Читать книгу Clarissa und Fiete VI - Hans Müller-Jüngst - Страница 3
Ruhestand
ОглавлениеFiete zog langsam den Sophie-Bötjer-Weg in Worpswede entlang, er konnte seit seinem Unfall auf der Baustelle vor 20 Jahren nicht mehr so schnell laufen, weil er einen irreparablen Hüftschaden davon getragen hatte. Man sieht ihm die leichte Behinderung so nicht an und bekommt nur etwas davon mit, wenn man direkt neben ihm herläuft, und auch dann muss man schon genau hinsehen. Fiete war anfangs sehr mitgenommen von seiner leichten Behinderung und schämte sich beinahe, vor die Tür zu gehen. Bis Sophia und Ole einmal auf ihn einredeten und ihn zur Räson brachten:
„Stell Dich doch nicht so an“, sagten sie ihm, „sei doch froh, dass bei Deinem Unfall nichts Schlimmeres mit Dir passiert ist!“ Auch Clarissa hatte sich auf die Seite der Kinder geschlagen und Fiete davon überzeugt, dass er die Folgen seines Unfalls nicht so schwer nehmen sollte.
Fiete wusste sich im Laufe der Zeit mit seinem leichten Gehfehler zu arrangieren und blickte heute dem Ende seiner beruflichen Tätigkeit entgegen. Er würde sein Büro in Osterholz-Scharmbeck Marias Mann Szymon übergeben, den er damals eingestellt hatte, und der, obwohl er kein Ingenieur war, seine Arbeit so gut machte, dass viele Auftraggeber das Gespräch mit ihm statt mit Fiete suchten. Fiete war jetzt 63 Jahre alt und konnte auf ein langes und erfolgreiches Leben als Elektroingenieur in der Windkraftbranche zurückblicken, Auch Clarissa dachte daran, ihre Praxis aufzugeben und sich zur Ruhe zu setzen, sie wollte die Praxis an einem Absolventen der Uni Hannover im Fachbereich Veterinärmedizin übergeben, so wie sie damals die Praxis von ihrem Vorgänger übernommen hatte. Sie hatte im „Weser Kurier“ ein Annonce aufgegeben, in der sie ihre Praxis anbot und wartete auf Interessenten. Clarissa hatte sich in ihrer Zeit als Tierärztin einen sehr guten Ruf erworben. Sie wurde im gesamten Umkreis von Worpswede geachtet, und auch bei den Patienten in der Stadt war sie hochverehrt. Das lag an der hochqualifizierten Tätigkeit als Tierärztin und an ihrer Gabe, ein Ohr für die Sorgen ihrer Patientinnen zu haben und tröstend darauf einzugehen. Sie hatte geradezu psychotherapeutische Fähigkeiten entwickelt.
Sophia war inzwischen 30 Jahre alt, sie war Allgemeinmedizinerin geworden und mit einem Arzt verheiratet. Die beiden betrieben eine Gemeinschaftspraxis in Hamburg und dachten daran, bald Kinder in die Welt zu setzen. Sophia war eine ausgesprochen schöne junge Frau geworden, sie war groß und schlank und hatte die langen wilden Haare ihrer Mutter, sie war mit ihrem Mann Ralph sehr glücklich. Wenn es ihre Zeit zuließ, kamen die beiden nach Worpswede rüber und verbrachten einen schönen Abend mit Sophias Eltern, mit denen sie zusammen aßen und gute Gespräche führten. Manchmal war auch Ole mit seiner Frau Sybille dabei. Ole war 32 Jahre alt und glich in seiner äußeren Statur seinem Vater, er war groß gewachsen und hatte einen athletischen Körperbau. Er hatte in Berlin Geologie studiert und auch in Berlin promoviert. Er war am Geophysikalischen Institut in Potsdam beschäftigt, seine Frau war Grundschullehrerin in Potsdam. Auch Sybille und Ole führten ein glückliches Leben miteinander. Sie trafen sich mit Sophia und Ralph nur selten und wenn, dann in Worpswede bei den Eltern. Es war ein Samstagnachmittag, an dem Clarissa ein Gespräch mit dem möglichen Nachfolger in ihrer Praxis führen wollte. Am Abend wollten die Kinder mit ihren Ehepartnern zu Besuch kommen. Gegen 14.00 h schellte es, und als Clarissa die Haustür öffnete, stand draußen ein junges Pärchen.
Clarissa wusste gleich, dass es sich um die Aspiranten auf ihre Praxis handelte und bat die beiden ins Haus. Sie fühlte sich an ihre eigene Studentenzeit zurückerinnert, wenngleich die 30 Jahre zurücklag. Die junge Frau stellte sich als Brigitte Mehnert vor, und sie wollte die Praxis gern nach ihrem Studium übernehmen, ihr Freund hieß Herbert Jäger. Clarissa sagte, dass sie auch in Hannover studiert hätte und kam gleich mit Brigitte über die neuen Studieninhalte ins Gespräch. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch, Fiete saß mit in der Runde und sorgte für Getränke. Clarissa hatte in der Bäckerei Kuchen besorgt, und sie aßen ihn und unterhielten sich dabei über die Besonderheiten der Worpsweder Tierarztpraxis. Brigitte war schon klar, dass der Praxisdienst verbunden war mit der Betreuung der umliegenden Bauern, und Clarissa erzählte ihr, dass sie sich bei manchen erst einmal einen festen Stand verschaffen müsste.
„Wann kann ich die Praxis denn übernehmen?“, fragte Brigitte direkt, und Clarissa sah sie leicht überrascht an, war auf der anderen Seite von Brigittes Direktheit aber auch ganz angetan.
„Wenn es nach mir ginge, könnten Sie sofort, nachdem Sie Ihr Examen in der Tasche haben, hier anfangen, aber Sie haben doch die Praxis noch gar nicht gesehen!“, konterte Clarissa.
„Das macht gar nichts, ich habe mich bei Ihnen gleich wohlgefühlt, und ich kann die Praxis ja auch umgestalten, von mir aus können wir aber auch gleich eine Besichtigung vornehmen!“, sagte Brigitte.
„Lassen Sie uns doch zuerst Kaffee trinken und Kuchen essen, danach können wir in die Praxis gehen!“ Nachdem sie später die Praxis besichtigt hatten, war Brigitte überaus eingenommen von der Praxiseinrichtung.
„Wenn Sie zuschlagen wollen, dann tun Sie´s, Sie sind die erste Bewerberin auf meine Praxis!“ Brigitte sah ihren Freund an und griff zu. Sie hatten sich nur ganz kurz noch über die Kaufsumme unterhalten, danach war die Sache unter Dach und Fach. Fiete schenkte jedem einen Korn ein, und sie stießen auf den erfolgreichen Abschluss miteinander an.
„Sie müssen in drei Tagen noch einmal wiederkommen und den notariellen Abschluss mit mir abwickeln“, sagte Clarissa zu Brigitte.
„Wir hätten Ihnen gerne die Möglichkeit angeboten, bei uns zu übernachten, aber heute Abend kommen unsere Kinder mit ihren Ehepartnern zu Besuch, sodass wir dann keinen Platz für alle haben“, sagte Fiete.
