland seit Jahren nicht gegeben, vielen Dank Agnes!“ Wenn die jungen Leute früher zu den Alten nach Amsterdam gefahren waren, hatten sie meistens ein gutes deutsches Roggenbrot mitgenommen, weil das holländische Brot nicht von allen gemocht wurde, höchstens getoastet. Dieses Mal hatten sie kein Roggenbrot dabei und aßen Toasts, „für uns ist das kein Problem“, sagte Robert, „wir haben uns längst an unser Gummibrot gewöhnt.“ Sie hielten es lange beim Frühstück aus und waren auch noch nicht fertig, als Iris, Doris, Piet und Max kamen, die setzten sich zu den anderen und bekamen noch eine Tasse Kaffee. Alle wünschten sich einen guten Morgen und gute Stimmung für den anstehenden Ausflug ans Meer. Als Piet die Reste von dem leckeren Rührei und dem Speck vor sich stehen sah, konnte er nicht anders und ließ sich von Agnes einen Teller geben, auf den er ein wenig von dem Rührei und dem Speck legte. Iris blickte ihren Mann vorwurfsvoll an, aber Piet ließ sich nicht verunsichern.
„Nun lass Piet doch in Ruhe essen, Iris“, sagte Agnes, bevor wir das Rührei wegwerfen müssen, ist es doch gut, wenn Piet es isst, Ihr könnt übrigens alle noch einmal zuschlagen, Euer Frühstück zu Hause liegt doch sicher schon eine Zeit zurück!“ Und nach anfänglichem Zögern ließen sich tatsächlich alle auf Agnes´ Angebot ein und ließen sich von ihr Tassen und Teller geben.
„Liebe Schwester, soll ich noch einmal Kaffee kochen?“, fragte Doris und Agnes erwiderte:
„Das wäre wirklich sehr nett, wenn Du das tätest, in der Zwischenzeit toaste ich etwas Brot.“ Und so verzögerte sich die Abfahrt nach Zandvoort so lange, bis die Alten mit ihrem zweiten Frühstück fertig waren. Und sie ließen sich Zeit und nahmen von allen Köstlichkeiten, die auf dem Tisch standen. Als Max sein Frühstück beendet hatte, setzte er sich zu den Kindern auf den Fußboden und spielte mit ihnen. So verging noch einmal eine geschlagene Stunde, bis sie alle gegen 11.00 h loskamen und sich auf die Autos verteilten. Marga und Werner stiegen mit ihren Kindern zu Margas Eltern in den Wagen, in Max´großen Renault passten alle bequem hinein, Petra und Manfred stiegen zu Piet und Iris in den Wagen und Gerda und Siegfried zu Agnes und Robert, alle nahmen sie abwechselnd ein Kind auf den Schoß. Sie waren übereingekommen, den Kindern die Eimer und Schüppen erst in Zandvoort zu kaufen, denn niemand wusste auf die Schnelle, wo sonst es in der Nähe so etwas zu kaufen gab. Als sie losfuhren, bildeten die drei hintereiander fahrenden Autos beinahe eine regelrechte Fahrzeugkolonne, und sie kamen gut voran, sie durchfuhren Haarlem und erreichten danach über den Haarlemseweg Zandvoort. Robert, Piet und Max fuhren bis zum De Favaugeplein vor, wo sie die Autos abstellten und Ausschau nach einem Spielwarenstand hielten. Den fanden sie gleich am Strandabgang und Robert kaufte für die Kinder von Marga, Werner, Petra und Manfred, Eimer und Schüppen, für die noch sehr kleinen Kinder von Gerda und Siegfried kaufte er Rasseln. Als er allen Kindern ihre Geschenke überreicht hatte, sagte die älteren Kinder „Danke“, die jüngeren Kinder wussten nicht wie ihnen geschah .
