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Zu Hause

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Es kam für das Mädchen darauf an, unbeschadet den Himmel zu erreichen und sich von dem Elend auf Erden zu lösen, nur dann würde es die Sphären erspüren, die ihm im Denken vorschwebten. Hier in seinem erstickenden Umfeld waren ihr die Zugänge zum Denken genommen, hier schienen alle nur unhinterfragt zu funktionieren und um nichts anderes als die Daseinsvorsorge bemüht zu sein. Irmtraud hieß das Mädchen, von dem ich erzählen will. Es lebte in einem Alpental fernab von jedwedem großstädtischen Trubel. Irmtraud überlegte schon ab und zu, ob sie, wenn sie erwachsen wäre, nicht in die Stadt ziehen sollte, nach Innsbruck zum Beispiel. Sie war davon überzeugt, dass das städtische Leben am ehesten das Denken förderte, einfach, weil es einem die Zeit dazu einräumte, die allen in dem Dorf, in dem Irmtraud lebte, genommen war. Wenn Irmi wie sie von allen genannt wurde, einmal mit ihrer Mutter über diese Dinge sprach, fragte die immer völlig entgeistert:

„Du und Dein Denken, was bedeutet das denn überhaupt für Dich?“ Sie klang dabei immer so vorwurfsvoll, als würde sie Irmi nicht ernst nehmen und ihr nicht zutrauen, dass sie wusste, wovon sie redete. Oftmals hatte Irmi ihrer Mutter zu verstehen gegeben, dass sie gewillt war, über bestimmte fundamental wichtige Dinge nachzudenken wie die Fragen:

„Warum leben wir?“ oder

„Wo liegen Anfang und Ende unseres Universums?“ Ihre Mutter wies solche Fragen immer mit der Bemerkung weit von sich:

„Davon werden die Menschen auch nicht satt!“

Und sie deutete damit an, dass sie es für sinnlos hielt, an solche Dinge auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Irmi glaubte aber, dass es wichtig war, über solche Dinge nachzudenken, obwohl sie wusste, sie würde keine Antworten auf solche Sinnfragen finden. Für Irmi war es von großem Interesse, darüber nachzudenken und die Untiefen des menschlichen Lebens damit ein wenig zu auszuloten.

„Geh doch mal in den Stall und hilf Mathi!“, sagte ihre Mutter dann, und Irmi befolgte diese Anordnung sofort. Zu Hause bei ihrer Familie gab es eine Landwirtschaft, die von allen Familienmitgliedern und dem Knecht Mathi betrieben wurde. Mathi war dafür zuständig, das Vieh zu füttern und alles Übrige zu erledigen, was der Hof an Arbeit erforderte.

Besonders, wenn Irmis Vater mit dem Traktor auf der Matte war, um Gras für das Vieh zu holen, war Mathis Fähigkeit, Dinge zu sehen, die getan werden mussten, von großem Nutzen für Irmis Familie. Mathi war schon seit mehr als zwanzig Jahren auf dem Hof angestellt und hatte Irmi aufwachsen gesehen. Er bewohnte ein Zimmer im hinteren Hoftrakt und war unglaublich bescheiden, er trank nicht und hatte keine Frauengeschichten. Für ihn war der Hof sein alles, sein gesamter Wahrnehmungshorizont. Von daher gab es für ihn auch keinen Anlass, über die Dinge nachzudenken, die Irmi für so wichtig hielt. Aber Irmi ging oft und gern zu Mathi, um ihm darzulegen, was gerade der Gegenstand ihrer Gedanken war. Dabei kam es ihr gar nicht darauf an, von Mathi erleuchtende Antworten zu erhalten. Ihr war nur von Bedeutung, dass sie in Mathi einen Zuhörer fand, auf den sie unwidersprochen einreden konnte. Anfang und Ende des Universums waren für Mathi so weit von seinem Vorstellungsvermögen entfernt, dass er an sie keinen Gedanken richtete. Er dachte vielmehr an seine Stallarbeit und vielleicht noch an das Geschehen im Tal, mehr interessierte ihn einfach nicht. Irmis Familie, die Hofmairs, war seit Generationen in Lerbach ansässig. Lerbach war der Name des Dorfes, das in der Geschichte eine Rolle spielen wird. Es lag in einem Talkessel, rechts und links flankiert von mächtigen Gebirgsstöcken, die auf über dreitausend Meter hinauf ragten. Dem Dorf war deshalb am Tag nie lange Sonnenlicht beschieden.

Das Tal hatte im Süden gegen den Alpenhauptkamm einen Abschluss. Wenn sich einmal jemand nach Lerbach verirrte, kam er von Norden und war entweder Tourist, der im Sommer wandern und im Winter Ski fahren wollte, oder er war Zulieferer für den Dorfladen, oder er war Besuch für eine der zwanzig Dorffamilien. Zu Hofmairs kam einmal im Jahr die Schwester von Irmis Mutter. Sie lebte in Südtirol und hatte eine ziemlich beschwerliche Anreise über den Brenner. Sie brachte immer ihre Tochter Jeanette mit, die in Irmis Alter war, mit der Irmi sich aber nicht sonderlich gut verstand. Ihre Interessensphären lagen doch zu weit auseinander, Jeanette interessierte sich für Popmusik und Mode und Irmi für die wichtigen Lebensfragen. Eigentlich war Irmi immer froh, wenn Tante Christa und Jeanette wieder nach Hause fuhren. Nicht dass sie sich mit Jeanette stritt, Irmi fühlte sich durch ihre Anwesenheit nur eingezwängt. Besonders wenn Jeanette damit anfing, sich bei Irmi darüber auszulassen, dass in Lerbach nichts los wäre, konnte Irmi regelrecht aus der Haut fahren. Sie hielt sich bislang aber immer unter Kontrolle und ließ Jeanette nichts von ihrer Haltung spüren. Tante Christa und Jeanette blieben immer über Nacht und fuhren am nächsten Tag wieder nach Hause. Und immer standen Irmis Eltern mit ihr vor der Tür und winkten, bis Tante Christa und Jeanette nicht mehr zu sehen waren. Spätestens dann sagte ihre Mutter immer zu ihr:

„Du hättest ruhig ein wenig netter zu Deiner Tante und Deiner Cousine sein können!“ Irmi stand anschließend da wie ein begossener Pudel, war sich aber keiner Schuld bewusst. Sowohl Alois Hofmair, Irmis Vater als auch Maria Hofmair, Irmis Mutter waren in Lerbach geboren und hatten sich irgendwann in früher Jugend bei einem gemeinsamen Kirchgang kennen gelernt und später geheiratet. Mathi war auch gebürtiger Lerbacher und stammte aus einer Knechtsfamilie. Die Familie Mathis hatte schon immer auf den Höfen im Dorf gearbeitet. Mathi hatte die Volksschule im Dorf besucht und anschließend gleich den Knechtsberuf ergriffen. Irmi besuchte die letzte Klasse der Realschule in Feldweiler. Das war der nächste größere Ort sechs Kilometer entfernt nach Norden und sie trug sich mit dem Gedanken, nach der Realschule in Innsbruck auf das Gymnasium zu wechseln. Das würde bedeuten, dass sie fünfundzwanzig Kilometer mit dem Bus fahren müsste, was sie aber drei Jahre lang in Kauf nehmen wollte. Sie war eine sehr gute Schülerin und wissbegierig, für sie sollte sich der Zugang zu den entscheidenden Sinnfragen des Lebens erschließen und das bedeutete, dass sie auf dem Gymnasium in die Philosophie zumindest hineinriechen könnte. Eigentlich war Irmi in dem Alter, in dem Mädchen sich für Jungen zu interessieren begannen, aber außer vielleicht für Franz Heinbichler, der die gleiche Klasse auf der Realschule besuchte wie Irmi und auch in Lerbach wohnte, interessierte sich Irmi für keinen Jungen. Manchmal besuchte Franz Irmi, und sie gingen danach gemeinsam durch das Dorf und erzählten sich dieses und jenes, meistens aus dem gemeinsamen Schulleben.

Es war aber noch nie zu Zärtlichkeiten zwischen den beiden gekommen, dass sie sich zum Beispiel geküsst hätten, danach stand Irmi nie der Sinn. Das Leben im Dorf war sehr eingefahren und begann erst allmählich, durch neue Impulse aus dem Tourismus eine Änderung zu erfahren. Das bemerkten besonders die Alten mit ihrem seismografischen Gespür und dagegen lehnten sie sich auf. Wenn zum Beispiel vor dem Dorfgasthof „Schneider“ die Autos der ersten Skitouristen parkten, stellten sich die Alten demonstrativ vor die Autos und starrten auf die Nummernschilder, um herauszubekommen, woher die Autos stammten. Anschließend gingen sie in die Gaststube und geißelten alles Fremde, dabei tranken sie Bier und mussten vom Wirt zur Mäßigung gemahnt werden, weil sie bei ihrem Gezetere auch laut wurden. Für Irmi war das Verhalten der Alten hinterwäldlerisch und ewig gestrig, es passte auf keinen Fall in ihr Weltbild, in dem solche Fremdenfeindlichkeit keinen Platz hatte. Wenn man von den Alten sprach, meinte man eigentlich drei Männer: Fritz Lechleitner, Hermann Schreiber und Hans Holzmoser, die seit jeher das Dorfleben bestimmten, der eine als Küster, der andere als ehemaliger Gemeindevorsteher und der dritte als pensionierter Volksschullehrer.