Brigitte und Herbert verabschiedeten sich nach 2.5 h und fuhren nach Hannover zurück, Clarissa und Fiete waren dann allein und legten sich auf die Terrasse, um eine Stunde zu relaxen. Es war von vornherein klar, dass sie nicht ihr ganzes Haus verkaufen wollten. Sie wollten so lange wie möglich in ihm wohnen bleiben.
„Wie fandest Du die beiden?“, fragte Clarissa Fiete.
„Erfrischend jung und voller Tatendrang“, antwortete er.
Als die beiden es sich auf ihren Liegen gemütlich gemacht hatten, schwiegen sie, und jeder dachte sich seinen Teil zu der Veräußerung der Praxis. Clarrissa hatte ihre Augen geschlossen ohne zu schlafen, das war Ausdruck ihres Relaxtseins und sie fühlte sich wohl dabei. Sie hatte im Alter an Körperumfang zugelegt ohne als dick bezeichnet werden zu können. Ihr Gesicht war gegenüber früher fülliger geworden, sie hatte Falten bekommen und trug ein Doppelkinn wie beinahe alle Frauen in ihrem Alter. Clarissa machte sich Gedanken zu ihrem Äußeren und vergewisserte sich gelegentlich bei Fiete, dass sie nicht zu dick war. Fiete gab ihr dann zu verstehen, dass er sie nach wie vor liebte, auch wenn sie sich äußerlich verändert hatte, und Clarissa war zufrieden mit seiner Auskunft. Sie hatte auch an den Oberarmen zugelegt und auch einen leichten Bauch bekommen, nicht sehr ausgeprägt, aber schon sichtbar. Sie versuchte, das mit weiten Blusen zu kompensieren ohne dabei zu übertreiben. Auch ihr Po und ihre Oberschenkel hatten an Fülle zugenommen, sodass sie ihre Hosen gegenüber früher eine bis zwei Nummern größer kaufen musste.
Eine Zeit lang hatte sie darüber nachgedacht, ins Fitnessstudio zu gehen und mehr auf ihre Ernährung zu achten. Ihr fehlte aber für das Fitnessstudio die Zeit und großartig an ihren Essgewohnheiten etwas zu ändern hatte sie einfach keine Lust. Sie hatte schon viele Gespräche mit Freundinnen und Patientinnen über das sich im Alter ändernde Äußere geführt, und alle gaben ihr zu verstehen, dass die Änderungsprozesse etwas völlig Normales wären, und sie sich keine Sorgen machen sollte. Clarissa trug ihr Haar inzwischen kurz, und das Aussehen ihrer Haare war weit entfernt von ihrem früheren Mädchenhaar. Es war nie füllig und stark gewesen, sie hatte aber früher sogar Zöpfe getragen und ihr langes Haar offen gelassen. Nun trug sie eine Tönung auf, um die Graufärbung, die bei jeder Frau ihres Alters eintrat, zu übertünchen. Ihre Bewegungen waren träger geworden, sie sprang nicht mehr so energiegeladen in der Gegend herum und ließ sich auch nicht mehr so sorglos auf ihre Terrassenliege fallen, wie sie das früher getan hatte. Wenn sie stand, stand sie leicht gebeugt. Es bereitete ihr Schwierigkeiten, ganz gerade zu stehen. Wenn sie sich streckte, um ein Geradestehen zu erzwingen, spürte sie einen Stich im Rücken. Also ließ sie das und stand lieber leicht gebeugt. Wenn Sophia oder Ole sie aufforderten, doch gerade zu stehen, sagte sie zu ihnen:
„Ich bin jetzt über 60 und kann es mir deshalb erlauben, krumm zu stehen, werdet Ihr erst einmal so alt!“ Sie hatte gelernt, sich mit den Zipperlein, die das Alter so mit sich brachte, zu arrangieren, und sie weinte ihrer Jugend keine Träne nach. Sie kompensierte alle vermeintlichen Makel, die sie nach außen hin aufwies, mit ihrem Intellekt. Sie war in der Lage, über ihren Status zu reflektieren und darüber mit Fiete zu reden. Das war eben eine Qualifikation, die das Alter mit sich brachte, und die wollte Clarissa nicht missen.
Sie öffnete ihre Augen und blickte zu Fiete, der auf der Liege neben ihr lag. Sie sah ihn an, ohne dass er das bemerkte. Sie fand, dass Fiete für seine 63 Jahre gut aussah, und als er schließlich mitbekommen hatte, dass Clarissa ihn ansah, lächelte er sie an. Clarissa streckte ihren Arm zu ihm aus und Fiete nahm ihre Hand in seine. Sie redeten immer noch nicht und schlossen am Ende wieder ihre Augen.
Fiete hatte vor zwanzig Jahren einen Arbeitsunfall auf seiner Baustelle erlitten und zwar auf die gleiche Weise wie damals Gerd Petersen, der dabei allerdings tödlich verunglückte. Sie hatten damals auf ihrer Baustelle noch einen alten Seilzugbagger, dessen Seil riss. Das Bauelement, das an ihm hing, fiel herunter und stieß Fiete dabei von dem schon errichteten ersten Element. Beim Aufprall auf den Boden wurde seine Hüfte zertrümmert, und er hatte große Schmerzen. Beinahe drei Monate verbrachte er im Krankenhaus und in der Rehabilitation, bis er wieder laufen konnte. Stockend zuerst und unter Zuhilfenahme eines Gehstocks, danach aber immer besser. Ein kleiner Gehfehler blieb zurück, den er bis in die Gegenwart beibehielt, aber damit konnte er gut leben.
Auch an Fiete war das Alter nicht spurlos vorüber gegangen. Er hat insgesamt an Gewicht zugelegt, war stämmiger geworden. Im Gesicht war er voller geworden und hatte ein Doppelkinn. Seine Haarpracht war nie besonders ausgeprägt gewesen, sie hatte sich zu einem Kränzchen entwickelt. Sein Rumpf war in die Breite gegangen und seine Arme hatten an Umfang zugenommen, genauso wie seine Oberschenkel. Auch er hatte eine leicht gebeugte Haltung, wenn er stand, und das Gehen fiel ihm nicht so leicht wie früher. Das lag nicht nur ein seinem leichten Gehfehler. Aber Fiete klagte nicht, er war mit sich zufrieden und sehnte den Zustand des Jungseins nicht herbei. Er kompensierte seine vermeintlichen Defizite auch mit seinem Intellekt genauso wie Clarissa, und er verstand es, gut damit zu leben.
„Haben wir eigentlich alles für heute Abend, wenn die Kinder kommen?“, fragte Fiete Clarissa und Clarissa antwortete:
„Ich habe während der letzten drei Tage eingekauft und hoffe, an alles gedacht zu haben, Du musst höchstens nach den Getränken schauen!“ Aber Fiete wusste, dass er an Getränken alles im Hause hatte, was benötigt wurde. Ole und Ralph waren Biertrinker, und ihre Frauen tranken Weißwein, in der Beziehung hat sich gegenüber früher nichts geändert. Clarissa hatte mit Marias Hilfe, die seit ihrer Zeit als Kinderfrau immer mal wieder vorbei kam und im Hause Kleen nach dem Rechten schaute, Schnitzel mit Kartoffeln und Salat zubereitet. Sie wusste, dass ihre Kinder dieses Gericht besonders gern aßen, zumal Maria bei der Zubereitung beteiligt war, und sie zu Maria während ihrer gesamten Kindheit ein sehr gutes Verhältnis hatten, sie hatten sie geradezu geliebt.