Alle zogen ihre Schuhe und Strümpfe aus und nahmen sie in die Hand, danach liefen sie auf den warmen Sand des Strandes. Die Frauen hatten von zu Hause ihre Sonnenschirme mitgenommen, Max hatte eine große Schüppe in seinen Wagen gelegt, mit der er eine Sandburg graben wollte. Alle suchten sie nach einem geeigneten Platz, an dem der Sand wenigstens ein bisschen Festigkeit hatte und nicht nur rieselte, sodass man gar kein Loch ausheben konnte. Sie fanden eine solche Stelle in einem Bereich weiter vorne schon beinahe am Wasser und legten dort alle ihre Sachen ab. Die Kinder waren kaum zu halten und wollten ans Wasser rennen, aber die Männer hielten sie zurück, und die Mütter cremten sie als Erstes dick mit Sonnencreme ein und setzten den Kleinen einen Hut gegen die Sonne auf. Es wäre nicht auszudenken, wenn sich eins der Kinder einen ernsthaften Sonnenbrand einfangen würde und vor Schmerz schrie, weil es die Schmerzen ertragen musste, denn es gab kein Mittel gegen Sonnenbrand. Alle Männer liefen mit den Kindern zum Wasser und hielten sie an der Hand, schnell reichte das Wasser den Kleinen bis zu den Knien und sie mussten sich zuerst daran gewöhnen, dass das Wasser in Wellen auf den Strand traf. Die Männer hatten ihre Badehosen an und nahmen die Kleinen auf den Arm, um mit ihnen ein Stück weiter in das Wasser zu laufen.
Die Kinder verhielten sich dabei ganz still, so als wüssten sie, dass das Wasser für sie schnell zu tief werden würde. Aber die Männer blieben nur für einen kurzen Moment an der tiefen Stelle und gingen wieder zurück ins Flachwasser, in das sie die Kinder stellten und sich ganz vorne sogar setzen ließen. Die Kleinen mochten das Meer, das war gleich festzustellen, das relativ kühle Wasser machte ihnen nur zu Beginn etwas aus, als sie sich daran gewöhnt hatten, legten sie sich ganz hinein und schlugen mit ihren Händen auf die Wasseroberfläche. Bert und Christine liefen gegen die Wellen an, die immer im vorderen Strandbereich ausliefen und nur noch geringe Höhe hatten, denn die Wellen brachen schon weit draußen, die Höhe reichte den Kindern aber. Ja, die kleinen Wellen hatten sogar noch genügend Kraft, die Kinder umzuhauen und immer wieder standen sie auf und nahmen einen erneuten Anlauf gegen die Wellen. Das dauerte so lange, bis Christine einen Schluck Salzwasser in den Mund bekam, und weil sie nicht mit dem salzigen Geschmack gerechnet hatte, spuckte sie das Wasser angeekelt aus, sie spuckte und spuckte, als hätte sie eine Kröte im Mund. Bert sah ihr vergnügt dabei zu und Werner nahm seine Tochter in den Arm. Als Christine zu der ganzen Spuckerei auch noch zu weinen anfing, sagte Werner zu ihr:
„Das Salzwasser ist überhaupt nichts Schlimmes, es schmeckt nur so ekelhaft“, aber das half Christine in diesem Moment auch nicht weiter. Sie hatte jedenfalls fürs Erste genug vom Meerwasser und wollte nur noch zu ihrer Mutter zurück, um sich bei ihr eine Abmilderung des ekligen Salzgeschmacks zu holen. Marga sah schon von Weitem, dass mit Christine etwas nicht stimmte und lief ihr entgegen.
„Was hast Du denn, mein Kind, hast Du Wasser geschluckt?“, fragte Marga ihre Tochter und machte die ganze Misere dadurch nur noch schlimmer. Christine verfiel in diesem Augenblick geradezu in einen Schreikrampf, sodass auch Agnes ganz besorgt zu ihr blickte, und sie tat das einzig Richtige, sie nahm ein Flasche Mineralwasser und half Christine, sie an ihren Hals zu setzen, damit sie einige kräftige Schlucke daraus trank.
Unmittelbar, nachdem der Salzgeschmack aus Christines Mund verschwunden war, war sie wie ausgewechselt und lachte auch wieder, sie blickte zu den anderen ans Wasser und rannte wieder zu ihnen, Werner breitete seine Arme aus und fing seine Tochter auf. Sofort lief sie zu Peter und lief mit ihm wieder gegen die kleinen Wellen an, immer drohten die Kinder von den Wellen umgeworfen zu werden, sie konnten sich aber im letzten Moment fangen. Mit einem Mal erwischte es auch Peter, er bekam Salzwasser in den Mund und wie zuvor Christine, spuckte und würgte er, um das ekelhafte Meerwasser wieder aus seinem Mund zu befördern. Die Männer brachen den ersten Meerwasserkontakt der Kinder ab und liefen mit ihnen zu den Frauen zurück, die inzwischen die Sonnenschirme aufgestellt und Decken unter sie gelegt hatten.
