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Die britschen Ländergründungen

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Am Morgen des Abreisetages waren Werner und Manfred längst wieder mit den beiden Großen vor der Tür gewesen, als sie sich alle beim Frühstück trafen und sie hatten sich mit Christine und Peter amsterdamer museendie Schiffe auf der Gracht angesehen. Natürlich gab es wieder Rührei mit Speck in rauen Mengen zum Frühstück, Agnes, Bärbel und Robert machten sich aber auch noch jeder zwei Soleier fertig und schoben die Eihälften in ihre Münder. Die anderen aßen Hagelslagschnitten oder Käsebrote und wollten kein Solei mehr essen. Um 10.00 h spielte sich das gleiche Ritual ab wie immer, Doris, Iris, Piet und Max erschienen und würden die Göttinger und Essener zum Bahnhof begleiten.

Vorab ließ sich Piet wieder einen Teller geben und aß von dem Rührei, Iris hatte es sich längst abgewöhnt, ihn deshalb strafend anzusehen und trank mit den anderen Kaffee. Iris hatte noch einen Rest von der Joghurt-Creme vom Vorabend mitgebracht und fragte die Kinder:

„Wer möchte denn noch etwas von dem Nachtisch von gestern essen?“, und es ertönte ein lautes „Ich!“

Christine und Peter kamen gleich angerannt, die Mütter holten die ganz Kleinen an den Tisch, und jedes der Kinder bekam etwas von der Creme ab. Sie saßen bis kurz vor Mittag am Tisch, griffen aber das politische Thema vom Vorabend nicht noch einmal auf. Die Väter liefen hoch auf ihre Zimmer und holten das Gepäck nach unten, wo sie es in die Diele stellten. Anschließend standen alle auf und gingen vor die Tür, die Väter brachten das Gepäck in die Kofferräume der Autos, bevor sie sich alle auf die Wagen verteilten, sie fuhren zur Centraal Station. Alle blickten noch einmal aus den Autofenstern und sahen die schmucken Amsterdamer Häuser an sich vorüberziehen, sie dachten, wie lange es wohl dauern würde, bis sich in ihrer Stadt ein ähnliches Bild von Sauberkeit und Unzerstörtheit zeigen würde. Sie parkten wieder auf dem Bahnhofsvorplatz, nahmen ihr Gepäck und liefen zu ihrem Bahnsteig. Sie umarmten zuerst Gerda, Siegfried und deren Kinder, weil der Zug nach Hannover vor dem nach Essen kam, und als er schnaubend einfuhr, bekamen die Kinder es mit der Angst zu tun.

Aber ihre Mütter drückten sie und sagten, dass das Schnauben nichts Schlimmes wäre. Gerda und Siegfried stiegen mit ihren Kindern ein und winkten von ihrem Waggonfenster aus. Eine Viertelstunde später fuhr der Zug nach Essen ein, wieder mit lautem Schnauben und mit Dampfstößen. Alle umarmten und küssten sich zum Abschied, die Großeltern nahmen die Enkelkinder auf ihre Arme und küssten sie besonders, ob die das nun wollten oder nicht.

„Bis zum Sommer!“, riefen die Essener den zurückbleibenden Holländern zu und verschwanden in ihrem Waggon, aus dem auch sie nach der Abfahrt noch lange winkten. Als der Zug schon Fahrt aufgenommen hatte, schrie plötzlich Bärbel auf:

„Ich habe den Hagelslag vergessen!“, und sie war lange Zeit darüber traurig.

„Lass Dir doch von Agnes ein paar Pakete schicken“, sagte Marga, „das dauert zwar ein paar Tage, bis Du sie hast, aber das macht doch nichts!“ Als sie sich der Grenze näherten, befiel sie nicht mehr ein Gefühl der Angst, wie das früher der Fall war, weil sie nie gewusst hatten, welchen Unberechenbarkeiten der Zöllner sie ausgeliefert sein würden. Zu dem Zeitpunkt war der Grenzübertritt kein Problem mehr, und als sie an die Grenze kamen, huschte der holländische Grenzbeamte durch ihr Abteil und sah sich nicht einmal mehr ihre Papiere an. Die deutschen Zöllner, die inzwischen an die Stelle der Besatzungssoldaten gerückt waren, gingen etwas strenger vor, vollzogen aber längst nicht mehr ein so rigides Verfahren wie ehemals, sie sahen sich die Papiere an, fragten, ob es etwas zu verzollen gäbe und gingen wieder.

Natürlich sahen sie in Wesel noch die vielen Zerstörungen, die Trümmerlandschaft, aber man glaubte doch, ein wenig von Wiederaufbau wahrnehmen zu können, wenn auch nicht sehr deutlich, aber man konnte Leute sehen, die mit der Reparatur ihrer Häuser beschäftigt waren. Als sie in das Ruhrgebiet einfuhren, wurde der erste positive Eindruck gleich wieder zunichtegemacht, dort lag immer noch alles in Schutt und Asche, es würde vermutlich Jahre dauern, bis ein akzeptables Stadtbild wiederhergestellt sein würde. Immerhin machte der Essener Hauptbahnhof wieder den Eindruck einer Reisestation und nicht mehr den einer Trümmerwüste, wenngleich es noch an allem fehlte, was dem Reisenden seinen Aufenthalt verschönern konnte. Sie stiegen aus dem Zug und liefen vor den Bahnhof, um in den Bus nach Bredeney zu steigen, sie erreichten das Bredeneyer Kreuz nach zwanzig minütiger Fahrzeit. Wieder sahen sie dort die lichtscheuen Menschen, die am Schwarzmarkt teilnahmen. Sie schenkten ihnen aber keine Beachtung, sondern sie liefen schnurstracks zu Bärbels Haus. Als Bärbel die Haustür geöffnet hatte, kamen ihnen Ringsdorffs entgegengelaufen, und sie umarmten sich alle zur Begrüßung.

„Wie war es denn in Amsterdam?“, fragte Martha gleich, noch bevor sie einen Schritt weitergegangen waren, und Bärbel antwortete:

„Lasst und doch erst einmal hereinkommen, wir erzählen gleich alles bei einer Tasse Kaffee, wenn wir uns gesetzt haben!“

Bärbel lief in die Küche und kochte eine große Kanne Kaffee, und Martha stellte Kuchen auf den Tisch, den sie am Ostersamstag zusammen mit Lisa gebacken hatte, und von dem noch ein großes Stück übrig war.

„Wir haben die Ostertage im Kreis unserer Verwandten verbracht“, erzählte Marga „und es genossen, von allen umsorgt zu werden.“

„Wann werdet Ihr denn das nächste Mal wieder nach Amsterdam fahren?“, fragte Lisa und Marga antwortete:

„Wir haben daran gedacht, im Sommer, so Ende August wieder hinzufahren und Agnes hat angeregt, dass wir Euch mitbringen sollen, sie sind dort alle ganz neugierig darauf, unseren ostpreußischen Vertriebenenbesuch kennen zu lernen, ihr solltet wirklich darüber nachdenken, im Sommer mitzukommen!“

„Aber wird das denn den Amsterdamern nicht zu viel, wenn sie so viele unterbringen müssen?“, fragte Martha.

„Agnes hat eigens darauf hingewiesen, dass sie für Euch auch noch Platz in ihrem Haus hätte!“, sagte Marga.

„Bis Ende August haben wir ja noch richtig viel Zeit, darüber nachzudenken, was haltet Ihr denn davon?“, frage sie an ihre Familie gerichtet. Lisa antwortete ohne groß zu überlegen:

„Ich fände es sehr interessant, einmal nach Amsterdam zu fahren und zu sehen, wie die Menschen in Holland leben.“

Otto zuckte nur mit seinen Schultern und meinte:

„Wenn Ihr meint!“, und er fügte sich ganz einfach immer dem, was Martha entschied.

Das war schon immer so, auch als sie noch in Königsberg lebten, wenn Martha etwas entschieden hatte, beugte sich Otto ihrem Entschluss. Das hieß nicht, dass Otto ein entscheidungsschwacher Mensch war, es war ihm in vielen Situationen nur einfach zu lästig, etwas zu entscheiden und dazu stehen zu müssen.

„Ich habe schon so viel von Amsterdam gehört, dass sie die Stadt der Freiheit und des leichten Lebens wäre, ich führe sehr gerne Ende August mit Euch!“, sagte Lisa.

„Wartet mit Eurer Entscheidung noch bis Ende August, vielleicht ändert Ihr Eure Haltung ja noch, aber grundsätzlich seid Ihr in Amsterdam willkommen!“, entgegnete Bärbel.

„Und wie habt Ihr die Ostertage verbracht?“, fragte sie im Anschluss Martha und sie antwortete:

„Hier ist alles ganz ruhig verlaufen, wir haben mit Bernd Eier im Garten gesucht und uns hinterher Soleier gemacht, die Bernd aber nicht gemocht hatte, ich habe am Ostersonntag und -montag etwas von Deinem Eingeweckten gekocht und dazu das Fleisch gebraten, das Petra uns dagelassen hatte, ich denke, dass Bernd sich sehr freut, dass seine Spielkameraden wieder da sind!“ Die Kinder hatten sich längst in die hinterste Wohnzimmerecke verzogen und spielten dort gemeinsam.

Peter vermisste seine LKWs, aber er wusste sich auch ohne sie mit den anderen zu vergnügen. Bärbel entschuldigte sich für einen Augenblick und schrieb Agnes eine Brief, in dem sie ihr mitteilte, dass sie gut in Essen angekommen wären, sie aber vergessen hätte, Hagelslag zu kaufen, „bitte schicke mir doch sechs Pakete, ich zahle sie Dir, wenn wir im Sommer wieder in Amsterdam sind!“ Sie wollte den Brief gleich am nächsten Tag zur Post bringen und ging wieder zu den anderen zurück, die sich gerade darüber unterhielten, was Piet im Gespräch angestoßen hatte.

„Den Sowjetkommunismus als Segen für Deutschland zu bezeichnen, halte ich für vollkommen vermessen“, sagte Otto, „man muss sich doch nur ansehen, wie es der Bevölkerung in der sowjetischen Zone geht und sich danach ein Urteil bilden!“

„Genau das haben wir auch erwidert, aber gemerkt, dass wir in unserer Diskussion so nicht weiterkamen und sie wieder abgebrochen!“, sagte Werner. Am nächsten Tag fing für alle wieder der Alltag an, Lisa und Manfred gingen in die Praxis, Werner und Marga in ihre Lehranstalten. Die beiden alten Ringsdorffs und Bärbel saßen mit den Kindern beim Frühstück, Bärbel hatte sich ein Exemplar der erstmalig erschienen Rheinischen Post gekauft und Käse und gutes Roggenbrot mitgebracht. Sie verschlang die Zeitung, wenngleich sie noch sehr dünn war und nur die wichtigsten Nachrichten enthielt, aber Ringsdorffs zeigten an der aktuellen Tagespolitik nur wenig Interesse.

Das war es, was Bärbel so vermisste, sie wollte sich gern mit jemandem im Gespräch austauschen können, sich mit ihm streiten, aber da musste sie eben zurückstecken. Sie hatte auf dem Weg zum Lebensmittelhändler und zum Bäcker die Post aufgesucht, den Brief nach Holland frankiert und eingeworfen, sie war gespannt, wie lange es dauern würde, bis sie Antwort von Agnes erhielt. Das Roggenbrot war wieder ausgezeichnet und bildete den vollkommenen Kontrast zu dem wabbeligen holländischen Weißbrot, das Bärbel aber auch ganz gern mit Hagelslag gegessen hatte. Am frühen Nachmittag kamen Marga und Werner nach Hause, Lisa gesellte sich in der Mittagspause zu ihnen und sie aßen zusammen zu Mittag. An einem Tag im Mai 1946 las Bärbel plötzlich in ihrer Zeitung, dass General Lucius D. Clay in der amerikanischen Zone einen Demontagestopp verhängt hatte, die demontierten Anlagen sollten an die Sowjetunion gehen, die aber mit den vereinbarten Lebensmittellieferungen nicht nachkam. In der Rheinischen Post wurde das als weiterer Baustein in der Trennungsmauer zwischen West und Ost angesehen, und man sah zunächst noch nicht, wie die verhärteten Fronten auf beiden Seiten aufgeweicht werden könnten. Bärbel fiel bei der Zeitungslektüre auf, dass die zuständige Redaktion bei der Rheinischen Post sehr stark antisowjetisch eingestellt war und kein gutes Haar an der sowjetischen Zonenpolitik ließ, ja, man unterstellte der Sowjetunion sogar imperialistisches Gebaren, weil sie sich einen cordon sanitaire aus Vasallenstaaten zulegte, der gegen den kapitalistischen Westen gerichtet sein sollte.