Fritz Lechleitner hatte sein Küsteramt mit großer Umsicht betrieben. Er war bei den Sonntagsgottesdiensten und bei sonstigen Gottesdiensten in der Kirche für das Glockengeläut und auch für das Pfarramt zuständig, damit es dort genau wie in der Kirche immer sauber und im Winter geheizt war. Er stand vor den Gottesdiensten neben der Kirchentür und registrierte genau, wer den Gottesdienst besuchte und wer nicht. Besonders die Kinder hatten einen großen Respekt vor der Person des Küsters, der eine wichtige Kontrollinstanz in ihrem Leben war. Während der Gottesdienste stand Fritz Lechleitner neben den Kinderbänken im Kirchraum und achtete genau darauf, dass die Kinder keinen Unsinn machten. Die Kinder trauten sich nicht, aus der von ihnen erwarteten Rolle zu fallen, wenn sie ihre Blicke zu Herrn Lechleitner schweifen ließen und in sein ernstes Gesicht blickten. Der Küster stand in der Wichtigkeit der Person über dem Pfarrer, der geradezu lammfromm war und keiner Fliege etwas zu Leide tun zu können schien. Irmi musste natürlich die Gottesdienste besuchen, und sie empfand die Kontrolle durch Herrn Lechleitner als ausgesprochen unangenehm. Als sie einmal dem Gottesdienst ferngeblieben war, weil sie sich nicht so recht wohlgefühlt hatte, schien es ihr so, als erwartete der Küster eine Entschuldigung von ihr. Aber Irmi blieb hart und entschuldigte sich nicht bei ihm. Sie untergrub so die mächtige Position, die der Küster innehatte. Irmi musste auch regelmäßig zur Beichte und der Pfarrer fragte sie immer, ob sie unzüchtige Handlungen an sich vorgenommen, und ob sie diese allein begangen hätte.

Irmi schämte sich danach bald zu Tode und war immer froh, wenn die Beichte vorüber war. Sie sprach anschließend mit ihrer Mutter über die Beichte und brachte ihre Empörung darüber zum Ausdruck, dass der Pfarrer sie mit dermaßen intimen Fragen konfrontiert hatte. Die Mutter antwortete ihr, dass sie darüber nicht großartig nachdenken und dem Pfarrer irgendetwas auf seine Fragen antworten sollte. Sie hätte das in Irmis Alter immer so gemacht und so hätten es auch alle getan, die sie gekannt hätte. Irmi stritt nicht weiter mit ihrer Mutter über diesen Punkt. Sie sah aber nicht ein, was es den Pfarrer anging, ob sie unzüchtige Handlungen an sich vorgenommen hätte, wie er das nannte und nicht weiter darüber nachzudenken, das kam für sie überhaupt nicht in Frage. Für sie war klar, dass der alte Pfarrer geil war und sich an dem, was ihm die Mädchen erzählten, aufgeilen wollte und sie sah nicht ein, dass sie ihn in seiner Geilheit weiter bedienen sollte. Sie beschloss, gegen den Willen ihrer Eltern, nicht mehr zur Beichte zu gehen, auch wenn sie sich dadurch ihren und den Groll des Pfarrers auf sich zog. Beim Küster war sie mit einem solchen Verhalten vollkommen unten durch, für ihn war es gänzlich unnormal und deshalb nicht zu dulden, dass jemand nicht zur Beichte ging, und das hätte es auch noch nie gegeben. Irmi ging noch einen Schritt weiter und meldete sich in ihrer Schule vom Religionsunterricht ab, was von ihren Eltern auch nicht gerne gesehen wurde, sie ließen ihre Tochter aber gewähren.

In der Folgezeit wurden Irmis Gottesdienstbesuche immer seltener, bis sie sie ganz einstellte. Zur Beichte ging sie nie mehr, und sie erklärte Mathi auf dessen Nachfrage hin, warum sie eine solche antireligiöse Haltung eingenommen hatte. Der Küster stand für das Althergebrachte und scheinbar nicht Veränderbare, Unumstößliche. Seine Ansichten standen der Entwicklung des Dorfes zur Moderne hin im Weg. Und das Dorf musste sich entwickeln, wenn es den Anschluss an die neuen Strömungen nicht verlieren wollte und die neuen Strömungen kündigten sich mit den ersten Touristen an, sie begannen, im Dorf Fuß zu fassen. Irmi spürte wie mit ihnen etwas ins Dorf einzog, das es vorher nicht gegeben hatte. Wenn die beiden Touristenpärchen mit ihren Autos vor dem Gasthof „Schneider“ parkten, wirkten sie wie Exoten und belebten mit ihrem Erscheinungsbild die Tristesse, die ansonsten immer im Dorf herrschte.

Hermann Schreiber war ein ähnliches erdverwachsenes Dorfnaturell wie Fritz Lechleitner. Er hatte in seiner Zeit als Gemeindevorsteher viele in die Zukunft weisende Entwicklungen blockiert, weil er sich dem Neuen gegenüber verschloss und dabei alle Alten auf seiner Seite wusste. Er war der Sohn von Adolf Schreiber, der während der NS-Zeit durch antisemitisches Gebaren von sich reden gemacht hatte. Er hatte jüdische Mitbürger in Lerbach zur Anzeige gebracht und so dafür gesorgt, dass sie in die Konzentrationslager abtransportiert wurden. In gewisser Weise sah sich Hermann Schreiber in der Tradition seines Vaters, nur dass er seine Antihaltung nicht gegen Juden, sondern gegen alles Fremde richtete. Jede Entscheidung, die eine Neuerung gebracht hätte, war ihm zuwider und er wusste sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht dagegen zu wehren. In seine Amtszeit fielen das kleine Wasserkraftwerk, die neue Umgehungsstraße und die Errichtung zweier Skilifte.

Alles wurde nur gegen seine erklärten Willen gebaut, aber gegen die Mehrheit in der Gemeindeversammlung war er eben machtlos. Hermann Schreiber war ein großgewachsener und streng dreinblickender Mann, dem man schon wegen seiner äußeren Erscheinung Respekt entgegenbrachte. Allerdings hatte er in der Zeit seit seiner Zurruhesetzung davon stark eingebüßt, und auch wenn er noch so grimmig schaute, nahmen ihn selbst die Kinder kaum noch ernst. Auch bei sich zu Hause, wo er bis vor Kurzem noch unumschränkter Herrscher gewesen war, waren die Fronten aufgeweicht und Hermann fügte sich schon einmal den Anordnungen seiner Frau. Die bekam mehr und mehr Oberwasser und blickte in dem Maße, in dem Hermann an Einfluss verlor, auf, und man beachtete sie mit einem Mal im Dorf, nachdem sie lange Zeit hinter Hermann abgetaucht gewesen war. Hermann wurde ein verbitterter alter Mann, nachdem seine Zeit eigentlich abgelaufen war und so manches Gemeinderatsmitglied musste an seine Zornesausbrüche während der Versammlungen zurückdenken, wenn er Andersdenkende rüde zurückzuweisen trachtete und seine Stimme dabei eine Lautstärke erreichte, dass man sie draußen auf der Dorfstraße wahrnehmen konnte.

Sein politischer Stil war autoritär und insofern erinnerte er stark an seinen Vater. Er zeigte sich völlig uneinsichtig, wenn man demokratisches Verhalten bei ihm einklagen wollte. Hermann Schreiber pflegte solchen Mahnern immer entgegenzuhalten:

„Ein starkes Dorf braucht einen starken Führer!“, was die so Angesprochenen gleich zum Schweigen brachte. Seine Nachfolge trat sein Sohn Walter an, der aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie sein Vater, dennoch wählte ihn die Gemeindeversammlung zum Gemeindevorsteher. Allerdings war Walter nicht ganz so starrköpfig und verbohrt wie sein Vater und stand zum Beispiel dem Bau eines Freibades nicht im Wege. Die Finanzen von Lerbach waren zwar denkbar knapp bemessen, aber es gab Zuschüsse vom Kreis und vom Land. Ein Freibad würde den Freizeitwert des Dorfes um ein Vielfaches steigern und vielleicht auch den Sommertourismus fördern. Im Übrigen hatten natürlich alle Kinder ihren Spaß, sie würden in den Sommermonaten aus der Schule kommen, ihre Hausaufgaben erledigen und schnell ins Freibad stürmen.

Hans Holzmoser war der dritte der verbitterten Alten im Bunde und wurde nach seiner Pensionierung aus dem Schuldienst immer starrköpfiger, genau wie die anderen beiden, wobei Fritz Lechleitner als der Jüngste noch als Küster im Dienst war. Die jungen Leute, die heute in Irmis Alter waren, konnten sich noch gut an das strenge Schulregiment von Lehrer Holzmoser erinnern. Er war ein Lehrer von altem Schrot und Korn und im Geiste noch sehr der Zeit des Nationalsozialismus verhaftet, wenngleich er selbst diese Zeit nicht mehr miterlebt hatte. Sein Vater war aber zu dieser Zeit Lehrer an der Dorfschule und ein glühender Verehrer Hitlers, er hatte von dieser Verehrung etwas auf seinen Sohn übertragen. Irmi wusste noch genau, wie sie damals in die Klasse von Lehrer Holzmoser ging, und er die Kinder alle zu Beginn des Unterrichts strammstehen ließ. Wenn ihm dabei die Körperhaltung eines Kindes nicht gefiel, ging er zu ihm und brüllte es an, bis das betreffende Kind in seine Augen stramm genug stand. Auch die Schläge, die Lehrer Holzmoser auszuteilen wusste, hatte Irmi in guter Erinnerung, so wie damals bei Daniel. Daniel Bircher war in Irmis Klasse und hatte mit seinem Sitznachbarn gequatscht. Er war derjenige, der dem Lehrer auffiel, seinen Nachbarn hatte er gar nicht zur Notiz genommen. Daniel musste aufstehen und nach vorne kommen, und noch bevor er an der Tafel stand, schlug Lehrer Holzmoser ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Der Schlag war mit einer solchen Wucht ausgeführt worden, dass Daniel einige Schritte zurücktaumelte, und sich die fünf Finger der Schlaghand des Lehrers auf seiner Wange abzeichneten. Daniel stand kurz davor, loszuheulen, konnte sich eine Weinen aber verkneifen und schlich wieder zu seinem Platz zurück. Alle Mitschüler musterten ihn und beobachteten seine Wange, die Fingermale verschwanden aber nach und nach wieder. Daniel hatte sich nicht getraut, zu Hause von den Schlägen zu erzählen, weil die Schläge natürlich auch eine Ursache hatten, und die lag bei ihm. Lehrer Holzmoser ging unmittelbar nach der Schlagattacke zum Unterricht über, denn für ihn war es nichts Besonderes, seine Schüler zu schlagen, wenn sie seinen Unterricht störten. Er hielt sich aber bei den Mädchen zurück, wenn die Mädchen quatschten, schrie er herum und schüchterte sie auf diese Weise ein. Alle Schüler hatten Angst vor ihm und er musste nicht befürchten, von den Eltern wegen seiner Brutalität Kontra zu bekommen, im Gegenteil, manche Eltern ermutigten ihn sogar, ruhig einmal kräftig zuzulangen, wenn ihr Spross sich danebenbenahm.

