Читать книгу Clarissa und Fiete III - Hans Müller-Jüngst - Страница 3
Berufsstart
ОглавлениеClarissa und Fiete absolvierten ihr Studium fast zur gleichen Zeit, Fiete hatte noch ein Kolloquium vor sich, als Clarissa ihr Examen schon in der Tasche hatte. Bei Clarissa war während des Studiums der Wunsch gereift, im Anschluss an ihr Examen eine Doktorarbeit zu schreiben, sie hatte ein gutes Examen gemacht, sodass sie schnell einen Doktorvater fand, sie würde weitere zwei Jahre brauchen, bis sie ihren Doktor hätte. Fiete hatte auch einen guten Abschluss gemacht und kurze Zeit überlegt, auch seinen Doktor zu machen, den Gedanken aber wieder fallen gelassen, zumal er in Elektrotechnik mit zwei Jahren ganz sicher nicht hingekommen wäre.
Sie waren beide glücklich über ihren Studienabschluss und gaben in ihrer Wohnung eine Party, zu der sie alle Bekannten einluden, auch Hedda und Hauke und Frauke und Thomas, die beiden Paare existierten immer noch und waren glücklich miteinander, auch seinen Bruder Jan und Clarissas Schwester Isolde hatte Fiete eingeladen. Hedda und Hauke waren auch in Hannover und studierten Lehramt für die Sekundarstufe II, Frauke und Thomas waren beide in Bremen und studierten irgendwelche technischen Studiengänge. Die Party war sehr lustig, jeder hatte etwas zu essen mitgebracht, das Übliche eben, Kartoffel-, Reis- und Nudelsalat, Frikadellen und tolle Nachtische von Tiramisu bis Panna Cotta, es gab natürlich auch Alkohol, nicht nur Bier, man trank auch Wein und Cocktails. Zu vorgerückter Stunde wurde auch getanzt, aber alle merkten, dass sie zu laut wurden, nicht, dass sich die Nachbarn beschwert hätten, die hatten Clarissa und Fiete vorher informiert, unter der Lautstärke litten einfach die Gespräche, die man miteinander führen wollte. Viele der Partygäste standen im Examen oder hatten auch gerade ihren Abschluss gemacht, für sie gab es jedenfalls auch einen Grund zu feiern. Hedda und Hauke wollten nach ihrem Ersten Staatsexamen eine Referendariatsstelle am gleichen Studienseminar antreten, deshalb wollten sie vorher heiraten, damit ihre Chance, an einen gemeinsamen Ausbildungsort zu kommen, stieg.
Clarissa und Fiete wären selbstverständlich zur Hochzeit eingeladen und könnte sich schon einmal nach einem Geschenk umsehen, sagte Hauke, er schätzte, dass die Hochzeit innerhalb der nächsten sechs Wochen stattfände. Für alle Hochschulabsolventen stellte sich die Aufgabe, sich nach einem Job umzusehen, für Fiete bot es sich an, zumindest für eine Übergangszeit zu E.ON zu gehen, er müsste weiterhin Geldeinkünfte haben, sein BAFöG liefe zum nächsten Ersten aus. Fiete wusste, dass der E.ON-Konzern nicht unumstritten war, er betrieb zusammen mit Vattenfall Kernkraftwerke und ging damit offensiv an die Öffentlichkeit. Kernkraftwerke wie „Krümel“ und „Brokdorf“ waren alt und hatten schon eine Menge an Störfällen zu verzeichnen, die vor der öffentlichen Kontrolle durch die Medien allerdings weitestgehend verborgen geblieben waren. Die vor nicht allzu langer Zeit vom Bundeskabinett beschlossene Laufzeitverlängerung stieß bei vielen sauer auf, sie war im Grunde unverantwortlich, niemand machte sich doch wirklich klar, was ein GAU in Deutschland bedeutet hätte, der große Unfall in Tschernobyl im Jahre 1986 war längst vergessen. Fiete würde gegen die Machtinteressen der Konzerngiganten vorzugehen versuchen, wenngleich er wusste, dass seine Möglichkeiten als Einzelner da eher beschränkt waren. Er wollte bei E.ON ja auch nur temporär beschäftigt sein, um sich finanziell über Wasser halten zu können.
Er sprach am Folgetag einfach bei einem relativ untergeordneten Mitarbeiter von E.ON vor und bekam tatsächlich einen Job.
„Sie müssen in einer Arbeitsgruppe, die mit der publikumswirksamen Veröffentlichung von Aktivitäten im Bereich Windenergie zu tun hat, die Computerarbeit erledigen“, sagte man ihm dort. Der Job war auf zwei Monate begrenzt, man hatte Fiete in Aussicht gestellt, dass man ihn nach Ablauf dieser Zeit möglicherweise eine unbefristete Anstellung geben würde, man war von seinem Examen sehr angetan. Clarissa stieg später in ihr Promotionsstudium ein, sie bekam eine halbe Stelle als Assistentin und musste in der Woche ein Seminar halten, dafür bekam sie 1400 Euro brutto, die zwar keine Riesensumme waren, sie kamen zusammen aber auf 2300 Euro nach Abzug aller Abgaben. Sie waren es ja über Jahre hinweg gewohnt gewesen, mit wenig Geld auszukommen. Fiete wurde während seiner Tätigkeit bei E.ON von vornherein klar, dass seine und die Arbeit des Teams, in dem er arbeitete, nur dazu herhalten sollte, E.ON in der Öffentlichkeit reinzuwaschen und als sauberen Energiekonzern erscheinen zu lassen. Auf der Windenergie wurde neben der Sonnenenergie gerade herumgeritten, die Windkraftwerke, die in Offshore-Parks in der Nordsee gebaut worden waren, waren die Vorzeigeobjekte der Republik, es wurde mit Windenergie in Deutschland gerade so viel Strom erzeugt, dass er sieben Prozent des Bruttostromverbrauchs deckte.
Fiete war von Anfang an nicht ganz wohl in seiner Haut, als er in seinem Arbeitsteam die Werbetrommel für E.ON rühren sollte, er wusste, dass E.ON einen großen Teil seiner Umsätze aus dem Betrieb von Kernkraftwerken realisierte, und Kernkraftwerke hatten in weiten Teilen der Bevölkerung zu Recht keine Lobby. Sie suggerierten eine Sicherheit und Sauberkeit bei der Energiegewinnung, die so nicht existierte. Hauptkritikpunkt an der Stromerzeugung aus Kernenergie war, neben den immer wieder auftretenden Störfällen, deren Erscheinen kaum einmal veröffentlicht wurde, vor allem die Entsorgung der abgebrannten Brennstäbe und sonstigen Atommülls. Die Diskussion um mögliche Endlager für radioaktive Abfälle in einem Salzstock bei Gorleben war immer noch in vollem Gang und erhitzte die Gemüter besonders der direkt Betroffenen, es gab immer wieder Demonstrationen gegen die Verfrachtung von Atommüll nach Gorleben, sei es nun gegen die Atommülltransporte vom nordfranzösischen La Hague oder sei es gegen die Lagerung anderen Atommülls. Fiete machte in seiner Arbeitsgruppe keinen Hehl aus seiner Haltung, er hatte seine Mitarbeiter im Prinzip auf seiner Seite, die rührten sich aber nicht aus Angst um ihren Job. Clarissa und Fiete fuhren nur noch selten nach Süderland, der Heimatinsel Fietes, und wenn, nahmen sie sich einige Tage Zeit, um einen Kurzurlaub dort zu verbringen.
Sie hatten immer noch kein Auto, weil der Unterhalt eines Autos einfach zu teuer war, sie fuhren mit dem Zug bis Nordhafen, das war erschwinglich und ausgesprochen bequem. Clarissa hatte Semesterferien und löste sich für eineinhalb Wochen von ihrer Dissertation, wie auch Fiete zwei Wochen Urlaub genommen hatte, das Wetter war herrlich es war sommerlich warm. Sie fuhren nach Braunschweig, um zusammen mit Clarissas Eltern und Isolde, die sich in einem Lehramtsstudium befand und einen netten Kommilitonen zum Freund hatte, nach Süderland zu reisen. Da sie sechs Personen waren, käme eine Fahrt mit einem Kleinbus für alle am günstigsten, so die Überlegung, sie liehen sich also in Braunschweig einen Kleinbus, packten ihr Gepäck hinein und fuhren mit ihm nach Nordhafen, wo sie auf dem Riesenparkplatz parkten, wie sie das früher schon immer getan hatten. Sie liefen zur Fähre und sahen, dass die „Süderland I“ inzwischen ein modernes Fahrgastschiff geworden war, sie gingen an Bord und gesellten sich zu einer immensen Fülle an Touristen, die alle auf Süderland Urlaub machen wollten. Clarissa musste daran denken, wie sie vor nunmehr zwölf Jahren das erste Mal nach Süderland gekommen war, damals war sie als Kind mit ihren Eltern dorthin gefahren, ihre Schwester Isolde und sie waren ganz begeistert von dem Gedanken, zur Nordsee zu fahren und hatten sich die Insel Süderland ausgesucht. Das war der schönste Urlaub, den die Kinder bis dahin in ihrem Leben gemacht hatten, und auch ihre Eltern waren sehr angetan von dem erholsamen Urlaub.
Clarissa hatte damals Fiete kennen gelernt und war seit dem mit ihm zusammen. Eigentlich war eine Beziehung, die vom Kindesalter an bestand, ungewöhnlich, die Beziehung von Clarissa und Fiete war aber immer fester geworden. Auch als sie nach Jahren zusammenzogen, tat das ihrer Beziehung keinen Abbruch, im Gegenteil, sie liebten sich, als hätten sie sich gerade erst vor Kurzem kennen gelernt. Isolde und Jasper, wie ihr Freund hieß, waren erst seit einem Jahr zusammen und hatten sich an der Hochschule getroffen, sie waren wie ein frisch verliebtes Pärchen und drückten und küssten sich, wo sie nur konnten. Am Anleger auf Süderland stiegen sie alle in das Inselbähnchen, das mittlerweile auch durch einen modernen Kleinzug ersetzt worden war und fuhren zum Inselbahnhof. Clarissa und Fiete liefen vor zum Kleen-Haus, Frau Kleen stand schon in der Haustür, um die ganze Reisegruppe willkommen zu heißen, sie war alt geworden, ihr Haar war vollständig ergraut. Sie hätte ihre Haare färben lassen können, wie das viele Frauen im reiferen Alter taten, Frau Kleen dachte aber nicht daran, sie wollte das Alter in Würde leben und trug ihre grauen Haare mit Stolz, als wären sie der Lohn für ihr arbeitsreiches Leben.
Nach der Begrüßung gingen alle ins Haus und trafen in der Stube Herrn Kleen und Oma Stevens, Herr Kleen war siebzig Jahre alt und bewegte sich nur noch, wenn es unbedingt sein musste, oder wenn er seine krankengymnastischen Übungen machen musste, die ihm nach seiner Rückenoperation verordnet worden waren, bei welcher ihm der untere Teil der Wirbelsäule versteift worden war. Aber zur Begrüßung seiner Gäste stand er auf und umarmte die Bubenhäusers und seinen Sohn Fiete, er freute sich, alle zu sehen und forderte sie auf, sich zu setzen. Oma Stevens gab allen die Hand, sie kannte die Bubenhäusers natürlich aus den vergangenen zwölf Jahren, in denen sie jedes Jahr zum Urlaub nach Süderland gekommen waren. Sie ging inzwischen an einem Rollator, mit dem sie gut zurechtkam, sie setzte sich gelegentlich sogar auf die kleine Fläche, die er bot.
„Mit dem Schlafen müsst Ihr Euch ein wenig behelfen“, sagte Frau Kleen, „das wird aber schon gehen, für die Zeit Eures Inselaufenthaltes wird Oma Stevens eines ihrer beiden Zimmer erübrigen, Isolde und Jasper können im früheren Kindergästezimmer schlafen, Clarissa und Fiete schlafen in Fietes Zimmer und die alten Bubenhäusers auf der Klappcouch im Wohnzimmer.“ Herr Bubenhäuser war seit drei Jahren Pensionär und genoss, genau wie auch Herr Kleen, seinen Ruhestand. Er und seine Frau hatten viel Zeit füreinander und fuhren oft in die Stadt, Herr Bubenhäuser war Mitglied im Heimat- und Verkehrsverein geworden und nahm die ihm damit übertragenen Aufgaben gewissenhaft war, er hatte mit Öffentlichkeitsarbeit zu tun und hielt gelegentlich Vorträge zu den Sehenswürdigkeiten Braunschweigs vor geladenem Publikum.