Ringsdorffs, die ohnehin beide nicht gut auf die Russen zu sprechen waren, weil sie ihnen schließlich gewaltsam die Heimat genommen hatten, gaben der Zeitung in ihrer Auslegung der sowjetischen Politik Recht und zwar vorbehaltlos, was Bärbel nicht weiter verwunderte. Als es langsam wärmer draußen wurde, begann für Bärbel und ihre Familie wieder die Gartenarbeit, die während des zurückliegenden Winters vollständig geruht hatte. Dieses Mal halfen aber Martha und Otto mit, sodass Bärbel nicht unbedingt auf die Hilfe der jungen Eltern angewiesen war. Nur wenn es darum ging, schwere Arbeiten zu verrichten, bat sie Werner und Manfred um ihre Hilfe, ansonsten kam sie aber mit Lisa und den beiden alten Ringsdorffs prima zurecht. Die Hauptarbeit bestand für Bärbel im Mai darin, das riesige Kartoffelbeet umzugraben und dabei brauchte sie schon die Unterstützung von Werner und Manfred, sie besaß zwei Spaten, sodass die beiden gemeinsam das Land umgraben konnten. Natürlich kamen sie dabei ordentlich ins Schwitzen und Bärbel brachte ihnen Bier und etwas zu essen. Schließlich schafften sie aber das gesamte Kartoffelbeet an einem Nachmittag und waren hinterher reichlich geschafft, Manfred hatte am Mittwochnachmittag seine Praxis geschlossen und Werner hatte einen vorlesungsfreien Nachmittag.

Bärbel hatte einen Sack Setzkartoffeln besorgt und ging am nächsten Tag zunächst daran, mit Martha und Otto das Land zu harken, damit die Erde fein zerkleinert wurde. Die Arbeit des Kartoffelsetzens erforderte ein abgestimmte Arbeiten: Otto nahm den Spaten und hob in einer Reihe, die sie vorher mit einem Band abgesteckt hatten, ein Loch in Spatentiefe aus. In dieses Loch legte Bärbel im Anschluss eine Setzkartoffel mit den Augen nach oben, danach legte Martha eine Handvoll Mist auf die Kartoffel und Otto warf das Loch wieder zu. So verfuhren sie Reihe für Reihe, bis der Sack mit den Setzkartoffeln leer war, und sie das gesamte Kartoffelbeet bepflanzt hatten. Danach hieß es, bis zum Herbst zu warten und die Kartoffeln wieder auszumachen. Bärbel hoffte, dass sie bei dieser intensiven Vorarbeit eine gute Kartoffelernte einfahren würde. Was im Garten noch zu tun blieb, war das Säen von Bohnen, Erbsen und Möhren, das Martha und Otto übernahmen und das Säubern der Obstbaumbeete, auch die Beerensträucher mussten von Unkraut befreit werden. Sie waren insgesamt eine ganze Woche beschäftigt, Bärbel säte zum Schluss noch Salat und kümmerte sich um die Kräuterspirale, die sie im letzten Jahr angelegt hatte und die recht ertragreich gewesen war. Jetzt musste sie aber von den verdorrten Kräuterresten befreit und mit Erde aufgefüllt werden, bevor Bärbel daranging, neue Kräuter einzusäen. Als sie mit Ringsdorffs nach getaner Arbeit über den Garten blickte, sah sie unkrautfreies frisches Land, das nur darauf wartete, dass es in ihm spross.

Längst hatte Bärbel das erwartete Paket von Agnes zugesandt bekommen, und Agnes hatte einen Brief beigelegt, in dem sie schrieb, dass sie sich schon auf Ende August freute, wenn sie wieder alle kämen, dieses Mal hoffentlich mit Ringsdorffs, und sie hatte zwei Ausrufezeichen dahinter gesetzt. Bärbel hatte mit den beiden Alten noch nicht wieder über die Amsterdamreise gesprochen und ihnen jetzt gesagt, dass die Holländer sie quasi erwarteten und sie nicht einfach zu Hause bleiben könnten. Schließlich ließen sich Martha und Otto breitschlagen und gaben ihr Einverständnis, wenngleich Martha nicht ganz wohl war bei dem Gedanken, ins Ausland zu reisen, aber Bärbel beschwichtigte sie und redete auf sie ein, dass sie da keine Befürchtungen zu haben brauchte, Holland wäre zwar Ausland, so weit aber auch nicht, allein nach Berlin wäre es doppelt so weit wie nach Amsterdam.

„Wollen wir denn in Holland wirklich baden gehen?“, fragte Martha und Bärbel antwortete:

„Ja natürlich, wir fahren nach Zandvoort schon allein der Kinder wegen, die sich dort am Strand pudelwohl gefühlt haben, Du kannst von mir einen Badeanzug haben, und für Otto habe ich bestimmt noch eine Badehose von Georg!“

„Das letzte Mal war ich vor Jahren zusammen mit Otto, Lisa und ihrem Mann im Frischen Haff baden, seitdem nicht mehr, ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch schwimmen kann!“, entgegnete Martha.

„Schwimmen verlernt man nicht!“, antwortete Bärbel, „im Übrigen musst Du gar nicht schwimmen, es reicht völlig aus, sich am Strand im vorderen Bereich des Wassers aufzuhalten und sich die Wellen auf den Körper krachen zu lassen!“ Im August 1946 vollzogen sich in der britischen Zone Ländergründungen, die bisherige Verwaltungsgliederung in die vier kleineren Länder Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold, die zwei Stadtstaaten Hamburg und Bremen, in Schleswig-Holstein, in Hannover und Westfalen und den Nordteil der preußischen Rheinprovinz wurde aufgegeben, und es wurden die Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen gegründet, die beiden Stadtstaaten bleiben bestehen. Die Besatzungsbehörden favorisierten eine bundesstaatliche Konstruktion mit mit jeweils einer Zentralgewalt, die den Parteien einen großen Einfluss beließ. Es gab sogenannte Zentralämter, die die Bereiche Handel und Industrie, Ernährung und Landwirtschaft, Justiz, Gesundheit, Post- und Fernmeldewesen, Verkehr, Arbeit, Flüchtlinge öffentliche Sicherheit und Erziehung kontrollierten und mit Deutschen besetzt waren. Der im Februar 1946 gebildete Zonenbeirat war die Körperschaft, die quasi die Politik in den neugegründeten Ländern bis zur Schaffung von Bundestag und Bundesrat mitbestimmte, obwohl er formell nur Empfehlungen für die verschiedenen Politikfelder gab.

Hinter den Ländergründungen, die im Vergleich zur amerikanischen Zone erst spät erfolgten, stand die Überlegung, dem Föderalismus zur Geltung zu verhelfen. Damit folgte man dem aus dem Potsdamer Abkommen resultierenden Geist nach Dezentralisierung, die Länder sollten eigene Hoheitsbefugnisse und damit Souveränitätsrechte erhalten, um gegenüber einer Zentralinstanz einen mächtigen Gegenpol bilden zu können. Die Briten gestalteten das Land Nordrhein-Westfalen aus dem Nordteil der preußischen Rheinprovinz und der preußischen Provinz Westfalen, das Land Lippe wurde 1947 Nordrhein-Westfalen zugeschlagen, sodass das Land seinen endgültigen Zuschnitt bekam.

Ein weiterer Beweggrund, dieses Land zu gründen, lag in der Absicht verborgen, einen industriellen Ballungsraum in ein Land einzubinden und so einer Zentralinstanz zu unterziehen, auch sollte es dem sowjetischen oder französischen Kontrollzugriff entzogen werden. Es hat beim Land Nordrhein-Westfalen keinen identitätsstiftenden Vorgängerstaat gegeben, auch keine Überlegungen, altes Brauchtum oder Volksstämme zusammenzuführen, sondern im Vordergrund stand wohl wirklich der Versuch, das Ruhrgebiet als Industriezentrum staatlich zu binden. Das Land hatte bei seiner Gründung rund 11.5 Mio. Einwohner, wobei das Ruhrgebiet allein 4.5 Mio. auf sich vereinigte. Die Landeshauptstadt wurde Düsseldorf, die nach Einwohnern zweitgrößte Stadt nach Köln, mit dieser Entscheidung wurde eine bis heute andauernde Städtefehde zwischen Düsseldorf und Köln begründet, die immer wieder neu befeuert wurde.

Die geografische Zentralität, die gewachsene Funktion als wirtschaftliches Entscheidungszentrum und das Bestehen unzerstörter Verwaltungsbauten gaben den Ausschlag bei der Bestimmung Düsseldorfs zur Landeshauptstadt. Das Land grenzte im Norden und Nordosten an Niedersachsen, im Südosten an Hessen, im Süden an Rheinland-Pfalz und im Westen an Belgien und die Niederlande. Bei der Gründung des Landes Niedersachsen spielten andere Überlegungen ein Rolle als bei der Gründung von Nordrhein-Westfalen. Es gab die Vorstellung, das Gebiet des späteren Niedersachsen in drei gleich große Staaten aufzuteilen, deren Existenz sich aus ihrer geschichtlichen Entstehung ableiten ließe. Doch in einer Sitzung des Zonenbeirates vom 20. September 1946 wurde dafür plädiert, die britische Besatzungszone in drei Flächenstaaten und also mit einem einheitlichen Niedersachsen aufzuteilen, Hauptstadt des Landes wurde Hannover. Mit der Verordnung Nr. 46 der britischen Militärregierung vom 23. Augst 1946 „Betreffend die Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen in der britischen Zone und ihre Neubildung als selbständige Länder“ wurde das Land Schleswig-Holstein nach der gleichen Verordnung gegründet wie die beiden anderen Länder. Deutlich wurde der Geist, aus dem sich die Ländergründungen vollzogen, es war die Abkehr vom Preußentum, von Preußen als dem Land des Militarismus, der Wiege der Weltkriege und der aggressiven Außenpolitik.

Schleswig-Holstein hatte nach dem Kriege die im Verhältnis zu seiner Bevölkerung meisten Vertriebenen aufnehmen müssen und war damit doppelt belastet, einerseits die eigene Bevölkerung und dazu noch die Vertriebenen versorgen zu müssen. Kiel setzte sich gegen Schleswig als Landeshauptstadt durch, das geschah auf Veranlassung der britischen Militärregierung, und es tagte auch in Kiel der erste Landtag schon am 26. Februar 1946, der noch nicht gewählt worden, sondern von der Militärregierung ernannt worden war. Damit war die britische Besatzungszone in drei Flächenstaaten aufgeteilt worden, dazu kam Hamburg. Bremen blieb unter amerikanischem Einfluss, obwohl es als Exklave von der britischen Besatzungszone umschlossen war, weil die Amerikaner für sich einen Seehafen beanspruchten. An einem Morgen kurz vor ihrer Abreise nach Amsterdam sagte Bärbel, nachdem sie die Rheinische Post gelesen hatte, zu Martha und Otto:

„Wir sind jetzt Nordrhein-Westfalen und leben in einem Bindestrich-Land!“ Aber das interessierte die beiden Ostpreußen herzlich wenig, für sie war ihre Heimat Königsberg und würde es auch immer bleiben. Dabei sollten sie sich später durchaus auch als Zugezogene begreifen, aus denen sich besonders das Ruhrgebiet schon seit Jahrzehnten speiste, es hatte eine kulturelle Identität herausgebildet, die eben nicht in landesspezifischen Wurzeln gründete, sondern ein Konvolut aus allen möglichen Herkünften war.

Am späten Nachmittag saßen sie alle zusammen in Bärbels Wohnzimmer und besprachen die Entwicklung, die über sie hinweggezogen war, und auf die sie keinen Einfluss hatten ausüben können. Nordrhein-Westfalen oder North Rhine-Westphalia, wie das Land auf Englisch hieß, musste ihnen wie ein Kunstprodukt erscheinen, und das war es ja wohl auch. Anders als in den anderen Ländern, in denen homogene Bevölkerungsgruppen zusammenwuchsen, wurde hier einfach alles zusammengewürfelt, der Eindruck drängte sich einem jedenfalls auf. Aber letztlich blieb die Schaffung des neuen Nordrhein-Westfalen für seine Bewohner eine bloße Hülle, innerhalb derer sich auch Ringsdorffs, Theißens und Goldschmids zurecht finden mussten, und das gelang ihnen insgesamt ganz gut. Nachdem in Essen die Krupp-Werke demontiert worden waren, deren Hauptaufgabe die Produktion von Rüstungsgütern gewesen war, wurde dort jetzt auf Friedensproduktion umgestellt, und es wurden Lokomotiven und Waggons hergestellt. Wenngleich man 1946 weiß Gott noch nicht von einer wirtschaftlichen Genesung sprechen konnte, war doch ein Hauch von Wirtschaftswachstum feststellbar, das durch die Neuschaffung von politischen Strukturen nur beflügelt werden konnte. Ganz stark an der Schaffung des Landes Nordrhein-Westfalen beteiligt war der britische Außenminister Bevin, der, obwohl von Hause aus Sozialist, erklärter Antikommunist war, er dachte durchaus schon in den Kategorien, die die sich anbahnende Blockbildung diktierte.