Krzystof, Marias Sohn und der frühere Spielkamerad von Ole, war nach Süddeutschland gezogen und lebte dort mit seiner Familie. Ab und zu telefonierten Ole und er miteinander und fragten sich gegenseitig, wie es zu Hause so liefe. Clarissa und Fiete streckten sich noch einmal auf ihren Liegen und standen dann auf. Fiete half seiner Frau, den Terrassentisch zu decken. Sie nahmen dazu Clarissas Aussteuergeschirr, Clarissa wusste nicht, wann sie es sonst auf den Tisch bringen sollte. Nachdem sie mit dem Tischdecken fertig waren, schellte es, und Sophia und Ralph trafen ein. Die Freude war auf beiden Seiten immer riesig, wenn sie sich trafen, und sie fielen sich gegenseitig in die Arme. Sie setzten sich auf die Terrasse, und es vergingen keine zehn Minuten, als es noch einmal schellte und Sibylle und Ole vor der Tür standen. Es vollzog sich auch bei ihnen das immer gleiche Begrüßungsritual, und nachdem sie sich auch auf der Terrasse alle geherzt und geküsst hatten, gab Fiete jedem etwas zu trinken und stieß mit ihnen auf den schönen Abend an, der noch vor ihnen lag. Sophia begann gleich, von Hamburg zu erzählen und wie aufreibend doch ihr Job wäre, was Ralph nur bestätigte. Beide machten sie aber ihre Arbeit mit viel Freude und Enthusiasmus, Auch Sibylle und Ole berichteten von ihren Jobs. Sibylle klagte über die immer frecher werdenden Kinder und Ole erzählte von dem jüngsten Erdbeben in Italien. Bei dem Erdbeben waren über dreihundert Tote zu beklagen! Als sie alle mit Erzählen soweit fertig waren, sagte Clarissa mit einem Mal:
„Ich habe heute Nachmittag meine Praxis an eine Studentin der Veterinärmedizin aus Hannover verkauft, sie wird in einem Monat ihr Examen in der Tasche haben!“ Sie sagte zunächst nicht mehr und schaute in die versteinerten Gesichter und auf die offenen Münder der Kinder.
„Du hast was?“, schrie Sophia beinahe und auch Ole rief entsetzt:
„Sag, dass das nicht wahr ist!“
Für beide brach damit eine Welt zusammen, ihr ganzes bisheriges Leben war immer verknüpft gewesen mit ihrer Mutter als Tierärztin und deren Praxis. Clarissa sagte:
„Ich bin jetzt in dem Alter, in dem ich ans Aufhören denke, genau wie Euer Vater, wir wollen uns beide zur Ruhe setzen und uns ein schönes Leben machen.“ Nachdem Sophia und Ole ihre ersten Entsetzensempfindungen verdaut hatten, fragte Sophia:
„Du auch, Papa, wann willst Du aufhören?“ Fiete antwortete:
„Ich werde innerhalb der nächsten Woche meine Firma auf Szymon übertragen, er hat sich in den Jahrzehnten, die er inzwischen bei mir arbeitet, sehr gut bewährt, er hat mich insbesondere in der Zeit meines Unfalls so gut vertreten, dass manche Auftraggeber nicht mehr nach mir, sondern nach ihm verlangen, wenn sie etwas zu ihrem Bauprojekt zu besprechen haben.“
„Dann seid ihr also bald Rentner und könnt Euer Leben genießen!“, rief Sophia aus.
„Ich glaube, dass wir beide das noch gar nicht richtig realisieren, was es heißt, nie mehr zu irgendwelchen Außenterminen zu fahren oder sich mit den Kunden streiten zu müssen, wir werden den Übergang ins Rentnerdasein so sanft wie möglich vollziehen, wenngleich bei mir heute Nachmittag schon die Weichen gestellt worden sind“, sagte Clarissa.
„Also, wir müssen das erst einmal verdauen“, sagte Sophia, „es ist nicht so, dass Eure Ankündigung so plötzlich kommt, aber ihr stellt uns quasi vor vollendete Tatsachen.“
„Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wünsche ich Euch ein geruhsames Rentnerdasein, Ihr habt ja Recht, das Alter habt Ihr bereits und irgendwann müsst Ihr eben in Rente gehen, nur dass das jetzt so plötzlich auf uns eindringt, damit müssen wir erst einmal fertig werden!“, meinte Ole. Clarissa und Fiete liefen in die Küche und holten die Schnitzel, die Kartoffeln und den Salat und stellten die Sachen auf den Terrassentisch. Jeder nahm sich von dem guten Essen, und nachdem Clarissa einen guten Appetit gewünscht hatte, begannen sie mit ihrem Abendessen. Während des Essens verlor niemand ein Wort, Ole schlang die Schnitzel geradezu in sich hinein.
Das hatte er früher schon so getan, wenn Maria Schnitzel zubereitet hatte, und Krzystof und er nicht genug davon bekommen konnten. Einen Augenblick später fragte Sophia:
„Was werdet Ihr denn mit Eurer ganzen Freizeit anstellen, habt Ihr eigentlich irgendwelche Hobbys?“ Clarissa antwortete:
„Ich denke, dass ich zuerst viel Zeit mit Lesen verbringen werde, das ist etwas, das in letzter Zeit bei mir viel zu kurz gekommen ist, wenn Ihr also an Geburtstagen oder an Weihnachten an Geschenken für mich überlegt, denkt daran, mir Bücher zu schenken!“
Fiete musste eine Zeit lang überlegen, bevor er sagte:
„Ich werde sicher auch viel Zeit damit verbringen, zu lesen, aber ich glaube, dass ich mich noch eine Zeit lang auf unseren Baustellen blicken lassen werde!“ Er sagte „auf unseren Baustellen“ und veranschaulichte damit, dass er sich wohl für einige Zeit nicht von seiner Arbeit würde trennen können.
„Woran habt Ihr denn gedacht, wenn Ihr etwas lesen wollt?“, fragte Sibylle.
„Ich kann mir vorstellen, mit skandinavischen Krimis anzufangen, und ich glaube, dass das auch etwas für Fiete wäre“, antwortete Clarissa.
„Da gibt es inzwischen eine Fülle von Titeln auf dem Büchermarkt, und ich denke, dass wir da für Euch schon etwas Passendes finden werden“, sagte Sophia.
„Ganz so weit wie bei Fiete ist es bei mir ja noch nicht, Brigitte, so heißt meine Nachfolgerin, muss erst noch ihr Examen machen, da wird schon noch ein Monat ins Land gehen“, entgegnete Clarissa.
„Ich habe schon die Modalitäten der Firmenübergabe mit Szymon besprochen und auch eine Summe mit ihm vereinbart, zu der er die Firma übernehmen kann, ich denke, dass das alles am Mittwoch über die Bühne gehen wird“, sagte Fiete. Sie lehnten sich nach dem Essen zurück und redeten über alte Zeiten.
„Habt Ihr eigentlich noch Kontakt zu Familie Dreesen“, fragte Ole, „die beiden Jungen müssten doch inzwischen Mitte bis Ende dreißig sein?“
„Ich bin hin und wieder noch zu Frau Dreesen nach Lilienthal gefahren, und ich glaube, dass es ihr gut geht, die Jungen sind natürlich längst ausgezogen, ich weiß aber nicht, was sie machen, und wo sie wohnen, Frau Dreesen hat schon seit Jahren wieder einen Freund!“, sagte Fiete.