„Schläge in Maßen und zur rechten Zeit haben noch nie jemandem geschadet!“, sagten sie dem Lehrer Holzmoser. Der fühlte sich durch solche Bemerkungen nur ermuntert, seinen brutalen Schlägen freien Lauf zu lassen. Er konnte von Glück sprechen, jetzt nach seiner Pensionierung nicht von ehemals Gepeinigten zur Rechenschaft gezogen oder gar verprügelt zu werden. Die meisten seiner ehemaligen Schüler hatten die Schläge, die sie seinerzeit von ihm einstecken mussten, vergessen und hatten anderes zu tun, als sich im Nachhinein über Hans Holzmoser zu ärgern. So fristete er im Alter sein Dasein, war unentwegt mir seinen Gesinnungsgenossen zusammen und ärgerte sich zusammen mit ihnen über alles Neue und Fremde im Dorf.

Nie sah man einen von den dreien einmal lachen und man hätte wohl meinen können, dass sich ihr Gram bei ihnen festgefressen hatte und sie aufzehren würde. Als Nachfolger von Lehrer Holzmoser war ein junger Nachwuchslehrer angetreten, der aus Innsbruck stammte und mit seinem Wagen jeden Tag hin- und herfuhr. Er war das glatte Gegenteil von Herrn Holzmoser, freundlich zu den Schülern und offen für alles, ohne es an der nötigen Autorität fehlen zu lassen. Er wurde von allen Schülern sehr gemocht und auch die Eltern schätzten ihn als neuen Lehrer sehr. Er war Anfang Dreißig und schon von seinen Alter her eher jemand, der neuen Strömungen zugeneigt war und sich schon von daher den Groll der drei Alten zuzog. Aber das störte den jungen Lehrer Meyer nicht, er wusste die gesamte Schülerschaft, die meisten seiner Kollegen und auch die Eltern hinter sich. Manchmal ging er im Sommer ins Freibad und zeigte den Schülern dort seinen Astralkörper, er war wirklich gut trainiert und tat etwas für sein Aussehen. Wenn Irmi etwas davon mitbekam, dass er ins Freibad ging, ging sie auch dorthin und scharwenzelte an seinem Liegeplatz vorbei. Lehrer Meyer aber nahm davon keine Notiz, Irmi war auch erst sechzehn und deshalb noch zu jung, als dass sie die Aufmerksamkeit von Lehrer Meyer hätte auf sich ziehen können. Stattdessen legte sich Irmi unweit von seinem Liegeplatz hin und beobachtete ihn dabei, wie er las oder aus seinem Rucksack sein Essen herausnahm und es verspeiste.

Wenn er aufstand, um ins Wasser zu gehen, folgte Irmi ihm, immer darauf bedacht, ihn nicht unnötig zu bezirzen, er kannte sie ja auch gar nicht. Wenn sie ein paar Bahnen geschwommen waren, stellte sich Bernd Meyer schon mal auf das Einmeterbrett und machte einen astreinen Kopfsprung. Irmi hielt sich währenddessen am Beckenrand auf und beobachtete seine Sportdarbietung bewundernd. Herr Meyer tauchte nach seinem Sprung wieder auf und verließ das Becken, lief zu seinem Liegeplatz zurück, trocknete sich ab und legte sich wieder hin. Natürlich wurde er dabei auch von seinen Schülerinnen beobachtet, die aber durchweg noch in einem Alter waren, in dem sie als Kinder nicht an erotische Abenteuer denken konnten. Manche von ihnen gingen schon mal zu ihm und unterhielten sich kurz mit ihm. Nach zwei Stunden beendete Bernd Meyer seinen Freibadbesuch wieder und fuhr zu sich nach Innsbruck zurück. Irmi ging danach auch nach Hause und ertappte sich dabei, wie sie an ihn dachte und ins Träumen geriet, sie ging auf ihr Zimmer und legte sich auf ihr Bett. In den Sommermonaten gab es auf dem Hof der Hofmairs immer viel zu tun, und wenn Mathi abends Zeit hatte, setzte sich Irmi mit ihm vor sein Zimmer im hinteren Teil des Hofes. Mathi hatte da einen kleinen Holztisch, eine Bank und zwei Stühle hingestellt und saß oft dort, um sein Abendessen einzunehmen. Das Abendessen bestand zumeist aus gutem Brot, einem Stück Schinken und einem Stück Käse, dazu trank er Wasser oder selbst gepressten Apfelsaft.

Ein Freund von Alkohol war Mathi nie gewesen, er hatte schon mal ein Bier im Gasthof „Schneider“ getrunken, war aber nie soweit gegangen, dass er Alkohol bei sich zu Hause getrunken hätte. Mathi war ein hagerer und für sein Alter gutaussehender Typ, er konnte verschmitzt lächeln und dabei ein liebenswertes Gesicht aufziehen. Irmi saß manchmal zwei Stunden am Abend mit ihm auf dem Platz vor seinem Zimmer und stellte ihm Fragen wie:

„Mathi, hast Du eigentlich einmal überlegt, warum es uns Menschen gibt, was der Sinn unseres Lebens ist?“ Mathi sah Irmi anschließend immer an, als wollte er sagen:

„Was ist denn das für eine Frage, es reicht doch, dass es uns gibt, und wir versuchen, mit unserem Leben zurechtzukommen!“ Irmi merkte in solchen Momenten immer gleich, dass sie mit solchen Fragen bei Mathi nicht weiterkam und wechselte schnell das Thema zu Fragen des Dorflebens zum Beispiel. Sie fragte ihn, was er von den Skiliften oder anderen Errungenschaften der jüngsten Zeit wie der Umgehungsstraße hielt. Mathi überlegte daraufhin immer kurz bevor er antwortete:

„Ich finde diese Dinge nicht schlecht, wenn die Menschen sie haben wollen, erfüllen sie doch auch einen Sinn!“ Irmi überraschte die Weitsicht, die Mathi gelegentlich zu erkennen gab, für sie war das ein Zeichen dafür, dass er sich Gedanken machte und die Dinge, die um ihn herum geschahen, einordnen konnte.

Eines Sonntags fragte Irmi Mathi, ob er nicht einen Spaziergang mit ihr zum Talabschluss machen wollte, und als er sie fragte, was sie denn dort anstellen wollte, antwortete Irmi:

„Wenn wir dort sind, werde ich es Dir erzählen!“ Also liefen die beiden am Sonntagmorgen, als andere in den Gottesdienst gingen, los und machten sich zum Talabschluss auf, der ungefähr drei Kilometer entfernt lag. Manche der Leute, die sie auf ihrem Weg durchs Dorf trafen, und die zur Kirche liefen, drehten sich zu den beiden um und mochten sich ihren Teil gedacht haben, das war Irmi und Mathi aber vollkommen gleichgültig. Sie liefen langsam aber stetig zum Ende des Tals, immer den Bernebach entlang, der aus großer Höhe herabfloss und einen kleinen Wasserfall bildete. Als sie dort angelangt waren, hörten die Weiden auf und das Gelände stieg langsam gegen den Berg an, bis es steil und felsig wurde und in einen Hang überging. Sie liefen beide den Hang hinauf, der Weg hatte längst aufgehört, und als sie das untere Drittel des Hanges erklommen hatten, setzte sich Irmi auf ein kleines Felsplateau und sagte Mathi, dass er sich zu ihr setzen sollte.

„Ich will Dir jetzt erzählen, warum ich mit Dir hierhin gelaufen bin!“, sagte Irmi und fuhr fort:

„Ich habe die Absicht, mir zu meinem siebzehnten Geburtstag in zwei Wochen von meinen Eltern ein Teleskop schenken zu lassen!“ Mathi schaute Irmi mit großen Augen an:

„Was willst Du denn mit einem Teleskop?“ Irmi entgegnete:

„Ich möchte es, wenn ich nachts hier bin, auf ein Gestell legen und den Himmel betrachten, das Gestell muss erst noch aus Ästen oder Ähnlichem gebaut werden!“ Mathi überlegte und fragte im Anschluss:

„Welche Maße hat denn Dein Teleskop, das muss ich wissen, wenn ich Dir ein Gestell bauen soll!“ Irmi zeigte die ungefähre Länge von fünfundsiebzig Zentimetern und die Dicke von etwas fünfzehn Zentimetern.