Den ganz leicht zu spürenden wirtschaftlichen Aufschwung bemerkten Lisa und Manfred in der Praxis an den Gesichtern der Patienten, die nicht mehr so wie Trauerklöße dasaßen und auch einmal lachten. Marga spürte das an den Schülern, die wieder so quirlig herumzurennen schienen wie vorher, und Werner sah bei seinen Studenten, dass sie nicht mehr so wie die Hungerskelette ausschauten.

„Also Martha, Lisa, Bernd und Otto kommen mit nach Amsterdam, und ich habe für uns alle auch schon Fahrkarten gekauft, wir fahren übermorgen ab!“, sagte Bärbel in die Runde.

„Wie lange wollen wir eigentlich in Holland bleiben?“, fragte Petra und hoffte doch darauf, dass sie mindestens eine Woche in Amsterdam blieben. Bärbel antwortete:

„Ich denke, dass wir nicht länger als eine Woche bleiben sollten, danach haben die Holländer von uns allen die Nasen voll!“

„Hat sich Gerda eigentlich mal gemeldet?“, fragte Manfred, es interessierte ihn, ob seine Schwester mit ihrer Familie am gleichen Tag anreisen würde wie sie.

„Sie hat in der letzten Woche geschrieben und auf einen Brief, den ich ihr geschickt hatte, geantwortet, ja, Siegfried, die Kinder und sie kommen übermorgen in Amsterdam an“, antwortete Bärbel.

„Ich finde, wir sollten heute Abend alle zusammen bei uns essen und uns gemeinsam überlegen, worauf alle Hunger haben!“, schlug Werner vor und nachdem alle in die Runde geblickt und niemand einen Einwand erhoben hat, war die Sache abgemacht.

„Ich erkläre mich dazu bereit, das Fleisch zum Essen beizusteuern!“, sagte Petra, weil sie inzwischen durch die vielen Naturalgaben ihrer Patienten über ein regelrechtes Fleischlager verfügte, das aufgebraucht werden musste. Sie fuhr gleich nach Hause und besorgte ein großes Stück Rindfleisch aus der Keule.

„Wir müssen Kartoffeln schälen, Bohnen aus dem Keller hochholen und jemand muss zum Milchbauern und Sahne mitbringen, die wir für den Nachtisch brauchen, denn es wird Obst mit Sahne zum Nachtisch geben“, sagte Bärbel. Martha ging gleich ans Kartoffelschälen und wurde dabei von Marga unterstützt, Bärbel ging in den Keller und holte Bohnen und Obst hoch, Kartoffeln waren ausreichend in der Küche vorhanden. Inzwischen war Petra mit dem Fleisch erschienen und Bärbel gab es als Erstes in einen Bräter und briet es von allen Seiten scharf an. Danach gab sie allerlei Grünzeug hinzu, Zwiebeln, Möhren, Sellerie und Lauch und ließ das Fleisch auf ganz kleiner Flamme in ein ganz klein wenig Wasser vor sich hinschmurgeln. Die Bohnen mussten nur erwärmt und die Kartoffeln in der letzten halben Stunde des Fleischgarens aufgesetzt werden. Marga schlug Sahne und gab das Obst, vornehmlich Beeren, in eine Schüssel. Danach setzten sich alle wieder an den Tisch und Werner holte Getränke, er stellte für die Männer Bier und für die Frauen Wein auf den Tisch und als sich Petra gegen Wein aussprach, brachte er auch ihr eine Flasche Bier.

Sie prosteten sich alle zu und wünschten sich gegenseitig einen angenehmen Hollandaufenthalt. Otto fragte:

„Was trinken denn die Holländer so, wenn sie in gemütlicher Runde zusammensitzen?“ Bärbel antwortete:

„Sie trinken das Gleiche wie wir, Bier und Wein, und Robert hat auch einen sehr guten Cognac, Max einen sehr guten Remy Martin!“ Eine halbe Stunde bevor der Rinderbraten fertig war, deckten die Frauen den Tisch und Martha setzte die Kartoffeln auf. Marga erwärmte die Bohnen auf kleiner Flamme und Bärbel kümmerte sich um eine leckere Bratensoße, die sie aus dem Bratenfond mit Brühe und ein wenig Sahne herstellte. Sie nahm das riesige Fleischstück aus dem Bräter und stach mit einer Gabel hinein, um zu prüfen, ob es gut durchgebraten wäre. Sie befand den Braten für gut und legte ihn für eine Zeit in die Soße zurück. Als das Essen soweit fertig war, nahm Bärbel den Braten wieder aus dem Topf und zerschnitt ihn mit ihrem großen scharfen Küchenmesser in Scheiben. Martha goss die Kartoffeln ab und gab sie in eine Servierschüssel, Bärbel legte das Fleisch auf eine Platte und füllte die Soße in eine Sauciere. Marga schichtete die Bohnen auf eine tiefen Teller und sie brachten anschließend das Essen auf den Tisch, an dem sie alle versammelt waren.

Die Kinder mussten aber noch aus ihrer Spielecke geholt werden und setzten sich nur widerwillig zu den anderen, weil sie von dem Fleisch eigentlich nichts essen wollten und von den Bohnen schon gar nichts. Höchstens, dass sie zerdrückte Kartoffeln mit Soße aßen, ihre Eltern ließen ihnen das durchgehen. Das Fleisch war sehr zart und mager und schmeckte hervorragend, aber auch die Bohnen und Kartoffeln aus Bärbels Garten waren gut, und alle aßen sie mit großer Zufriedenheit. Es wurde bei Tisch so gut wie gar nicht geredet und erst zum Schluss, als alle ihr Fleisch gegessen und auch noch einmal nachgenommen hatten, unterhielten sie sich darüber, was sie in Amsterdam unternehmen würden. Wenn sie eine Radtour machen würden, müssten sie noch drei weitere Räder leihen, was aber Robert vielleicht schon getan hätte, sie würden sicher das Rijksmuseum noch einmal besuchen und den Ostpreußen die alten holländischen Meister zeigen. Als Bärbel endlich den Nachtisch auf den Tisch stellte, musste man die Kinder, die sich längst wieder in ihre Spielecke verzogen hatten, gar nicht erst rufen. Sie kamen wie von Geisterhand geführt und hielten Bärbel ihre Schälchen hin, Bärbel gab ihnen von dem Obst und ihre Mütter von der Sahne, jedes der Kinder wollte zusätzlich noch Zucker auf sein Schälchen haben. Sie verputzten das Obst im Nu und nahmen auch noch einmal nach, auch die Erwachsenen genossen die leckeren Beeren aus Bärbels Garten.

Am nächsten Tag ging es ans Packen, Bärbel und ihre Verwandtschaft hatten das schon mehrere Male hinter sich, und es war für sie nichts Besonderes mehr.

Martha, Lisa und Otto waren aber regelrecht nervös und fragten Bärbel andauernd, ob sie dieses oder jenes einpacken sollten. Bärbel wies darauf hin, dass Sommertemperaturen herrschten und sie deshalb auf warme Sachen getrost verzichten könnten. Martha, Lisa und Otto sollten höchstens eine leichte Jacke mitnehmen, damit sie etwas zu Überziehen hätten, wenn sie abends einmal draußen säßen und es frischer werden würde. Bärbel hatte Martha und Otto eine alte Reisetasche von sich gegeben, weil sie von Ostpreußen ohne Koffer oder sonstiges Reisegepäck gekommen waren und etwas brauchten, worin sie ihre Sachen transportieren konnten.

„Lisa soll sich von Marga einen Badeanzug und von Petra eine von Peters Badehosen für Bernd geben lassen!“, sagte Bärbel zu Martha und gab ihr einen von ihren Badeanzügen und eine alte Badehose von Georg. Die war zwar schon längst aus der Mode gekommen, würde aber immer noch ihre Dienste verrichten. Als sie am Nachmittag mit dem Packen fertig waren, setzten sich die Alten hin und tranken eine Tasse Kaffee, Marga und Werner hatten sich zu ihnen gesellt. Marga würde später anfangen zu packen, genau wie Lisa, die in diesem Augenblick von der Praxis nach Hause gekommen war, sich auch noch mit an den Tisch setzte und mit den anderen Kaffee trank.

Die Ostpreußen waren richtiggehend aufgeregt vor der großen Reise, die sie unternehmen würden, die in Wirklichkeit aber keine so große Reise war. Sicher, man führe ins Ausland nach Holland, aber schon die Kürze der Entfernung ließ die Reise doch in ihrer Bedeutung schrumpfen. Das spielte für Martha, Lisa und Otto aber keine Rolle, offensichtlich hatten sie noch nie zusammen eine größere Reise unternommen. Otto war einmal vor Jahren mit dem Zug von Königsberg nach Berlin gefahren, was ihm vorgekommen war wie eine Fernreise, das war aber auch alles. Lisa hatte sich von Bärbel zwei Beutel geben lassen, in die sie die Sachen von Bernd und sich packte und sie war im Nu fertig damit. Ihre Beutel standen neben Marthas Reisetasche abreisebereit in der Diele.

„Unser Zug fährt Morgen Mittag und es reicht, wenn wir um 11.00 h mit dem Bus zum Bahnhof fahren“, sagte Bärbel.

„Petra, Manfred und ihre Kinder kommen vorher bei uns vorbei, und wir laufen gemeinsam zum Bredeneyer Kreuz zur Bushaltestelle.“ Am nächsten Morgen saßen sie alle beim Frühstück und Bärbel hatte eine Rheinische Post und zwei Roggenbrote gekauft, die sie mit nach Amsterdam nehmen wollte, sie wollte auch die Rheinische Post mitnehmen und sie Agnes und Robert zu lesen geben, sie würden sich sicher freuen, Nachrichten aus Deutschland studieren zu können, dachte Bärbel. Um 9.30 h erschienen Petra und ihre Familie und sie setzten sich noch mit an den Tisch und tranken eine Tasse Kaffee, sie hatten ihr Reisegepäck im Auto gelassen und würden es mitnehmen, sobald sei zum Bredeneyer Kreuz aufbrächen.

„Hat in der Zeitung etwas Besonderes gestanden?“, fragte Manfred und Bärbel antwortete:

„Nein, es gibt keine Meldungen, über die es sich zu reden lohnt“, und Werner ergänzte:

„Es ist ja auch nichts passiert, was Erwähnung zu finden verdient hätte.“ Gegen 10.30 h brachen sie auf, sie waren eine richtige Reisegruppe und die Menschen, die ihnen auf dem Weg zur Bushaltestelle begegneten, drehten sich nach ihnen um. Als der Bus kam, stiegen sie ein und die Ostpreußen, die, außer Martha und den Kindern, noch nie mit dem Bus gefahren waren, fanden lobende Worte für das verlässliche Verkehrsmittel, mit dem man problemlos in die Stadt fahren könnte. Die Kinder wollten ganz hinten sitzen, von wo aus man das meiste mitbekam, sowohl was drinnen im Bus als auch was draußen an Sehenswertem geschähe. Je mehr sie sich der Innenstadt und damit dem Hauptbahnhof näherten, desto verwüsteter sah es um sie herum aus und Otto sagte:

„Viel ist seit dem Bombenangriff auf Essen an Aufräumarbeiten noch nicht geschehen!“ Bärbel entgegnete:

„Das hat vorher noch viel schlimmer ausgesehen, man musste zuerst die Straßen freiräumen, damit man sich überhaupt bewegen konnte, die Wiederherstellung der Gebäude wird noch Jahre in Anspruch nehmen.“

Sie stiegen am Bahnhof aus und liefen durch die große Bahnhofshalle, wo die Menschen her hetzten wie seit eh und jeder und einen verbissenen Gesichtsausdruck trug. Die Reisegruppe lief auf ihren Bahnsteig und musste noch auf ihren D-Zug von Köln nach Amsterdam warten, die Kinder schauten ehrfurchtsvoll auf die ein- und ausfahrenden fauchenden und zischenden Dampfzüge, bis aber die Lautsprecherdurchsage ihren Zug ankündigte. Der fuhr gleich darauf ein, und als die riesige Dampflok wie ein fauchender Drache an ihnen vorbeirollte, schmiegten sich die Kinder vor lauter Furcht an ihre Mütter. Sie stiegen alle in den Zug ein und belegten zwei Abteile, denn sie waren dreizehn Personen, ihre Abteile lagen gleich nebeneinander, sodass sie sich während der Fahrt ohne Schwierigkeiten besuchen konnten. In einem Abteil saßen die Alten und alle Kinder und in dem anderen die jungen Eltern, die froh waren, einmal nicht auf ihre Kinder aufpassen zu müssen. Wortlos blickten Martha und Otto aus dem Fenster, als der Zug die Trümmerwüste passierte, und erst als sie danach durch das nördliche Münsterland fuhren, das der Krieg vollkommen verschont zu haben schien, sagte Otto:

„Schön ist es bei Euch!“ Danach aber kamen sie an dem völlig dem Erdboden gleichgemachten Wesel vorbei und Otto verstummte wieder, bis er fragte:

„Wie lange dauert es noch bis zur Grenze?“, und Bärbel antwortete:

„Höchstens noch zwanzig Minuten, Ihr könnt Eure Ausweispapiere schon einmal hervorholen!“ Die Besatzungssoldaten, die vor der Grenze durch den Zug patrouillierten, hatten nach wie vor finstere Mienen und waren kaum zu einer freundlichen Geste fähig. Sie verließen den Zug an der Grenze wieder, und nachdem der deutsche Zoll durch war, und der holländische Zoll nur flüchtig einen Blick in die Papiere geworfen hatte, fuhren sie durch die propere holländische Landschaft und passierten schmucke Dörfer, von da an klebten die beiden alten Königsberger geradezu an den Fensterscheiben und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als sie nach Utrecht kamen, erzählte Bärbel, wie sie alle einmal in der Stadt waren und zeigte auf den Dom, in dessen Nähe sie in einem Cafe gesessen hätten. Eine halbe Stunde später erreichten sie die Centraal Station in Amsterdam und wurden auf dem Bahnsteig von Agnes und Doris erwartet. Beide öffneten ihre Arme und fingen die Kinder auf, die ihnen entgegen rannten, nur Bernd blieb verschüchtert bei seiner Mutter. Agnes und Doris umarmten all ihre Verwandten und Bekannten, gaben Martha, Lisa, Otto und Bernd die Hand und hießen sie herzlich in Amsterdam willkommen. Die vier Ostpreußen sahen sich unsicher um und folgten den anderen durch den Bahnhof zum Bahnhofsvorplatz, wo Agnes und Doris ihre Autos abgestellt hatten. Dort stellte sich die Reisegruppe wie immer erst einmal hin und ließ die Stadtsilhouette mit den schönen Stadthäusern auf sich wirken. Martha, Lisa und Otto waren sehr angetan von dem Stadtbild und fühlten sich gleich wohl in Amsterdam, dazu kam das herrliche Sommerwetter, das bei allen für gute Stimmung sorgte.

Sie luden ihr Gepäck in die Kofferräume und stiegen in die Autos, sie mussten sich hineinquetschen und die Kinder zum Teil auf den Schoß nehmen, weil sie doch eine beträchtliche Personenzahl waren. Agnes und Doris steuerten ihre Wagen in die Keizersgracht, und als sie vor dem Goldschmid-Haus ankamen, wurde sie draußen schon von den anderen erwartet, und es vollzog sich das übliche Begrüßungszeremoniell.

„Es freut mich sehr, dass Ihr Euch überwinden konntet und mitgekommen seid!“, sagte Robert zu den Ostpreußen, die er gleich duzte, was den Umgang miteinander erheblich vereinfachte. Alle stellten sich mit ihren Vornamen vor, was eine Zeit lang dauerte, „aber das ist noch nicht alles“, sagte Agnes, „ich muss gleich noch einmal zum Bahnhof und den Rest der Familie abholen!“

„Wie schön es hier ist“, sagte Lisa, „und dieses riesige Haus ist Euer?“, und sie wies auf das Goldschmid-Haus im Hintergrund und Robert antwortete:

„Wir wohnen seit zwölf Jahren hier!“

Die Kinder rannten an das Grachtenufer und Bernd war von der Gracht genauso fasziniert wie die anderen Kinder, und sie fingen gleich an, Steine ins Wasser zu werfen, die sie auf der Ufermauer fanden.

„So, nun lasst uns alle ins Haus gehen!“, rief Agnes den vielen Menschen zu, die vor ihrer Haustür standen und sie lotste alle durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, wo sie zwei Tische zusammengeschoben und für ausreichend Sitzplätze gesorgt hatte. Die Ostpreußen kamen aus dem Staunen nicht heraus und besahen sich die schöne Terrasse und den Garten, vom Haus hatten sie, als sie durch das Wohnzimmer liefen, nur einen Teil sehen können.

„Nehmt Platz, es gibt gleich Kaffee und Kuchen!“, forderte Robert seine Gäste auf und er half zusammen mit Bärbel, den Kaffee zu holen und Stroopwafels und Apfelkuchen, den Agnes beim Bäcker geholt hatte, auf den Tisch zu stellen. In der Küche überreichte Bärbel Agnes die beiden Roggenbrote und die Rheinische Post, und sie freute sich über die Sachen, „die Zeitung werde ich in aller Ruhe lesen, wenn ich dazu Zeit finde!“, sagte sie. Die Stroopwafels waren für die Ostpreußen neu, und Lisa fragte danach, Piet erklärte, dass zwischen die beiden Waffelhälften eine extrem süße Sirupmasse gegeben wurde, die manche erwärmten, um sie zu verflüssigen bzw. zu kristallisieren. Die Kinder stürzten sich auf die Stroopwafels und führten sie in ihre Münder, dazu hatte Bärbel allen Kindern Kakao gekocht und die Erwachsenen mussten pusten, bis er eine Trinktemperatur erreicht hatte.

„Wie gefällt es Euch in Amsterdam?“, fragte Otto Agnes und Robert und die beiden antworteten ohne Umschweife:

„Wir sind damals als Juden aus Deutschland emigriert, als man das noch ohne große Probleme tun konnte, Doris hat schon immer hier mit ihrer Familie gelebt uns und zunächst aufgenommen, bis wir dieses schöne Haus gekauft haben.“

„Da habt Ihr aber reichlich Glück gehabt, so ein schönes Haus zu bekommen!“, entgegnete Martha und sie fragte Iris und Doris:

„Wie weit von hier wohnt Ihr denn?“ Doris antwortete:

„Wir laufen von hier zehn Minuten bis zu uns“, und Iris sagte:

„Zu uns ist es ein Stückchen weiter, wir fahren mit unserem Wagen etwas über zehn Minuten bis zu uns.“

„So, liebe Leute, ich muss noch einmal zum Bahnhof und Gerda und ihre Familie abholen, bis gleich!“, sagte Agnes und verschwand. In der Zwischenzeit tranken die anderen Kaffee und unterhielten sich. Robert wollte wissen, was sich mittlerweile so in Deutschland ereignet hatte:

„Ich habe gelesen, dass Ihr jetzt in einem Land mit Namen Nordrhein-Westfalen lebt.“

„Ja“, sagte Werner, „seit dem 23. August leben wir in Nordrhein-Westfalen, viel hat sich dadurch für uns aber nicht geändert, die Briten haben ihre Zone in drei Länder aufgeteilt, in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, sie wollten wohl, dass das Ruhrgebiet staatlich eingebunden und kontrolliert wird, ganz deutlich ist aber auch der Wille, alle preußischen Relikte auszulöschen.“

„Preußen war immer schon der Herd für kriegerische Auseinandersetzungen!“, sagte Piet mit einem Mal, aber bevor er damit ein Gespräch initiieren konnte, sagte Robert:

„Ihr könnt, bis Agnes mit den anderen wieder hier erscheint, Euer Gepäck auf Eure Zimmer bringen, Agnes hat noch ein Zimmer freigemacht, wir haben uns überlegt, dass Martha und Otto in Bärbels Zimmer gehen und Bärbel mit Lisa und Bernd in dem neuen Zimmer schlafen, geht nur alle rauf, Ihr werdet schon sehen, wie wir uns das gedacht haben!“ Als sie in den ersten Stock hoch liefen, waren Martha, Lisa und Otto sprachlos über so viel Platz, den es in Agnes´ und Roberts Haus gab, und sie bezogen ihre Zimmer. Den Kindern war das alles noch bekannt, und sie sprangen gleich auf ihre Betten und hüpften auf ihnen herum.

„Wollt Ihr nicht alle eine Stunde schlafen?“, fragte Petra die Kinder und erntete mit ihrer Frage vehementen Protest, an Schlaf war für die Kinder kein Denken, dazu waren sie viel zu aufgekratzt. Sie machten sich alle oben im Bad ein wenig frisch und liefen anschließend wieder nach unten auf die Terrasse, und kaum waren sie dort, kam Agnes mit Gerda, Siegfried und deren Kindern. Wie war da die Wiedersehensfreude doch groß, alle lagen sich in den Armen und herzten sich, Gerda und Siegfried begrüßten auch die Ostpreußen auf das Herzlichste. Alle setzten sie sich wieder hin und führten das Kaffeetrinken fort.

„Doris und ich werden im Laufe der nächsten Tage wieder eine Schwarzwälder Kirschtorte backen!“, kündigte Agnes an.

„Und heute Abend wird gegrillt!“, kündigte Robert an, „Doris und Agnes haben einen Kartoffelsalat nach Art des Hauses bereitet, und wir haben von unserem Metzger reichlich Fleisch besorgt und auch an die Kinder gedacht, für die es Würstchen gibt!“

Martha, Lisa und Otto kannten das Grillen von zu Hause nicht, in Königsberg hatte man nicht gegrillt, wenn man zu Hause mit Besuch zusammengesessen hatte und es etwas zu essen gab, brachte man gutes Brot auf den Tisch und reichte dazu Dauerwurst, Fleischwurst oder Buletten. Die drei waren sehr gespannt auf das Grillen, sie hatten schon oft davon gehört, aber noch nie bei jemandem daran teilgenommen, es war heute Abend für sie das erste Mal. Sie ließen sich die Stroopwafels schmecken und Lisa sagte:

„Die sind zwar sehr süß, sie schmecken aber zum Kaffee ausgezeichnet, da haben sich die Holländer etwas Gutes einfallen lassen!“ Den Kindern war es am Tisch zu langweilig, sie rannten auf den Rasen und legten sich ins Gras, Robert hatte den Rasen noch an diesem Tag gemäht, und der Rasen roch noch nach frischem Gras. Nachdem sich die Ostpreußen langsam an die neue Umgebung gewöhnt hatten, forderte sie Robert auf:

„Erzählt doch einmal, was Ihr so in Königsberg gemacht, und wie Ihr dort gelebt habt!“ Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens sagte Otto:

„Wir hatten in Königsberg eine schöne große und helle Wohnung und uns dort sehr wohl gefühlt, ich hatte einen kleinen Schneidereibetrieb und Martha war zu Hause, es ging uns überdurchschnittlich gut, bis auf die letzten Kriegsjahre, in denen die Menschen nicht mehr das Geld hatten, um sich Kleidung anfertigen zu lassen.“

„Und ich habe bei einem Rechtsanwalt in der Kanzlei gearbeitet“, sagte Lisa, „ich wollte mit meinem Mann schon bald in eine eigene Wohnung ziehen“, und als sie das sagte, schossen für einen ganz kurzen Moment Tränen in ihre Augen, Lisa fing sich aber gleich wieder und fuhr fort:

„Was mit meinem Mann geschehen ist, habt Ihr sicher alle gehört!“

„Wie seid Ihr denn zu Bärbel, Marga und Werner gekommen?“, fragte Gerda und Lisa antwortete:

„Ich stand eines Tages beim Lebensmittelhändler und wollte Milch kaufen, als Werner mir die letzte Flasche vor der Nase wegkaufte und ich ihn deshalb entrüstet anging, wozu ich eigentlich kein Recht gehabt habe, denn er war genauso Kunde wie ich auch, das Ergebnis war, dass Werner mir die Milch ließ und mich zu sich einlud, und auf diesem Wege sind wir miteinander bekannt geworden.“ Martha ergänzte:

„Wir fühlen uns sauwohl bei Bärbel und sind ihr eigentlich zu unendlichem Dank verpflichtet.“

„Na, nun übertreib´ mal nicht“, erwiderte Bärbel, „ich bin froh, dass mein großes Haus endlich einmal so genutzt wird, wie es vom Platz her vorgesehen ist, Otto näht ab und zu auf meiner alten Pfaff, er hat schon vieles geändert und für die Kinder auch schon Sachen genäht.“ Als Agnes das hörte, sagte sie:

„Otto, wenn Du Schneider warst, könntest Du, wenn wir Zeit dazu finden, vielleicht die Gardinen umnähen, die ich für unser Wohnzimmer gekauft habe?“

„Kein Problem“, entgegnete Otto da, „Du musst mir nur zeigen, wo Deine Nähmaschine steht und ich nähe Dir Deine Gardinen um.“ Piet, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hat, hielt es offensichtlich nicht länger aus, als er plötzlich sagte:

„Mit der Schaffung neuer Länder in Westdeutschland ist ja wohl die Teilung einseitig besiegelt!“, und Martha und Otto merkten, dass Piet wohl ein Gespräch über Politik anstoßen wollte. Bärbel hatte sie schon auf Piets plötzliche Attacken vorbereitet, und so waren die beiden nicht unbedingt überrascht, als er damit anfing. Werner nahm den Faden sofort auf und erwiderte:

„Man muss die Briten doch verstehen, dass sie neue politische Strukturen in ihrer Zone schaffen, denn es bleibt für sie als Fernziel, dass sich die Menschen in ihrer Zone selbst verwalten und nicht länger am Tropf Englands hängen.“

„Aber das hat sich ohne Absprache mit den Russen vollzogen, denen man immer vorwirft, eigene Wege zu beschreiten und damit die Teilung Deutschlands zu befördern.“ Da mischte sich Agnes ein und sagte mit weiser Bestimmtheit:

„Ich denke, dass man den britischen Standpunkt in dieser Frage verstehen muss und sehe, dass die Russen eigentlich die Weichen doch schon längst gestellt haben, niemand kann doch wohl im Ernst erwarten, dass der Westen das kommunistische System de Ostens einfach so übernimmt, nicht wahr!“ Marga sah Agnes an, als sie das sagte, da war sie wieder, die Agnes, die sie von früher kannte und von der sie Martha vorgeschwärmt hatte, deren Worte so viel galten, dass alle anderen verstummten und sich selbst Piet in sich zurückzog. Denn Agnes hatte mit ihren Worten angedeutet, dass damit das politische Gespräch für sie beendet wäre. Auch Robert war nicht daran interessiert, den Nachmittag über politische Gespräche zu führen, dazu hätten sie noch ausreichend Zeit und er sagte:

„Ich werde jetzt unseren Grill vorbereiten und Kleinholz hacken, ich meine, dass wir mit dem Grillen nicht allzu lange warten sollten!“

„Robert hat übrigens in der Nachbarschaft wegen Fahrrädern vorgefühlt und zusätzlich zu den drei Rädern, die wir damals geliehen hatten, noch drei weitere Räder in Aussicht, wenn wir also eine Radtour machen wollen, können wir das tun!“, sagte Agnes.