Frau Bubenhäuser und Isolde halfen Frau Kleen beim Kaffeekochen, Clarissa und Fiete gingen zu Lorenzen und holten Kuchen und die Freude war riesig, als die beiden den Laden betraten, sie wurden umarmt und auf das Herzlichste begrüßt. Sie mussten bei Lorenzen alles erzählen, was ihnen in der zurückliegenden Zeit widerfahren war. Stolz berichteten sie:
„Wir haben zwei gute Examina hingelegt.“ Clarissa sagte, dass sie sich im Promotionsstudium befand und Fiete eine Anstellung bei E.ON hatte. Sie erzählten, dass sie in den nächsten eineinhalb Wochen immer morgens Brötchen holen kämen und sich schon darauf freuten, das würde sie doch sehr an früher erinnern. Sie nahmen den Kuchen und liefen zurück zu Kleens, wo für alle im Hof der Kaffeetisch gedeckt war, Fiete half seiner Oma hinaus und geleitete sie zu ihrem Platz am Tisch, Clarissa hatte den Kuchen auf den Tisch gestellt, sie hatte bei Lorenzen auch an zwei Stücke Buttercreme mit Schokoladen-Sahne gedacht, ihre Lieblingstorte. Jan war auch zu Hause, er kam aus seinem Zimmer nach draußen und begrüßte die Neuankömmlinge. Er war studienhalber in Bremen gelandet und hatte ein Lehramtsstudium für die Sekundarstufe II aufgenommen, er hatte die Fächer Deutsch und Geschichte belegt und noch mindestens zwei Studienjahre vor der Brust.
Sie saßen zu zehnt etwas beengt an einem Tisch auf dem Hof, es ging aber, sie wollten beim nächsten Mal den zweiten Tisch anstellen, Frau Kleen wollte auch wieder ihre Damasttischdecke auflegen. Das hatte sie früher immer an Clarissas Geburtstagen getan, und das sollte aus Erinnerungsgründen wieder geschehen, wenn sie sich zum Kaffee oder zum Essen in den Hof setzten. Nach dem Kaffeetrinken machten die Alten eine Mittagspause und legten sich für eine Stunde hin, die jungen Leute standen auf und liefen über den Strandweg zum Strand, sie hatten ihre Schuhe ausgezogen und genossen es, wenn ihnen der warme Sand durch die Zehen rann. Oben am „Hotel Süderland“ blieben sie kurz stehen und Isolde erzählte Jasper, dass sie früher am vor ihnen liegenden Strand einen Strandkorb gemietet hatten. Sie liefen auf den Strand, zogen sich aus und gingen ins Wasser, wo sie sich zuerst abkühlten, denn das Nordseewasser blieb immer ziemlich frisch.
Isolde erzählte ihrem Freund:
„Ich habe früher Unmengen an Salzwasser schlucken müssen, bis ich richtig im Wasser war, ich habe mich beinahe übergeben müssen.“ Mittlerweile liefen sie alle durch die Brandung, die sie früher umgehauen und auf den Sandboden geschmettert hatte und schwammen ein Stück nach draußen. Sie achteten auf Quallen, damit sie nicht mit deren Nesselzellen in Berührung kamen. Anschließend legten sie sich auf ihre Handtücher in die Sonne, Clarissa hatte an Sonnencreme gedacht und rieb alle damit ein. So lagen sie eine Dreiviertelstunde und ließen die Ruhe auf sich wirken, es war nicht unbedingt still, man hörte schon das Möwengeschrei und die Brandung, aber es umgab sie alle völlige Stressfreiheit und Ausgeglichenheit.
Vom Stand aus liefen sie über die Promenade ins Dorf, es war schon später Nachmittag geworden, und sie mussten daran denken, langsam wieder nach Hause zu laufen, begrüßten aber noch Anna Barkhusen, die sich riesig freute, sie umarmte Clarissa und Isolde und fragte, wie es ihnen ginge. Auch Anna Barkhusen war alt geworden und wollte ihren Laden in Kürze verkaufen, sie ließ jedenfalls so etwas anklingen.
„Am nächsten Tag kommen wir wieder und werden uns etwas ausführlicher unterhalten“, sagte Fiete und sie gingen zu Kleens zurück. Dort hatte man beschlossen, am Abend im Dorf essen zu gehen, niemand wollte Frau Kleen zumuten, für alle zu kochen, wenn gekocht würde, dann wollten alle mithelfen. Herr Bubenhäuser hatte die Spendierhosen an und wollte alle einladen, sie hatten sich auch schon kundig gemacht, ein neues Restaurant im Dorf angerufen und für zehn Personen reserviert. Das Restaurant hieß „Der Deichgraf“ und hatte auf der Insel einen guten Ruf, es war gut, dass die Alten reserviert hatten, zumal sie zehn Personen waren. Sie setzten sich in den Hof und tranken noch etwas, Isolde erzählte:
„Ich habe am Stand an früher denken müssen, wie ich dort die Tage im Strandkorb verbracht habe.“ Am nächsten Tag wollten Bubenhäusers mit Kleens und vielleicht Oma Stevens auch zum Strand, Fiete, Jasper und Jan wollten Oma mit dem Handwagen den Strandweg entlangziehen, denn mit ihrem Rollator käme sie ja dort nicht entlang. Sie machten sich alle frisch und liefen langsam in Richtung Dorf, der „Deichgraf“ hatte eine schöne Außenterrasse und lag als neu errichtetes Gebäude zwischen Schule und Kirche. Das Haus war in seiner Architektur den übrigen Inselhäusern angepasst und stach nicht besonders hervor, es machte einen gemütlichen Eindruck und überzeugte durch seine einladende Terrasse, von der man einen Blick auf den Dorfplatz und auf Omas altes Haus hatte. Die neuen Wilhelmshavener Besitzer waren gerade da, sie hatten die Kleens und Oma Stevens vor zwei Wochen einmal eingeladen, um ihnen zu zeigen, was aus dem Haus geworden war. Oma Stevens war sehr zufrieden, als sie sah, dass praktisch nur tapeziert und gestrichen, und sonst nichts verändert worden war. Die neuen Besitzer waren sehr nette Menschen, sie waren mitteilsam, sie hatten sich sehr angenehm mit Oma Stevens unterhalten. Im „Deichgrafen“ waren auf der Terrasse alle Tische besetzt, Kleens und Bubenhäusers hatte man zwei Tische aneinander geschoben, damit auch alle zehn Esser Platz hatten. Herr Bubenhäuser winkte den Kellner herbei und der nahm die Getränkebestellung auf, bevor er jedem eine Speisekarte hinlegte.
Clarissa und Fiete schauten auf den Dorfplatz, er lag da wie seit eh und je mit dem Bötchenteich in der Mitte, an dem die Kinder standen und friedlich ihre batteriebetriebenen Schiffchen fahren ließen. Fiete legte seine Hand auf die von Clarissa und drückte sie, er sah ihr in die Augen und Clarissa lächelte ihn an, sie hatte ein so umwerfendes Lächeln wie immer schon, und Fiete war hin und weg. Sie bestellten, mit Ausnahme von Oma Stevens, alle Fleischgerichte, sie nahm die „Fischplatte Deichgraf“, und das Essen wurden kurze Zeit später gebracht. Herr Bubenhäuser stand auf und sagte ein paar Worte, er freute sich sehr, einmal wieder mit seiner Frau auf Süderland mit Kleens und Oma Stevens zusammen zu sein, er erhob sein Glas und stieß auf die Gesundheit aller an. Beim Essen wurde kaum geredet, das Essen war ausgezeichnet, der „Deichgraf“ war eine hervorragende Adresse, sie würden während ihres Inselaufenthaltes mindestens noch einmal zum „Deichgrafen“ gehen, so viel stand fest. Nach dem Essen gingen sie auf einen Verdauungsspaziergang auf die Promenade, wohin sie Oma mit ihrem Rollator begleiten konnte, sie war mit ihrer Gehhilfe ganz gut zu Fuß. Am Kurhaus kehrten sie aber um, nachdem sie eine kurze Zeit aufs Meer geschaut hatten und liefen zu Kleens zurück. Oma war lange nicht am Kurhaus gewesen, in Begleitung von anderen lief sie gern eine Strecke, wurde aber schnell müde und war froh, als sie wieder bei Kleens angekommen waren.
Alle setzten sich noch auf eine Flasche Bier oder ein Glas Wein in den Hof und gingen im Anschluss schlafen, es war zwar erst 22.00 h, sie waren aber müde geworden. Das kannten Clarissa und Isolde noch von früher, zu Beginn früherer Urlaube lagen sie manchmal schon um 21.00 h im Bett, das lag an der Nordsee-Luft, an die man sich immer erst gewöhnen musste, und die einen dermaßen ermüdete, dass man sich eben früh hinlegte. Mit der Zeit gab sich das frühe Schlafengehen wieder, wenn man sich akklimatisiert hatte, aber das dauerte mindestens immer drei Tage. Clarissa und Fiete schiefen schon seit Jahren in Fietes Zimmer, wenn sie auf Süderland waren, Fiete hatte eine „self-inflating“ Isomatte, die er neben sein Bett legte und auf der er schlief, Clarissa schlief in seinem Bett. Manchmal legte sie sich noch eine Weile zusammen ins Bett und kuschelten miteinander, anschließend küssten sie sich und Fiete legte sich auf seine Luftmatratze.. Am Morgen liefen Clarissa und Fiete zu Lorenzen und holten für alle Brötchen, sie wurden freundlich im Laden begrüßt und von Frau Lorenzen mit Schokocroissants beschenkt, sie dankten für die Croissants und liefen zu Kleens zurück. Sie warfen einen Blick in das noch menschenleere Dorf und genossen die Morgenstille und die warme Sonne, sie blieben eine Zeit lang umschlungen stehen und sagten nichts.
Das Frühstück nahmen sie im Hof ein und ließen sich reichlich Zeit damit. Was Bubenhäusers denn mit ihrer vielen Zeit anfingen, fragte Herr Kleen, und sie antworteten, dass sie genug zu tun hätten, er wäre in seiner Vereinsarbeit eingebunden, und sie engagierte sich in einem Seniorenkreis und ging als „grüne Dame“ in die Altenheime, wo sie den Alten vorlas oder für sie einkaufte, sagte Frau Bubenhäuser. Sie stellte immer wieder fest, mit wie wenig Zuwendung die Alten zufrieden wären, und sie lachten sie an, wenn sie erschien. Auf den Pflegestationen gäbe es schlimme Fälle von dementen Alten, die keine Angehörigen hätten, aber selbst wenn sie sie hätten, sie könnten sie wegen ihrer unterschiedlich schweren Demenzerkrankung nicht erkennen und sich mit ihnen unterhalten, sie säßen nur herum und brabbelten vor sich hin, oder sie sängen immer die gleichen tumben Melodien, dabei vollführten sie Nickbewegungen mit ihrem Kopf oder schwankten mit ihrem Körper. Was sie denn so anstellten, fragte Frau Bubenhäuser zurück, und Frau Kleen antwortete, dass sie selten einmal Fahrrad führen, viel öfter aber spazieren gingen und die Oma mitnähmen. Ansonsten läsen sie viel, sie würde stricken, eine Beschäftigung, der sie früher viel häufiger nachgegangen wäre, und die sie wieder aufleben ließe. Oma Stevens sagte, dass sie auch strickte, in letzter Zeit aber an Sehstärke verloren hätte, und das deshalb nur bei sehr guten Lichtverhältnissen täte. Nach dem Frühstück packten alle mit an und räumten das Frühstückgeschirr und die Lebensmittel in die Küche, sie machten sich strandfertig.