Petra nahm ihren Jungen und gab ihm die Wasserflasche, sie half ihm dabei, aus der Flasche zu trinken und hielt sie ihm vor den Mund. Als der Salzgeschmack verschwunden war, war Peter wieder wohl gelaunt und lachte, er verschwendete keinen Gedanken mehr an das übel schmeckende Salzwasser. Die Frauen nahmen die Sonnencreme und cremten die Kinder noch einmal ordentlich ein, bevor sie auch an die Männer und sich dachten. Sie zogen den Kindern ein Hemd über, damit ihre Oberkörper vor der prallen Sonne geschützt waren, ansonsten sagten sie ihren Kindern, dass sie sich auf die Decken unter die Sonnenschirme legen sollten. Als Max in diesem Moment anfing, mit seiner mitgebrachten Schüppe ein Loch für eine Sandburg zu graben, sahen alle Kinder erst interessiert zu und nahmen dann ihre Schüppen, die sie von Robert geschenkt bekommen hatten und halfen Max bei dem Loch. Max kam nur mühsam voran, weil der Sandaushub, den er mit seiner Schüppe hochhob und zur Seite warf, gleich wieder zurieselte. Bis er die Idee hatte, den Sand anzufeuchten und eine Zeit zu warten, damit sich das Wasser im Sand verteilte. Er nahm die älteren Kinder mit ihren Eimern und ging mit zwei Vätern und den Kindern zum Wasser. Die Kleinen füllten ihre Eimer und liefen mit dem Wasser zur „Baustelle“ zurück. Dort sollten sie das Wasser auf den Sand schütten und anschließend das Gleiche noch einmal machen. Bis sie am Ende fünfmal hin- und hergelaufen waren und den Sand an der späteren Sandburg gut durch gefeuchtet hatten.
Nach einer Weile fing Max wieder an zu graben, und siehe da, der Sand rutschte nicht mehr nach und er hob ein tiefes Loch aus. Den ausgehobenen Sand warf er als Burgwall an den Rand des Loches, bis er gut einen halben Meter hoch war, das Loch hatte am Ende einen Durchmesser von zwei Metern. Anschließend nahm er ein Kind und stellte es in das Loch, wo es beinahe ganz verschwand. So ganz geheuer war es den Kindern nicht in der Sandburg, die sie ohne Hilfe nicht mehr verlassen konnten. Max bat alle Kinder mit Eimern, noch einmal Wasser zu holen, das sie auf den Burgwall schütten sollten, und zwei Väter liefen mit ihren Kindern zum Wasser und halfen ihnen beim Befüllen und Tragen der Eimer. Schließlich war die Burg fertig und Max und die Kinder bekamen ein großes Lob von den Erwachsenen, die sich das Schauspiel von den Decken aus angesehen hatten.
„Welches Kind möchte denn ein Eis essen?“, fragte Robert und die Kinder, die mit seiner Frage überhaupt etwas anzufangen wussten, waren Christine und Peter, sie riefen: „Ich!“ Also nahm Robert zusammen mit den beiden anderen Opas alle Kinder und lief mit ihnen hoch zum Favauge-Boulevard, wo es einen Eisstand gab. Zu Hause in Deutschland gab es kein Eis, und es muss den Kindern vorgekommen sein, als wären sie im Paradies, als jeder von ihnen ein Hörnchen mit Schokoladen-, Vanille- und Erdbeereis bekam. Sie setzten sich alle auf zwei Bänke, und die Kinder konnten gar nicht so schnell schlecken, wie das Eis schmolz, sie sauten sich von oben bis unten mit Eis ein.
Zum Schluss hatten sie aber alle ihr Hörnchen geschafft, und sie liefen zu ihrem Strandplatz zurück. Als ihre Mütter sie sahen, riefen sie entsetzt:
„Wie seht Ihr denn aus, jetzt geht einmal alle ans Wasser, und wascht Euch das Eis ab!“ Also nahmen die Opas die Kinder und liefen mit ihnen zum Meer, wo sie sie baten, sich mit dem Salzwasser zu waschen.
„Wenn Ihr aber mit den Händen durch Eure Gesichter fahrt, seid vorsichtig, dass Ihr kein Salzwasser schluckt!“, riefen sie den Kindern zu. Die Hemden der Kinder waren hoffnungslos mit Eis eingesaut, aber wen juckte das schon, die Kinder jedenfalls nicht! Als sie halbwegs sauber wieder bei ihren Müttern angekommen waren, cremten diese ihre Kinder sofort wieder mit Sonnencreme ein, und die Kleinen legten sich unter die Schirme in den Schatten.