„Das kann aber noch variieren, ich muss mir das Teleskop noch einmal genau ansehen!“, ergänzte sie. Mathi gingen Gedanken an ein Gestell durch den Kopf und Irmi sagte:

„Das Teleskop muss auf dem Gestell absolut ruhig aufliegen, jede noch so kleine Bewegung bedeutet am Himmel einen gewaltigen Sprung!“ Mathi fiel gleich eine Möglichkeit ein:

„Ich werden in zwei noch auszuhebende Löcher Pfähle stecken, die ich mit Brettern verbinde, auf den Brettern kannst Du Dein Teleskop mit Bändern festzurren!“ Irmi konnte sich vorstellen, was Mathi meinte und fand seinen Vorschlag gut:

„Wir werden im Verlauf der kommenden zwei Wochen also noch einmal hierhin kommen und einen Spaten, Pfähle und Bretter mitbringen!“ Mathi dachte daran, die benötigten Dinge mit einer Schubkarre zu dem Hang zu fahren, damit sie sie nicht tragen mussten. Als sie auf dem kleinen Felsplateau saßen, hatten sie einen wunderschönen Blick das Tal entlang.

Sie konnten in der Ferne Lerbach sehen wie es von der Umgehungsstraße eingefasst wurde und wie rechts am Hang die beiden Skilifte standen, mit denen im Winter die Skitouristen hoch transportiert wurden. Links vom Dorf konnten sie das Freibad ausmachen, das aber zu weit entfernt lag, als dass man Einzelheiten ausmachen konnte. Es herrschte an dem Ort absolute Stille, es war im Dorf auch nicht gerade laut. Aber eine solche Stille fand sich nur dort, wo sie sich befanden.

„Was hast Du denn davon, wenn Du Dir den Himmel durch ein Teleskop anschaust?“, fragte Mathi beinahe ketzerisch. Irmi sah ihn an und wusste erst gar nicht, ob sie ihm eine erschöpfende Antwort zu geben in der Lage sein würde. Schließlich entgegnete sie:

„Der Blick in den Himmel offenbart dem Betrachter, wie klein doch unsere Welt ist, und wie unbedeutend wir Menschen doch sind!“ In dem Augenblick, in dem sie den bedeutungsschweren Satz ausgesprochen hatte, war ihr klar, dass Mathi sie nicht verstehen würde, es musste aber fürs Erste reichen.

„Weißt Du eigentlich wie die Alpen entstanden sind?“, fragte sie Mathi anschließend und Mathi wusste das natürlich nicht.

„In grauer Vorzeit, vor etwa hundert Millionen Jahren, waren die Erdplatten noch in Bewegung, die afrikanische Platte stieß mit der europäischen Platte zusammen und faltete sie auf, als wenn man eine Tischdecke zusammenschiebt, so sind die Alpenberge entstanden, und Mathi staunte, was Irmi alles wusste.

Nachdem sie eine Zeit lang gesessen und den schönen Blick genossen hatten, standen sie wieder auf und liefen nach Lerbach zurück. Es war früher Nachmittag geworden und Irmi hatte ihrer Mutter noch am Morgen gesagt, dass sie nicht zum Essen erschiene. Ihre Mutter hatte ihr etwas vom Mittagessen zurückbehalten und wärmte es für sie auf. Kurze Zeit später fragte sie ihre Tochter:

„Was hast Du denn am Talabschluss mt Mathi gemacht?“ Irmi antwortete:

„Wir sind den Hang hinaufgelaufen und haben uns auf ein kleines Felsplateau gesetzt, auf dem Mathi mir ein Gestell bauen will, auf dem ich mein Teleskop befestigen will, das Ihr mir hoffentlich in zwei Wochen zu meinem Geburtstag schenken werdet!“

„Ein Teleskop willst Du von Vater und mir geschenkt bekommen, es ist ja gut, dass ich jetzt davon erfahre!“, erwiderte Irmis Mutter. Irmi erläuterte:

„Ich will immer, wenn ich nachts zum Talabschluss laufe, das Teleskop auf das Gestell legen und den Himmel beobachten.“

„Du glaubst doch wohl nicht, dass wir Dich nachts dorthin laufen lassen!“, entgegnete Irmis Muter bestürzt.

„Wenn ich nachts zum Talabschluss laufe, wird Mathi mich natürlich begleiten“, sagte Irmi, allein hätte ich den Mut nicht dazu, und ich weiß auch gar nicht, ob ich allein das Teleskop dorthin bringen könnte!“ Irmis Vater war schon längst wieder draußen auf der Weide und mähte Gras für das Vieh, Irmi würde nach dem Essen im Stall helfen müssen.

Sie wollte später noch mit ihrem Laptop zu Mathi und ihm das Teleskop zeigen, das sie sich ausgesucht hatte, auch ihrer Mutter würde sie die genauen Daten des Teleskops geben. Sie aß schnell, was ihre Mutter ihr aufgewärmt hatte und lief anschließend mit ihr in den Stall. Sie legten zusammen den Kühen das Melkgeschirr an und schalteten die Pumpe ein. Irmis Mutter konnte noch von Hand melken wie alle Frauen und Männer in ihrem Alter auch. Irmi hatte das nicht mehr gelernt, sie hatte zum Spaß einmal versucht, von Hand zu melken, war damit aber kläglich gescheitert. Die Stallarbeit hielt die beiden ungefähr eine Stunde lang auf, danach gingen sie wieder ins Haus zurück und tranken zusammen mit dem Vater Kaffee. Irmi musste auch ihm erzählen, warum sie mit Mathi zum Talabschluss gelaufen war. Als ihr Vater hörte, dass seine Tochter sich zu ihrem siebzehnten Geburtstag ein Teleskop wünschte, war er erstaunt und fragte nach, warum sie sich für ein solches Instrument interessierte. Irmi antwortete:

„Ich will mir nachts den Himmel ansehen und auch den Mond genau betrachten.“ Damit gab sich ihr Vater zufrieden und fragte nicht weiter nach, Irmi hätte auch keine großen Erklärungen abgeben können, ihr Vater hätte sie nicht verstanden, und sie interessierten ihn auch nicht. Irmi wusste, dass sie mit ihrem Interessenschwerpunkt Astronomie in Lerbach so ziemlich allein dastand und sie machte sich nichts daraus. Ihr war wichtig, dass sich bei ihr Glücksgefühle einstellten, wenn sie die Sterne am Himmel beobachten konnte.

Sie hatte bislang immer Vaters altes Fernglas benutzt und konnte mit ihm zumindest den Mond schon ganz gut sehen. Interessant würde die Himmelsbeobachtung aber erst mit einem richtigen Teleskop und darauf freute sich Irmi ungemein. Sie freute sich auch darüber, dass ihre Eltern die doch recht hohe Ausgabe nicht scheuten und nicht versucht hatten, sie zu einem anderen Geschenk zu überreden, das billiger gewesen wäre. Die meisten ihrer Altersgenossinnen wünschten sich zu ihrem Geburtstag Kosmetik oder Kleidung, Schmuck oder Pop-CDs, das war aber alles nichts für Irmi. Sie wusste nicht, woher sie die Vorliebe für die Astronomie hatte, bei ihren Vorfahren gab es jedenfalls niemanden, der sich mit den Sternen beschäftigt hatte. Es waren eben die Sinnfragen des Lebens, die Irmi bewegten und da gehörten astronomische Phänomene dazu. Sie wollte einen Blick zu den Nachbarplaneten erhalten und die waren von Lerbach weit genug entfernt.

Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, das waren sie, so viel wusste Irmi. Sie ging auf ihr Zimmer und ergriff ihren Laptop, den sie mit zu Mathi nehmen wollte, um ihm das Teleskop zu zeigen, das sie sich bei Amazon ausgesucht hatte. Als sie über den Hof zu ihm hingelaufen war, fand sie ihn vor seinem Zimmer auf der Bank sitzen und dösen, und Mathi erschrak beinahe, als Irmi ihn ansprach. Irmi sagte:

„Mathi, ich wollte Dir doch einmal mein Teleskop zeigen, das ich mir schenken lassen will!“, und sie legte den Laptop auf den Tisch und schaltete ihn ein.

Mathi begann sich zu regen und schaute gebannt auf den Bildschirm, auf dem das Logo von Amazon erschien und Irmi schrieb in die Eingabezeile „Teleskop“. Als sie auf den Eintrag klickte, erschien gleich eine Reihe Teleskope aller Ausführungsvarianten. Irmi zeigte auf das „Besser Spiegelteleskop 150/1400 mm“ und gab für Mathi gleich einige Erklärungen dazu ab, denn in Mathis Augen sah eine Fernrohr anders aus als dieses merkwürdig gestaltete Instrument. Doch zunächst wies Irmi darauf hin, dass sich der Bau eines Gestells auf dem Felsplateau am Talabschluss erübrigt hätte, weil zum Kaufumfang auch eine gutes Aluminium-Stativ gehörte, das sie zu ihren Beobachtungen immer mitnehmen und aufbauen wollte. Das nahm Mathi mit Erleichterung zur Kenntnis, er sagte:

„Ich habe hin und her überlegt und mich gefragt, wie ich die Löcher für die Pfähle in den felsigen Untergrund bekommen soll, das hat sich ja dann in Luft aufgelöst!“ Mathi schaute sich das von Irmi ausgesuchte Teleskop an und bemerkte gleich:

„Ich dachte bei einem Teleskop immer an ein langes dünnes Fernrohr, dieses Gerät hier ist aber kurz und dick!“ Irmi erklärte die Bestandteile des Teleskops:

„Der längliche Körper, den man hier sehen kann, heißt auch Tubus, und er enthält einen Hauptspiegel, der das durch die vordere Öffnung fallende Licht auf einen Fangspiegel reflektiert, deshalb heißt das Teleskop auch Spiegelteleskop oder Refraktor.“ Mathi fragte:

„Warum schaut man dort an der Seite in das Teleskop und nicht wie bei einem Fernrohr von vorne?“ Irmi antwortete:

„Weil der Fangspiegel das Licht zur Seite hinaus reflektiert und durch das Okular schickt, das Du dort siehst, als würde es aus dem Tubus herauswachsen.“

„Und was soll das kleine Fernrohr, dass dort oben auf dem großen Fernrohr sitzt?“ Irmi klickte auf das Bild vom Teleskop, um es zu vergrößern, anschließend erklärte sie, dass es sich bei dem kleinen Fernrohr um einen Sucher handelt.