Fiete holte den Handwagen vom Hof und stellte ihn vor die Tür, er legte eine Decke auf die Wagenfläche und hob seine Großmutter auf den Wagen, sie war ein Leichtgewicht, wie Fiete fand. Den Rollator ließen sie zu Hause, denn am Strand wäre es nicht möglich, sich mit ihm zu bewegen. Sie liefen alle los Richtung Strandweg und Fiete zog Oma Stevens auf dem Wagen hinter sich her. Auf dem Strandweg packten Jan und Jasper mit an und zogen kräftig an dem Wagen, um ihn durch den tiefen Sand zu befördern, Oma Stevens hielt sich an den Seitenklappen fest. Oben am Hotel war der Untergrund wieder fester und Fiete konnte den Wagen alleine ziehen, er zog ihn bis zur Wasserlinie hinunter, wo der Sand hart war. Frau Bubenhäuser und Frau Kleen breiteten Decken aus und stellten zwei Sonnenschirme auf, unter die sie sich legten, während die jungen Leute wie in alten Zeiten Fietes Ball nahmen, der über die Jahre hinweg erhalten geblieben war und mit ihm ins Wasser rannten. Sie bildeten einen Kreis, wie sie das immer getan hatten, achteten auf Quallen und warfen sich den Ball gegenseitig zu, wobei sie den Kreis immer weiter werden ließen. Oma Stevens sagte:
„Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal am Strand gelegen habe, ich war mit meinem Mann so gut wie nie hier gewesen, es gefällt mir unter den vielen Touristen, vor allem aber unter den vielen Kindern, die ihren Spaß am Strand haben.“ Die jungen Leute gingen wieder aus dem Wasser und trockneten sich ab, sie cremten sich mit Sonnenschutz ein und legte sich zu den Alten. Sie fragten sie:
„Warum wart ihr früher nicht öfter am Strand?“, und die Alten entgegneten:
„Wir waren zu sehr in unsere Arbeit eingebunden gewesen und hatten deshalb keine Zeit dazu gehabt, ich bin immer erst abends von der Fähre nach Hause gekommen“, sagte Herr Kleen, „und dann sind wir nicht noch zum Strand gegangen.“ Oma Stevens wusste gar nicht so recht, was sie antworten sollte, sie sagte:
„Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt einen Badeanzug habe, ich habe meinen Mann in meinem ganzen Leben noch nie in Badehose gesehen. Die ganze Strandkultur hat es früher gar nicht gegeben“, fuhr sie fort, „ein Strandaufenthalt hat viel Freizeit erfordert und Freizeit ist knapp gewesen zumal, als Opa noch als Fischer gearbeitet hat, und danach habe ich mich zu alt gefühlt, um mich an den Strand zu setzen. Wenn ich mich umschaue, sehe ich aber auch Frauen in meinem Alter, vielleicht etwas jünger, da scheint sich doch etwas geändert zu haben.“ Die jungen Leute liefen zum Volleyballnetz und spielten eine Partie, sie nahmen Herrn Bubenhäuser mit, der noch relativ drahtig war und erinnerten sich, wie sie damals mit den Kleinen, gemeint waren Isolde und Jan, gespielt hatten und wie es von den beiden kaum jemand geschafft hatte, den Ball über das Netz zu schlagen, Herr Bubenhäuser hatte dann deren Bälle immer über das Netz verlängert.
Als sie spielten, wurde auf Teufel komm raus geschmettert, Clarissa und Fiete kam es entgegen, dass sie an der Uni spielten. Nach dem Spiel legten sie sich wieder zu den anderen, außer Bubenhäusers hatte von den Alten niemand Badesachen an, sie gingen ins Wasser und hatten viel Spaß dabei. Nach einer weiteren Stunde brachen sie wieder auf und Oma Stevens wurde im Handwagen über die Promenade gezogen, sie genoss es, sich nicht anstrengen zu müssen und blickte die ganze Zeit auf den Strand und das Meer. Manche Spaziergänger drehten sich nach der Urlaubsgruppe um und wunderten sich über das merkwürdige Gefährt, in dem Oma Stevens über die Promenade transportiert wurde, der war das aber völlig egal, und sie war guter Dinge. Am Kurhaus verließen sie die Promenade und bogen ins Dorf ab, kamen am alten Haus von Oma Steves vorbei auf den Dorfplatz und setzten sich vor die Eisdiele, die jungen Leute machten einen Kurzbesuch bei Anna Barkhusen und unterhielten sich mit ihr. Sie hätte viel zu tun, sagte sie und freute sich schon darauf, bald aufhören und ihre Freizeit genießen zu können. Sie wollte viel lesen, wenn sie einmal die Zeit dazu bekäme, das Lesen wäre in den letzten Jahren viel zu kurz bei ihr gekommen, dabei wäre sie früher immer eine Leseratte gewesen.
Die jungen Leute unterhielten sich noch eine ganze Zeit mit ihr, verabschiedeten sich aber danach von Anna Barkhusen und liefen zur Eisdiele rüber. Oma Stevens erzählte von ihrer Zeit als Verkäuferin im Laden von Anna Barkhusen, das wäre allerdings Jahrzehnte her. Die Eisdiele, vor der sie saßen, wäre eine Milchbar gewesen, in der man Milchshakes, meistens Erdbeer- oder Bananenmilch und Milchreis hätte kaufen können, es hätte sogar Schälchen mit Schlagsahne gegeben, die man mit einem Löffel vertilgen konnte. Die jungen Leute bestellten sich schon seit Jahren in der Eisdiele ein großes gemischtes Eis mit Sahne und Krokantsplittern, die Alten überlegten eine Zeit lang, Oma Stevens ließ sich von ihrer Tochter helfen und nahm wie sie ein Spagettieis, Herr Kleen und Herr Bubenhäuser nahmen einen Maracuja-Becher. Oma Stevens blühte in der Eisdiele regelrecht auf, man merkte, dass sie vermutlich noch nie dort ein Eis gegessen hatte, wo sie doch früher nebenan gewohnt hatte. Clarissa und Fiete schlugen vor, am Abend mit allen zu grillen, sie wollten eine richtig schöne Hofrunde veranstalten und dazu singen, und sie riefen damit freudige Zustimmung bei allen hervor. Schnell überlegten sie, was sie alles brauchten und sie teilten das Einkaufen von Fleisch, Holzkohle, Baguettes und Soßen unter sich auf, auch Salat musste gekauft und zubereitet werden.
Den Salat übernahm Frau Kleen, bei der Zubereitung wollten ihr Frau Bubenhäuser, Clarissa und Isolde helfen. Doch zunächst hatten sie mit ihrem Eis zu tun und genossen den Eisverzehr in der warmen Sonne. Herr Kleen regte an, den Getränkebestand, den er zu Hause hatte, aufzustocken, sprich Bier, Wein, Schnaps und Sekt zu kaufen, das müssten Jan und Fiete mit dem Handwagen erledigen, Oma müsste ein Stück rücken. Oma Stevens warf immer mal wieder einen Blick auf ihr altes Haus und fand es unverändert, sie war zufrieden damit, dass das Haus in seinem Äußeren keine Verwandlung erfahren hatte, das Innere wäre natürlich aufgefrischt worden, wie sie sich hatte überzeugen können. Bevor sie nach Hause gingen, kauften sie die Grillsachen ein, das hieß Holzkohle bei Anna Barkhusen, Fleisch beim Metzger, Baguettes bei Lorenzen und Getränke, Soßen und Salat im Supermarkt. Nachdem sie Oma Stevens zu Hause vom Wagen heruntergehoben und ihr ihren Rollator hingestellt hatten, gingen sie in den Hof. Weil Fiete, Jan und Jasper Biertrinker und die jungen Frauen Weintrinkerinnen geworden waren, musste der Getränkebestand regelmäßig aufgefrischt werden. Jan und Fiete holten den Grill aus dem Schuppen und stellten ihn mitten auf den Hof, sie reinigten den Rost gründlich von uralten Grillresten, Fiete nahm dazu eine Drahtbürste, die er in der Werkstatt gefunden hatte. Jasper hackte in der Zwischenzeit Kleinholz, das sie zum Anstecken des Grills benötigten.
Die Frauen saßen am Tisch und zupften den Salat, Clarissa machte eine herzhafte Salatsoße aus Essig, Öl, Salz, Pfeffer und Senf, Oma Stevens schnitt die Baguettes und legte die Scheiben in zwei bereitgestellte Brotkörbe. Fiete nahm alte Zeitung und knüllte sie zusammen, er legte sie auf den Grill und stellte das Kleinholz zeltartig drumherum. Er steckte die Zeitung an und sofort brannte das Papier und auch das trockene Holz. Er gab, nachdem das Feuer lichterloh brannte, einen ganzen Sack Holzkohle darauf und wartete, bis die Holzkohle weißglühend war, erst jetzt schob er den Rost auf den Grill, damit von der Hitze letzte Schmutzspuren vernichtet wurden. Anschließend legte er die Fleischbatzen auf und wendete sie mit der großen Grillgabel. Es dauerte nur kurze Zeit, bis das Fleisch gar war, Fiete legte die Fleischstücke auf eine Platte und stellte sie auf den Tisch. Jeder nahm sich Salat und Baguette und Frau Kleen gab allen Fleisch von der Platte. Immer noch war die Cocktailsoße die begehrteste Soße beim Grillen, sie hatten deshalb zwei Flaschen davon gekauft. Es schmeckte allen und als sie die Fleischstücke aufgegessen hatten, legte Fiete noch Würstchen auf, sie hatten reichlich eingekauft und auch von dem Salat gab es große Mengen. Jasper holte für jeden eine Flasche Bier und Isolde sorgte für Wein. Den Sekt hatten sie für den Essensabschluss aufbewahrt, sie hatten ihn schon gekühlt gekauft, weil sie ihn in der kurzen Zeit nicht hätten herunterkühlen können.
Nachdem jeder, mit Ausnahme von Clarissa und Isolde, noch ein Würstchen und auch noch Salat gegessen hatte, stellte sich ein Sättigungsgefühl ein, und man lehnte sich zurück. Das war der Moment, für den der Sekt vorgesehen war, Clarissa brachte ein Tablett mit zehn Sektgläsern und verteilte sie unter den Leuten am Tisch, anschließend schütteten Fiete und sie jedem ein Glas ein. Fiete hielt es für angebracht, aufzustehen und ein paar Worte zu sagen. Er machte einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit und beschwor die alten Zeiten herauf:
„Ich erinnere mich gut daran, wie ich mit Jan, Clarissa, Isolde und den Jungen aus dem Dorf die ganze Insel unsicher gemacht habe“, und kam danach zur Gegenwart, der er aber auch schöne Seiten abgewinnen konnte.
„Es hat sich vieles verändert, alle sind wir älter geworden, man muss aber sagen, dass sich die Verhältnisse konsolidiert haben, auf Süderland ist alles in die rechten Bahnen gelenkt worden, Clarissa und ich leben in einer stabilen Beziehung miteinander und den alten Kleens, den Bubenhäusers und Oma Stevens geht es auch gut, wie ich sehen kann, haben Isolde und Jasper ein gutes Verhältnis zueinander aufgebaut und Jan ist noch auf der Suche. Ich stoße auf die Gesundheit aller an, ich weiß, dass das eigentlich nur die Alten tun, ich bin sich aber im Klaren darüber, dass es kein wertvolleres Gut gibt!“ Er erhob sein Glas und stieß mit allen an, sie klopften als Anerkennung auf den Tisch und tranken mit Fiete.
Herr Kleen stand auf, auch er wollte ein paar Worte sagen: „Ich möchte betonen wie sich aus der anfänglich noch oberflächlichen Urlaubsbekanntschaft mit Bubenhäusers eine freundschaftliche Beziehung entwickelt hat, meine Frau und ich schätzten beide als Menschen sehr, und wir freuen uns immer wieder, wenn wir mit Euch zusammentreffen, auch ich wünsche allen am Tisch beste Gesundheit und für die Zukunft alles Gute“, dabei sah er die jungen Leute an. Er ging ins Haus und holte die Schnapsflasche, er hatte so viel Schnapsgläschen mit herausgebracht, wie er auf das Tablett stellen konnte und bot jedem eins an. Mit Ausnahme von Clarissa und Isolde nahm jeder einen Schnaps, und sie prosteten sich zu. Längst waren sie wieder bei Bier und Wein angekommen, der Sekt hatte gerade für zwei Gläser pro Person gereicht, mehr Sekt wollte aber auch niemand trinken, die viele Kohlensäure hätten den Bauch nur unnötig aufgebläht. Herr Kleen steckte zwei Gaslampen an, nachdem es so dämmerig geworden war, dass man kaum noch das Gesicht seines Sitznachbarn erkennen konnte, und Frau Kleen bat darum, dass alle mindestens drei Lieder sängen. Sie stimmte an und begann mit „Geh aus mein Herz...“. Oma war in ihrem Element, sie konnte sechs Strophen von dem Lied auswendig, die anderen sangen immer die letzten beiden Zeilen mit, die eine Wiederholung waren, ansonsten summten sie die Melodie.