„Ich denke, dass wir alle so in einer halben Stunde hochgehen sollten, um etwas zu essen!“, schlug Agnes vor. Alle nickten und waren mit ihrem Vorschlag einverstanden. Plötzlich setzte sich Robert zu den Kindern und erzählte ihnen die „Geschichte von dem Wassergeist“, der vor langer Zeit in Zandvoort gelebt haben sollte:
„Es gab einmal vor vielen Jahren einen Fischer in Zandvoort, der immer mit seinem Boot hinausfuhr, um zu fischen, aber von Jahr zu Jahr weniger fing und manchmal mit leeren Netzen wieder nach Hause kam.
Eines Tages zog er aber sein Netz aus dem Wasser und sah in ihm etwas blinken, das sich bei näherem Hinsehen als Goldbarren herausstellte. Als er zu Hause seiner Frau den Goldbarren zeigte, wurde die auf einmal ganz gierig und schickte ihren Mann wieder los, damit er weitere Goldbarren aus dem Wasser zog, sie sah sich schon als reiche Fischerfrau. Als ihr Mann aber erfolglos wieder nach Hause kam, beschloss sie, das nächste Mal mit ihm hinauszufahren und zusammen mit ihm das Netz auszuwerfen, um so an die Goldbarren zu kommen.
„Ach hätte ich doch noch einen Barren Gold!“, rief sie und mit einem Mal zogen ihr Mann und sie ihr Netz aus dem Wasser und fanden darin einen weiteren Goldbarren. Zu Hause wurde die Frau aber immer gieriger und wollte sich nicht mit nunmehr zwei Goldbarren bescheiden, sie wollte mit ihrem Mann noch einmal hinausfahren und noch mehr Goldbarren aus dem Wasser holen. Die Fischerfrau stand an Deck des Fischerbootes und rief:
„Wenn es ein Geist ist, dem wir das Gold zu verdanken haben, so zeige Dich!“ Und in diesem Augenblick toste neben dem Boot das Wasser und der Wassergeist streckte seinen Kopf aus dem Meer hervor, er fragte:
„Habt Ihr denn nicht schon zwei Goldbarren, wollt Ihr etwa noch mehr?“ Die Fischerfrau erschrak und sah erstaunt zu dem Wassergeist, und als sie sich wieder beruhigt hatte, sagte sie ihm:
„Ich will so viele Goldbarren haben, dass mein gesamtes Haus bis auf den letzten Winkel damit angefüllt ist!“ Über so viel Habgier wurde der Geist wütend und blies gegen das Schiff, er blies so heftig, dass es wie von einem Sturm auf eine Felszunge getrieben wurde und dort zerbarst. Der Fischer konnte sich mit letzter Kraft an Land retten, seine Frau ist zur Strafe für ihre Gier aber ertrunken. Der Fischer kaufte von dem Gold, das er zu Hause hatte, ein neues Fischerboot und fuhr mit ihm wieder hinaus wie in alten Zeiten. Er hatte auch eine neue Frau kennen gelernt und sie geheiratet, sie war die Bescheidenheit in Person.“ Es war mucksmäuschenstill, als Robert erzählt hatte, und als er fertig war, fragte Peter:
„Hat der Geist wirklich in dem Meer vor Zandvoort gelebt?“ Und Robert antwortete:
„Natürlich, wenn Ihr den Strand entlang schaut“ und er zeigte nach Süden, „dann seht ihr die Felszunge da hinten ins Wasser ragen“, und Robert meinte eine Buhne, die dort zum Schutz vor den Wellen errichtet worden war, „dort hat der Geist gelebt, allerdings hat ihn seit damals niemand mehr gesehen!“ Agnes hatte die Hemden der Kinder ausgewaschen und in die Sonne zum Trocknen gelegt, sodass sie sie wieder anziehen konnten.
„So, jetzt wollen wir etwas essen gehen!“, sagte sie, und als die Kinder ihre Hemden anhatten und ihre Hüte trugen, liefen sie los. Oben am Boulevard gab es immer noch die Strandbar, die dort schon seit Jahrzehnten stand und sie kehrten dort ein.