„Kann ich Dir bei der Grillvorbereitung behilflich sein, Robert?“, fragte Otto und Robert antwortete:

„Du kannst mir beim Tragen helfen und mit mir den Grill auf die Terrasse stellen!“ Martha fragte Agnes:

„Kann ich irgendetwas tun?“, aber Agnes winkte ab und sagte:

„Es ist ja alles soweit vorbereitet, wenn Bärbel und Marga mir gleich helfen, sind wir genug Leute, sonst treten wir uns gemeinsam nur auf die Füße!“ Die drei Frauen standen auf und räumten den Tisch ab, anschließend deckten sie ihn mit dem Grillgeschirr, holten den Kartoffelsalat, die Soßen, den Salat, das Brot und das Fleisch und stellten alles auf den Tisch.

„Du kannst die Sachen verteilen, wenn Du willst!“, sagte Agnes zu Martha und Martha stellte Teller an jeden Platz und legte Messer und Gabeln dazu.

Robert und Otto stellten den Grill auf die Terrassenseite und Robert legte Kleinholz auf einen Knubbel aus altem Zeitungspapier, er fragte in die Runde:

„Seid Ihr zum Grillen bereit, wenn ja, stecke ich das Feuer an!“, und alle gaben zu verstehen, dass sie bereit wären. Im Nu loderten die Flammen um das trockene Kleinholz und Robert gab ein wenig von seiner Holzkohle auf das Feuer, um später noch einen Schwung Holzkohle dazuzugeben. Als die Holzkohle soweit durchgeglüht war, legte er für jeden einen Batzen Fleisch und für die Kinder Würstchen auf. In der Zwischenzeit nahm sich jeder von dem Kartoffelsalat und Martha führte ein angeregtes Gespräch mit Doris und Agnes über die richtige Rezeptur für Kartoffelsalat. Fleisch im Überfluss, wann hat es das für sie das letzte Mal gegeben, fragen sich Martha und Otto, obwohl sie bei Bärbel durch Petras Fleischzuwendungen auch ganz gut versorgt waren. Die jungen Mütter holten ihre Kinder an den Tisch und schnitten ihnen die Würstchen klein, sie mochten alle auch Agnes´ Kartoffelsalat und als jeder sein Fleisch auf seinem Teller hatte, wünschten Agnes und Robert guten Appetit. Agnes hatte Bier und Wein auf den Tisch gestellt und jeder bediente sich, Werner hatte den Wein geöffnet und den Frauen Wein eingeschenkt.

„Ich habe lange nicht so gutes Fleisch gegessen“, sagte Martha schmeichlerisch, denn natürlich war das Fleisch von Petra zu Hause auch sehr gut. Im Laufe des Essens kamen sie darauf zu sprechen, was sie in der Woche, in der sie alle da waren, unternehmen sollten und Gerda forderte gleich:

„Wir müssen unbedingt nach Zandvoort fahren, das ist eine Sache, die wir gleich am nächsten Tag erledigen können!“

„Es spricht nichts dagegen, dass wir Morgen nach Zandvoort fahren“, sagte Robert, „ich hoffe, Ihr habt alle an Euer Badezeug gedacht!“ Piet und Max stimmten sich ab, wann sie am nächsten Tag kommen würden und alle in die Autos verfrachteten:

„Ich denke, wenn wir um 10.00 h hier sind, sollte das doch früh genug sein“, sagte Max und alle waren einverstanden. Sie erzählten sich noch lange von ihren Zandvoort-Erlebnissen, die sie alle gehabt hatten, wie die Kinder gebadet hatten, wie sie alle in der kalten Jahreszeit lange Strandspaziergänge gemacht hatten. Robert fragte nach einer Weile:

„Wer möchte denn zur Verdauung einen Cognac trinken?“, und alle Alten wollten, auch die Ostpreußen. Lisa machte sich genauso wenig daraus wie die anderen jungen Leute. Den Kinder hatte Agnes Limonade hingestellt, und sie fragte mit einem Mal:

„Wer von Euch möchte denn Schokolade essen?“, und das war etwas, das selbst sie, die nicht aus armen Verhältnissen kamen, zu Hause nicht hatten, und alle Kinder schrien wie aus einem Mund:

„Ich!“ Agnes holte zwei Tafeln und brach jedem Kind davon Stücke ab, bei der großen Hitze, die auf der Terrasse herrschte, schmolz die Schokolade sofort und jedes Kind schmierte sich voll, noch ehe die Mütter mit Papiertüchern kamen und ihnen die Münder abwischten, die Schokolade schmeckte zu gut, als dass die Kinder auf so etwas achteten. Bernd hatte vermutlich seit sehr langer Zeit keine Schokolade gegessen, denn er saß völlig in sich gekehrt, und als Lisa ihm den Mund abwischen wollte, schimpfte er mit ihr, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte. Robert schenkte den Alten noch einen Cognac ein und brachte die Flasche danach wieder weg, er kam mit neuem Bier und Wein wieder zurück, schenkte den Frauen nach und gab den Männern ihr Bier. So saßen sie bis gegen 21.00 h, als die jungen Frauen sagten, dass alle Kinder schlafen gehen müssten. Das hatte großes Gezetere zur Folge, das sich aber gleich wieder legte, denn die Kinder waren müde, das konnte man schnell an ihnen sehen.

Also liefen die jungen Mütter mit ihren Kindern nach oben und legten sie in ihre Betten, vorher wollten sie ihnen noch erzählen und vorsingen, das erübrigte sich aber, als alle Kinder nach fünf Minuten eingeschlafen waren. Sie liefen wieder nach unten und sagten den Männern, dass sie gelegentlich hoch müssten, um zu hören, ob die Kinder alle noch schliefen. Piet sah für sich die Gelegenheit gekommen, um noch einmal auf die Russen zu sprechen zu kommen und er warf die These in die Runde:

„Stalin ist unter den alliierten Befehlshabern der Einzige, dem man vertrauen sollte, nur der Kommunismus bedeutet für Deutschland die Zukunft!“ Martha und Otto sahen sich an, aber ehe von den beiden Piet etwas erwidern konnte, sagte Werner:

„Diese These hast Du schon beim letzten Mal vertreten, und ich habe gedacht, dass wir Dir den Wind aus den Segeln genommen hätten, Du musst doch nur einen Blick in die sowjetische Zone werfen und wirst gleich eines Besseren belehrt!“ Und Otto, in dem es lange gearbeitet hatte, entgegnete Piet:

„Wie kannst Du nur so etwas laut von Dir geben, Stalin vertrauen, wir haben hautnah erlebt, was von den Russen zu halten ist, als sie unseren Schwiegersohn vor unseren Augen erschossen haben!!“ Dagegen wusste Piet nichts einzuwenden und hielt sich bedeckt. Otto regte sich gleich wieder ab, er wollte die Stimmung nicht vermiesen, er konnte aber so eine These nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen. Er hatte ja vorher schon von Piets nassforscher Art gehört, einfach eine solche These hervorzubringen, um damit ein Gespräch anzuregen. Wenn man aber direkt dabeisaß und sich so etwas anhören musste, war die Betroffenheit doch gleich da. Robert lenkte die Aufmerksamkeit auf den morgigen Zandvoort-Aufenthalt und sagte:

„Wenn wir Morgen nach Zandvoort fahren, sollten wir den Kindern wieder Eimer und Schüppen kaufen, ich nehme meine große Schüppe von hier mit, mit der ich eine Sandburg bauen will.

Wir können den Kindern die Sachen aber auch in Zandvoort am Boulevard kaufen, wie wir das beim letzten Mal auch getan haben.

„Hoffentlich gibt es im Wasser nicht so viele Quallen, mit Grauen denke ich an meinen Quallenkontakt zurück, nicht auszudenken, wenn einem der Kinder so etwas widerfährt!“, sagte Gerda.

Das war zwar schon reichlich zwölf Jahre her, dass Gerda den üblen Quallenkontakt hatte, der hat sich aber so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt, dass sie ihn wohl nie vergessen würde.

„Wir müssen einfach schauen, ob Quallen in der Nähe sind und ihnen ausweichen!“, sagte Agnes, „und wenn es einen von uns doch treffen sollte, sollten wir für diesen Fall eine Zitrone parat haben, helft bitte alle mit, daran zu denken, dass ich Morgen eine Zitrone und ein Messer mit nach Zandvoort nehme!“ Martha, Lisa, Otto und auch der kleine Bernd waren völlig der Sonne entwöhnt und würden sich am Strand gut mir Sonnenschutz eincremen müssen, wollten sie sich nicht eine gehörigen Sonnenbrand einfangen. Immerhin dachte Martha am nächsten Morgen beim Frühstück daran und sagte zu Agnes:

„Ich muss unbedingt Sonnencreme kaufen, damit wir uns mit unserem blassen Hauttyp eincremen können, wenn wir am Strand sind!“ Agnes antwortete:

„Mache Dir darüber mal keine Sorgen, an Sonnencreme denke ich immer zuallererst, wenn wir an die See fahren, es gibt ja kaum etwas Nervigeres als einen Sonnenbrand!“ Sie hatte mit Bärbel wieder riesige Mengen an Rührei mit Speck gebraten, was auch Martha, Lisa und Otto schmeckte und sie aßen alle reichlich davon, sie hatten ausgezeichnet geschlafen und rechtschaffenen Hunger.

Nur die Kinder verschmähten das Rührei und aßen ihre Schnitten mit Hagelslag, von denen sich auch Bärbel im Anschluss bediente.

„Wir müssen Sonnenschirme mitnehmen, hoffentlich denken auch die anderen daran!“, sagte Agnes.

„Und ich gehe jetzt in den Gartenschuppen und hole meine Schüppe!“, sagte Robert, stand auf und lief in den Garten, holte die Schüppe und stellte sie vor das Haus. Agnes nahm die beiden Sonnenschirme von der Terrasse, zog sie aus ihren Ständern und stellte sie ebenfalls vor das Haus, danach nahm sie drei Decken und legt sie in die Diele und zum Schluss holte sie eine Zitrone aus der Küche und steckte sie samt Messer in ihre Tasche. Als um 10.00 h wie verabredet, Doris, Iris, Piet und Max erschienen, setzten sie sich noch kurz mit an den Frühstückstisch und tranken eine Tasse Kaffee, zu mehr war keine Zeit, sodass Piet auf sein Rührei verzichten musste.

„Habt Ihr an Sonnenschutz, Decken und Sonnenschirme gedacht?“, fragte Agnes sie alle, und sie nickten, „wir haben die Sachen im Kofferraum“, entgegnete Doris. Agnes und Bärbel räumten schnell den Frühstückstisch ab und alle standen auf, nahmen ihre Badesachen, die sie in die Diele gelegt hatten und liefen zu den Autos vor die Tür. Robert verstaute die Schüppe, die Sonnenschirme, Decken und die Badesachen in seinem Kofferraum, anschließend verteilten sie sich alle auf die Autos und fuhren los.