Es folgte das Lied „Im Frühtau zu Berge...“ und es war wieder Oma, die alle drei Strophen auswendig konnte, wieder sangen die anderen nur den Refrain mit und summten den Rest, und zum Schluss sangen sie „Hohe Tannen weisen die Sterne...“ mit einer solchen Inbrunst, dass man sie fast bis ins Dorf hören konnte. Um 23.00 h begannen die Frauen, den Tisch abzuräumen und die Männer halfen dabei. Fiete löschte die Grillglut mit einem Eimer Wasser, und alle gingen schlafen. Die jungen Leute wollten am nächsten Tag auf alten Spuren über die Insel wandern, das hieß, dass sie zunächst vom Strand aus nach Osterhalen liefen. Am Morgen gingen Clarissa und Fiete wieder zu Lorenzen Brötchen holen und wurden dort sehr herzlich begrüßt, sie mussten erzählen, wie der Grillabend gewesen war und ob ihnen alles geschmeckt hätte und Fiete antwortete:
„Es war alles zu unserer vollsten Zufriedenheit gewesen, und wir haben sehr gutes Fleisch gehabt, aber auch die Baguettes waren toll gewesen“, schleimte er. Draußen fragte Clarissa ihn, warum er so geschleimt hätte, und Fiete antwortete, dass er den Eindruck gehabt hätte, dass man bei Lorenzen so etwas hätte hören wollen. Sie frühstückten wieder im Hof, Fiete stellte mit Jan den Grill in den Schuppen zurück und Clarissa und Isolde brachten für alle Kaffee, nur Isolde trank als Einzige Tee zum Frühstück.
Frau Kleen fragte, ob sie jemandem Rühreier braten sollte, alle winkten ab, ein gekochtes Ei aber, das wollten außer Clarissa und Fiete alle. Sie saßen lange beim Frühstück, als alle fertig gegessen hatten, teilten Herr Bubenhäuser und Herr Kleen sich die „Nordsee Zeitung“ und lasen, gelegentlich gab es einen beiläufigen Kommentar zu einer Meldung, laut dahin gemurmelt, als sollten ihn alle verstehen, aber das war nicht möglich, denn niemand wusste, worum es ging. Die jungen Leute standen auf und verabschiedeten sich zum Strand, sie gingen den Strandweg entlang bis zum Hotel hoch, Isolde erzählte Jasper:
„Wir haben vor über zehn Jahren einmal eine Gruselwanderung über den Strandweg gemacht, sie hat im Dunkeln stattgefunden, und man hat unterwegs unverhofft einen nassen Lappen ins Gesicht bekommen und sich dabei dermaßen erschreckt, dass man fast in die Hose gemacht hat, bis heute weiß niemand so genau, wer die Lappen geworfen hat.“ Alle liefen barfuß und hatten ihre Sandalen in Fietes Rucksack gelegt, der ihn aufgezogen und für jeden ein Trinkpäckchen mitgenommen hatte. Sie liefen den Badestrand nach Osten und kamen nach kurzer Zeit zu den Dünen am Wildstrand. Sie sahen draußen die Sandbank liegen, das Meer umtoste die Sandbank, die Flut gischtete um die kleine Erhebung im Wasser. Sie schauten zurück und sahen das Kurhaus über dem Ende des Badestrandes thronen, es stand mit seinem weißen Gemäuer wie ein Monolith.
Sie liefen weiter den Bogen um das Inselende und kamen zum Strand in Osterhalen, wo sie sich hinsetzten und in der Pause ihre Trinkpäckchen tranken. Isolde erzählte ihrem Freund:
„Vor mehr als zehn Jahren sind wir schon einmal hierher spaziert und haben an der Stelle, an der wir sitzen, einen Heuler gefunden. Clarissa und Fiete haben dafür gesorgt, dass der Kleine zur Seehundaufzuchtstation nach Friedrichsdorf gekommen ist, wir sind auch bei seiner Auswilderung einige Monate später dabei gewesen.“ Zwischen den Strandhaferbüscheln hatte sich Kleinmüll angesammelt, der von in der Ferne vorbeifahrenden Schiffen stammte, Clarissa erzählte, dass sie damals den Müll gesammelt und in dem Großcontainer im Dorf entsorgt hätten. Vögel würden zum Teil den Kleinmüll verschlucken und anschließend an Darmverschlingung sterben. Sie blickten zur Seehundbank hinüber und konnten sehen, dass dort eine Menge los war, Clarissa schrieb ihre Doktorarbeit über Seehunde, genauer gesagt, über die Ausbreitung von Krankheitserregern bei ihnen und deren Bekämpfung. Fiete hatte das Glas von seinem Vater dabei und ließ es herumgehen, alle beobachteten die Seehunde auf der Bank und sahen, wie sie faul in der Sonne lagen, daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert, man konnte sogar Junge sehen, die an den Zitzen ihrer Mütter tranken. In Osterhalen hielten sich am Strand auch viele Vögel auf, die sie aufgeschreckt hatten, sie brüteten aber in den Salzwiesen am Flugplatz, wohin sie später noch gelangten.
Es herrschte gerade Flut und das Wasser zwischen der Insel und der Seehundbank war mächtig in Bewegung, der an dieser Stelle der Insel doch recht starke Wind peitschte die Wellen hoch. Fiete erzählte Jasper:
„In der Rinne liegen einige gekenterte Fischerboote, deren Wracks nicht geborgen worden sind, die Fischer haben früher bei Sturm die Abkürzung durch die Rinne genommen und sind dort auf Grund gelaufen.“ Die Meereswellen liefen in langen Zungen am Strand aus, das Meer war aufgewühlt und die Vögel hatten Schwierigkeiten, sich in dem Wind über dem Wasser zu halten. Clarissa, Isolde, Jasper, Jan und Fiete liefen weiter, Jasper fragte nach den Ausmaßen der Insel und Isolde antwortete ihm:
„Süderland ist zehn Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle zwei Kilometer breit.“ Sie liefen um die Südostecke der Insel und konnten die Rollbahn des Flugplatzes sehen. Isolde berichtete Jasper, wie sie vor beinahe zwölf Jahren auf der Rollbahn den Inseldieb Korten alias Kleppmann dingfest gemacht hätten, und Jasper staunte:
„Ihr seid doch noch Kinder gewesen!“ Sie erreichten auf der anderen Seite der Rollbahn, auf der Südseite der Insel, die Salzwiesen und sahen gewaltige Vogelschwärme, Clarissa und Isolde erinnerten sich, dass man sich vor den Angriffen der Lachmöwen in Acht nehmen musste, und Fiete sagte auch gleich, dass sich alle auf sein Kommando hinlegen und die Hände schützend über den Kopf halten sollten.
Vorsichtig liefen sie an den Salzwiesen entlang und sahen brütende Möwen, Seeschwalben und Austernfischer. Als sie das Ende der Salzwiesen erreicht hatten, rief Fiete plötzlich „hinlegen!“, und alle warfen sie sich in den Sand, die Hände über ihren Köpfen. Drei Lachmöwen flogen Angriffe auf sie und stürzten auf sie herab, wenn man sich nicht schützte, hackten sie einem mit ihren Schnäbeln in den Kopf. Als die Attacke vorüber war, sprangen alle auf und rannten Fiete hinterher, der an der Wasserlinie entlang stürmte und nach ungefähr hundert Metern stehenblieb. Außer Atem schlossen alle zu Fiete auf und schauten zurück zu den Vogelschwärmen, die sich wieder beruhigt hatten. Sie kamen langsam wieder zu Atem und liefen anschließend in Höhe von „Schüle´s Gasthaus“ ins Dorf, sie kamen an Peter Hansens Fahrradladen vorbei und gelangten zur Schule, bevor sie auf den Dorfplatz liefen und sich dort hinsetzten. Fiete sagte, dass Clarissa, Isolde und Jasper sich keine Räder zu leihen brauchten, wenn sie am Abend eine Tour machten, könnten sie die Räder seiner Eltern und das von Oma Stevens benutzen, nur wenn sie alle zur „Domäne Schlüter´s“ führen, müssten sie überlegen, aber vielleicht könnten sie sich ja auch ein Pferdefuhrwerk leihen! Sie schauten zu Anna Barkhusens Laden, sie hatte gerade Mittagspause und sie setzten sich vor die Eisdiele, alle bestellten das Übliche, gemischtes Eis mit Sahne und Krokantsplittern.
Der Gedanke an ein Pferdefuhrwerk beschäftigte Fiete, das hätten die Alten auch lieber, als mit dem Rad zur „Domäne“ zu fahren, und Oma könnte ohnehin kein Fahrrad fahren. Fiete beschloss, im Anschluss zur Pferdestation zu gehen und dort nachzufragen, ob er für den nächsten Nachmittag ein Fuhrwerk für zehn Personen leihen könnte. Sie aßen ihr Eis und liefen hinterher zur Pferdestation, dort trafen sie den Besitzer, einen alten Inselbewohner an, er organisierte Kutschfahrten aller Art und war mit seinen Fuhrwerken auch für den Transport von Personen vom Flugplatz zu deren Bestimmungsort zuständig. Fiete ging auf ihn zu und fragte:
„Kann ich mir bei ihnen ein Fuhrwerk für einen Nachmittag leihen?“, und der alte Mann sagte, dass das kein Problem wäre. Als Fiete ihm die Personenzahl nannte, meinte der Alte:
„Du brauchst ein Fuhrwerk, das von einem starken Pferd gezogen wird!“, und er zeigte Fiete einen großen Wagen, auf dem sie alle Platz hätten.
„Ich werde für dich meinen Friesen einspannen“, sagte er „und dir am nächsten Tag eine Kurzeinweisung geben, du kannst anschließend sofort losfahren!“ Fiete dankte ihm, über den Preis müssten sie noch verhandeln, aber sie würden sich schon einig werden, sagte der Alte.
Die jungen Leute gingen wieder zu Kleens und beschlossen, noch einmal zum Strand zu gehen, sie wollten sich noch für zwei Stunden dort aufhalten. Die alten Kleens, Bubenhäusers und auch Oma Stevens saßen bei einer Tasse Kaffee im Hof und wollten von ihnen hören, wie es auf ihrer Wanderung gewesen wäre. Fiete erstattete kurz Bericht, die jungen Frauen sagten, das alles noch so wäre wie vor über zehn Jahren, sie hätte ihre Wanderung sehr schön gefunden, sie wollten am nächsten Morgen nach Westerhalen laufen. Clarissa und Isolde verrieten nichts von ihrem Nachmittagsvorhaben, Fiete hatte sie angesehen und einen ernsten Blick aufgesetzt, sie wussten gleich, was er damit zum Ausdruck bringen wollte und sagten nichts. Sie liefen auf ihre Zimmer und holte ihre Schwimmsachen, Fiete nahm seinen Ball mit zum Strand. Als sie auf den Strandweg liefen, stand die heiße Luft im Windschatten der Dünen, die Luft war beinahe zu heiß, um sie einzuatmen, der Duft der Hagebutten und der Heckenrosen konnte sich voll entfalten. Auf dem Strand rissen sie sich die Kleidung vom Leib und zogen sich ihr Badezeug an, sie rannten ins Wasser und genossen die Erfrischung. Sie bildeten sofort einen großen Kreis und warfen sich Fietes Ball zu, sie ließen den Kreis immer größer werden und legten sich nach einer Zeit in die Sonne. Fiete sagte, dass er sich schon auf die Gesichter der Alten freute, wenn er am nächsten Tag mit dem Pferdefuhrwerk vor dem Haus stünde, er glaubte, dass sie sich darüber freuten, mit ihm zur „Domäne Schlüter´s“ zu fahren und dabei gemütlich auf dem Wagen sitzen zu können.
Sie gingen alle noch einmal ins Wasser und tollten herum, bevor sie ihre Sachen nahmen und wieder zu Kleens liefen. Sie hängten ihre nassen Badesachen über die im Hof gespannte Leine und setzten sich zu den Alten an die beiden Tische, die sie inzwischen zusammengeschoben hatten. Frau Kleen hatte ihre Damasttischdecke aufgelegt. Sie sagte, dass sie zusammen mit Frau Bubenhäuser Kartoffelsalat machen wollte, Clarissa und Fiete sollten doch noch einmal ins Dorf laufen und ausreichend Würstchen kaufen. Also nahmen die beiden den Handwagen und liefen zum Supermarkt, sie wollten auch noch eine Kiste Bier mitnehmen. Auf dem Rückweg hielten sie sich an der Hand und Fiete zog den Wagen, sie schauten sich an, und Clarissa lächelte Fiete ins Gesicht, das war ein Lächeln, wie es Steine erweichen konnte, Fiete schmolz dahin. Im Hof waren mittlerweile von Isolde, Jasper und Jan die Tische gedeckt worden und alle saßen, bis auf Frau Kleen und Frau Bubenhäuser die in der Küche mit dem Kartoffelsalat beschäftigt waren. Clarissa lief mit den Würstchen zu ihnen und schüttete sie in einen großen Topf, wo sie sie eine Zeit lang ziehen ließ. Fiete kümmerte sich um das Bier und legte davon reichlich in den Kühlschrank, sein Vater hatte schon am Nachmittag den Kühlschrank aufgefüllt und auch Wein hineingestellt.