„Seht Ihr denn Maria noch häufig?“, fragte Sophia.
„Maria hat mir heute bei der Essenszubereitung geholfen , hin und wieder kommt sie noch zu uns, und wir trinken eine Tasse Kaffee zusammen und unterhalten uns über Euch und über Krzystof, das kommt aber nicht sooft vor.“ Es ließ sich an diesem Abend wunderbar auf der Terrasse sitzen und plaudern. Fiete sorgte immer für den Getränkenachschub und versorgte die Männer mit Bier und die Frauen mit Weißwein.
Plötzlich erschien er mit der Schnapsflasche und goss jedem ein Pinnchen ein, und das war auch neu an ihm. Er trank schon mal einen Schnaps, was er früher weit von sich gewiesen hatte. Nur auf der Baustelle mit seinem Auftraggeber trank er schon mal einen, oder er hat früher schon einmal einen Korn mit seinem Vater getrunken. Dass er aber von sich aus mit dem Schnaps ankam, das war etwas Neues.
„Nicht dass Ihr denkt, ich wäre unter die Schnapstrinker gegangen, aber einen können wir doch ruhig trinken!“, sagte Fiete und stieß mit allen auf den schönen und gemütlichen Abend an. Der würde sich in Zukunft wohl öfter ergeben. Gegen Mitternacht gingen sie in ihre Betten, Sophia und Ole gingen mit ihren Ehepartnern auf ihre alten Kinderzimmer. Clarissa und Fiete hatten sie ein wenig umgeräumt, sie hatten die Schreibtische und Kinderbetten rausgeworfen und stattdessen große Doppelbetten hineingestellt. Am nächsten Morgen wurde lange gefrühstückt, und sie nahmen sich vor, anschließend auf den Weyerberg zu spazieren. Alle halfen dabei, die Frühstückssachen von der Terrasse in die Küche zu tragen und sie gingen danach los. Im Ort war an diesem Sonntagmorgen noch nicht so viel los, und die Leute, die sie unterwegs antrafen, kannte Clarissa alle, und sie musste sie natürlich grüßen. Sie gingen am „Kaffee Worpswede“ vorbei und erklommen den leichten Anstieg auf den Weyerberg.
Oben angekommen, setzten sie sich ins Gras und machten eine kleine Pause. Ihren Blick hatten sie auf den Niedersachsenstein gerichtet, die expressionis-tische Backsteinskulptur, die an die Gefallenen aus dem 1. Weltkrieg erinnern sollte.
„Das letzte Mal waren wir hier oben, als Solveig und Ole uns vor zwei Jahren besucht hatten“, sagte Fiete.
„Wie geht es eigentlich den Norwegern?“, fragte Ole und Clarissa antwortete:
„Die beiden erfreuen sich bester Gesundheit und leben nach wie vor in Flakstad auf den Lofoten, Solveig hat ihre Gaststätte längst verkauft und sie kann sich mit Ole von dem Verkaufserlös ein schönes Leben leisten, Astrid ist als Bibliothekarin nach Bergen gezogen und lebt dort mit ihrem Mann und ihren Kindern, ich glaube, wir sollten bald einmal wieder auf die Lofoten fahren!“
„Lass uns doch im nächsten Monat hochfahren!“, schlug Fiete vor und Clarissa war sofort einverstanden.
„Sollen wir zum Niedersachsenstein gehen?“, fragte Sibylle, und ohne groß zu diskutieren standen alle auf und liefen in das kleine Waldstück, das die Backsteinskulptur verbarg. Alle waren sie schon mehrere Male am Niedersachsenstein gewesen, und sie waren immer wieder ergriffen von der ausdrucksstarken Skulptur. Sie liefen langsam den Berg wieder hinab und in den Sophie-Bötjer-Weg zurück. Die jungen Leute packten ihre Sachen zusammen, dann fuhren sie los zu sich nach Hause. Es hat das übliche Verabschiedungsritual gegeben, und als sich alle umarmt hatten, standen Clarissa und Fiete noch am Straßenrand und winkten.
Danach gingen sie ins Haus und setzten sich auf ihre Terrasse. Gleich war wieder die von Clarissa und Fiete so gemochte Ruhe eingekehrt. Sie mochten den Trubel, der herrschte, wenn die Kinder da waren, und der würde noch zunehmen, wenn sie im nächsten Jahr Enkelkinder hätten. Aber sie sehnten auch immer die Stille herbei, in der sie im Sommer und an warmen Frühjahrs- und Herbsttagen auf der Terrasse entspannen konnten. Clarissa hatte noch nie mit Fiete über den Beginn seines Ruhestandes gesprochen, und sie fragte ihn dann:
„Was machst Du denn, wenn Du ab Mittwoch Rentner bist?“ Fiete tat zunächst ganz unbekümmert, musste dann aber eingestehen, dass er sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte:
„ich weiß es noch nicht, ich werde am Donnerstag wohl sehr ausgiebig frühstücken und die Zeitung lesen.“ Sie verbrachten den ganzen Sonntag auf ihrer Terrasse, dösten vor sich hin und gaben ab uns zu Bemerkungen zum Samstagabend von sich. Plötzlich sagte Clarissa:
„Wenn wir wirklich im nächsten Monat auf die Lofoten wollen, solltest Du Solveig und Ole anrufen und unser Kommen ankündigen!“ Fiete stand auf und holte das Telefon. Er wählte die Nummer von Solveig und Ole und wartete, bis Solveig am Apparat war. Die Freude war riesig, besonders, nachdem Fiete ihr ihr Kommen mitgeteilt hatte, und er konnte hören, wie sich im Hintergrund auch Ole freute.
„Erzähl doch mal kurz, wie es Euch geht, arbeitet ihr beide noch?“, fragte Solveig. Fiete teilte ihr mit, dass Clarissa und er gerade dabei wären, ihren Ruhestand einzuleiten und sich schon darauf freuten.
„Dann seid Ihr also jetzt Rentner, Ihr werdet sehen, wie schön es ist, keine beruflichen Verpflichtungen mehr im Alter zu haben!“, sagte Solveig.
„ich werde mich jetzt um Flüge für den nächsten Monat zu Euch kümmern und rufe noch einmal an, um Euch unsere genaue Ankunftszeit in Leknes mitzuteilen“, schob Fiete am Schluss noch nach. Er verbrachte den Rest des Nachmittags damit, Flüge im Internet zu suchen und schlug bei dem günstigsten Angebot zu. Die Flugroute war noch immer die gleiche geblieben: von Hamburg über Oslo und Bodö nach Leknes, so wie er sie ganz früher schon für E.ON geflogen war. Kurze Zeit später teilte er Solveig mit, wann sie in Leknes ankommen würden und bestellte Grüße von Clarissa, bevor er das Gespräch wieder beendete. Fiete fuhr am Montag und am Dienstag ganz normal nach Osterholz-Scharmbeck und ging in sein Büro, in dem schon seit über zwanzig Jahren mit Szymon vier Mitarbeiter beschäftigt waren. Es war deshalb ein wenig eng in dem Büro, und Szymon dachte auch daran, umzuziehen, aber bis dahin wäre noch Zeit. Clarissa hatte am Montag und am Dienstag jeweils einen Tag, an dem sie am Vormittag Praxis und am Nachmittag Außendienst hatte, und sie hatte den üblichen Stress.