Im Anschluss kamen sie nach Haarlem und hatten zu tun, sich durch den dichten Verkehr zu winden, sie gelangten nach Bentveld und fuhren über die Zandvoortselaan in den Badeort Zandvoort. Martha, Lisa und Otto fiel gleich die Sauberkeit auf, die in Zandvoort überall herrschte, und als sie bis vorne an den Strand fuhren, auf dem Boulevard de Fauvauge parkten und dort den Blick auf das Meer hatten, wurden sie ganz still und waren von dem Anblick ergriffen. Sie stiegen aus und stellten sich für eine Zeit oberhalb des Strandes an die Mauer, um auf das Meer zu starren und die Seeluft zu genießen. Gleich nebenan gab es einen Verkaufsstand mit Strandspielzeug, zu dem die Opas mit den Kindern liefen, um dort einen Ball, Eimer und Schüppen zu kaufen.

„Wie am Frischen Haff, weißt Du noch Otto?“, fragte Martha und Otto konnte sich noch erinnern, wie sie zu viert mit Lisa und ihrem Schwiegersohn an der Ostsee waren, Bernd hatte es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben. Als die Kinder mit Eimer und Schüppe versorgt waren, nahm jeder sein Badezeug und fasste bei den Sonnenschirmen und Decken mit an, die sie auf den Strand trugen. Es war an dem herrlichen Sommertag natürlich eine Menge an dem Strand los, aber sie fanden für sich noch einen schönen Platz vorne am Wasser. Das Wasser lief gerade zur Ebbe ab, und der Sand war da, wo unmittelbar vorher noch die Flut übergeschwappt war, sehr schön fest und man konnte dort wunderbar mit dem Ball spielen und auch eine Sandburg bauen.

Die Frauen spannten die Sonnenschirme auf und legten die Decken darunter, anschließend liefen sie zu den Umkleidehäuschen oben am Strandabgang und zogen sich ihre Badeanzüge an. Die Männer stellten sich hin und hielten sich ein Handtuch vor, unter dem sie ihre Badehosen anzogen. Die erste Aktion, die sie im Anschluss vollführten, war das Eincremen mit Sonnenschutz und da nahmen sich die Frauen besonders die Kinder vor und cremten sie sehr sorgfältig ein, sie vergaßen sogar die Ohrläppchen nicht. Anschließend setzten sie den Kindern Kappen auf, damit ihnen die Sonne nicht permanent ins Gesicht schien und als das geschehen war, waren die Kinder nicht mehr zu halten und rannten zum Wasser, die Väter gingen mit ihnen. Für Bernd war es der erste Kontakt mit Meerwasser, und als er bis zu den Knien darinstand, noch ganz am Anfang und die kleinen Wellen seine Beine umspülten, quietschte er vor Vergnügen und sprang in dem Wasser herum. Mit einem Mal fiel er aber hin und eine Welle schwappte ihm über den Kopf. Das war der Moment, in dem er einen Schluck von dem Salzwasser in seinen Mund bekam. Und es geschah etwas mit ihm, mit dem er nicht gerechnet hatte, er spuckte und hustete, was das Zeug hielt, der Geschmack des Salzwassers war ekelhaft. Für ihn war der erste Meerwasserkontakt nicht sehr angenehm verlaufen, und er rannte zu seiner Mutter zurück, die das ganze Fiasko aus der Ferne beobachtet hatte und ihm entgegenlief.

Es war nicht so, dass Bernd anfing zu weinen, aber so ganz wohl war ihm nicht zumute, und Agnes gab ihm ein Bonbon, damit der Salzgeschmack wieder aus seinem Mund verschwand. Lisa erneuerte seinen Sonnenschutz und legte ihn unter den Sonnenschirm auf die Decke. Dort hielt es Bernd aber nicht lange, zu groß war doch die Anziehungskraft, die das Meer auf ihn ausübte, und er rannte wieder zu den anderen. Die standen immer noch bis zu den Knien im nicht gerade warmen Nordseewasser und spritzten sich gegenseitig nass, und Bernd beteiligte sich gleich an der Spritzaktion. Nachdem sich die Kinder auf diese Weise abgekühlt hatten, legten sich die Ersten wagemutig in das flache Wasser und mussten erst einmal durchatmen, als das kalte Wasser ihren ganzen Körper umspülte. Es dauerte aber nur einen ganz kurzen Augenblick, und sie hatten sich an die Wassertemperatur gewöhnt. Christine bekam einen Wasserschwall in den Mund, spuckte ihn aber gleich wieder aus und zog ein Gesicht, als ekelte sie sich vor allem, was sie in diesem Moment sah. Sie befreite sich aber von dem unangenehmen Geschmack im Mund allmählich und musste nicht zu ihrer Mutter zurücklaufen. Alle Kinder hielten ihre Köpfe hoch, damit ihnen nicht widerfuhr, was Christine und Bernd erlebt hatten. Nach einer ganzen Weile, in der die Väter und Opas neben ihnen gestanden hatten und von den Kindern nassgespritzt worden waren, wobei sie einen Heidenspaß empfanden, gingen sie wieder zu den Sonnenschirmen und wurden dort von den Frauen erneut eingecremt. Robert nahm die große Schüppe, die er von zu Hause mitgebracht hatte und fing an, eine Sandburg zu graben, und alle Kinder halfen mit ihren Schüppen mit.

Weil der Sand im vorderen Strandbereich ausreichend fest war, fiel er nicht gleich wieder in das Loch zurück, das Robert und die Kinder aushoben. Sie gruben ein großes Loch mit ungefähr zwei Metern Durchmesser und mit siebzig Zentimetern Tiefe, womit sie lange beschäftigt waren. Den Aushub legten sie als Wall an den Rand, und Robert schickte die Kinder mit ihren Eimern Wasser holen, das sie auf den Wall gießen sollten, um ihm so Festigkeit zu verleihen. Als sie ihre Arbeit vollendet hatten, wischte sich Robert den Schweiß von der Stirn und stellte alle Kinder in die Sandburg. Für die Kinder hatte das Loch ein beträchtliche Tiefe und der Lochrand reichte ihnen bis zur Brust, den ganz Kleinen sogar bis zum Kopf.

„Wer kommt mit ins Wasser?“, rief Robert den Kindern zu und alle wollten sich mit Robert in die Fluten stürzen, und sie rannten hin. Dieses Mal machten sie keine so großen Umstände und warfen sich gleich ganz ins Wasser. Es gab eine Schrecksekunde, in der das kalte Nordseewasser ihre Körper umschloss, die aber schnell vergessen war. Sie hüpften herum und warfen sich immer wieder ins Wasser. Als Robert sich im Wasser langgemacht hatte, kletterten sie auf ihn und setzten sich auf seine Schultern, Robert ließ das mit sich geschehen.

Schließlich gingen sie aber alle wieder raus und legten sich zu den Frauen unter die Sonnenschirme auf die Decken, und die jungen Mütter griffen nach der Sonnencreme und schmierten die Kinder wieder gründlich ein. Anschließend liefen alle Frauen zum Wasser und die Männer schauten ihnen nach und konnte ihre Blicke kaum von den schönen Körpern der jungen Mütter lassen. Sie sahen in ihren Badeanzügen über alle Maßen anziehend aus. Es dauerte lange, bis sich die Frauen weiter ins Wasser trauten und die Kälte überwunden hatten, danach aber gab es kein Halten mehr und sie stürzten sich hinein. Bärbel, Agnes und Martha waren zusammen und Martha rief:

„Wie ist das doch schön, wenn uns zu Hause nicht das Grauen der Kriegsfolgen umgeben würde, könnte man träumen, im Paradies zu sein.“ In dem Bereich, in dem sie sich aufhielten, hatten sie noch den sandigen Untergrund unter den Füßen und konnten gut stehen. Aber Martha unternahm auch einige Schwimmzüge und sie war hocherfreut, dass sie noch dazu in der Lage war.

„Ich habe Dir doch gesagt, dass man das Schwimmen nicht verlernt!“, rief Bärbel, und Martha schwamm und schwamm. Nachdem die Frauen ihren Wasseraufenthalt beendet hatten, waren die Männer dran und rannten in das Wasser, es dauerte auch bei ihnen nur einen kurzen Augenblick, und sie hatten sich an die Wassertemperatur gewöhnt. Die Männer schwammen gleich raus ins Tiefe, was Otto sich zuerst gar nicht zugetraut hatte.

Er merkte aber gleich, nachdem er schwamm, dass er sich sehr wohl fühlte und er folgte den anderen. Mit einem Mal schrie Otto auf, und die anderen bekamen schon einen Schreck und dachten, dass Otto einen Krampf hätte und zu ertrinken drohte. Aber dem war nicht so, Otto war in Berührung mit den Tentakeln einer Feuerqualle gekommen und schwamm so schnell er konnte wieder zurück. Die anderen gaben Acht und blickten sich fortwährend um, ob sie einen Quallenschwarm entdecken konnten, aber sie konnten nichts dergleichen sehen. Wahrscheinlich war es eine einzeln schwimmende Qualle gewesen, die Otto erwischt hatte. Er lief wild gestikulierend zu Martha und rief schon von Weitem:

„Mich hat eine Qualle erwischt, mich hat eine Qualle erwischt!“ Schnell holte Agnes die Zitrone aus ihrer Tasche und schnitt eine Scheibe von ihr ab, die sie auf die betroffenen Stelle an Ottos Bein legte. Als Otto nicht aufhörte, zu lamentieren, sagte Martha zu ihm:

„Jetzt stell Dich doch nicht so an, davon ist noch niemand gestorben, das juckt eine Zeit lang und ist dann wieder vorüber!“ Martha rieb die Zitronenscheibe über die doch ziemlich rot angelaufenen Stelle an Ottos Bein und verteilte so den lindernden Zitronensaft. Nach einer Weile hörte der Juckreiz an Ottos Bein auf und er fühlte sich wohler.

„Gut, dass wir an die Zitrone gedacht haben!“, sagte Agnes, und Otto sah sie dankbar an.

„Die Kinder müssen aber jetzt aufpassen, obwohl sich so nah am Ufer die Quallen wohl nicht aufhalten werden!“, sagte Petra, aber Gerda entgegnete:

„Und ob sie sich auch nahe am Ufer aufhalten, wenn Du zum Wasser läufst, kannst Du sie doch am Ufer liegen sehen, man muss also auch vorne aufpassen!“ Ottos Kontaktstelle an seinem Bein erregte die Aufmerksamkeit der Kinder und sie setzten sich neben ihn und besahen sich die Stelle, Bernd fragte seinen Opa:

„Tut das sehr weh?“ Und Otto gab sich tapfer und erwiderte:

„Halb so schlimm!“ Die Opas nahmen den Ball und alle Kinder und liefen auf den Strandabschnitt, wo der Sand schön fest war und sie spielten sich den Ball immer gegenseitig zu. Manchmal fiel der Ball ins Wasser und ein Opa musste hinein und ihn wieder herausholen. Bis sie vom Ballspielen genug hatten und Robert rief:

„Wer von den Kindern möchte denn eine Eis haben?“ Als die Kinder das hörten, schrien sie alle „Ich!“, und Robert und die anderen Opas liefen zurück, legten den Ball ab und gingen hoch zum Boulevard. Dort gab es einen Eisstand, und die Kinder stellten sich hin und suchten sich ihre Eissorte aus. Alle nahmen sie Schokolade, aber die anderen Sorten unterscheiden sich bei den Kindern doch voneinander. Sie schleckten ihr Eis, das in der Hitze schnell schmolz und am Hörnchen hinunterlief.

Die Kinder und die Erwachsenen setzten sich auf die Mauer, die den Boulevard vom Strand trennte, das erleichterte den Kindern das Eisessen. Die Opas hatten sich alle drei auch ein Eis geholt und leckten es gemeinsam mit ihren Enkelkindern. Als sie fertig waren, liefen sie zum Wasser und die Kinder wuschen sich das Eis ab, das ihnen auf ihre Körper getropft war. Zurück bei den Müttern, legten sie sich eine Zeit lang auf die Decken unter die Sonnenschirme, wo es ihnen aber schnell langweilig wurde. Sie wollten wieder ins Wasser und dieses Mal in Begleitung ihrer Mütter, und Gerda, Petra und Marga standen auf und liefen mit ihren Kindern zum Wasser.

„Ihr müsst wirklich auf Quallen achten, auch in Ufernähe, wir wollen doch wohl alle nicht, dass eines der Kinder Kontakt mit einer Qualle hat!“, sagte Gerda warnend. Und schon sahen sie auch zwei große Exemplare am Strand liegen, die die letzte Flut dorthin gespült hatte.

„Wenn sie es schaffen, zu überleben, wird die nächste Flut sie wieder ins Meer spülen“, meinte Gerda. Aber bis dahin konnten die Kinder die Quallen einmal aus der Nähe beobachten und die prächtigen Farben bewundern, die an dem Quallenkörper zu sehen waren. Da gab es pastellartige Töne, gelbliche und grünliche, aber auch kräftige Rot- und Blautöne. Von den meterlangen Tentakeln war so nichts zu sehen, wenn sie dort auf dem Ufer lagen. Im Wasser aber waren die Tentakeln die langen Fäden, die die Quallen hinter sich herzogen, und die bei Berührung Nesselzellen, die mit Gift gefüllt waren, abschossen und die Beutetiere lähmten oder sogar töteten. Die Kinder tippten die wabbeligen Körper vorsichtig mit ihren Fingern an und Christine rief:

„Das ist ja wie Wackelpudding!“ Anschließend warfen sie sich einfach ins Wasser und achteten gar nicht mehr auf die Wassertemperatur, ihre Mütter standen bei ihnen und hielten nach Quallen Ausschau.