„Den braucht man, um das Objekt, das man betrachten will, erst einmal grob ins Blickfeld zu holen.“

„Wenn ich das richtig verstehe“, sagte Mathi, „ist die relativ kompakte Bauweise auf den Hauptspiegel zurückzuführen“, und Irmi nickte dazu.

„Beim Linsenfernrohr war die Länge durch die Linsen, die hintereinander in den Tubus gesetzt waren, bestimmt, beim Spiegelteleskop wird die Bauweise durch die Spiegelreflexion verkürzt, der Durchmesser des Tubus ist logischerweise vom Durchmesser des Hauptspiegels abhängig.“ Danach sah sich Mathi noch einmal das Bild vom fertig aufgebauten Teleskop an und fragte Irmi nach der aufwändig konstruierten Apparatur zwischen Stativ und Tubus. Irmi antwortete:

„Das ist die Montierung, die ist wichtig, weil sich die Position des Teleskops durch die Bewegung der Erde permanent ändert und man deshalb das Teleskop während der Beobachtung nachführen muss, damit man das Beobachtungsobjekt nicht verliert, bei ganz kurzen Beobachtungen spielt das keine Rolle, bei Beobachtungen über einen längeren Zeitraum aber schon.“

„Du willst Dein Teleskop wahrscheinlich gleich ausprobieren, wenn Du es geschenkt bekommen hast?“, fragte Mathi und Irmi entgegnete:

„Wenn es Dir nichts ausmacht, würde ich gerne mit Dir noch in der Nacht an meinem Geburtstag zum Talabschluss laufen.“ Mathi gab sein Einverständnis, und Irmi sagte ihm, dass er mit daran denken sollte, eine Taschenlampe mitzunehmen, natürlich müssten sie auch auf die Sichtverhältnisse achten, denn wenn der Himmel verhangen wäre, könnte man auch mit dem besten Spiegelteleskop nichts sehen. Irmi holte ein Bild unseres Sonnensystems auf den Desktop und begann, Mathi den Aufbau unseres Planetensystems zu erklären. Sie beschränkte sich darauf, ihm die acht Planeten aufzuzählen und gab ihm als Hilfestellung dazu den Spruch mit:

„Mein Vater erklärt mit jeden Sonntag unseren Nachthimmel.“ Der Anfangsbuchstabe eines jeden Wortes dieses Spruches steht für den Anfangsbuchstaben eines unserer Planeten, von der Sonne gesehen nach außen. Irmi bat Mathi, den Spruch aufzusagen, was er im Anschluss widerspruchslos auch gleich tat, und er war sogar in der Lage, die Namen der Planeten wiederzugeben.

„Wieso ist denn die Sonne kein Planet?“, fragte Mathi danach und Irmi antwortete:

„Weil die Sonne ein Stern ist, der in Bezug auf unsere Planeten stillsteht, um den die Planeten kreisen und von dem sie mit Licht und Wärme versorgt werden.“ Und gerade in diesem Moment hatte die Sonnenwärme eine solche Intensität erreicht, dass Irmi und Mathi sich in den Schatten begeben mussten und dort weiter auf den Laptop schauten. Mathi ging auf sein Zimmer und kam mit zwei Flaschen Sprudel wieder heraus. Er gab Irmi eine und forderte sie auf, sich etwas von dem Sprudel in ihr Glas zu schütten. Nachdem Irmi einen großen Schluck genommen hatte, bat sie Mathi, doch einmal zu schätzen wie groß der Abstand von der Erde bis zur Sonne ist. Mathi hatte überhaupt keine Ahnung, er kannte gar keine großen Entfernungen, auch nicht auf der Erde. Irmi sagte schließlich:

„Die Entfernung von der Erde zur Sonne beträgt im Mittel hundertfünfzig Millionen Kilometer, das ist eine Entfernung wie wir die uns Menschen so groß gar nicht vorstellen können, dennoch kommt sie im Weltraum nur einem Katzensprung gleich.“ Mathi schaute Irmi an, als verstünde er nicht, wie konnten hundertfünfzig Millionen Kilometer ein Katzensprung sein, das wollte er nicht begreifen. Irmi fuhr fort und sagte Mathi, dass der äußerste Planet in unserem Planetensystem, der Neptun, 4.5 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt wäre und hundertfünfundsechzig Jahre benötigte, um die Sonne einmal zu umrunden.

Das wäre seit seiner Entdeckung 1856 im Jahre 2011 einmal geschehen. Mathi versuchte sich eine Vorstellung von diesen riesigen Entfernungen zu machen, scheiterte aber daran und als Irmi ihm sagte, dass sich für Entfernungsangaben im Weltraum der Begriff Lichtjahr eingebürgert hätte, musste sie ihm erklären wie ein Jahr eine Entfernung sein könnte. Irmi erläuterte:

„Ein Lichtjahr ist einfach die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt, man weiß, dass es in einer Sekunde die Strecke von rund 300000 Kilometern zurücklegt und kann damit leicht die Strecke errechnen, die es in einem Jahr bewältigt, es ergeben sich rund 9.6 Billionen Kilometer! Ich habe Dir gesagt, dass das Licht eine Geschwindigkeit hat, die aber so groß ist, dass wir sie auf unsere Erde kaum wahrnehmen. Wenn ich eine Taschenlampe einschalte, erscheint zeitgleich der Lichtkegel auf der gegenüberliegenden Wand. Wenn ich aber auf den Mond einen Spiegel aufstellen und eine Laserstrahl auf ihn richten würde, brauchte der Laserstrahl mehr als zwei Sekunden, bis er wieder auf der Erde ankäme. Man kann auf diese Weise errechnen, dass das Licht von der Sonne zur Erde knapp acht Minuten unterwegs ist.“ Mathi kam aus dem Staunen nicht heraus:

„Woher weiß Irmi all diese Dinge?“, fragte er sich. Irmi sagte ihm, dass sie sich ihr Wissen angelesen und aus dem Computer bezogen hätte. Zum Schluss bat sie Mathi, einmal zu überlegen wie es sein kann, dass ich einen Stern am Himmel sehe, den es in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt.

Mathi überlegte und überlegte, wie kann ich etwas sehen, dass es nicht gibt, das leuchtete ihm nicht ein und Irmi erklärte, dass ein Stern, der vielleicht 1000 Lichtjahre von uns entfernt ist, vielleicht schon vor 900 Jahren explodiert sein kann, sein Licht braucht aber 1000 Jahre, bis wir es bei uns sehen können. Auf diese Weise ist jeder Blick in den Weltraum, den wir nachts unternehmen können, ein Blick in unsere Vergangenheit. Unser Welttraum und mir ihm unsere gesamte Existenz ist ungefähr 13.7 Milliarden Jahre alt. Am Anfang stand ein großer Knall, der sogenannte Big Bang, mit ihm begann alles, unser Denken im Raum und unsere Zeit.“ Mathi dachte über Irmis Worte nach und fragte gleich:

„Aber was lag vor diesem Big Bang?“, und da musste Irmi sagen, dass es ein solches Vorher nach der Definition gar nicht geben könnte, denn die Zeit begann ja auch mit diesem Urknall. Sie ließen es bei diesen Überlegungen bewenden, Irmi stand auf und verließ Mathi wieder, sie lief zurück und begab sich auf ihr Zimmer. Irmi standen die letzten beiden Wochen auf der Realschule bevor und sie freute sich schon auf ihre Gymnasialzeit in Innsbruck, wo sie endlich die wichtigen Dinge des Lebens lernen würde, wie sie glaubte. Die Trennung von ihrer alten Realschulklasse fiel ihr nicht schwer, weil sie kaum intensive Kontakte zu Mitschülern gehabt hatte, außer zu vielleicht zwei Mitschülerinnen. Und Franz Heinbichler, der mit ihr auf das Gymnasium wechseln würde.

Sie würde fortan zusammen mit Franz früh morgens mit dem Bus nach Innsbruck fahren. Die Fahrt würde eine Dreiviertelstunde dauern, in der sie sich unterhalten könnten, wenn ihnen der Sinn danach Stünde. Doch zunächst lagen die großen Ferien zwischen Irmis Ende an der einen und ihrem Neubeginn an der anderen Schule, in denen sie ausgiebig ihr Teleskop benutzen wollte. Irmi fuhr in den Ferien nicht weg, wie das andere taten, sie wollte nicht wegfahren, weil sie sich ja dann von ihrem Teleskop hätte trennen müssen. Ihr Geburtstag fiel mit dem ersten Ferientag zusammen und sie feierte ihn in sehr kleinem Rahmen. Sie hatte nur die allerengsten Bekanntschaften eingeladen, zu denen zwei Mädchen aus ihre Realschulklasse und Franz Heinbichler gehörten, Tante Christa war mit Jeanette angereist. Niemand verstand so recht, was ein Mädchen in Irmis Alter an Astronomie so interessant fand, und Irmi versuchte auch gar nicht erst, ihr Interesse an den Sternen vor den anderen zu vertreten. Sie feierte ihren siebzehnten Geburtstag mit allen und bekam von ihren Eltern ein großes Paket geschenkt. Sie wusste natürlich, was das Paket enthielt und riss die Verpackung auf. Vor ihr lag das gewünschte Teleskop in seine Einzelteile zerlegt, und Irmi musste aufpassen, damit sie den Überblick nicht verlor. Mathi war schon seit dem Morgen bei ihr und hatte ihr von ganzem Herzen zu ihrem Geburtstag gratuliert.