Dann kam der Mittwoch, Fietes letzter Tag in seinem Büro, und er fuhr mit einem leicht beklommenen Gefühl nach Osterholz-Scharmbeck. Er parkte wie immer auf dem großen Parkplatz in der Stadt und ging gemächlichen Schrittes in die Kirchenstraße, Aber ohne wie sonst direkt und beherzt sein Büro anzusteuern, schaute er rechts und links die Kirchenstraße entlang, auf der die Menschen zu ihrer Arbeitsstelle hetzten. Schließlich betrat er aber sein Büro und traute seinen Augen nicht, seine Mitarbeiter standen aufgereiht und einer nach dem anderen gab Fiete die Hand, bis er zu Szymon kam, der sogar zu einer Kurzrede ausholte. Er betonte, dass Fiete immer ein sehr guter Chef gewesen wäre und ihn alle vermissen würden, selbstverständlich könnte er in Zukunft jeder Zeit auf der Baustelle oder im Büro erscheinen. Fiete war den Tränen nahe und setzte sich an seinen alten Arbeitsplatz. Er sah auf die geplotteten Projektentwürfe, die an den Wänden hingen und blickte anschließend seinen Mitarbeitern in ihre Gesichter. Die erwiderten seinen Blick mit einem freundlichen Lächeln und klopften ihm anschließend auf seine Schulter. Fiete wollte von seinem Schreibtisch gar nicht so viel mitnehmen, er steckte aber den kostbaren Kugelschreiber ein den er vor Jahren von einem Auftraggeber geschenkt bekommen hatte.
Dann stand er auf, ging zu Szymon, mit dem er die notarielle Übergabe längst abgewickelt hatte und sagte ihm:
„Ich wünsche Dir für die Zukunft mit der Firma viel Erfolg, sieh zu, dass der gute Name der Firma erhalten bleibt!“ Er umarmte Szymon und drückte auch die anderen, die sich mit einem herzlichen „Tschüß Chef“ von ihm verabschiedeten. Er verließ sein altes Büro zum vorerst letzten Male und schlenderte die Kirchenstraße in Richtung Markt entlang. Draußen vor dem Cafe saßen die ersten Gäste, und Fiete setzte sich an einen freien Tisch. Er war ganz in Gedanken, als die Bedienung zu ihm kam und er sich ein Kännchen Kaffee bestellte, für Kuchen war es ihm noch zu früh. Das war also sein letzter Arbeitstag, und er konnte es noch gar nicht fassen. Allzu oft hatte er in der Vergangenheit gar nicht in dem Cafe gesessen, das war ganz früher einmal mit Astrid und Ole und Solveig und dem großen Ole oder auch zweimal mit dem Polizisten aus der Osterholzer Wache, er war auch einmam mit Frau Dreesen in dem Cafe. Jetzt, wo er frei war von Arbeit, ergab sich für ihn ein ganz anderer Blick auf seine Umgebung, und er schaute auf die vielen Menschen, die an ihm vorbei strömten. Was sollte er tun, wenn er mit dem Kaffeetrinken fertig wäre, sollte er wieder nach Hause fahren? Er überlegte und zückte dann sein Handy, um Frau Dreesen anzurufen, Frau Dreesen begrüßte ihn überfreundlich, und Fiete fragte sie, ob er sie einmal besuchen dürfte.
„Natürlich, kommen Sie, ich freue mich riesig!“, rief sie in den Hörer. Fiete zahlte, lief wieder die Kirchenstraße entlang zum Parkplatz und fuhr nach Lilienthal zu Frau Dreesen. Er überlegte auf der Fahrt, wann er zum letzten Mal bei Frau Dreesen gewesen wäre, und er musste lange überlegen, bis er auf einen Termin im vergangenen Jahr gekommen war. Nachdem er bei Frau Dreesen geschellt hatte, öffnete sie ihm die Haustür und Fiete gab ihr seine Hand. Frau Dreesen freute sich über alles und bat Fiete hinein. Fiete stellte fest, dass sich bei Frau Dreesen kaum etwas verändert hatte.
„Wie kommt es, dass sie mich am Morgen besuchen, i
ist Ihnen die Arbeit ausgegangen?“, fragte sie scherzhaft. Fiete antwortete:
„Liebe Frau Dreesen, ich bin seit heute Morgen Rentner!“ Frau Dreesen wusste zunächst gar nicht, wie sie reagieren sollte, mit dieser Antwort hatte sie gar nicht gerechnet. Schließlich sagte sie zu Fiete:
„Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Rentnerdasein!“, und Fiete nahm die Glückwünsche dankbar entgegen.
„Ich weiß noch gar nicht, wie ich mich in meinem neuen Dasein verhalten soll, ich werde, glaube ich, gleich nach Hause fahren und die Zeitung von vorne bis hinten durchlesen, das werde ich ganz gemütlich bei einer Tasse Kaffee auf der Terrasse tun.“
„Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“, fragte Frau Dreesen.
„Ich nehme ein Wasser“, antwortete Fiete. Es entspann sich ein Gespräch über die Kinder und Fiete erzählte, dass gerade am letzten Wochenende seine Kinder mit Ehepartnern zu Besuch bei ihnen zu Hause gewesen wären.
„Lars lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Hannover, er ist inzwischen 39, Dieter ist nach Oldenburg gezogen, er ist 36 und hat auch Frau und Kinder, beide leben sie glücklich und in geordneten Verhältnissen zusammen. Es passiert relativ selten, dass sie alle zu Besuch bei mir sind. Aber wenn sie mit ihren Kindern da sind, können Sie sich vorstellen, was dann hier los ist?“, fragte Frau Dreesen. Nachdem Fiete gesehen hatte, dass es Frau Dreesen gut ging, verabschiedete er sich und sagte ihr, dass sie sich doch einmal bei Clarissa und ihm melden sollte. Dann stand er auf und ging zu seinem Wagen, um nach Worpswede zurückzufahren. Zu Hause ging er gleich mit dem „Weser Kurier“ und einer Tasse Kaffee auf die Terrasse, stellte den Kaffee auf den Terrassentisch und legte sich mit der Zeitung auf die Liege. Er las zunächst die Überschriften auf der Titelseite und trank einen Schluck Kaffee dazu, aber so richtig relaxt war er nicht. Er ließ die Zeitung absinken und schloss für einen Moment seine Augen, als er die Haustür ins Schloss fallen hörte, und Clarissa die Wohnung betrat.
„Das ist ja ein ganz ungewohnter Anblick, Dich schon um die Mittagszeit auf der Liege zu sehen“, rief sie aus, „macht Dir das denn wenigstens Spaß?“
„Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, so viel freie Zeit zu haben“, antwortete er, „ich war heute Morgen bei Frau Dreesen und soll Dir schöne Grüße bestellen.“
„Wie war denn Deine Verabschiedung im Büro?“, und Fiete berichtete von dem kurzen Prozedere.
„Ich habe mir den Rest des Tages freigemacht“, sagte Clarissa, „damit Du nicht so allein bist!“
„Das war eine sehr gute Idee, lass uns etwas kochen und dabei über unsere Lofotenfahrt reden!“, sagte Fiete. Clarissa war einverstanden, setzte sich aber zuerst auf eine Tasse Kaffee zu Fiete und entspannte.