Frau Kleen und Frau Bubenhäuser kamen mit dem Kartoffelsalat heraus, Clarissa hatte die Würstchen auf eine Schale gelegt und auf die Tische gebracht. Der Kartoffelsalat war hervorragend und hatte aus unerklärlichen Gründen in den letzten Jahren völlig an Beachtung verloren, es gab kaum noch jemanden, der ihn aß, vielleicht war er vielen zu mächtig. Frau Kleen hatte die Majonäse selbst hergestellt und ihre eigene Rezeptur für den Salat, Frau Bubenhäuser steuerte ihre Rezeptur bei. Als jeder davon probiert hatte, gab es allgemeines Lob und die beiden Damen fühlten sich geschmeichelt, Fiete goss den Frauen Wein ein und prostete allen zu, sein Vater sagte laut „guten Appetit!“, und sie begannen, ruhig vor sich hin zu essen. Die Kartoffelsalatmenge hätte vielleicht für weitere zehn Personen ausgereicht, als jeder zweimal genommen hatte, war es genug, mehr schaffte niemand, Frau Kleen wollte den restlichen Kartoffelsalat verwahren und später noch einmal servieren. Nach dem Essen wurde wieder gesungen, das Singen hatte bei Kleens Tradition, nicht nur zu Weihnachten wurde gesungen, sondern auch zu allen möglichen Treffen, Frau Kleen tat sich dabei immer besonders hervor, sie hatte das von ihrer Mutter, die für ihr Leben gerne sang und die Strophen fast aller gängigen Lieder kannte. Herr Kleen summte seit jeher die Melodien mit und setzte beim Refrain immer ein, wie es auch die anderen taten, er kannte die Liedtexte nicht, obwohl sie ihm schon x-mal vorgesungen worden waren.
Sie unterhielten sich an dem Abend noch lange über alles Mögliche, Herr Kleen hatte die Gaslampen angemacht, der Abend war angenehm, es wehte ein sanfter Wind und es war warm. Um 23.30 h gingen sie alle ins Bett, in jedem Zimmer standen die Fenster sperrangelweit offen, die würzige Seeluft sorgte für einen tiefen Schlaf.
Am Morgen pumpte Fiete die Räder seiner Eltern und das von Oma auf, sie fuhren nach dem Frühstück zum Fähranleger und setzten sich auf die Bohlen. Wie oft hatten sie in den vergangenen zehn Jahren dort gesessen, früher hatten sie dort „Stadt, Land, Fluss“-Runden gespielt oder geangelt. Sie saßen und schauten über das Watt, in der Ferne konnten sie die „Süderland I“ sehen, ein besonderes Fahrgastschiff, das ganz weiß war und elegant aussah. Sie redeten nicht viel, sondern ließen sich den Wind um die Nase wehen, jeder war in sich gekehrt und genoss den Blick über das Watt. Sie standen wieder auf und liefen zu ihren Rädern, stiegen auf und fuhren nach Westerhalen, wo sie sich an den Wildstrand setzten und nach Kerstholm hinüberschauten.
„Sicher ist wieder jemand in der Station“, dachten Clarissa und Fiete, „so wie damals, als wir mit Thekla, der Stationsablösung, nach Kerstholm übersetzten, und sie uns über die Arbeit auf der Insel informierte.“ Das fanden sie beide sehr interessant, es war bis heute niemandem möglich, nach Kerstholm zu fahren, außer man war Ornithologe und hatte eine Erlaubnis von der „Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer“.
Es war gerade Flut und das Wasser schäumte im Gatt, ein einzelnes Fischerboot kämpfte gegen die Strömung an, man hörte den Motor mit voller Drehzahl arbeiten. Die jungen Leute saßen und schauten, niemandem stand der Sinn danach, groß zu reden, alle waren sie fasziniert von der Gewalt der Fluten, die mit unvorstellbarer Kraft auf den Strand schlugen. Sie fuhren wieder zurück am Wasserturm vorbei und setzten sich an den Borgelsee, wo sie sich noch nie vorher aufgehalten hatten. Es war strengstens verboten, im Borgelsee zu baden, weil er ein Trinkwasserreservoir war. Riesige Vogelschwärme saßen auf seinem Wasser und trieben dahin, einige wurden von den jungen Leuten aufgeschreckt, ließen sich aber gleich wieder nieder und dösten in der Sonne. Die jungen Leute hielten sich nur kurz am Borgelsee auf und fuhren zu Kleens zurück, wo sie sich ihr Badezeug schnappten und den Alten sagten, dass sie sich für den Nachmittag nichts vornehmen sollten. Sie liefen zum Strand und tobten dort zwei Stunden lang mit Fietes Ball herum, bevor Fiete mit den anderen ins Dorf lief und das Pferdefuhrwerk abholte. Der Alte gab ihm noch ein paar Tipps, wie er das Pferd gefügig stimmen konnte, wenn es bockte und er fuhr mit dem Wagen, auf den sich die anderen hinten hingesetzt hatten, zu Kleens.
Wie war die Verwunderung, groß, als sie dort mit dem Fuhrwerk vorfuhren. Frau Kleen fragte:
„Was habt ihr denn mit dem Pferdefuhrwerk vor?“, und Fiete antwortete:
„Wir fahren am Nachmittag alle zur „Domäne Schlüter´s“, macht euch schon mal fertig!“ Herr Kleen und Herr Bubenhäuser standen neben dem braven Pferd und tätschelten es, Herr Kleen lief schnell ins Haus und holte Würfelzucker, er legte ihn auf seine flache Hand und gab dem Tier davon, das sich den Zucker genüsslich schmecken ließ. Nachdem Frau Kleen, Frau Bubenhäuser und Oma Stevens nach draußen gekommen waren, bestiegen alle das Fuhrwerk, Jan und Fiete hoben Oma hoch und setzten sie auf den Kutschbock, sie sagten ihr:
„Halte dich gut fest, Oma!“ Alle anderen waren hinten aufgestiegen und hatten sich auf die Bänke gesetzt. Herr Kleen hatte daran gedacht, ein paar Bierflaschen mitzunehmen, auch an Sekt für die Frauen hatte er gedacht, er hatte allerdings nur zwei Gläser mit herausgebracht, Clarissa lief schnell in die Küche und holte die fehlenden Gläser. Fiete löste die Feststellbremse und zog leicht an den Zügeln, woraufhin sich das Pferd in Bewegung setzte.
Es war ein überaus gutmütige Friesenpferd, das das Fuhrwerk zog, es hatte einen massigen Körper und war schwarz, es lief in langsamem Trott Richtung Westen. Ab und zu wurde die Gruppe von Fahrradfahrern überholt, die klingelten und winkten, alle waren guter Dinge und lachten. Herr Kleen gab jedem eine Flasche Bier und goss den Frauen Sekt in ihre Gläser, er stieß mit allen an, auch Oma Stevens, die neben Fiete auf dem Kutschbock saß, hatte ein Glas in der Hand, sie drehte sich nach hinten und lachte.
Mit etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit näherten sie sich der „Domäne Schlüter´s“ und kamen nach knapp einer Stunde Fahrt dort an. Es war mächtig was los in der „Domäne“, die Fahrräder knubbelten sich draußen am Zaun, sie bekamen aber ihre zwei Tische und setzten sich daran. Das Pferd band Fiete mit einem Strick, den ihm der Alte im Dorf mitgegeben hatte, am Zaun fest. Alle bestellten Schokolade oder Kaffee und nahmen Stuten mit Butter und Nutella dazu, das klassische Essen in der „Domäne“. Frau Bubenhäuser sagte:
„Das mit dem Pferdefuhrwerk ist eine prima Idee gewesen, wir fühlen uns pudelwohl“, worin die anderen sie bestätigten. Oma Stevens war wie ausgewechselt, sie scherzte mit allen und sagte:
„Ich bin seit Jahren nicht in der „Domäne“ gewesen“, sie steigerte sich in einen Erzählrausch und alle hörten ihr gerne zu, sie hatte eine unprätentiöse Art zu erzählen und legte viel Wärme in ihre Stimme. Sie hielten sich ungefähr eineinhalb Stunden in der Domäne auf, hatten ihre Stuten gegessen und dachten langsam daran, wieder zurückzufahren, es war inzwischen schon später Nachmittag geworden. Herr Bubenhäuser lud alle ein und zahlte, sie liefen zum Fuhrwerk zurück. Der Friese stand mit gesenktem Kopf in der Sonne und als alle auf den Bänken saßen und Oma Stevens und Fiete auf dem Kutschbock residierten, nahm Fiete die Zügel in die Hand und zog leicht daran, er musste das Fuhrwerk in einem ganz engen Bogen wenden.
Aber es tat sich nichts, der Friese machte keine Anstalten, sich zu bewegen, Fiete stieg vom Bock ab und ging nach vorne zu dem Tier. Er erinnerte sich an das, was ihm der Alte im Dorf gesagt hatte: für den Fall, dass das Tier bockte, sollte er ihm etwas Zucker geben und das tat Fiete auch. Gleich hob das Pferd seinen Kopf und ließe sich den Zucker schmecken. Fiete fasste das Zaumzeug und zog das Tier mit dem Fuhrwerk gemächlich um die enge Kurve, und als das Fuhrwerk wieder in Fahrtrichtung Osten stand, stieg er auf den Kutschbock. Noch einmal zog er leicht am Zügel und der Friese lief los, er bewegte sich in langsamem Trott gerade einmal mit Schritttempo. Bei Kleens angekommen stiegen alle ab, und Fiete half seiner Oma vom Bock herunter, danach fuhr er mit dem Wagen ins Dorf zurück und gab das Fuhrwerk wieder ab. Clarissa war mitgekommen und die beiden liefen Hand in Hand nach Hause, sie blieben ab und zu stehen und küssten sich, die Leute drehten sich um und blickten zu ihnen. Bei Kleens wurde an diesem Abend kalt gegessen, es gab gutes Brot mit allerlei Auflagen, wer wollte, konnte noch Kartoffelsalat essen, richtigen Hunger hatte aber niemand, alle hatten sie in der „Domäne“ ordentlich beim Stuten zugelangt. Der kurze Urlaub neigte sich langsam seinem Ende zu, sie hatten alle noch einen Tag auf der Insel und wollten am letzten Tag noch einmal im „Deichgrafen“ essen gehen.