Er half ihr beim Zusammensetzen des Teleskops, sodass am Ende nur noch drei Teile übrigblieben: der eigentliche Tubus mit Okular und Sucher, die Montierung und das Stativ. Mathi hatte Irmi ein Buch geschenkt, das den Titel „Unser Sternenhimmel“ trug. Es stand für Irmi zwar nichts Neues in diesem Buch, sie freute sich aber darüber, dass sich Mathi solche Mühe mit der Buchbesorgung gemacht hatte. Als am Nachmittag die anderen Gäste auch eingetroffen waren, bekam Irmi von ihnen das Übliche geschenkt wie Parfum und Kosmetika, sie freute sich aber auch darüber und bedankte sich bei den Gästen. Sie tranken alle zusammen Kaffee und aßen von dem Kuchen, den Irmis Mutter gebacken hatte. Irmi freute sich, mit ihren Eltern und ihren Gästen zusammensitzen zu können, gleichzeitig war sie aber schon sehr gespannt darauf, nach Anbruch der Dunkelheit mit Mathi zum Talabschluss zu laufen. Franz fragte Irmi, ob sie nicht einmal zusammen ins Freibad gehen könnten, sie hätten doch jetzt in den Ferien beide Zeit und das Wetter wäre doch sehr schön. Irmi sagte Franz, dass in ihren Augen nichts dagegen spräche und sie verabredeten sich gleich für den nächsten Tag. Franz war froh, dass Irmi zugesagt hatte, er mochte Irmi, hatte ihr das aber während der gemeinsamen Schulzeit nicht gezeigt, weil er sich nicht getraut hatte. Schon der jetzige Versuch einer Verabredung, der ja erfolgreich verlaufen war, hatte ihm alles abverlangt, was er an Kräften aufbieten konnte. Irmi mochte Franz auch, weil er ein Junge war, der ehrlich aus sich heraus war und mit dem man über alles reden konnte, was einen bewegte, davon hatte sich Irmi auf ihrem gemeinsamen Schulweg immer überzeugen können.

Gegen Abend verschwanden Irmis Schulfreundinnen nach Hause, sodass Irmi nur noch mit Jeanette und Franz zusammensaß. Jeanette schien sich zu vorgerückter Stunde zu langweilen und verabschiedete sich vor den Fernseher, wo sie mit den Alten saß und sich irgendein Unterhaltungsprogramm anschaute. Als Franz mit Irmi allein saß, fühlte er sich extrem unsicher und Irmi sah sich genötigt, ihm die Scheu vor der Situation zu nehmen. Sie begann ein Gespräch über so unverfängliche Dinge wie ihr Teleskop. Franz zeigte sich zu ihrer Freude sehr daran interessiert und wollte von ihr wissen, wann sie es ausprobieren würde. Als Irmi sagte, dass sie noch an diesem Abend mit Mathi und ihrem Teleskop zum Talabschluss wollte und das Teleskop dort auf einem Felsplateau etwas oberhalb in Position bringen wollte, fragte Franz gleich, ob er nicht mitgehen dürfte. Irmi überlegte kurz, fand aber nichts, was sie dagegen hätte vorbringen können und sagte zu Franz:

„Wenn Du willst, kannst Du mit uns kommen, Du müsstest allerdings zu Hause noch Bescheid sagen!“ Franz lief eine Viertelstunde später nach Hause, um dort mitzuteilen, dass er mit Irmi und Mathi noch an diesem Abend zum Talabschluss wollte, er kam eine Stunde später wieder zurück.

Irmi und Mathi waren zwischenzeitlich damit beschäftigt, die Sachen zusammenzulegen, die sie mit auf ihre Exkursion nehmen wollten, und da kam ihnen Franz zum Helfen gerade recht. Als sich jeder mit seinem Teil zum Tragen ausgestattet hatte, sie hatten neben dem Teleskop noch etwas zu Essen und zu Trinken und eine Taschenlampe bereitgelegt, wunderten sie sich, wie viele Dinge da auf einem Haufen zusammengekommen waren. Mathi machte den Vorschlag, die Schubkarre zum Transport zu benutzen, zumal das Teleskop allein mit dem Zubehör schon elf Kilogramm wog. Irmi und Franz fanden Mathis Vorschlag gut und Mathi lief in den Stall und holte die Schubkarre, in der vorher Mist transportiert worden war. Sie reinigten die Ladefläche von Mistrückständen und legten ihre Sachen darauf, die ja mit der Ladefläche gar nicht richtig in Kontakt kamen, sie ließen das Teleskop in seiner Verpackung und auch das Essen und das Trinken waren verpackt. So liefen sie schließlich durch das Dorf und konnten von Glück sagen, niemandem begegnet zu sein, denn was hätten sie ihm auf seine Frage antworten sollen, warum sie in der Nacht mit der Schubkarre durch das Dorf zögen? Irmi schob die Karre, und Franz fragte sie:

„Soll ich nicht lieber die Schubkarre schieben, sie ist Dir doch sicher zu schwer?“ Aber Irmi wies ihn mit den Worten zurück:

„Danke für Dein Hilfsangebot, aber über so viel Kraft, um fünfzehn Kilogramm mit der Schubkarre zu transportieren, verfüge ich schon noch!“ Sie erreichten schließlich nach einer Dreiviertelstunde den Hang am Talabschluss und Irmi stellte die Schubkarre ab, die sie die gesamte Strecke geschoben hatte. Sie blickten den Hang hinauf und Irmi sagte zu Franz:

„Dort oben, nach ungefähr einem Drittel des Hanges, befindet sich das Felsplateau, auf das wir die Sachen tragen müssen!“, und Franz blickte Irmi gespannt an. Jeder nahm seine Teil der Sachen aus der Schubkarre, Mathi schulterte das Teleskop und hatte damit den deutlich schwersten Teil zu tragen. Irmi ging mit der Taschenlampe vorweg und leuchtete den Weg aus, den sie bergan stiegen und sie erreichten nach einer Viertelstunde mühsamen Kletterns das Felsplateau, legten die Sachen ab und setzten sich erst einmal zur Entspannung hin. Es war warm an diesem Abend, der Himmel war sternenklar und versprach sehr gute Beobachtungsgegebenheiten. Der Mond war zu drei Vierteln zu sehen und würde sich als erstes Objekt zur Betrachtung ausgezeichnet eignen. In der Ferne waren einige Lichter von Lerbach auszumachen, ansonsten war es finster um sie herum, auch war es mucksmäuschenstill, allein hätte man sich auf dem Plateau in diesem Augenblick wohl gefürchtet. Nach einer angemessen langen Pause gingen sie daran, die Teleskopteile aus dem Karton zu nehmen und auf die Felsen zu legen. Irmi nahm das Stativ und drückte die Stützbeine auseinander, anschließend stellte sie es auf das Plateau und brachte es durch die Verstellung der Beinlängen in die Waage. Es ging danach darum, die Montierung, die eine Äquatorialmontierung war, aufzusetzen und zu justieren.

Dabei war Irmi auf sich selbst gestellt, denn die beiden anderen konnten ihr nicht helfen. Irmi hatte die ganzen letzten Wochen damit verbracht, sich sachkundig zu machen, damit sie in diesem Moment der Teleskopjustierung auch keinen Fahler machte, im Übrigen half ihr die mitgelieferte Beschreibung dabei. Bei der Äquatorialmontierung spielten Rektaszenion und Deklination eine Rolle, die für die Positionsbestimmung eines Himmelsobjektes wichtig waren. Bezogen auf den Himmelsäquator, das war die gedachte Projektion des Äquators, um den sich die Erde dreht, auf eine imaginäre Himmelskugel, war die Rektaszenion die Winkelabweichung des Beobachtungsobjektes, wobei der Frühlingspunkt der Nullpunkt war. Die Deklination meinte die Erhebung eines Beobachtungsobjektes über diesen Äquator. Die Montierung musste so justiert werden, dass das Teleskop parallel zur Erdachse ausgerichtet war und diese Einstellung nahm Irmi als Erstes vor, nachdem sie das Teleskop auf den Polarstern gerichtet hatte. Als alle Bauteile auf das Stativ gesetzt und das Teleskop ausgerichtet war, konnte es losgehen und Irmi hatte sich als erstes Beobachtungsobjekt den Mond vorgenommen. Sie drehte das Teleskop grob in Richtung des Erdtrabanten und fixierte ihn zunächst mit dem Sucher. Anschließend blickte sie durch das Okular und stellte es scharf, das Ergebnis warf sie beinahe um. Sie stand lange an ihrem Teleskop und brachte keinen Ton heraus, Mathi und Franz blickten sich an und Mathi fragte:

„Und, was siehst Du?“ Irmi antwortete zunächst nicht, bis sie schließlich sagte:

„Ihr müsste selbst einmal durch das Okular schauen, um zu sehen, was ich sehe, wunderbar!“ Sie trat von dem Teleskop zurück und überließ Mathi und Franz den Blick durch das Okular. Als die beiden nacheinander den fantastischen Blick genossen hatten, waren sie ebenfalls zunächst sprachlos über die Brillianz der Mondbeobachtung. Sie blickten zu Irmi und Franz sagte:

„Ich habe so etwas Schönes noch nie gesehen, der Mond steht an beinahe jedem Abend am Himmel, was ich aber gerade erblickt habe, raubt mir fast den Atem!“ Auch Mathi war sehr angetan von der Mondabbildung im Teleskop und bestätigte Franz in seiner Einschätzung, was Irmi freute, denn sie wollte ihre eigenen Eindrücke gern mit den beiden teilen. Zum Lieferumfang gehörte ein weiteres, stärkeres Okular, das Irmi gleich ausprobierte, ferner eine sogenannte Barlow-Linse für stärkere Vergrößerungen. Nachdem sie alles ausprobiert hatte, entschloss sich Irmi, alles wieder zusammenzupacken und nach Lerbach zurückzulaufen. Sie wollte ein Beobachtungstagebuch anlegen und in diesem genau ihre beobachteten Objekte festhalten, sie würde auch die Besonderheiten notieren, die sich dabei gezeigt hätten. Als sie wieder in Lerbach ankamen, verabschiedete Franz sich bis zum nächsten Tag, wenn er mit Irmi ins Freibad gehen würde, Irmi und Mathi nickten sich auf dem Hofmairhof zu und gingen gleich ins Bett.