„Was sollen wir denn kochen, ich werde einkaufen gehen und Du kannst in der Zeit den Tisch decken“, sagte Fiete.
„Lass uns Spagetti Bolognese machen, das geht schnell und ist einfach zuzubereiten, dazu können wir einen Tomatensalat anrichten!“ Nach einer Weile erhob sich Fiete und lief zum Supermarkt, wo er die Sachen bekam, die er brauchte. Es kam recht selten vor, dass er im Supermarkt war, und man besah ihn dort wie einen Fremden.
„Schauen Sie mich nicht so an, ich bin der Mann von Frau Dr. Kleen, der Tierärztin!“, sagte er, und die Gesichter der Leute, die ihn anstarrten, lösten sich und wurden freundlich. Es kam sogar eine Angestellte des Supermarktes zu ihm und fragte ihn, ob sie ihm helfen könnte. Fiete holte seinen Einkaufszettel hervor und zeigte der Angestellten, was er benötigte. Die Angestellte ging mit ihm zu den Abteilungen, in denen es die Dinge gab, was völlig untypisch war, denn im Supermarkt war eigentlich die Selbstbedienung verbreitet. Auf jeden Fall hatte Fiete auf diese Weise seinen Einkauf schnell erledigt und ging zur Kasse, um zu bezahlen.
„Wie kommt es, dass wir sie bislang noch nie hier gesehen haben?“, fragte die Kassiererin, und Fiete antwortete:
„Ich bin seit heute Morgen Rentner.“ Er nahm seinen Einkauf und ging. Zu Hause war Clarissa damit beschäftigt, den Terrassentisch zu decken, sie hatte sogar an die Dose mit dem Streuparmesan gedacht. Fiete begann gleich, in der Küche die Soße Bolognese zuzubereiten. Er briet das Gehackte an, gab nach einer Zeit Tomatenjus, Salz, Pfeffer und Oregano hinzu und schüttete zum Schluss etwas Sahne an. In der Zwischenzeit bereitete Clarissa den Tomatensalat zu. Die Spagetti kochten längst, Fiete goss sie nach zwanzig Minuten ab und gab sie in eine Schüssel. Auch die Soße kam in ein Gefäß, und sie brachten die Sachen nach draußen auf die Terrasse. Clarissa fragte Fiete:
„Willst Du Rotwein zum Essen trinken?“ Fiete überlegte nur ganz kurz, bevor er in die Küche ging, eine Rotweinflasche öffnete und zusammen mit dem Wein und zwei Gläsern wieder nach draußen kam. Er hielt die Gläser etwas von sich abgewandt und ging ganz gemächlich, die Flasche hielt er am gestreckten Arm. Er goss Clarissa und sich jedem ein Glas Wein ein und stieß mit ihr auf sein Rentnerdasein an. Danach nahmen sie von dem Essen und genossen es, sich völlig ohne Zwang und Zeitdruck die Spagetti zum Munde zu führen.
„Ich bin mal gespannt, zu sehen, wie Solveig und Ole jetzt leben, ihre Wohnung über der Gaststätte war ja schön groß, aber vielleicht haben sie die ja auch behalten und nur die Gaststätte verkauft“, sagte Fiete.
„Ich finde, wir sollten einige schöne Touren mit dem Wagen von Solveig und Ole machen, nach Nusfjord, nach Reine und vielleicht auch zum Walewatching“, meinte Clarissa und Fiete warf gleich ein:
„Ole und ich können auch eine kleine Angeltour machen!“ Darüber verging die Zeit und sie räumten im Anschluss den Tisch ab. Gut gesättigt und von dem Wein leicht benommen, legten sie sich auf ihre Liegen und schlossen die Augen. Fiete hatte die Markise über die Liegen gezogen, sodass sie im Schatten lagen, und nach wenigen Augenblicken waren sie eingedöst. Nach einer ganzen Weile wurden sie vom Läuten des Telefons geweckt, als Brigitte Mehnert anrief und Clarissa und Fiete auf ihr Kommen vorbereitete. Sie wollte kommen, um die notarielle Abwicklung der Praxisübergabe zu vollziehen. Clarissa sagte ihr, dass sie doch kommen sollte, sie könnte bei ihr und Fiete übernachten, und am nächsten Morgen würden sie zusammen zum Notar gehen. Da Brigitte noch in Hannover war, würde sie gut zwei Stunden brauchen, bis sie in Worpswede ankäme. Clarissa stand von ihrer Liege auf und bereitete Sophias Zimmer soweit vor, dass Brigitte in ihm übernachten konnte. Fiete sagte:
„Ich will doch versuchen, zu erfahren, wann Brigitte ihr Examen in der Tasche zu haben glaubt, damit wir uns auf den Termin der Praxisübergabe einstellen können.“ Während Clarissa Sophias Zimmer aufräumte, überlegte Fiete, ob er noch mal zum Supermarkt gehen sollte, damit sie genug zum Abendbrot mit Brigitte hätten. Er lief noch mal los und kaufte etwas Aufschnitt, den Clarissa und er sonst so gut wie nie aßen. Nach 2.5 h schellte es, Brigitte stand mit ihrem Freund vor der Tür. Clarissa war zunächst überrascht, Brigitte in Begleitung zu sehen, sie zeigte ihre Überraschung aber nicht. Sie bat beide ins Haus, und sie begrüßten Fiete, der gerade des Abendbrottisch für alle deckte. Brigitte trat sehr selbstbewusst auf, vielleicht geschah das auch aus einer Unsicherheit heraus, jedenfalls fiel Clarissa und Fiete ihr beherztes Auftreten auf. Herbert, Brigittes Freund, hielt sich ganz zurück und überließ seiner Freundin das Feld, und Brigitte ergriff gleich das Wort. Sie sagte, dass sie mit ihrem Studium in den letzten Zügen läge, und sie im nächsten Monat ihr Examen ablegen wollte. Sie wollte anschließend mit Herbert zwei Wochen in Urlaub fahren und unmittelbar danach in die Praxis.
„Von uns aus ist das kein Problem, ich werde im nächsten Monat aufhören zu arbeiten und meine Patienten auf meine Nachfolgerin einstimmen“, sagte Clarissa.
„Werden Sie ein gutes Examen ablegen?“, fragte Fiete und Brigitte antwortete:
„So wie es im Moment bei mir aussieht, werde ich wohl ein Prädikatsexamen machen!“ Sie aßen zusammen zu Abend und Herbert hatte immer noch nicht einen Ton von sich gegeben, bis Fiete ihn fragte:
„Was machen Sie eigentlich so, ich frage das aus reiner Neugier“, und Herbert antwortete:
„Ich studiere Elektrotechnik im 7. Semester.“
Als Fiete hörte, dass da jemand vor ihm saß, der sein altes Fach studierte, wurde er ganz hellhörig. Er fragte nach den alten Dozenten, von denen aber natürlich niemand mehr im Dienst war, Auch fragte er Herbert nach den Studieninhalten und musste feststellen, dass sich doch eine Menge verändert hatte.
„Darf ich Sie fragen, was Ihr Beruf ist?“, fragte Herbert.