Fiete rief an und machte für den nächsten Tag zwei Tische fest. Frau Bubenhäuser lud die Kleens und auch Oma Stevens nach Braunschweig ein, sie wollte mit ihnen ein gemütliches Wochenende in der Stadt verbringen und Kleens und Oma sagten zu, dass sie in den nächsten Wochen mit dem Zug nach Braunschweig kämen. Am nächsten Morgen gingen Clarissa und Fiete wieder zu Lorenzen und holten Brötchen und Schokocroissants, sie sagten, dass sie am nächsten Tag wieder nach Hause führen und bei Lorenzen war man traurig darüber, sie sollten unbedingt wiederkommen und damit nicht so lange warten, Clarissa und Fiete versprachen es. Sie liefen wieder nach Hause und frühstückten in aller Ruhe, sie wollten mit Isolde, Jasper und Jan noch einmal zum Strand und am Nachmittag, wenn Ebbe wäre, ins Watt gehen. Nach dem Frühstück packten sie die Schwimmsachen zusammen und liefen zum Strandweg, der in der Hitze zu glühen schien, der Sand war so heiß, dass es beinahe unmöglich war, barfuß darüber zu laufen. Am Strand zogen sie sich die Badesachen an und rannten ins Wasser, das sie wie immer erfrischte und angenehm war. Sie schwammen ein Stück hinaus, bis sie die Insel in ihrer Länge sehen konnten, sie genossen den Anblick und schwammen wieder zurück, sie legten sich auf den Sand, wo sie sich von der Sonne trocknen ließen. Clarissa und Fiete sagten Isolde und Jasper:
„Wir kommen vielleicht noch einmal im Herbst nach Süderland, wir wissen es aber noch nicht genau, wenn ihr Lust habt, könnt ihr doch mitkommen.!“ Die beiden überlegten nicht lange und gaben ihr Okay, „es ist ja wirklich kein großer Aufwand, sich in Hannover in den Zug zu setzen und nach Nordhafen zu fahren, die Semesterferien beginnen Mitte Oktober.“ Um die Mittagszeit liefen sie über die Promenade ins Dorf, gingen auf den Dorfplatz und setzten sich vor die Eisdiele, jeder bestellte das Eis wie immer. Anschließend verabschiedeten sie sich von Anna Barkhusen, auch sie war traurig, dass sie wieder führen und hoffte, sie alle bald wiederzusehen. Sie setzten sich danach bei Kleens eine Zeit in den Hof und tranken eine Limo, die Alten hatten sich zu einer Mittagspause hingelegt. Sie wollten kurze Zeit später mit den Rädern zur Vogelwarte fahren, um von dort ins Watt zu laufen. Fiete überprüfte an den Rädern den Luftdruck und pumpte Luft nach, sie fuhren los. Sie legten die Räder an der Vogelwarte ins Gras und setzten sich auf die Ufersteine. Die Vogelwarte war verschlossen und der Wärter, der früher Klaas Friedrichsen war, war nicht da. Sie zogen ihre Sandalen und Turnschuhe aus und krempelten ihre Hosenbeine hoch, anschließend liefen sie durch den Priel in Ufernähe ins Watt. Sie sackten bis zur halben Wade im Schlick ein und liefen weit hinaus, sie hätten bis zum Einsetzen der Flut ungefähr zwei Stunden, das wusste Fiete und schaute auf seine Uhr. Sie achteten darauf, nicht auf Muschelschalen zu treten und sich damit zu verletzen.
Als sie hinausgelangt waren, konnten sie ganz Süderland der Länge nach überblicken, auf der einen Seite lagen Westerhalen und etwas davor der Fähranleger, vor ihnen lagen das Dorf und etwas daneben die Salzwiesen und Osterhalen. Nach einer Zeit blickte Fiete auf seine Uhr und forderte zum Rückmarsch auf, da die Flut langsam anstieg, er wollte sich und die anderen nicht unnötig in Gefahr begeben, es waren schon viele bei plötzlich ansteigender Flut ertrunken. Im Priel am Ufer wuschen sich alle den Schlick von den Beinen und gingen an Land, sie setzten sich noch einmal auf die Ufersteine, die Vogelwarte war immer noch unbesetzt. Über dem Watt kreisten Möwen und Seeschwalben und hielten Ausschau nach Krebsen oder sogar Wattwürmern, auch Austernfischer waren über dem Watt, allerdings nicht sehr zahlreich. Sie fuhren wieder zu Kleens zurück, die Alten waren inzwischen aufgestanden und saßen bei einer Tasse Kaffee im Hof. Die jungen Leute gesellten sich dazu und Isolde und Jasper liefen schnell zu Lorenzen und holten Kuchen. Sie tranken lange Kaffee und machten sich am frühen Abend fertig für den „Deichgrafen“. Als sie zum Restaurant liefen, stützten Clarissa und Fiete Oma Stevens, man hatte ihnen die Tische reserviert, an denen sie schon einmal gesessen hatten, alle hatten sie rechtschaffenen Hunger und freuten sich auf das Essen.
Sie bestellten Bier und Wein, und zum Essen nahm Oma Stevens wieder die Fischplatte, während die anderen Fleischgerichte kommen ließen, wie beim letzten Mal auch. Das Lokal war wieder gut besucht, alle Tische draußen waren besetzt, das war immer ein gutes Zeichen für den unschlüssigen Restaurantbesucher, sie ließen sich ihr Essen schmecken und saßen bis in den Abend hinein im „Deichgrafen“, zum Abschluss bestellte Herr Kleen eine Runde Schnaps, außer Clarissa und Isolde nahm jeder einen. Sie verbrachten ihren letzten Abend auf Süderland bei Kleens im Hof, alle hatten noch etwas zu trinken und Frau Kleen bestand darauf, dass noch einmal gesungen wurde, und so stimmten alle ein und sangen „Im Frühtau zu Berge...“, wobei mit Ausnahme von Frau Kleen und Oma Stevens niemand die zweite Strophe kannte. Um 23.00 h lagen alle in den Betten, sie schliefen bei geöffneten Fenstern sehr gut und entspannt.
Ein letztes Mal holten Clarissa und Fiete am Morgen Brötchen bei Lorenzen und verabschiedeten sich bis zum Herbst. Bubenhäusers und die jungen Leute nahmen die Mittagsfähre, sie sagten Oma Stevens Tschüss und drückten sie, Kleens begleiteten sie zum Inselbahnhof. Als das Bähnchen losfuhr, winkten sie, bis es den Bogen zum Anleger erreichte und nicht mehr gesehen werden konnte. Kleens liefen zurück nach Hause.
Bubenhäusers und die jungen Leute stiegen in Nordhafen in ihren Kleinbus und fuhren mit ihm die lange Strecke nach Hannover, wo sie sich von Isolde und Jasper verabschiedeten. Anschließend fuhren sie weiter nach Braunschweig, Clarissa und Fiete wollten noch drei Tage dort bleiben. Frau Bubenhäuser machte für alle Schnitzel mit Kartoffeln und Salat, das Lieblingsessen von Fiete, Clarissa hatte sich inzwischen daran gewöhnt und aß es auch ganz gern. Als sie nach drei Tagen wieder in ihrer Wohnung in Hannover waren, kauften sie erst einmal ein, es fehlte an allem und sie mussten die grundlegenden Dinge besorgen wie Kartoffeln, Zwiebeln, Milch usw. Clarissa und Fiete hatten noch das Wochenende, danach müsste Fiete wieder bei E.ON und Clarissa in der Uni erscheinen, Fiete hatte noch zwei Wochen in seiner Arbeitsgruppe zu tun, im Anschluss würde entschieden, ob er bei E.ON bleiben und an einem anderen Arbeitsplatz eingesetzt werden würde. Clarissa hatte mit ihrer Dissertation gerade begonnen, sie hatte jede Menge Sekundärliteratur in der Uni liegen, sie würde noch mindestens drei Semester brauchen, bis sie fertig wäre. Fiete machte sich am Montagmorgen nicht sehr missgestimmt, aber auch nicht sehr glücklich zu E.ON auf, er begrüßte alle Mitglieder des Teams und fragte, was sie gerade machten. Sie wären gerade dabei, eine Annonce zu entwerfen, die für eine neue Windkraftanlage im Harz werben sollte, und Fiete dachte gleich, dass solche Annoncen nur ablenken sollten, ablenken vom Hauptzweig, mit dem E.ON Geld verdiente, der Kernenergie.
Am Nachmittag wurde Fiete informiert, dass der Personalchef ihn sprechen wollte, er sollte um 17.00 h bei ihm erscheinen, nach Feierabend also, aber Fiete hätte sich gegen den Termin nicht wehren können. So ging er also um kurz vor 17.00 h rüber zum Büro des Personalchefs und meldete sich bei seiner Sekretärin. Sie sagte ihm, dass ihr Chef schon auf ihn wartete und begleitete Fiete zu dessen Zimmer. Der Personalchef war sehr freundlich zu Fiete und eröffnete ihm:
„Man hat in der Konzernspitze über Sie beraten und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass man Ihnen eine Festanstellung geben will, Ihr hervorragender Abschluss an der Universität hat alle überzeugt.“ Fiete strahlte über sein ganzes Gesicht, als er das hörte, wurde aber etwas besonnener, als er vernahm, was man mit ihm vorhatte: er sollte für E.ON die Errichtung einer Windkraftanlage auf den Lofoten in Norwegen betreuen, man gäbe ihm drei Tage, darüber nachzudenken. Fiete bedankte sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen und verabschiedete sich wieder vom Personalchef, er fuhr nach Hause zu Clarissa. Als er ihr davon berichtete, was E.ON mit ihm vorhatte, wurde sie nachdenklich:
„Dein Einsatz auf den Lofoten wird eine lange Trennung zwischen uns bedeuten!“ Fiete entgegnete, dass er sich ausbedingen würde, regelmäßig nach Hause fliegen zu können, er wollte an jedem Wochenende kommen. Clarissa meinte:
„Die Lofoten sind sicher ein Sprungbrett in deiner Karriere bei E.ON und ich finde, du solltest zusagen, auch wenn wir uns für lange Zeit nur an den Wochenenden sehen!“ Fiete war hin- und hergerissen, er könnte ja auch versuchen, woanders einen Job zu bekommen, mit seinem Abschluss stünden ihm im Grunde alle Türen offen.
„Aber ich denke schon daran, auf das Lofotenangebot einzugehen“, sagte er. Er sähe das genau wie Clarissa als Chance, innerhalb des E.ON-Konzerns weiter aufzusteigen. Er ließ sich am nächsten Tag einen Termin beim Personalchef geben und nahm sein Angebot an, er hinterfragte weitere Einzelheiten, wann es losginge und wie oft er nach Hause könnte, und der Personalchef antwortete Fiete:
„Sie sollen schon zu Beginn des nächsten Monats, wenn Ihr Job bei der Arbeitsgruppe erledigt ist, auf die Lofoten, sie können selbstverständlich an jedem Wochenende nach Hause fliegen, dafür wird schon gesorgt werden.“ Er dankte Fiete, dass er den Auftrag übernähme und bot ihm jederzeit seine Hilfe an, wenn irgendwelche Probleme aufträten. Vor seiner Abreise auf die Lofoten bekäme er von E.ON noch eine Woche Urlaub, um sich auf seinen Job über dem Polarkreis auch richtig einstimmen zu können. Fiete fuhr wieder nach Hause und beredete mit Clarissa alles Weitere, sie wollten täglich miteinander skypen und sähen sich an den Wochenenden.
„Ich muss mir zunächst einmal eine Orientierung verschaffen, wo genau die Loforten liegen und wie man dahin kommt, ich weiß nur, dass die Lofoten über dem Polarkreis liegen und es deshalb dort drei Monate lang im Winter dunkel ist.“ Fiete setzte sich an seinen Computer und gab Google Map ein, er sah sich die Lofoten auf seinem Monitor an und bemerkte gleich, dass dort nicht viel los sein konnte. Man käme in Bodoe an, entweder mit dem Zug oder mit dem Flugzeug und nähme von dort aus entweder eine Fähre oder den Helikopter. Er gab auf Google „db“ ein und suchte einen Zug von Hamburg nach Bodoe, im günstigsten Falle brauchte der Zug achtunddreißig Stunden, der Zug schied somit aus. Daraufhin suchte er einen Flug von Oslo nach Bodoe und fand mehrere Möglichkeiten, er wäre eineinhalb Stunden unterwegs, nach Oslo müsste er von Hamburg fliegen, auch da gäbe es viele Möglichkeiten, die Flüge würden natürlich alle von E.ON bezahlt. Fiete dachte daran, was er in den drei Monaten Dunkelheit und in der Eiseskälte auf den Lofoten unternehmen sollte, auf jeden Fall würde er viel lesen, so viel war ihm schon klar. Er setzte sich mit Clarissa zusammen und sagte ihr:
„Das wird vermutlich für mich eine harte Zeit werden, die ich mit deiner Hilfe aber durchstehen will.“ Clarissa hielt seine Hand und entgegnete:
„Das ist nicht unsere erste Bewährungsprobe, als wir beide Schüler gewesen sind, sind wir auch lange voneinander getrennt gewesen, ich will alles tun, um Dir die Trennungszeit so leicht wie möglich zu gestalten.“
Sie hatten beide schon von den Lofoten gehört, aber natürlich war noch niemand von ihnen dort. Als Urlaubsziel schieden die Lofoten aus, dachten sie immer, es war dort viel zu kalt und die Preise, die dort zu zahlen waren, entbehrten jeglicher Vorstellung. Sie hatten Bekannte, die mit der norwegischen „Hurtigrute“ von Bergen zum Nordkap gefahren waren und auf dem Weg auf den Lofoten Station gemacht hatten. Sie hatten erzählt, dass die Lofoten steil aus dem Meer aufragende Felseninseln wären, es lebten kaum Leute dort, die Gewässer wären ausgesprochen fischreich, das Wetter wäre nicht wirklich gut dort, es würde viel regnen und es wäre kalt. Clarissa und Fiete wollten sich genau informieren, sie wollten sich im Netz sachkundig machen und natürlich Bücher aus Büchereien besorgen.