Beim Frühstück am nächsten Morgen fragte Irmis Mutter, ob sie am Vorabend etwas am Himmel beobachtet hätte und Irmi antwortete:

„Wir haben erst einmal das Teleskop ausgerichtet und danach einen Blick auf den Mond geworfen, Du kannst Dir nicht vorstellen wie ergreifend der Anblick war, mit der Vergrößerung, die mein Teleskop bietet, erhält man umwerfende Bilder!“

„Wann werdet Ihr denn wieder zum Talende laufen?“, fragte Irmis Mutter und Irmi antwortete:

„Ich weiß es noch nicht, heute gehe ich tagsüber erst einmal mit Franz ins Freibad, vielleicht gehe ich morgen Abend wieder mit Mathi und Franz dorthin!“ Neugierig wie ihre Mutter nun einmal war, erkundigte sie sich gleich nach Franz:

„Ist Franz Dein neuer Freund?“, fragte sie Irmi direkt, aber Irmi winkte ab und sagte:

„Franz ist mein alter Klassenkamerad, und ich finde ihn nett, ich bin gerne mit ihm zusammen und kann mich gut mit ihm über alles Mögliche unterhalten.“ Daraufhin stand sie auf und ging auf ihr Zimmer, wo sie ihre Badesachen in eine Tasche legte, anschließend lief sie zum Freibad. Sie war um 10.30 h mit Franz an der Kasse verabredet und Franz stand schon seit Kurzem dort und wartete auf Irmi. Sie begrüßten sich beide per Handschlag und gingen hinein. Nachdem sie sich umgezogen hatten, liefen sie gemeinsam zur Liegewiese und legten sich nebeneinander auf den Rasen. Irmi sagte zu Franz:

„Ich finde es schön, dass wir zusammen einmal in unser Freibad gegangen sind, das wurde wirklich auch einmal Zeit!“ Franz erwiderte:

„Ich finde das auch toll, ich weiß nicht, warum das früher nie geklappt hat, während des Schulbetriebs war die Zeit für uns natürlich denkbar knapp.“

„Komm, lass uns ins Wasser gehen!“, rief Irmi und sprang auf, Franz machte es ihr nach, und sie liefen beide zum Schwimmerbecken. Irmi stieg auf einen Startblock und machte einen Kopfsprung ins Wasser ohne sich vorher abgekühlt zu haben, Franz sprang ihr hinterher, ebenfalls mit einem Kopfsprung, ebenfalls ohne vorherige Abkühlung. Sie tauchten beide danach eine ganze Strecke die Schwimmbahn entlang und kamen anschließend an die Wasseroberfläche, wo sie mit kräftigen Zügen nebeneinander her schwammen. Irmi bemerkte, dass Franz sehr kräftig war, denn seine Schwimmzüge brachten ihn gleich ein gutes Stück vorwärts und Franz legte sich mächtig ins Zeug, um Irmi zu imponieren. Sie schwammen einige Bahne und unterhielten sich über den vorigen Abend, Irmi fragte:

„Hast Du es wirklich so toll gefunden, durch mein Teleskop zu schauen?“

„Ich war hin und weg, ich habe so etwas Schönes noch nie vorher gesehen“, antwortete Franz, „und ich übertreibe damit nicht!“ Irmi hörte solche Worte gern, und wenn sie von Franz kamen, um so mehr, sie begann Franz zu mögen und würde ihm das bald auch sagen.

Als sie wieder auf der Liegewiese angekommen waren und sich dort langgemacht hatten, fragte Irmi Franz:

„Was hat Dir denn gestern Abend am meisten gefallen?“ Franz dachte kurz nach und antwortete danach:

„Ich fand es spannend, mit Euch in der Dunkelheit zum Talende zu laufen, und ich fand es toll von Dir, dass Du mich mitgenommen hast, und schließlich war der Blick durch Dein Teleskop überwältigend.“ Irmi sah zu Franz rüber auf seinen kräftigen Oberkörper und seine muskulösen Oberarme und war auf einmal ganz von ihm eingenommen, sie sagte ihm:

„Franz, ich weiß nicht, warum es erst heute passiert ist, aber ich glaube, ich habe mich in Dich verliebt!“, und sie legte ihre Hand auf seine Brust. Franz fühlte wie sein Herz kräftig schlug und wusste erst gar nicht wie ihm geschah, dass Irmi ihn so direkt mit ihrer Liebe konfrontieren würde, kam für ihn völlig überraschend, er freute sich aber natürlich wie wahnsinnig darüber und entgegnete:

„Ich liebe Dich schon seit Langem, ich habe mich nur nie getraut, Dir das zu gestehen.“ Sie sahen sich beide an und lächelten sich zu, und Franz hatte merkwürdigerweise seine Selbstsicherheit wiedererlangt und hielt Irmis Blick stand. Er sah Irmis warmen Gesichtsausdruck und ihren wunderschön gebauten Körper. Irmi trug einen Bikini, der ihre gute Figur betonte und Irmi wusste natürlich, dass Franz seine Blicke auf ihren Körper gerichtet hatte.

„Sollen wir in den nächsten Tagen nicht einmal mit dem Bus nach Innsbruck fahren?“, fragte sie Franz und Franz fand die Idee sehr gut:

„Wir könnten uns gemeinsam unser zukünftiges Gymnasium ansehen, wie wäre es mit übermorgen, wir könnten einen frühen Bus nehmen, Kaffee trinken gehen und uns die Stadt ausgiebig ansehen, lass uns doch gleich einen Termin festmachen!“, schlug Franz vor.

„Ich glaube, dass das geht, morgen Abend will ich wieder zum Talabschluss, und Du sollst wieder mitkommen!“, entgegnete Irmi.

„Eigentlich ist mir der Tag auch egal, unsere Ferien dauern noch so lange, da können wir noch viel zusammen unternehmen, und darauf kommt es mir an!“, sagte Franz. Sie gingen noch ein paarmal ins Wasser und lagen danach wieder zusammen auf der Liegewiese, wo sie sich über weitere gemeinsame Vorhaben unterhielten. Sie besprachen die Besteigung des dreitausend Meter hohen Grindelkopfes, eines Berges, der zu den Gebirgsflanken gehörte, von denen Lerbach rechts und links gesäumt wurde. In der nächsten Woche würden sie den Grindelkopf angehen, so kamen sie überein. Am Nachmittag verließen sie das Freibad wieder, sie trennten sich im Dorf voneinander, Irmi gab Franz zum Abschied einen Wangenkuss, und Franz war außer sich vor Freude darüber, danach gingen sie ihre Wege nach Hause. Zu Hause setzte sich Irmi mit ihrer Mutter auf eine Tasse Kaffee in die Küche und sagte:

„Ich glaube, dass Du recht hattest mit Deiner Vermutung, dass Franz mein neuer Freund ist.“ Sie sagte das wie zu einer alten Freundin, obwohl ihre Mutter in ihren Augen eine Frau in fortgeschrittenem Alter war. Sie vertraute ihr aber solche intimen Dinge an, weil sie wusste, dass sie in ihr die richtige Ansprechpartnerin fand. Diese Erfahrung hatte sie schon früher gemacht, als sie Gespräche mit ihr über ihre Pubertätsprobleme geführt hatte. Schon damals war Irmi aufgefallen, dass ihre Mutter ein offenes Ohr für diese Dinge hatte, und sie immer für sich behielt. Frau Hofmair sah ihre Tochter an und bemerkte gleich den Glanz in ihren Augen, sie war verliebt, daran bestand kein Zweifel und sie freute sich für Irmi.

„Ich finde, dass Franz ein sehr netter Junge ist und dass er gut zu Dir passt“, sagte sie ihrer Tochter, und sie wusste, dass Irmi solche Worte von ihr hören wollte.

„Wir werden vermutlich übermorgen nach Innsbruck fahren, und wir werden in der nächsten Woche den Grindelkopf besteigen“, sagte Irmi und ihre Mutter antwortete:

„Das haben Vater und ich ganz früher auch getan, damals war eine Fahrt nach Innsbruck noch ein richtiges Abenteuer und wir hatten uns den ganzen Tag über in der Stadt aufgehalten, der Grindelkopf war ganz schön anstrengend, als wir aber oben auf dem Gipfel gestanden hatten, hatten wir den Blick über das Tal genossen, Dein Vater war ein großer Charmeur, und er half mit beim Auf- und beim Abstieg, sodass mir der Grindelkopf nicht ganz so schwer fiel.“

Irmi ging auf ihr Zimmer und nahm eine noch leere Kladde, die sie bei sich in der Schreibtischschublade fand und begann, Teleskoptagebuch zu schreiben. Sie sah dabei auf das schöne Instrument, das auf dem Boden neben ihrem Bett lag und schrieb ihren Namen und das Datum in die Kladde. Anschließend eröffnete sie das erste Kapitel und beschrieb, wie sie es am Vorabend zusammen mit Mathi und Franz zum Talabschluss transportiert und es zusammengebaut und justiert hatte. Sie fuhr fort uns schrieb einige Zeilen zur Mondbeobachtung durch ihr neues Telskop. Sie hatte Schwierigkeiten, Worte zu finden, die ihre Eindrücke angemessen wiedergaben, schließlich schrieb sie:

„Und dann richtete ich mein Teleskop auf den Mond, fixierte ihn zunächst durch den Sucher und stellte anschließend das Okular scharf, was sich danach zeigte, war umwerfend, nie habe ich die Mondoberfläche in einer solchen Vergrößerung und mit einer solchen Brillanz gesehen, Mathi und Franz waren auch ganz ergriffen von dem Blick auf den Mond.“ Am nächsten Tag reinigte Irmi sorgfältig alle Linsen, die am Teleskop von außen zugänglich waren, sie benutzte dazu ein Brillenputztuch vom Vater. Anschließend nahm sie Mathis Buch über den Sternenhimmel zur Hand und blätterte darin. Welches wäre ihr nächstes Beobachtungsobjekt, fragte sie sich und sie kam schnell auf die Venus. Die Venus hatte sie schon immer fasziniert, von ihr ging etwas Geheimnisvolles aus, wie sie fand.