Als sie weit und breit keine Quallen entdeckten, hockten sie sich auf den Grund und hatten so in etwa die Größe ihrer Kinder, die ankamen und ihre Mütter nassspritzten. Irgendwann liefen sie wieder zu ihrem Liegeplatz und Piet sagte mit einem Mal:

„Ich habe Hunger und finde, dass wir etwas essen gehen sollten!“

„Das ist eine hervorragende Idee“, bemerkte Max, „ich habe schon die ganze Zeit Hunger und mich nur nicht getraut, etwas zu sagen!“

„Lasst uns doch alle in die Strandbar gehen, wo wir früher schon öfter gegessen haben!“, schlug Robert vor.

„Können wir denn unsere Sachen hier liegen lassen“, fragte Martha, „nicht, dass wir wiederkommen und nur noch einen Rest von unseren Sachen wiederfinden?“

„Ich glaube nicht, dass hier am Strand jemand stiehlt, und ich denke, dass wir unsere Sachen ruhig alle hier liegen lassen können, nur unsere Wertsachen sollten wir mitnehmen!“, sagte Marga. So nahmen sie alle ihre Portmonees und liefen in Richtung Boulevard, unterhalb dessen, noch auf dem Strand, die Strandbar lag. Sie hatten die Strandbar schon in der kalten Jahreszeit mit aufgesetzten Kapuzen besucht und waren auch schon auf der Terrasse und hatten dort im Schatten der Sonnenschirme geschwitzt.

Die Barterrasse war reichlich voll, sie fanden aber noch zwei freie Tische, die sie zusammenschoben, und an die sie zwei Sonnenschirme stellten, damit auch alle im Schatten sitzen konnten. Die Kinder schrien gleich:

„Ich will Limonade haben!“ und ließen ihre Köpfe abgeschlafft auf die Tischplatte sinken. Als der Ober kam, gab er jedem eine Speisekarte und nahm die Getränkebestellung auf. Robert orderte für die Kinder Limonade und für die Erwachsenen Bier und Wein und in der Zeit, in der der Ober die Getränke besorgte, suchte sich jeder etwas zu essen aus. Die Erwachsenen nahmen Schnitzel mit Kartoffelsalat und die Kinder Würstchen mit Kartoffelsalat, Robert ließ auch ein paar Scheiben Brot dazu kommen. Als die Getränke auf dem Tisch standen, nahm jeder sein Glas und trank einen kräftigen Schluck, der bei der großen Hitze sehr guttat und die Männer hatten ihr erstes Bier beinahe schon leergetrunken, als Robert für jeden ein Neues bestellte. Die Kinder sogen geradezu die Limonade in sich hinein und verlangten jedes noch eine, die gleich bestellt wurde. Als sie ihren Kartoffelsalat probiert hatten, wollten sie ihn erst gar nicht essen, weil er ihm Vergleich zu dem von Doris und Agnes doch sauer schmeckte, und sie verzogen die Gesichter.

„Ich finde, dass man den Kartoffelsalat sehr gut essen kann!“, sagte Marga laut und schob sich eine Gabel voll Kartoffelsalat in den Mund, um den Kindern zu zeigen, dass sie sich nicht so verwöhnt anstellen sollten. Die Mütter schnitten ihnen die Würstchen klein, und im Anschluss aßen die Kinder auch den Salat auf. In Wirklichkeit fand Marga den Kartoffelsalat auch zu sauer, wollte das aber vor den Kindern nicht sagen.

„Ich habe für heute Abend im „Het ou Stal“ für uns reserviert, wir können um 19.00 h dort essen, die Wirtin wird sich freuen, uns alle wiederzusehen!“, sagte Robert.

„Das ist ja klasse, wir wollten schon vorschlagen, dass wir wieder alle dort essen gehen sollten“, entgegnete Werner und stieß mit allen an. Robert winkte den Ober heran und zahlte, noch bevor Piet und Max dagegen protestieren konnten, „Ihr könnt ja heute Abend einen Teil bezahlen!“, sagte er ihnen. Sie standen alle auf und liefen zu ihrem Liegeplatz zurück, sie fanden ihre Sachen unangetastet wieder und hatten auch im Grunde nichts anderes erwartet.

„Ich denke wir sollten alle mit den Kindern noch einmal ins Wasser gehen und den Ball mitnehmen!“, schlug Agnes vor, und die anderen waren einverstanden. Sie liefen also ins Wasser, und die Erwachsenen setzten sich da, wo die Kinder gerade noch stehen konnten in einen Kreis, schauten sich nach Quallen um und als sie keine entdecken konnten, warfen sie sich den Ball immer zu, die Kinder mussten versuchen, den Ball im Kreis zu fangen. Natürlich warfen die Erwachsenen den Ball so, dass den Kindern das auch gelingen konnte, die ganz Kleinen waren damit noch überfordert und plantschten herum.

In regelmäßigen Abständen ließen sich Werner und Manfred umkippen, und sie tauchten mit den Köpfen unter, sodass die Kinder schon erschraken, und als sie wieder auftauchten, lachten sie und Manfred sagte:

„Wir wollten uns nur abkühlen!“ Peter fragte nach, ob sein Vater denn kein Wasser einatmen musste und Manfred erklärte ihm:

„Wenn man untertaucht, muss man die Luft anhalten, man kann die Augen ruhig geöffnet lassen, viel zu sehen gibt es aber unter Wasser nicht, sodass man sie auch schließen kann, das Wichtigste ist, dass man unter Wasser keine Angst bekommt!“ Peter hatte gut zugehört und war drauf und dran, das Tauchen einmal auszuprobieren und Manfred ermutigte ihn dazu:

„Versuch es doch einfach einmal, ich bin ja bei Dir und helfe Dir, Du holst Luft, hältst sie an, schließt die Augen und hältst Dir mit einer Hand die Nase zu und anschließend gehst Du mit Deinem Kopf unter Wasser!“ Peter war völlig verunsichert, „ob ich es denn wirklich einmal versuchen soll?“, fragte er sich und alle Augen waren auf ihn gerichtet, kneifen konnte er jetzt eigentlich nicht mehr.

„Mach es doch einmal ohne unterzutauchen, hol Luft, halt sie an, schließ die Augen und halt Dir die Nase zu!“, empfahl ihm sein Vater und Peter folgte seinem Vorschlag.

„Jetzt musst Du nur noch untertauchen, da ist doch nichts dabei, nur den Kopf unter Wasser halten, dass wir Dich für eine Zeit nicht sehen können“, fuhr Manfred fort. Peter konzentrierte sich, „Du schaffst das!“, riefen ihm die anderen zu.

„Unmöglich, jetzt noch einen Rückzieher zu machen!“, dachte Peter bei sich, „das wäre eine Blamage, von der ich mich so schnell nicht erholen könnte!“ Er holte tief Luft, hielt sich die Nase zu, schloss die Augen und ging zunächst nur mit dem Gesicht unter Wasser, das war die Situation, in der er nichts sah und nicht atmen konnte. Er hielt diese Position vielleicht zehn Sekunden durch, danach warf er den Kopf hoch und japste nach Luft, als hätte er fünf Minuten lang nicht eingeatmet.

„Das war schon mal ein guter Anfang“, sagte ihm sein Vater, „jetzt musst Du nur noch den ganzen Kopf unter Wasser halten und eine Zeit lang unten bleiben!“ Peter wiederholte die Übung von soeben noch einmal, danach stellte er sich hin und blickte zum Horizont, er lenkte alle seine Gedanken auf die nun folgende Tauchübung. Alles um ihn herum war still, er atmete ein paarmal ein und aus, bis er die Luft anhielt, die Augen schloss und sich mit einer Hand die Nase zuhielt. Danach tauchte er seinen Kopf unter Wasser und blieb dort einen Augenblick. Anschließend sprang er mit einem mächtigen Satz wieder hoch und bekam von den anderen einen nicht enden wollenden Applaus. Manfred klopfte ihm auf seine Schulter und sagte nur:

„Toll, das hast Du wirklich sehr gut gemacht Peter, unser Taucher, er lebe hoch, hoch , hoch!“, und bei „hoch“ stimmten sie alle ein und schrien mit.

Peter stand da mit stolzgeschwellter Brust und wollte gleich noch einen Tauchversuch unternehmen. Er nahm all seine Sinne zusammen, holte Luft, schloss seine Augen, hielt sich die Nase zu und verschwand unter Wasser. Als er wieder auftauchte, war es ihm, als hätte er gar nichts Besonderes getan, der Reiz des Unbekannten, Neuen, war schon beim zweiten Tauchgang nicht mehr vorhanden.

„Die nächste Steigerungsstufe ist für Dich, die Augen offenzuhalten und die Nase nicht zuzukneifen“, sagte Manfred zu Peter, „das übst Du beim nächsten Mal!“ Sie gingen alle wieder aus dem Wasser und Manfred legte seinem Sohn seinen Arm um die Schulter wie einem alten Kumpel.

„Ich bin stolz auf Dich!“, sagte er Peter, und der sah seinen Vater freudig an.

„Ich denke, wir sollten langsam daran denken, wieder nach Hause zu fahren!“, sagte Robert und forderte die anderen auf, ihre Sachen zusammenzupacken. Nachdem sie alles beieinander hatten, halfen sie wieder, die Sonnenschirme und Decken zu tragen. Sie liefen zum Boulevard hoch, wo sie ihre Autos geparkt hatten. Nachdem sie ihre Sachen in den Kofferräumen verstaut hatten, stiegen sie ein und ließen sich in die weichen Sitze sinken, sie empfanden es als große Wohltat, es sich in so bequemen Sitzen gemütlich machen zu können und die Kinder schliefen gleich ein. Die jungen Mütter ließen sie, damit sie am Abend nicht im Restaurant einschliefen und die Erwachsenen verhielten sich entsprechend ruhig in den Autos.

Nach einer Dreiviertelstunde kamen sie in der Keizersgracht am Goldschmid-Haus an und die Kinder schliefen noch immer. Die Mütter beschlossen, sie noch einen halbe Stunde schlafen zu lassen und regelmäßig nach ihnen zu schauen. Alle anderen gingen ins Haus und setzten sich auf die Terrasse unter die Sonnenschirme, die sie gleich in ihre Ständer gesteckt und aufgespannt hatten. Robert holte jedem etwas zu trinken und alle dösten sie vor sich hin, ab und zu stand jemand von den Vätern auf und schaute bei den Autos, ob die Kinder noch schliefen. Bis sie die Kinder aber weckten und auf die Terrasse holten, Agnes sagte ihnen:

„Ihr könnt Euch noch eine Zeit auf den Rasen legen“, was sie auch gleich taten. Die Sonne am Spätnachmittag nahm jedem jeglichen Ansporn, etwas zu unternehmen oder auch nur zu reden, alle waren damit zufrieden, dazusitzen und gelegentlich einen Schluck aus ihrem Glas zu nehmen. Agnes stellte den Kindern Limonade auf den Tisch, sie tranken sie gierig und ließen sich gleich nachschenken, Agnes stellte gleich die ganz Flasche auf den Tisch.

„Möchte jemand von Euch einen Kaffee trinken?“, fragte Bärbel in die Runde, und alle gaben zu verstehen, dass ein Kaffee jetzt genau das Richtige wäre. Also ging Bärbel in die Küche und kochte Kaffee, eine große Kanne und brachte sie nach draußen, die anderen hatten schon Tassen hingestellt.

Nach dem Kaffeegenuss kehrten bei allen langsam wieder die Lebensgeister zurück und sie begannen, sich über den schönen Strandtag zu unterhalten. Inzwischen waren auch die Kinder an den Tisch gekommen und Manfred lobte noch einmal vor allen seinen Sohn, der ein so wagemutiger Taucher geworden wäre. So saßen sie bis gegen 18.30 h, als Robert alle dazu aufforderte, zum Restaurant im Jordaan-Viertel zu laufen, und sie brachen auf und gingen los. Alle waren sie noch wie benommen von dem Strandaufenthalt, wenn einem den ganzen Tag über die Sonne auf den Kopf scheint, ist man am Nachmittag geschafft. Sie schleppten sich mehr zum Restaurant, als dass sie gingen und redeten unterwegs kein Wort, auch die Kinder blieben still und hatten zu tun, ein Bein vor das andere zu setzen. Als sie die Restauranttür öffneten und sie die Wirtin sah, kam sie gleich auf sie zu gestürmt und fiel allen um den Hals:

„Ich freue mich riesig, dass Ihr einmal wieder den Weg zu mir gefunden habt, ich habe für Euch zwei Tische im Hof zusammengestellt, es ist Euch doch recht, draußen zu sitzen?“ Und ob ihnen das recht war, sie hätten bei der Hitze den Zigarettenqualm und den Kneipengestank nur ungern um sich gehabt, und deshalb kam es ihnen sehr entgegen, dass man neuerdings im „ou Stal“ auch draußen sitzen konnte. Die Luft war sehr angenehm, mild und ganz weich, sie ließen sich an den Tischen auf die Stühle fallen und bestellten sich erst einmal etwas zu trinken, das ihnen die Wirtin gleich nach draußen brachte.