„Ich bin schon sehr daran interessiert, zu erfahren, wo ich in den nächsten vier Monaten eingesetzt werde“, sagte Fiete.
„Das ist meine Anfangsanstellung bei E.ON und ich bekomme 4400 Euro brutto im Monat, nach erfolgreichem Absolvieren meines Jobs auf den Lofoten werde ich in Hannover zum Abteilungsleiter befördert und damit auf der Karriereleiter schon ein gutes Stück aufgesteigen.“ Clarissa freute sich für Fiete, es war nicht so, dass sie die Geschäftspolitik von E.ON vorbehaltlos unterstützte, aber Fiete hätte mit seinem Abschluss als Diplom-Elektroingenieur kaum eine andere Möglichkeit, in seinem Beruf voranzukommen.
Sie sah sich mit ihm auf dem PC-Monitor die Norwegenkarte an, und sie maßen die Entfernung von Oslo nach Bodoe, die Lofoten lagen ungefähr 1200 Kilometer nördlich von Oslo, weit über dem Polarkreis, man fror schon bei dem Gedanken, dorthin fliegen zu müssen. Der nächste Tag war ein Samstag und sie hatten beide frei, sie wollten in die Stadt und einen Reiseführer und Informationsmaterial über die Lofoten holen. Fiete hätte noch eine Woche in seiner Arbeitsgruppe zu tun, danach hätte er eine Woche Urlaub, um sich vorzubereiten. Am nächsten Morgen fuhren Clarissa und Fiete in die Stadt und hielten sich lange in der Buchhandlung auf, sie deckten sich mit viel Literatur über die Lofoten und mit touristischen Führern ein. Sie fuhren mit dem Material wieder nach Hause, machten es sich dort gemütlich und lasen sich ein, ab und zu unterbrachen sie ihre Lektüre und unterhielten sich über Dinge, die ihnen aufgefallen waren. So sagte Clarissa:
„Ich habe gesehen, dass es drei Flughäfen auf den Lofoten gibt, die von Bodoe aus angeflogen werden.“ Fiete hatte sich gerade über den Alltag auf den Lofoten eingelesen und sagte:
„Auf den Inseln steht alles im Zeichen des Fischfangs, ich werde wohl wieder angeln gehen, wie damals auf Süderland.“ Der Tourismus spielte auch eine Rolle, es wäre aber nicht so, dass dort im Sommer Unmengen von Touristen angelandet würden, wie das auf den Mittelmeerinseln der Fall wäre, die Lofoten wären etwas für Liebhaber. Man führe nicht auf die Lofoten, um dort Badeurlaub zu machen, vielmehr liefe man dort immer in wärmender Kleidung herum und täte gut daran, sich für das Fischen oder das Wandern zu interessieren. Clarissa und Fiete legten ihre Lektüre für einen Moment zur Seite, und sie unterhielten sich über die Stelle in ihrem Leben, an der sie gerade angelangt waren. Fiete meinte:
„Ich bin dabei, mich zu etablieren, darin sehe ich aber nicht so ein Problem, wie das viele tun. Es ist meiner Ansicht nach wichtig, zu trennen zwischen einem Sesshaftwerden nach außen hin und einem Aufgewühltsein im Inneren, das die Energien steuerte, die gelegentlich freigesetzt werden müssen, die die eigentliche Persönlichkeit ausmachen. Es kommt nicht darauf an, wie man nach außen hin agiert, sondern nur darauf, welche die inneren Überzeugungen sind, die man immer hochhalten muss und nie preisgeben darf. Das erfordert innere Stärke, die man aufbauen und sich bewahren muss, sie steht in engem Zusammenhang zur äußeren, körperlichen Stärke.“ Fiete sagte, dass diese beiden Energiepotenziale in einer Wechselwirkung zueinander stünden, und das eine nicht ohne das andere bestehen könnte, so seine Überzeugung.
Er würde seinen Job auf den Lofoten zur Zufriedenheit aller ausführen, er müsste sich dabei nicht verbiegen, Windenergie wäre eine gute Sache und er stünde dahinter. Clarissa bestärkte ihn in seiner Haltung, auch sie fand, dass er nichts von seinem Innersten preisgeben oder sogar opfern müsste, wenn er auf den Lofoten Windkraftwerke installierte. Sie glaubte auch an die Wechselwirkung zwischen Innerem und Äußerem, und dass das eine nicht ohne das andere existieren könnte. Über den genauen Zusammenhang zwischen diesen beiden Energiepotenzialen wäre sie sich aber nicht im Klaren und sie glaubte nicht, dass der Zusammenhang schon bis ins Kleinste erforscht wäre. Sie wüsste aber, dass sie, wenn sie körperlich fit wäre, zu geistigen Höchstleistungen im Stande wäre und umgekehrt, körperliche Erschlaffung durch geistige Ausgeglichenheit wieder besser in den Griff bekäme. Fiete sagte:
„Wir haben in den letzten Jahren etwas in unserem Inneren aufgebaut, was ich als Haltung bezeichne, damit meine ich auch politische Haltung. Dazu gehört, dass wir beide die Nutzung der Kernenergie ablehnen, weil die Technik in Wirklichkeit gar nicht beherrscht wird, solange es nicht gelingt, überzeugende Konzepte zur Entsorgung des Atommülls zu liefern. Trotz aller Warnrufe seitens der Technikfolgenabschätzung wird die Kernenergiegewinnung aber weiter ausgebaut und politisch vorangetrieben.
Es werden Laufzeitverlängerungen für Kraftwerke gewährt, die eigentlich längst abgeschaltet gehören.“
Fiete sah für seine Zukunft die Gefahr, dass er als relativ hochrangiger Mitarbeiter bei E.ON in Konfrontation zu den Befürwortern der Kernenergie geraten könnte, er wüsste noch nicht, wie er sich in einer solchen Situation verhalten würde, vermutlich würde er aber seinen Job bei E.ON aufgeben, aber bis dahin wäre noch viel Zeit, und er wollte sich zu diesem Zeitpunkt darüber noch keine Gedanken machen. Clarissa fragte Fiete:
„Hast du überhaupt ausreichend warme Sachen für die Lofoten, wir sollten besser am Nachmittag noch einmal in die Stadt gehen und Schuhe, Pullover und eine Jacke für dich suchen, auch eine gute Reisetasche musst du haben, am besten halten wir nach einem Trolley für dich Ausschau!“ Doch zunächst wollte Fiete ein leckeres Mittagessen bereiten:
„Ich denke an ein Gulasch aus Rindfleisch mit Spätzle und Salat.“ Clarissa war einverstanden und freute sich darauf, mit Fiete zu kochen. Sie mussten aber noch einkaufen gehen, der Supermarkt lag gleich um die Ecke und sie zogen los. In der Fleischabteilung kaufte Fiete ein Pfund mageres Rindfleisch, sie nahmen Tomaten und einen Kopf grünen Salat mit und luden ein Paket Spätzle in ihren Einkaufswagen. Fiete nahm auch eine Flasche Rotwein mit, von dem sie beide ein Glas zum Essen trinken wollten.
Zu Hause wetzte Fiete sein Küchenmesser an einem Wetzstahl und schnitt das Fleisch in mundgerechte Stücke, er gab etwas Olivenöl in eine Panne und ließ es recht heiß werden. Anschließend gab er das Fleisch in die Pfanne und briet es kräftig an, bis es braun wurde. Mit einem Pfannenwender rührte er in der Pfanne, um zu verhindern, dass das Fleisch anbrannte. Er schnitt eine große Zwiebel in feine Stücke und fügte diese zu dem Fleisch, löschte mit etwas Brühe ab und stellte die Platte auf „Eins“, er salzte, pfefferte und gab Paprikapulver hinzu, zum Schluss legte er den Deckel auf die Pfanne und ließ das Fleisch eineinhalb Stunden schmurgeln. Clarissa hatte in der Zwischenzeit den Salat gewaschen und machte eine Salatsoße aus Essig, Öl, Salz, Pfeffer und Senf, sie schnitt zwei Tomaten in Scheiben und halbierte diese, im Anschluss trocknete sie den Salat und vermengte ihn mit den Tomaten und der Soße. Gegen Ende der Bratzeit, als noch etwa zwanzig Minuten Zeit blieben, setzten sie die Spätzle auf und ließen sie ungefähr zwanzig Minuten ziehen, bis sie weich waren, aber noch Biss hatten. Fiete deckte den Tisch und öffnete den Rotwein, er hatte einen „Dornfelder“ gekauft und schüttete jedem ein Glas davon ein. Clarissa stellte den Salat auf den Tisch und schüttete die Spätzle ab, sie gab sie in eine Schüssel, während Fiete das Gulasch in der Pfanne beließ und die Pfanne auf den Tisch stellte
Sie nahmen beide ihr Weinglas hoch und stießen miteinander an, sie küssten sich und wünschten sich eine guten Appetit. Das Gulasch war ausgezeichnet gelungen, das Fleisch war weich und zart, die Spätzle passten eigentlich am besten dazu, früher hatte es Kartoffeln dazu gegeben, aber in den letzten Jahren fanden die Spätzle immer mehr Verbreitung, Nach dem Essen legten Clarissa und Fiete sich ein Zeit lang hin und kuschelten miteinander, sie standen aber früh wieder auf, weil sie ja noch in die Stadt wollten. Sie räumten schnell den Tisch ab und gingen zur Straßenbahn, die nach zehn Minuten kam und sie zum Hauptbahnhof brachte, wo sie ausstiegen und durch die Schillerstraße zu Karstadt liefen. Es war voll in der Stadt, die Leute kauften am Samstagnachmittag, weil sie in der Woche keine Zeit dazu hatten, „es geht uns ja genauso“, dachte Clarissa. Bei Karstadt fuhren sie mit der Rolltreppe in die Herrenabteilung und ließen sich Outdoor-Jacken zeigen, es gab „Jack Wolfskin“, wie sie inzwischen fast jeder trug, und es gab „Northface“, wie sie etwas seltener im Straßenbild zu sehen waren, preislich taten sie beide Jacken aber nicht so viel. Fiete probierte einige Modelle an und entschied sich schließlich für eine dunkelblaue „Northface“-Jacke, die einige weiß hervorgehobene Stellen hatte.
Die Jacke passte wie angegossen und hatte eine im Kragen versteckte Kapuze. Sie nahmen die Jacke und ließen sie an der Kasse zurücklegen, weil sie noch weitere Sachen kaufen wollten, sie wechselten die Abteilung und gingen zu den Pullovern. Fiete hatte eine ungefähre Vorstellung davon, welchen Pullover er sich kaufen wollte, er dachte an einen Rollkragenpullover und an einen Pullover mit V-Ausschnitt, unter dem er ein Hemd tragen wollte. Der Verkäufer kam und fragte, ob er behilflich sein dürfte, aber Clarissa und Fiete dankten ihm und sagten:
„Wir kommen schon zurecht!“ Allzu groß war die Auswahl bei den Pullovern nicht, es war ja noch Sommer, und „die Sachen für Herbst und Winter kommen noch herein“, wie man ihnen sagte. Das Angebot reichte Fiete aber, um zwei Pullover zu finden. Er hatte Größe 50 oder „L“ und fand einen dunkelbraunen Rollkragenpullover, einfarbig, den er nahm, und nach einigem weiteren Suchen stieß er auf einen roten Pullover mit V-Ausschnitt, nichts Besonders zwar, aber er wollte ja auch keine Modenschau veranstalten. Clarissa und Fiete kamen an einer Verkaufsgondel vorbei, wo es Strümpfe im Angebot gab, und Fiete nahm zwei Paar Baumwollsocken, sie brachten wieder alles zur Kasse und freuten sich, in nur einem Kaufhaus so erfolgreich zu sein. Sie fragten nach der Sportabteilung und fuhren mit der Rolltreppe zwei Etagen höher. Dort ließen sie sich zeigen, wo sie Outdoor-Schuhe fänden und nahmen verschiedene Modelle in Augenschein. Fiete wollte Trekkingstiefel in Leichtausführung kaufen, und es gab viele verschiedene Modelle.