„War, ich bin seit heute Rentner, ich hatte eine Firma, die mit der Errichtung von Windkraftwerken zu tun hatte, sie war in Osterholz-Scharmbeck beheimatet und wird von meinem Nachfolger weitergeführt.“ Nach dem Essen setzten sie sich in die Wärme des Abends auf die Terrasse, und Fiete fragte, was Brigitte und Herbert trinken wollten.
„Wir schließen uns ganz ihren Vorlieben an und nehmen, was Sie auch trinken“, sagte Brigitte. Fiete holte Bier, Wein und Gläser und stellte sie auf den Terrassentisch. Er schenkte Clarissa ein Glas Weißwein ein und Brigitte sagte:
„Davon nehme ich auch eins!“
Und als Fiete sich ein Bier hinstellte, sah er Herbert an, und er nahm auch ein Bier.
„Wohin soll denn der Urlaub gehen?“, fragte Clarissa. „Wir wollen für zwei Wochen nach Mallorca fliegen und richtig entspannen, ich bin dann mit meinem Studium fertig und Herbert hat Semesterferien“, antwortete Brigitte.
„Mein Mann und ich waren vor 25 Jahren einmal mit unseren Kindern in Alcudia, das war für die Kinder ideal, sie konnten am Strand im Sand spielen und sind voll auf ihre Kosten gekommen. Und für die Eltern galt ein Urlaub immer dann als gelungen, wenn sich die Kinder wohlgefühlt haben.“
„Wir sind in Paguera, da ist schon etwas mehr los, Herbert und ich wollen abends in Bars und Diskotheken gehen, von daher setzen wir andere Schwerpunkte, ich glaube auch, dass sich auf Mallorca in den letzten 25 Jahren so manches geändert hat.“ Und natürlich kamen sie auf Worpswede zu sprechen, und Fiete hob hervor, dass die Stadt einen sehr hohen kulturellen Status hat.
„Obwohl hier vieles an ein Dorf erinnert,l iegt Worpswede doch vor den Toren Bremens, wenn einem also hier einmal die Decke auf den Kopf zu fallen droht, kann man nach Bremen ausweichen und dort Zerstreuung finden“, sagte Fiete.
„Aber wenn Ihre Praxis so richtig läuft, und die Außentermine, die sie auch wahrnehmen müssen, nicht abreißen wollen, werden sie sich nicht so sehr nach Zerstreuung sehnen, sondern froh sein, wenn sie abends ihre Beine hoch legen können“, meinte Clarrissa.
„Sind die Patienten eigentlich ganz umgänglich?“
„Das hängt davon ab, wie sie mit ihnen umgehen, mit den absolut meisten kommen sie auf Anhieb zurecht. Bei den Bauern, zu denen sie auch hin müssen, ist Vorsicht geboten, da gibt es schon den einen oder anderen grantigen Typen unter ihnen, der sich von Ihnen nichts sagen lassen will, aber das legt sich schon, wenn Sie sich erst einmal kenne gelernt haben“, sagte Clarissa.
„Wir werden im nächsten Monat auf die Lofoten fliegen und unsere Freunde dort besuchen, ich habe sie damals kennen gelernt, als ich für E.ON dort ein Windkraftwerk gebaut habe“, sagte Fiete.
„Ist es dort nicht immer sehr regnerisch und kalt?“, fragte Brigitte unde Fiete antwortete:
„Es ist regnerisch und auch kalt, aber nicht durchgängig, es gibt auf den Lofoten auch Wärme und Trockenheit.“ Als Herbert von seinem Bier getrunken hatte, sagte er:
„Ich weiß noch gar nicht so genau, wo ich einmal arbeiten werde, ich denke aber, dass ich einen großen Energieversorger ausschließe, so etwas, das Sie gemacht haben, das würde mich schon reizen.“
„Ich kenne die momentane Situation am Arbeitsmarkt für Elektroingenieure nicht, aber wenn Sie wollen, kann ich bei meinem Nachfolger anrufen und nachfragen, ob er nicht einen Elektroingenieur einstellen will, wenn Sie im 7. Semester sind, wie Sie sagen, brauchen Sie noch mindestens ein Jahr, bis Sie fertig sind, von daher eilt das nicht so!“
„Ich denke aber schon, dass ich mich langsam bewerben sollte, ich glaube nicht, dass es noch zu früh dafür ist.“
„Also ich werde morgen früh einmal in meinem alten Büro anrufen, wenn Ihnen das recht ist und dort nachfragen!“, sagte Fiete.
„Woher stammen Sie eigentlich gebürtig?, fragte Clarissa und Brigitte antwortete, dass sie beide aus Braunschweig stammten.
Als Clarissa das hörte, sagte sie sofort:
„Braunschweig ist auch meine Heimatstadt, wie klein doch die Welt ist!“
Gegen 23.00 h machten sie Schluss auf der Terrasse und Clarissa zeigte Brigitte und Herbert ihr Zimmer, danach wünschten sie sich eine angenehme Nachtruhe und gingen in ihre Betten. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag um 8.00 h zum Frühstück. Fiete kochte am nächsten Morgen Kaffee und holte Brötchen, er hatte auch den „Weser Kurier“ mitgebracht und wollte ihn ausgiebig lesen, wenn die beiden wieder abgereist wären. Brigitte und Herbert hatten sich umgezogen und sahen beide sehr propper aus, so wie junge Leute eben aussehen, wenn sie noch nicht vom Ernst des Lebens tangiert worden sind. Nach einer Stunde sagte Clarissa;
„So, meine liebe Brigitte, wir beide gehen jetzt zum Notar!“, und sie standen auf und verabschiedeten sich bis zum Mittag. Fiete griff zum Telefon und rief Szymon in Osterholz-Scharmbeck an, um ihm von Herbert zu erzählen. Szymon sagte, dass sich der junge Mann innerhalb der nächsten 3 Monate einmal bei ihm vorstellen sollte, er sollte ihm vorab online seine Vita schicken. Herbert dankte Fiete für seinen Einsatz und freute sich, erste Schritte in Richtung Berufsanfang unternommen zu haben. Fiete und er setzten sich auf die Terrasse und tranken Kaffee so lange, wie die beiden Frauen unterwegs waren. Jeder hatte ein Stück Zeitung vor der Nase und las, Fiete brachte das Gespräch auf TTIP und CETA und Herbert war sofort auf der Palme, als er davon hörte:
„Wir haben in Hannover in Studentenkreisen gegen beide Abkommen demonstriert, weil sie die Stellung des Konsumenten herabsetzen und völlig im Geheimen ausgehandelt wurden, ich denke, dass über Jahre hinweg erstrittene Verbraucherrechte nicht einfach so vom Tisch gewischt werden können.“ In diesem Augenblick kamen Clarissa und Brigitte zurück, und sie waren erfolgreich.