Danach stellte sie sich zu ihnen an den Tisch und wollte wissen, was sie seit Ostern erlebt hatten, und Bärbel sah sie an und sagte:

„Da gibt es nicht viel zu erzählen, wir leben zu Hause immer noch in Schuttbergen, wenngleich man ganz allmählich den Eindruck gewinnt, dass sich etwas tut.“

„Euren Kindern geht es gut, wie ich sehe, und auch Ihr seht alle gut aus, viel Hunger scheint Ihr nicht erleiden zu müssen!“, fuhr die Wirtin fort.

„Nein“, sagte Werner, „ich glaube, dass wir zu den Glücklichen zählen, die die ganzen Missliebigkeiten nicht ertragen müssen, wir hungern nicht, weil wir Gemüse und Früchte aus unserem Garten eingeweckt haben, und Petra als Tierärztin von den Bauern immer mit Fleisch eingedeckt wird.“

Am Nebentisch ist man hellhörig geworden, als man mitbekommen hatte, dass sich Deutsche im Restaurant eingefunden hatten und plötzlich erhob sich jemand von den dort sitzenden Gästen und rief:

„Warum kommt Ihr als Deutsche in das Restaurant und verderbt uns unser Laune?“ Die jungen Leute verstanden nicht, was der Betreffende vorbrachte, aber die Alten übersetzten es ihnen. Robert stand auf und entgegnete:

„Wir wissen, dass die Deutschen großes Leid über Euer Land, das inzwischen auch mein Land ist, gebracht haben, und wir wissen auch, dass die Besatzungszeit gerade erst ein gutes Jahr her ist, aber ich bin der Ansicht, dass man die Wunden, die geschlagen worden sind, nur heilen kann, wenn man aufeinander zugeht und versucht, miteinander auszukommen, sich gegenseitig anzufeinden und zu beschimpfen macht jedenfalls keinen Sinn.“

Der Angesprochene vom Nebentisch sah Robert an und wunderte sich, dass er so gut Holländisch sprach, als Robert ihm ganz kurz seine Geschichte darlegte. Sein Gegenüber war ganz kleinlaut geworden und wies darauf hin, dass seine Familie sehr unter der deutschen Besatzung durch Seyß-Inquart zu leiden gehabt hätte, zwei Familienmitglieder wären sogar verhungert. Robert ging zu ihm hin und reichte ihm seine Hand, er sagte:

„Dennoch müssen wir miteinander reden und können unseren Hass nicht in uns hineinfressen!“ Der Mann vom Nebentisch sah Robert mit kleinen Augen an und merkte, dass es ihm ernst war mit dem, was er sagte, er ergriff Roberts Hand zuerst ganz zaghaft, danach mit festerem Zupacken. Man wusste nicht, ob er sich Roberts Worte zu Herzen genommen hatte, als an seinem Tisch plötzlich jemand sein Glas erhob und rief:

„Auf ein friedliches Zusammenleben!“, und alle taten es ihm gleich und prosteten sich zu. Die Kinder konnten die Situation nicht so richtig einschätzen, sie sahen nur einen Mann am Nebentisch stehen, der am Anfang erbost und nun milder gestimmt war und sich allmählich wieder zu beruhigen schien. Ihre Mütter besänftigten sie aber gleich wieder und sagten, dass alles in Ordnung wäre, Opa Robert hätte den Mann zur Räson gebracht. Die Wirtin, die den Beinahe-Eklat mitbekommen hatte, weil sie noch am Tisch der Deutschen stand, sagte:

„Du hast natürlich vollkommen recht, wenn Du sagst, dass die Deutschen großes Unheil über uns gebracht haben, aber dafür müssen sie im Moment auch büßen, und ich meine wie Robert, dass es keinen Sinn macht, die alten Sachen, die zugegebenermaßen noch frisch sind, immer wieder aufzuwärmen und finde es gut, wenn er auf Euch zugeht und Euch ein Friedensangebot unterbreitet, Ihr solltet es annehmen!“ Mit diesen Worten war die Feindseligkeit aus der Welt, und man saß nebeneinander, als wäre nie etwas vorgefallen, man hob ab und zu sein Glas und prostete sich zu.

„Was gibt es denn heute im „ou Stal“ zu essen?“, fragte Robert die Wirtin, und bei der Gelegenheit hoben alle hervor wie gemütlich die Außenanlage geworden wäre, was die Wirtin freute.

„Ich habe heute Steaks mit Kartoffelkroketten und Salat anzubieten!“, antwortete sie und Robert blickte in die Runde. Alle nickten sich zu und waren mit dem Tagesangebot einverstanden, Robert bestellte für jeden Steak, als die Wirtin fragte:

„Soll es für die Kinder etwas anderes geben?“, und Petra rief spontan:

„Würstchen!“ Die Wirtin nahm das auf und erklärte sich bereit, den Kindern Würstchen zu kochen, sie wollte ihnen Ketchup dazu bringen, die Kartoffelkroketten würden sie sicher mögen. Robert bestellte noch eine Runde Getränke und sagte zu den anderen:

„Hier im „ou Stal“ fühlen wir uns immer richtig wohl, das war schon damals so, als wir von der Tuinstraat das erste Mal hierher gelaufen waren.“

Die Wirtin hatte das mitbekommen und sagte:

„Ich freue mich, so etwas zu hören, Ihr zählt alle zu meinen Lieblingsgästen, es ist nur jammerschade, dass Ihr so selten kommt, aber das lässt sich ja nicht anders einrichten!“ Kurze Zeit später brachte sie das Essen und stellte den Kinder die Würstchen hin, die ihnen ihre Mütter kleinschnitten. Als sie die Kroketten sahen, fragte sie zuerst, was das denn wäre und Marga antortete:

„Das sind Kartoffeln nur in einer anderen Form, probiert erst einmal, bevor ihr herummeckert!“ Sie zerschnitt die Kroketten in mundgerechte Stücke und als Peter ein Stück davon in seinem Mund zerkaute, war er sehr von dem Geschmack eingenommen, den die Kroketten hatten, und er lobte sie über alles. Sofort nahmen die anderen Kinder auch von den Kroketten und schlossen sich in ihrem Urteil der Einschätzung Peters an. Sie waren zufrieden mit ihrem Essen und als es auch noch Ketchup zu ihren Würstchen gab, aßen sie sie mit großem Vergnügen. Das Steak für die Erwachsenen war medium und sehr gut gelungen, die Wirtin hatte ausgesuchtes Fleisch genommen, was man leicht schmecken konnte, und alle lobten sie so laut, dass sie das Lob hinter ihrer Theke hören konnte, sie lächelte und freute sich darüber. Robert ließ für die Alten zum Abschluss des Essens einen jonge Genever kommen und der ging wieder auf Kosten des Hauses, die Wirtin stand an ihrem Tisch und trank einen mit.

Gegen 20.30 h ließen Piet und Max die Rechnung kommen und zahlten alles, wogegen Robert erst Einwände erheben wollte, Piet und Max wiesen ihn aber zurück, und er gab sich zufrieden.

Nachdem sie gezahlt hatten, bedankten sie sich bei der Wirtin für das gute Essen und umarmten sich alle zum Abschied. Beinahe kam etwas von Traurigkeit auf, als sie das Lokal verließen, und die Wirtin blieb noch eine Zeit lang in der Restauranttür stehen und winkte ihnen hinterher, als sie nach Hause liefen. Genauso wie auf dem Hinweg schleppten sie ihre müden Knochen, und die jungen Eltern mussten sogar ihre Kinder noch am Ende des Weges tragen, als sie schlappgemacht hatten. Entsprechend erschöpft kamen sie in der Keizersgracht an, setzten sie Kinder von ihren Schultern ab und brachten sie gleich nach oben auf ihre Zimmer. Sie zogen die Kinder aus und die legten sich ohne Umschweife in ihre Betten, sie schliefen sofort ein, ohne dass jemand ihnen eine Geschichte erzählen oder ihnen etwas vorsingen musste. Sie setzten sich alle noch auf die Terrasse und Agnes und Robert holten Getränke und etwas zu knabbern, Agnes hatte Nüsse und Salzgebäck hingestellt und den Frauen Wein gegeben, Robert hatte Heineken und die Cognacflasche mitgebracht, und die Alten ließen sich gar nicht erst groß bitten und tranken alle einen Schnaps. Petra hatte überlegt, ob sie Wein oder lieber Bier trinken wollte und sich am Ende für Wein entschieden, der gut war und aus Frankreich stammte.

Als sie alle so gemütlich beieinandersaßen und die Beine von sich streckten, sah sich Piet genötigt, eine seiner berüchtigten Thesen in die Runde zu streuen, er ergriff immer Partei für die Russen, und niemand wusste so recht, warum das so war. Vermutlich, weil er alter Sozialist war, aber auch, weil er merkte, dass er die anderen damit auf die Palme bringen konnte. Er sagte:

„Der britische Außenminister Bevin macht ja keinen Hehl aus seinem Antikommunismus, wenn es nach ihm ginge, wäre Deutschland schon heute geteilt!“ Bärbel entgegnete:

„Ich habe in der Zeitung gelegentlich Stellungnahmen von Bevin gelesen und denke, dass Du da nicht ganz falsch liegst, man muss aber auch die Realpolitik dabei im Auge behalten und sehen, welche Tatschen von den Russen schon in ihrer Zone geschaffen worden sind!“

„Dass die Briten wohl auf keinen Fall ein kommunistisches System in ihrer Zone etablieren würden, ist doch wohl jedem klar!“, sagte Manfred, „die antikommunistische Position hatte doch schon Churchill vertreten.“

„Ich glaube, dass Ihr in der britischen Zone mit Euren Ländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ganz gut fahren werdet, wenn einmal die Demokratie bei Euch fest verankert ist, ihr gewählt habt, und wenn verlässliche politische Institutionen geschaffen worden sind und der braune Sumpf ausgetrocknet ist, wird es bei Euch auch wirtschaftlich bergauf gehen!“, meinte Robert.

Die Frauen waren so erledigt von dem Tag, dass sie sich nicht an dem politischen Gespräch, das Piet angeregt hatte, beteiligen wollten, sondern still am Tisch saßen und gelegentlich an ihrem Wein nippten. Otto kam mit einem Mal auf den Restaurantgast zu sprechen, der plötzlich zu zetern angefangen hätte.

„Das muss man verstehen, Holland war lange Zeit von den Deutschen besetzt“, entgegnete ihm Robert. Es gab zu Piets These nicht so viel zu sagen, denn der Grundtenor war immer der gleiche. Auch die Männer hörten deshalb irgendwann auf, die These weiter zu strapazieren, denn es brachte ja nichts, wenn sie immer wieder über das gleiche sprachen. Im Übrigen ging es schon auf 23.00 h zu und sie beschlossen, den Abend abzubrechen und schlafen zu gehen. Was sie am nächsten Tag unternähmen, würden sie beim Frühstück besprechen. Doris, Iris, Piet und Max verabschiedeten sich bis zum nächsten Morgen um 10.00 h von allen, liefen vor die Tür, bestiegen ihre Autos und fuhren mit ihnen nach Hause, bei Goldschmids gingen alle ins Bett. Die jungen Eltern schlichen ganz leise in die Zimmer, um die Kinder nicht zu wecken, die schliefen aber so fest, dass diese Gefahr gar nicht bestand.

Am nächsten Morgen mussten Werner und Manfred wieder mit ihren Großen früh aufstehen und mit ihnen vor die Tür gehen, für Christine und Peter war die Nacht um 6.00 h vorbei. Um 7.30 h trafen sich alle zum Frühstück am Esstisch und wie immer standen Agnes und Bärbel in der Küche und brieten Rührei mit Speck in riesigen Mengen.

„Wart Ihr mit Euren Kindern vor der Tür?“, fragte Agnes Werner und Manfred, und die beiden antworteten, dass Christine und Peter um 6.00 h aufgestanden wären. Die Kinder machten sich über ihre Hagelslagschnitten her und tranken ihren Kakao, als um 10.00 h die anderen wieder erschienen und man gleich daranging, zu besprechen, was sie an diesem Tag unternehmen sollten, und Agnes schlug gleich einen Museumstag vor, sie sollten doch das Rijksmuseum mit dem Schifffahrtsmuseum kombinieren.

Margas Leben - Familien nach dem Krieg (2)

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