Er hatte Schuhgröße 44/45, und da fand er eine fast unendliche Fülle an Trekkingstiefeln, am Schluss blieb er bei „Jack Wolfskin“ hängen und nahm das Modell „All Terrain Texapore Men“ zu hundertvierzig Euro. Fiete sagte Clarissa:
„Ich brauche die Stiefel nur, wenn ich mich draußen im Gelände aufhalte, ansonsten trage ich meine Turnschuhe oder meine gewöhnlichen Straßenschuhe.“ Er nahm die Stiefel in dunkelblauem Nubuk-Leder, sie hatten am vorderen Teil einen gelben Tatzenabdruck, wie der bei „Jack Wolfskin“ üblich war. An der Sammelkasse erfuhren Clarissa und Fiete, dass sie auf alle ihre gekauften Produkte zwanzig Prozent Rabatt wegen des Sommerschlussverkaufs bekämen, worüber sich die beiden sehr freuten. Sie fanden neben dem Ausgang in der Taschenabteilung sogar noch einen Trolley und nahmen den mit. Jeder nahm eine Einkaufstasche und sie verließen Karstadt wieder, um mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof aus nach Hause zu fahren. Fiete erinnerte sich nicht, jemals in seinem Leben so viele Sachen auf einmal gekauft zu haben. Er freute sich, dass das alles so gut geklappt hatte, damit hatte er nicht gerechnet. Clarissa bestand zu Hause darauf, dass er alles anprobierte, Fiete ließ sich breitschlagen und zog zuerst die Trekkingstiefel an, die er zwei, drei Stunden anlassen wollte, um eventuell auftretende Blasen zu spüren. Anschließend zog der den dunkelbraunen Rollkragenpullover über und darüber die „Northface“-Jacke.
Da ihm in den Sachen sehr schnell zu warm wurde, zog er die Oberbekleidung nach kurzer Zeit wieder aus, er zog den Pullover mit V-Ausschnitt über sein Hemd, rot war zwar etwas gewagt, wie Fiete fand, es war aber nicht so ein schriller Rotton, sondern mehr weinrot. Er betrachtete sich im Spiegel und war ganz zufrieden, bevor er aber auch den Pullover wieder auszog. Er sagte Clarissa:
„Ich freue mich über die Sachen“ und goss beiden ein Glas Rotwein ein. Clarissa meinte:
„Ich muss mit dem Trinken vorsichtig sein, sonst habe ich gleich einen Schwips, ich habe ja schon zum Mittagessen ein Glas getrunken.“
„Was hältst du von einem Spaziergang?“, fragte Fiete sie, „ich muss meine Stiefel einlaufen und da ist ein Spaziergang genau das Richtige.“ Es war noch hell draußen, als sie losliefen, sie liefen eine große Runde um den Block und zweigten in den kleinen Park ab, den es bei ihnen in der Nähe gab. Anschließend liefen sie wieder nach Hause, Fiete fühlte sich in seinen Trekkingstiefeln pudelwohl, von Blasen war nichts zu spüren, er behielt die Stiefel aber noch an und wollte sie erst zwei Stunden später ausziehen.
„Wie wäre es, wenn wir am Abend ins Kino gingen?“, fragte Fiete Clarissa und Clarissa fragte Fiete:
„An welchen Film hast du denn gedacht?“ Fiete antwortete:
„Ich würde gern den Film „Serengeti“ sehen, einen mit modernster Kameratechnik aufgenommenen Film von dem „weiten Land“ mit unglaublichen Tieraufnahmen.“ Clarissa war einverstanden und sie gingen in „Serengeti“.
Der Film war wirklich faszinierend, es gab nicht nur die Jagdszenen der Löwen und Geparden zu sehen, sondern auch die Bilder von der Überquerung des Mara River durch die Gnus, die man schon tausendmal gesehen hatte. Was völlig neu war, war die extreme Zeitlupe, es waren Kameras im Einsatz gewesen, die zweitausend Bilder pro Sekunde aufnahmen und solch eine extreme Zeitlupe überhaupt erst möglich machten. Vieles wurde durch die Zeitlupe erst wahrnehmbar wie der Streit mehrerer Krokodile um einen kapitalen Wels, an dessen Ende der Wels entwischen konnte. Clarissa und Fiete ließen das Wochenende ruhig ausklingen, sie machten am Sonntag noch einen Spaziergang und es schloss sich Fietes letzte Woche in seiner Arbeitsgruppe an. Clarissa war mit der Sichtung ihrer Literatur beschäftigt, hatte aber keine Schwierigkeiten, wegen der sie ihren Professor um Rat hätte fragen müssen. Fietes letzte Arbeitstage zogen dahin, und er musste am Ende der Woche einen ausgeben, was natürlich nicht an seinem Arbeitsplatz ging, sondern er lud die Leute aus seinem Team zu sich nach Hause ein und stellte ihnen Clarissa vor. Die Teamkollegen hatten teilweise ihre Frauen/Freundinnen mitgebracht, und es gab ein paar Kleinigkeiten zu essen, die Clarissa und Fiete während der Woche vorbereitet hatten, Fiete hatte einen Kartoffelsalat gemacht, allerdings nicht mit selbst zubereiteter Majonäse, sondern mit Miracel Whip, kalorienreduziert.
Es gab Würstchen und Frikadellen dazu, die Clarissa am Vortag zubereitet hatte, man konnte sie natürlich auch kalt essen, als Nachtisch boten sie Rote Grütze an und alle waren zufrieden und aßen auch von dem Kartoffelsalat, Fiete musste allerdings vorher darauf hinweisen, dass der kalorienreduziert war. Einige Teamkollegen hatten kleine Geschenke mitgebracht, über die sich Fiete sehr freute. Es wussten natürlich alle, dass Fiete auf die Lofoten gehen sollte, um dort ein Windkraftprojekt von E.ON zu betreuen, und es beneideten ihn nicht alle darum.
„Die ganze Sache ist aber auf vier Monate befristet und deshalb überschaubar“, sagte Fiete. Es war ein netter Abend bei Clarissa und Fiete, und um 23.00 h gingen die Letzten. Fiete sollte doch einmal eine Karte von den Lofoten schicken, sagten sie ihm beim Abschied, er sollte die Temperatur und die Regenstunden auf der Karte vermerken, damit man sich zu Hause ein Bild von den Wetterverhältnissen machen könnte. Fiete versprach, zu schreiben, „ich werde ein Stimmungsbild schicken, das die Umstände, unter denen ich auf den Lofoten lebe, so exakt wie möglich wiedergibt.“ Fiete hatte im Anschluss eine Woche Urlaub, in der er sich über vieles klar werden wollte, besonders, was seine berufliche Zukunft anbelangte, aber auch sein Verhältnis zu Clarissa wollte er überdenken.
Am Wochenende packte er probehalber ein paar Sachen in seinen neuen Trolley, er würde den Koffer und einen Rucksack mitnehmen, wenn er noch mehr Sachen brauchte, müsste Clarissa ihm die hoch schicken, er glaubte aber, dass er alles mitbekäme, was er brauchte. Sein Flug würde am Sonntag ab Hamburg gehen, er flöge zunächst nach Oslo, hätte dort nur einen kurzen Aufenthalt und flöge danach weiter nach Bodoe, von dort würde er mit einem E.ON-Helikopter nach Flakstad gebracht, in unmittelbarer Nähe zu diesem Ort sollte die Windkraftanlage gebaut werden. Die Stadt oder besser das Dorf lag auf Flakstadoy, einer der äußeren Inseln des Lofotenarchipels. Der Ort lag am offenen Atlantik und bot deshalb für eine Windkraftanlage einen hervorragenden Platz. Fiete wollte noch nach Süderland anrufen und dort mitteilen, was E.ON mit ihm vorhätte, dass er für vier Monate auf die Lofoten ginge. Immer wieder sah sich Fiete die Karte des Archipels an, er musste sich einfach mit der Geografie der Inseln vertraut machen, er lernte, dass die Lofoten im Wesentlichen aus dem südwestlichen Teil von Hinnoy, Skrova, Gimsoy, Vestvagoy, Flakstadoy, Moskenesoy und dem weit entfernt liegenden Vaeroy und und dem noch weiter entfernt liegenden Rost bestand. Fiete setzte sich an den PC und kaufte die Flüge von Hamburg nach Oslo und von Oslo nach Bodoe, er ließ die Rechnung an E.ON schicken.
Sein Flug ab Hamburg ginge um 13.55 h, er flöge um 15.15 h in Oslo ab und wäre um 16.45 h in Bodoe, wenn ihn dort der Helikopter rechtzeitig aufnähme, könnte er um 17.30 h in Flakstad sein. Fiete legte sich ein paar Bücher zurecht, die er unbedingt lesen wollte, er wusste nicht, ob er überhaupt Zeit zum Lesen fände, er ging aber davon aus, was sonst sollte man denn schon in der Dunkelheit und der Eiseskälte tun? Die Urlaubswoche verging wie im Fluge, Clarissa verließ Fiete morgens zur Uni, sie hatte sich am Mittwoch einen Tag frei genommen, sie gingen gemeinsam zum Uni-Sport und machten einen langen Spaziergang, an den anderen Tagen kam sie immer um 16.00 h nach Hause. Am Samstag kochte Fiete noch einmal ein leckeres Gericht für Clarissa und sich, er bereitete überbackene Hähnchenbrust zu und fuhr mit Clarissa in die Stadt, um dort Cappuccino zu trinken, er sah ihr im Cafe lange in die Augen und Clarissa lächelte ihn an.
„Tu doch nicht so, als sähen wir uns ein Jahr nicht mehr!“, sagte Clarissa und sie hatte damit Recht, er käme schon am nächsten Wochenende wieder nach Hause. Er flöge Freitagmittag in Bodoe weg und wäre am Abend in Hannover, es kam Fiete aber so vor, als läge eine lange Trennung zwischen ihm und Clarissa.
Am Sonntag nahm er den Zug um 11.05 h ab Hannover, Clarissa hatte ihn zum Bahnhof gebracht und sie verabschiedeten sich auf dem Bahnsteig voneinander. Eigentlich war Fiete ganz guter Dinge und fuhr frohen Mutes ab, er wäre ja in einer Woche wieder da und küsste Clarissa, der die Tränen in den Augen standen, er winkte ihr noch aus dem Zugabteil zu, er fuhr nach Hamburg.
In Fuhlsbüttel setzte sich Fiete noch einen Augenblick auf einen Cappuccino in die Flughafenbar, er lief anschließend zum Gate und boardete, der Flug nach Oslo ging pünktlich. Der Flug verging völlig reibungslos und er landete um 14.45 h in Oslo-Gardermoen, fünfzig Kilometer nördlich der Innenstadt, man konnte von dort mit dem einzigen Hochgeschwindigkeitszug Norwegens in neunzehn Minuten nach Oslo rasen. Pünktlich um 15.15 h hob die Maschine nach Bodoe ab, der Anschluss war sehr knapp bemessen, Fiete schaffte ihn aber und flog in eineinhalb Stunden nach Bodoe.
Es war 16.45 h und schon leicht dämmerig, als er in Bodoe landete, obwohl es erst Mitte September war. Ab Mitte Oktober stünde Fiete eine lange Zeit der Dunkelheit bevor, aber das wusste er längst und hatte sich darauf eingestellt. Bodoe war ein relativ nichtssagender Ort, er war die Hauptstadt der Provinz Nordland und hatte 48000 Einwohner, Bodoe war damit eine mittelgroße Stadt. Der Flughafen war klein und überschaubar, er diente der norwegischen Luftwaffe als Basis, und die zivile Luftfahrt spielte nur eine Nebenrolle. Von Bodoe aus gingen Flüge auf die Lofoten nach Svolvaer, Leknes und Rost, Svolvaer, Leknes und Bodoe waren Häfen für Schiffe nach Rost, Vaeroy, Moskenes und Stamsund, die Stadt hatte damit verkehrstechnisch gesehen eine große Bedeutung, sie war auch ein wichtiger Eisenbahnstützpunkt.
Nach Narvik, dem Eisenerzhafen Norwegens, in dem das Erz aus Kiruna in Schweden mit langen Güterzügen angeliefert wurde, musste man aber mit dem Bus fahren. Auf dem Flughafen stand der Helikopter von E.ON, er war nicht mit dem Firmenlogo gekennzeichnet, man hatte Fiete in Hannover einen Hinweis gegeben, wie er den Helikopter erkennen könnte. Er begrüßte den Piloten und gab sich zu erkennen, Fiete war der einzige Fluggast und der Helikopter hob gleich ab, es war über dem Wasser sehr windig, und sie wurden in der Maschine ordentlich durchgeschüttelt.