„Darf ich Euch die neue Praxisinhaberin vorstellen?“, sagte Clarissa zu Herbert und Fiete. Clarissa ging in die Küche, holte eine Flasche Sekt und vier Gläser. Fiete öffnete die Sektflasche und schenkte jedem sein Glas voll. Danach stießen sie alle miteinander an und Clarissa sagte zu Brigitte:
„Möge Ihnen der Praxisdienst genauso viel Spaß machen, wie er mir bereitet hat, viel Glück für Ihre Arbeit hier in Worpswede!“ Die beiden bedankten sich bei Clarissa und Fiete für deren freundliche Unterstützung und Hilfe und begaben sich zu ihrem Auto, um nach Hannover zurückzufahren. Clarissa und Fiete standen draußen und winkten den beiden, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Danach gingen sie ins Haus und Clarissa nahm ihren Praxisdienst auf, den sie mit einem halben Tag Verzögerung beginnen ließ. Fiete legte sich mit Kaffee und „Weser Kurier“ auf die Terrasse und vertiefte sich in dem Artikel zu TTIP und CETA, und je mehr er darüber las, desto mehr musste er Herbert Recht geben. TTIP und CETA waren Dinge, um die sich Fiete nicht hatte kümmern können, als er noch arbeitete, und er stellte allgemein fest, dass ihm doch viel an Wissen um die politischen Ereignisse um in herum fehlte. So auch der zunehmende Rechtsextremismus und das Aufblühen der AfD, die ihm Sorgen machten. Er fragte sich, wie Rechtsextremismus entstehen konnte, und wer sich von den Hassdemonstranten vereinnahmen ließ. Wenn er an sein Wohnumfeld dachte, Worpswede also, so sind ihm Rechtsextreme noch gar nicht aufgefallen, in Bremen sah die Sache anders aus. Rechtsradikalismus war wieder salonfähig geworden, das war es, was Fiete ein wenig Angst bereitete, und genau dieser Aspekt wurde auch in einem Kommentar im „Weser Kurier“ aufgegriffen.
Der Kommentar glaubte sich zwar zu der Aussage bewegen zu dürfen, dass Rechtsextremismus mit niedrigem Bildungsstand korrelierte, aber das hatte Fiete immer schon vermutet und auch die Ausländerfeindlichkeit damit in Verbindung gebracht. Immer, wenn er auf Baustellen mit ausländischen Beschäftigten zu tun hatte, kam er gleich mit ihnen klar, sicher, es gab Sprachschwierigkeiten, die ließen sich aber durch Zeichensprache oder Ähnliches beheben, wenn sich beide Seiten bemühten. Ansonsten hatte er keinen Kontakt zu Ausländern, wie sollte er auch, nach Feierabend war er immer zu Hause und nie weggegangen, es bestand gar nicht die Möglichkeit, mit Ausländern in Kontakt zu kommen. Er schloss die Augen und döste für eine halbe Stunde ein, und als er wieder wach geworden war, ging er in die Küche und machte für Clarissa und sich eine Pizza auf dem Backblech. Den Teig hatte er im Supermarkt besorgt, und er rollte ihn auf dem Blech aus. Alles Weitere klaubte er aus dem Kühlschrank zusammen und legte es auf den Tomatenjus und den Streukäse, die er zuerst auf den Teig gegeben hatte. Er schob das Blech für eine Dreiviertelstunde in den Backofen, und Clarissa erschien just zeitgleich mit dem Ende der Backzeit.
„Na, wie war Dein Arbeitstag so, hast Du viel Stress gehabt?“, fragte Fiete und Clarissa antwortete:
„Heute hatte ich keinen Außentermin und nur mit meinen Patienten in der Praxis zu tun, aber unter denen gibt es eben solche, die mich als ihre Psychotherapeutin ansehen, wie Du weißt, und das erfordert schon einen gewissen Einsatz, und was hast Du heute so gemacht?“
Fiete setzte sich mit Clarissa zum Essen auf die Terrasse und berichtete welche Gedanken ihn so umgetrieben hatten. Er wäre im „Weser Kurier“ auf den Rechtsradikalismus gestoßen und ihm wäre erst über die Zeitungslektüre klar geworden, dass der in Deutschland inzwischen ein ernstes Problem ist.
„Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit gehen Hand in Hand und sind in Deutschland schon länger ein Problem. Besonders seit die deutsche Bundeskanzlerin die Grenzen für die Ausländer geöffnet hat, leben bei uns mehr als eine Million Ausländer unter zum Teil schlechten Bedingungen“, sagte Clarissa.
„Clarissa, ich habe mir überlegt, dass wir, wo wir doch im nächsten Monat Rentner sind, ein Ausländerpaar mit seinen Kindern aufnehmen könnten, Platz genug haben wir doch im Haus!“
Clarissa starrte Fiete an, und Fiete war sich mit einem Mal sehr unsicher. Dann aber sagte Clarissa:
„Unten an der Hamme sind Ausländer in Zelten untergebracht, lass uns dorthin gehen und mit ihnen sprechen. Vielleicht kommen wir auf diese Weise schon in Kontakt zu einem Ausländerpaar und können es mit seinen Kindern aufnehmen.“ Fiete sagte:
„Lass und bis Samstag warten, dann hast Du doch mehr Zeit, und wir können lange Zeit an der Hamme verbringen!“ Sie unterhielten sich an diesem Abend über ihre Beweggründe, Ausländer aufzunehmen und Clarissa sagte gleich;
„Ich finde, dass jeder, der Zeit und Platz bei sich hat, geradezu verpflichtet ist Ausländer bei sich aufzunehmen und sie verstehen zu lassen, was Gastfreundschaft bedeutet!“
„Ich sehe das ganz ähnlich, glaube aber auch, dass wir unser Gewissen damit besänftigen wollen. Wenn man aber damit jemandem hilft, der in existenzieller Not ist, spielt das eigentlich keine Rolle!“, sagte Fiete.
„Wir müssen uns mit ihnen verständigen können, das heißt, dass sie Englisch sprechen können müssten!“, meinte Clarissa und Fiete ergänzte:
„Wir bringen ihnen dann nach und nach Deutsch bei.“ Die Gemeinde Worpswede hatte an der Hamme Zelte errichten lassen, in denen Flüchtlinge für eine Übergangszeit untergebracht waren. Sie mussten sich dort mit dem Nötigsten behelfen, konnten aber froh sein, untergekommen zu sein. Die Flüchtlinge wurden von Gemeindemitarbeitern und dem Roten Kreuz betreut. Als Clarissa und Fiete am Samstagmorgen dort eintrafen, versuchten sie gleich, den Eindruck zu vermeiden, sie wären gekommen, um mal zu gucken. So ganz schafften sie das nicht, denn sie wurden von den Flüchtlingen beäugt. Clarissa und Fiete blickten in leere Gesichter, nur die Kinder rannten fröhlich zwischen den Zelten herum, und sie betrachteten neugierig den Lagerbesuch. Clarissa streichelte den Kopf eines der Kinder und hörte aus dem Hintergrund, wie die Mutter den Namen des Kindes rief:
„Tarik, Tarik...“, und mehr verstand sie nicht, weil die Worte in einer für sie fremden Sprache gesprochen wurden. Clarissa riskierte einen Blick in das Zelt, es war eine Art Mannschaftszelt, und sie hatte nicht den Eindruck, irgendjemandes Intimsphäre zu verletzen. Es saßen ungefähr zwanzig Männer und Frauen auf Feldbetten, zwischen denen die kleineren Kinder herumliefen, die offensichtlich Gefallen an der Unterbringung fanden. Clarissa und Fiete sahen, wie Tarik zu seiner Mutter gelaufen war, die ihm einen Schluck Wasser aus einer Sprudelflasche gab. Die Mutter schaute Clarissa und Fiete an und sagte:
„Excuse me for the circumstances, but we are refugees!“