Alle, bis auf die Kinder, wussten noch wie sie vor Jahren nach ihrem Strandspaziergang dort eingekehrt waren. Marga wusste sogar noch wie sie sich in der Bar eine Zitronenscheibe hatte geben lassen, um damit über die Stelle zu reiben, an der Gerda Kontakt zu einer Feuerqualle gehabt hatte. Sie stellten draußen auf der Terrasse zwei Tische zusammen und setzten sich unter die Sonnenschirme, die dort standen. Die Erwachsenen bestellten kaltes Bier und Wein und die Kinder bekamen Limonade und als Robert fragte, was es zu essen gäbe, sagte man ihm, dass sie Kartoffelsalat mit Bockwürstchen und Bratwurst hätten, er könnte aber auch eine Bratwurst mit Brot bekommen. Robert ließ von allem reichlich kommen, und die Kinder mochten den Kartoffelsalat und die Würstchen sehr gern, die Erwachsenen machten sich an die Bratwürste und prosteten sich mit ihren Getränken zu. Alle sahen sie auf das Meer, in dem sich die Sonne spiegelte, und das kaum Brandung hatte. Peter stieß seinen Vater an und fragte:
„Können wir gleich noch einmal ins Wasser?“ und Werner antwortete ihm:
„Natürlich, lass uns zuerst alle in Ruhe essen und trinken, danach gehen wir wieder zum Meer!“ Am nächsten Tag würde Peter drei Jahre alt werden, er war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie am Meer und würde den Ausflug nach Zandvoort wohl nie wieder vergessen. Bärbel sagte:
„Wenn man sich einmal vorstellt, wie es bei uns zu Hause aussieht, und in welchem Glück Ihr und wir hier leben!“ Natürlich gab es diese auffälligen Unterschiede zwischen dem am Boden liegenden Deutschland auf der einen und dem prosperierenden und in vollem Saft stehenden Holland auf der anderen Seite, aber sollten sie als Verursacher vielen Übels in der Welt, als Besatzer in Holland, deshalb ihre Verwandten nicht besuchen und an deren Leben teilhaben? Sie zahlten ihr Essen und die Getränke in der Strandbar und liefen wieder zu ihrem Platz auf den Strand hinunter.
„Und jetzt gehen wir alle ins Wasser!“, rief Robert, und er forderte die Frauen auf mitzukommen, obwohl sie sich zierten und Agnes, Doris und Bärbel sich lieber unter die Sonnenschirme gelegt hätten. Aber es half nichts, die Kinder trieben ihre Omas und Mütter zum Wasser. Und als sie mit den Füßen im Wasser standen, begann Peter, die Erwachsenen nass zu spritzen, was einen Aufschrei der Frauen zur Folge hatte, denn das Wasser war recht frisch. Als die Kinder aber alle damit anfingen und nicht mehr aufhörten, gingen die Erwachsenen zum Gegenangriff über und spritzten die Kinder nass. Und auch die Kinder schrien, weil sie das kühle Wasser nicht an ihren Körpern haben wollten. Schließlich waren sie aber so weit abgekühlt, dass sie sich ins flache Wasser legten und herum planschten. Ihre Mütter und Omas setzten sich zu ihnen, und die Männer gingen in tieferes Wasser, um eine Runde zu schwimmen. Als sie wieder zurückgekommen waren, liefen sie zu den Kindern und wollten gerade Quatsch mit ihnen machen.
Plötzlich sah Robert in unmittelbarer Nähe eine Qualle auf dem Trockenen liegen, die von der letzten Flut dorthin geschwemmt worden war und er zeigte den Kindern das wabbelige Tier. Gerade wollte Peter mit seinen nackten Füßen auf die Qualle treten, als Robert ihn zurückhielt und den Kindern sagte, dass man sich fürchterlich wehtäte, wenn man mit seiner Haut die Nesselfäden einer Qualle berührte. Gerda, die hinzugekommen war, bestätigte das, was Robert den Kindern gesagt hatte, aus eigener Erfahrung. Sie zeigte auf die Stelle an ihrem Unterschenkel, wo die Feuerqualle sie erwischt hatte, sie hätte es Margas sofortiger Reaktion zu verdanken gehabt, dass die Schmerzen erträglich geblieben waren und hinterher schnell abklangen. Den Kindern blieben die Münder offen stehen, als sie die schrecklichen Geschichten über die Quallen hörten, die aussahen wie Wackelpudding, den jemand auf den Strand geschüttet hatte.
„Wenn die Qualle nicht von der Sonne vollkommen ausgetrocknet wird, wird sie von der nächsten Flut wieder ins Meer gespült und lebt weiter“, sagte Robert. Sie liefen wieder zu ihren Sachen und trockneten sich ab, alle zogen sich unter ihren Badehandtüchern hinterher trockene Sachen an, bevor sie langsam wieder zum De-Favauge-Plein liefen und dort in die Autos stiegen. Die Kinder waren so geschafft, dass sie beinahe im Auto einschliefen, das machte die Seeluft in Kombination mit der Sonne, die den Körpern arg zusetzten. Auch die Erwachsenen waren müde und genossen es, in den weichen Autositzen ruhen zu können, alle waren sie ganz still und niemand hatte das Bedürfnis zu reden.
Noch einmal warfen sie einen Blick auf den schönen Strand, Robert, der am Steuer saß, fragte die ganz kleinen Kinder von Gerda und Siegfried, ob ihnen der Strandtag gefallen hätte, aber die Kleinen konnten die Frage noch nicht beantworten. Robert setzte seinen Wagen in Bewegung und fuhr vor, die anderen kamen hinterher, und sie traten die Heimfahrt an. Die Kinder waren zu müde, um aus den Fenstern zu schauen und etwas von Zandvoort mitzubekommen. Agnes und Gerda unternahmen einiges, um sie am Schlafen zu hindern. Denn wenn die Kinder im Auto einschliefen, bekämen sie sie in Amsterdam nicht mehr wach und hätten am Abend Schwierigkeiten, sie ins Bett zu bekommen. So sangen Agnes und Gerda abwechselnd Lieder, die sie noch von früher behalten hatten. Gerda sang zu Hause häufig mit ihren Kindern, die Kleinen sahen Oma und ihre Mutter an und fanden es wohl schön, was die da sangen, wenngleich sie die Textzeilen noch nicht verstehen konnten. So passierten sie wieder Haarlem und gelangten schließlich in die Keizersgracht in Amsterdam, wo sie vor dem Haus der Goldschmids parkten. Alle stiegen aus den Autos aus, und man sah den Kindern die Müdigkeit an, sie hingen ihren Müttern an den Rockzipfeln und konnten kaum noch laufen. Als Agnes aber sagte:
„Ich glaube, ich habe im Haus für alle Kinder etwas Leckeres“, waren sie wie ausgewechselt und Christine fragte:
„Was hast Du denn für uns?“
Aber Agnes verriet nichts uns ging ins Haus voraus und als sie alle auf der Terrasse angekommen waren, holte Agnes den Kindern Schokolade und legte sie auf die Terrassentische. Das war etwas, das die Kinder zu Hause nie bekamen, weil es keine Schokolade in Deutschland gab und wenn doch, so auf dem Schwarzmarkt zu sündhaft hohen Preisen. Die jungen Mütter brachen ihren Kindern kleine Stücke von der guten Verkade-Schokolade ab und gaben sie ihnen. Die Schokolade war für die Kinder das Größte, sie lutschten an den Stücken und waren im Nu wieder eingesaut. Agnes holte Tücher, mit denen die Mütter den Kindern die Hände und das Gesicht abwischen konnten. Robert holte Getränke nach draußen, und als jeder Wein, Bier und die Kinder Limonade hatten, sagte er:
„Ich habe eine Überraschung für Euch, heute Abend habe ich für uns im „Het ou Stal“ reserviert, wir können um 19.00 h dort essen wie wir das früher schon getan hatten, die Wirtin ist auch noch da.“
„Das hast Du ja prima eingefädelt!“, sagte Manfred, „ich denke, dass es auch den Kindern dort gut gefallen wird!“ Es war später Nachmittag geworden, die Sonne brannte schon den ganzen Tag vom Himmel und brachte Hitze, sodass sie alle unter den Sonnenschirmen saßen und viel tranken.
„Passt auf, dass Ihr nicht betrunken werdet, Ihr müsst alle noch den Weg bis zum Restaurant und zurück laufen, ich möchte nicht, dass jemand von Euch schlappmacht!“, sagte Robert. Die Frauen zogen sich um und gaben auch den Kindern frische Sachen, alle machten sich bereit und liefen um 18.30 h los.
Die Kinder, die eigentlich noch vom Strandaufenthalt hundemüde waren, waren mit einem Mal wie ausgewechselt und rannten herum, sodass ihre Eltern auf sie achtgeben mussten, damit sie nicht irgendwo in eine Gracht fielen. So erreichten sie zwanzig Minuten später „Het ou Stal“, und als sie mit siebzehn Personen das Lokal betraten, wurden die anwesenden Gäste für eine Weile still und schauten. Als sich aber alle an die beiden zusammengeschobenen Tische gesetzt hatten, nahmen sie ihre Gespräche wieder auf und waren so fröhlich wie zuvor. Plötzlich kam die Wirtin zu ihnen an die Tische und die jungen Eltern, die sie zuletzt vor elf Jahren gesehen hatten, machten große Augen.
„Da seid Ihr ja alle wieder!“, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, mit der sie schon damals aufgefallen war, so als wären sie nur einmal kurz verreist gewesen und nun wieder zurück. Die Kinder blickten die Wirtin an und fürchteten sich wohl vor ihr, aber die Wirtin konnte ihnen wohl die Angst nehmen, lief zur Theke und kam mit einem Dauerlutscher für jedes Kind zurück, den sie ihnen gab. Das nahm den Kindern gleich die Skepsis gegenüber der alten Frau und sie lächelten sie an.
„Schön, dass Ihr mal wieder vorbeigekommen seid!“, sagte sie und sie stellte fest, dass alle jungen Leute von damals zusammengeblieben waren und Familien gegründet hatten. „Het ou Stal“ lag im Jordaan-Viertel von Amsterdam und das bedeutete, dass man in dem Arbeiterviertel einen besonderen Groll gegen alles Deutsche hatte, und als die Anwesenden merkten, mit wem sie es bei den Hinzugekommenen zu tun hatten, wurden einige an den Nebentischen böse und wollten sogar schon das Lokal verlassen. Die Wirtin verstand es aber, die Gemüter zu beruhigen und klärte ihre Gäste auf, dass die Deutschen ganz alte Gäste wären, die die Nazi-Zeit ebenso verachteten wie alle anderen auch. Mit einem Mal stand Robert auf und ergriff das Wort:
„Liebe Anwesende!“, sagte er in einem einwandfreien Holländisch, „ich weiß dass es keine Worte gibt, um das Geschehen ungeschehen zu machen, glaube aber, dass wir alle gemeinsam in die Zukunft schauen und den Grundstein dafür legen müssen, dass unsere Kinder friedlich miteinander leben können, ich kann verstehen, dass es Vielen unter Ihnen nicht leicht fallen wird, meinen Worten zu folgen, der Krieg ist ja gerade auch erst vorbei, aber ich bitte Sie, legen Sie Ihren Hass ab, und öffnen Sie sich für einen Neuanfang!“ Als er daraufhin sein Glas hob, um mit den Gästen anzustoßen, nahmen nur wenige auch ihr Glas hoch und prosteten Robert zu. Der Rest hüllte sich in Schweigen, hatte aber seine Aggressivität gegen die Deutschen abgelegt. Robert setzte sich wieder und fragte die Wirtin, was sie denn an diesem Abend empfehlen könnte, wie man das immer tat, wenn man im „Het ou Stal“ essen ging. Die Wirtin antwortete, dass sie an diesem Abend Hähnchenschenkel mit Kartoffeln und Salat empfehlen würde, und Robert schlug den anderen vor, dass sie das Gericht alle bestellen sollten, und so geschah es auch.
Während sie auf ihr Essen warteten, kam plötzlich jemand vom Nebentisch zu Robert und sagte:
„Sie haben gut geredet, woher können Sie denn so gut Holländisch?“ und Robert antwortete:
„Meine Frau und ich leben seit elf Jahren in der Keizersgracht.“
„Dann sind sie ja beinahe ein waschechter Holländer, warum leben Sie denn nicht in Deutschland?“
„Meine Frau und ich sind Juden und ausgewandert, als die Verhältnisse in Deutschland für uns unerträglich wurden.“ Das konnte der Mann gut nachvollziehen und wünschte allen noch einen angenehmen Abend in dem Lokal, in diesem Augenblick wurde auch schon ihr Essen auf den Tisch gestellt und bevor sie zu essen anfingen, bestellte Max für alle noch einmal etwas zu trinken. Da stand Piet auf, er fühlte sich nach der Rede seines Vorgängers wohl genötigt, auch ein paar Worte zu sagen, und den Gästen zugewandt sagte er: „Ich verstehe Euch voll und ganz, dass Ihr gegen alles Deutsche seid, sicher habt Ihr alle Eure leidvollen Erfahrungen gemacht, aber ich kann mich den Worten meines Vorredners nur anschließen, der Hass führt zu nichts, außer zu Krieg, lasst und versuchen, friedlich miteinander umzugehen!“, und an die Adresse seiner Freund gewandt sagte er:
„Ich wünsche Euch allen einen guten Appetit!“ Den Kindern war das Essen noch zu heiß und ihre Mütter mussten pusten, bis sie die Hähnchenbollen in Händen halten konnten und davon abbissen.
Und wieder sauten sie sich ein, ihr Gesicht, ihre Hände und leider auch ihre Hemden, die voller Hähnchenfett waren, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an, und die Erwachsenen ließen sie einfach weiter essen. Die Hähnchen waren schön kross und die Kinder mochten besonders die knusprige Haut, die die Mütter aber für die ganz Kleinen zerschneiden mussten. Als sie mit den Hähnchen fertig waren, kam die Wirtin und brachte den Kindern einen Schokoladenpudding auf Kosten des Hauses und die jungen Eltern bedankten sich bei ihr, Werner stand sogar auf und gab der Wirtin einen Wangenkuss. Die Kinder freuten sich riesig über die süße Überraschung, schafften den Pudding aber kaum noch. Robert bestellte für jeden, der wollte, einen jonge Genever, den die Frauen aber ablehnten. Schließlich beendeten sie ihren Abend im „Het ou Stal“ und Piet und Max bezahlten, alle standen auf und wünschten den Gästen im Lokal noch einen schönen Abend. Der Wirtin sagte Robert im Hinausgehen:
„Wir haben uns heute bei Ihnen besonders wohlgefühlt, und wir werden auf jeden Fall wiederkommen!“ Sie verließen das Lokal und machten sich auf den zwanzigminütigen Heimweg, der ihnen doch schwerfiel, sie mussten die Kinder auf dem letzten Stück nach Hause tragen. Die jungen Mütter brachten die Kinder gleich ins Bett, der ganze Tag hat sie so geschafft, dass sie kaum ein Auge aufhalten konnten. Es wurde nicht mehr erzählt und nicht mehr gesungen, die Kinder schliefen tief und fest und gaben keinen Laut mehr von sich.
Die Erwachsenen setzten sich noch einmal auf die Terrasse und Robert holte Getränke nach draußen, Agnes hatte aus der Küche ein paar Knabbbereien besorgt.
„Morgen hat Peter Geburtstag, habt Ihr daran gedacht“, fragte Agnes, „wir werden hier draußen feiern und Ihr kommt ja wohl alle!“ Natürlich hatten alle daran gedacht, und sie hatten auch alle ein Geschenk für den Kleinen, der seinen dritten Geburtstag feiern würde. Petra wollte Peters Platz am Tisch zu seinem Geburtstag schmücken und ihm so eine Freude bereiten. Manfred und sie hatten für ihren Sohn ein großes Auto gekauft, auf das er sich sogar setzen, und mit dem er sich unter Einsatz seiner Füße auch vorwärtsbewegen konnte. Sie hatten das Auto in Amsterdam besorgt, weil es so etwas in Deutschland nicht zu kaufen gab. Von daher war es für Peter ganz gut, dass er seinen Geburtstag in Holland feierte und nicht die traurige Wirklichkeit in Deutschland dabei vor Augen hatte. Gegen 22.30 h verabschiedeten sich Iris, Doris, Piet und Max nach Hause, sie wollten am nächsten Vormittag nach dem Frühstück wieder erscheinen. An diesem Abend gingen sie alle früh ins Bett, weil sie müde waren und die Strapazen des Zandvoort-Aufenthaltes noch in den Knochen hatten. Am nächsten Morgen stand Petra schon sehr früh auf, um zusammen mit Agnes den Frühstückstisch zu decken.
Sie hatte drei Kerzen an Peters Platz gestellt und sein Geschenk neben seinen Stuhl postiert, weil der Karton so groß war, dass er nicht auf den Tisch passte. Um 7.30 h war so weit alles fertig und Petra ging nach oben auf ihr Zimmer, um ihrem Sohn zu seinem dritten Geburtstag zu gratulieren. Natürlich war Peter schon längst wach und saß zusammen mit Chrsitine auf Manfreds Bett, die beiden hatten Peter schon zum Geburtstag gratuliert.
Chritine wusste noch gar nicht so recht, warum an diesem Morgen so eine Aufregung herrschte, und als Petra ihren älteren Sohn in den Arm nahm und ihm auch gratulierte, war Peter ganz verlegen, denn in Wirklichkeit wusste auch er nicht so genau, worum es an diesem Morgen ging.