Irmi glaubte nicht an Astrologie, die Geschichten und Legenden um diesen Planeten machten nun einmal aber die Runde und es gab sehr viele Menschen, die ihnen Glauben schenkten. Sicher hatte das damit zu tun, dass die Venus in der Mythologie der Griechen und Römer als Sinnbild der Erotik und des erotischen Verlangens galt, das seit Jahrhunderten überliefert wurde und sich in Malerei und Plastik niederschlug. Irmi suchte sich die Daten zu Rektaszenion und Deklination der Venus auf ihrem Computer und notierte bezogen auf das aktuelle Datum:

Rektaszenion 22h 17m 42s, Deklination 10° 17´44´´, sie hatte 21.00 h eingestellt und würde die festgehaltenen Daten an ihrer Montierung justieren. Die Venus würde um Mitternacht ganz vom Beobachtungshorizont verschwunden sein, sie war nur am Morgen und am Abend zu beobachten und von daher war 21.00 h eine gute Zeit. Als Irmi so an ihrem Schreibtisch saß und schrieb, klopfte es mit einem Mal an ihrer Zimmertür, und nachdem sie um Eintritt gebeten hatte, erschien Franz. Irmi freute sich, dass er zu ihr gekommen war:

„Ich bin gerade dabei, die Daten für heute Abend aufzuschreiben“, sagte sie, „ich will heute Abend die Venus beobachten.“ Franz trat näher und noch ehe er etwas sagen konnte, fiel Irmi ihm um den Hals und gab ihm einen Kuss. Franz war wie von Sinnen und schloss seine Augen, das, was da gerade mit ihm geschah, war etwas, von dem er schon lange geträumt hatte. Er drückte Irmi an sich und erwiderte ihren Kuss, er umspielte ihre Zunge mit seiner und war im siebten Himmel.

Als Irmi den Zungenkuss unterbrach, sahen sie sich in die Augen und Franz sagte:

„Darauf habe ich so lange gewartet!“ Bevor sie sich aber weiter küssten, bat Irmi Franz, ihr beim Zusammenlegen der Teleskopteile zu helfen, und sie bereiteten gemeinsam die abendliche Exkursion vor. Anschließend sagte Irmi zu Franz:

„Ich muss gleich noch mit meiner Mutter in den Stall, Du kannst mich begleiten!“ Franz begrüßte Frau Hofmair, und Irmis Mutter lächelte ihn an, sie wusste ja, dass er der neue Freund ihrer Tochter war.

„Wollt Ihr heute Abend wieder zum Talabschluss?“, fragte sie ihn und Franz antwortete:

„Irmi will heute Abend die Venus beobachten, ich habe den Abendstern noch nie durch ein Fernrohr gesehen.“ Sie gingen zusammen zu den Kühen und schlossen die Melkapparatur an. Frau Hofmair stellte die Pumpe an und die Milch wurde in die bereitstehenden Gefäße gepumpt. Am frühen Abend käme der LKW von der Molkerei und würde die Milch abholen wie an jedem Tag, einmal morgens und einmal abends.

Mit Franz zur Sternenbeobachtung

Nach der Stallarbeit gingen sie ins Haus zurück und tranken zusammen Kaffee, auch Irmis Vater saß mit am Tisch, und er fragte Franz, ob er am Abend wieder mit zur Sternenbeobachtung wollte. Franz bejahte und sagte, dass er sich schon darauf freute, einen Blick auf die Venus werfen zu können, er hätte sie noch nie durch ein Fernrohr betrachtet.

„Da geht es Dir wie mir“, sagte Herr Hofmair, „ich interessiere mich aber auch nicht für den ganzen Sternenkram, und ich muss zugeben, dass ich nicht viel darüber weiß.“

„Das ist bei mir ganz anders“, antwortete Franz selbstbewusst, „ich finde es wahnsinnig spannend, mit einem Teleskop die Planeten zu beobachten, wie Irmi das macht, und ich weiß auch einiges über sie.“

„Dass Du nicht dafür interessierst und so wenig darüber weißt, liegt sicher daran, dass Du nie Zeit gehabt hast, Dich mit der Astronomie zu beschäftigen“, sagte Irmi und ihr Vater gab ihr recht. Nach dem Kaffeetrinken gingen Irmi und Franz eine Runde durch das Dorf, was Irmi sonst nie tat, jetzt mit Franz nutzte sie aber die Zeit für einen Spaziergang. Der Hofmairhof lag nur vier Minuten vom Ortszentrum entfernt, das Ortszentrum bestand aus der Kirche und daneben dem Gasthof „Schneider“. Offensichtlich waren gerade keine Gäste bei Schneiders, denn es parkten vor dem Gasthof keine fremden Autos. Irmi setzte sich mit Franz auf eine Bank neben der Kirche, und die beiden kamen auf die Religion zu sprechen.

„Ich habe mich, wie Du weißt, vom Religionsunterricht in der Schule abgemeldet, und ich gehe auch nicht mehr zur Beichte oder in den Gottesdienst, ich habe mit meinen Eltern darüber gesprochen, und sie lassen mich gewähren“, sagte Irmi mit einem Mal. Franz schaute sie scheinbar erstaunt an und sagte:

„Ich habe mich aus Bequemlichkeitsgründen nicht vom Religionsunterricht abgemeldet, zur Beichte gehe ich schon lange nicht mehr und in den Gottesdienst nur noch gelegentlich.“

„Glaubst Du nicht an Gott?“, fragte Irmi und stieß damit ein Gespräch an, zu dem Franz für ihre Begriffe erstaunlich viel beizutragen wusste.

„Ich habe schon sehr oft über diese Frage nachgedacht und auch viel mit meinen Eltern darüber diskutiert“, erwiderte Franz.

„Wenn ich Dir jetzt antworte, dass ich nicht an Gott glaube, dann stimmt das zwar, es bleibt aber eine Erklärungslücke für den Sinn unserer Existenz“, ergänzte er.

„Das sehe ich so wie Du“, entgegnete Irmi und war überrascht, solche Worte aus dem Mund von Franz zu hören.

„Es ist dem Menschen nicht möglich, kraft des ihm gegebenen Intellekts die Frage nach dem Sinn seiner Existenz hinreichend genau zu erklären“, sagte sie.

„Über Jahrhunderte hin weg hat der Mensch für alle Naturphänomene, für deren Herkunft er keine Erklärung hatte, Gott gesetzt so lange, bis die Naturwissenschaften Licht in das Dunkel zu bringen in der Lage gewesen waren, aber das ist mir viel zu wenig und für die Existenz eines allwissenden und allmächtigen Gottes zu erbärmlich!“, sagte Franz.

„Ich denke oft über solche Sinnfragen des Lebens nach und freue mich, in Dir einen Gesprächspartner dafür gefunden zu haben“, antwortete Irmi, „glaubst Du, dass Du ohne die Religion glücklich sein kannst?“

„Auch ich denke sehr oft darüber nach, worin die letzten Ursachen für unser Leben liegen und um auf Deine Frage zurückzukommen, was heißt schon Glück, wer bestimmt, was Glück ist, wo liegt die Grenze zur Zufriedenheit?“, fragte Franz.

„All das sind Fragen, die mich brennend interessieren“, sagte Irmi und sie nahm die Hand von Franz:

„Ich glaube, dass ich im Moment mit Dir glücklich bin, weiß aber nicht, ob das nicht nur Zufriedenheit ist, wenn auch auf einem sehr hohen Niveau!“ Franz sah Irmi an und bemerkte ihren schmachtenden Blick, sie küssten sich, und es war den beiden egal, ob sie jemand dabei beobachtete. Anschließend gingen sie in den Biergarten vom Gasthaus „Schneider“, in dem nur ganz wenige Gäste saßen. Irmi war nur ganz selten in ihrem Leben einmal im Gasthof „Schneider“ gewesen, sie wusste gar nicht, wie lange ihr letzter Besuch dort schon zurücklag, wahrscheinlich war das während ihrer Kindheit mit ihren Eltern. Auch Franz war sehr lange nicht in dem Gasthof gewesen, auch er wusste nicht mehr, wann das letzte Mal war, dass er dort gewesen war. Und als der alte Herr Schneider sie persönlich bediente, traute er zunächst seinen Augen nicht, bis er sagte:

„Meine Güte, die Irmi Hofmair und der Franz Heinbichler, wundert Euch bitte nicht, dass ich so überrascht bin, aber ich kenne Euch beide noch als Kleinkinder und habe Euch seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen, was darf ich Euch bringen?“

Die beiden bestellten jeder eine Limonade, es war nicht so, dass sie Alkohol verschmähten, sie mussten aber am Abend noch zum Talabschluss laufen und da hätte sie Alkohol nur unnötig müde gemacht. In diesem Augenblick betraten die drei alten griesgrämigen Männer den Biergarten und setzten sich an einen Nebentisch, an dem sie gleich zu zetern anfingen. Irmi und Franz bekamen jedes ihrer Worte mit, das sie von sich gaben, denn sie waren sehr laut und nahmen keine Rücksicht auf andere Gäste. Sie unterhielten sich lauthals über Gäste von auswärts, die wohl am Vortag im Gasthof gegessen hatten und sie waren voller Hass und Häme. Herr Schneider ging zu ihnen und bat sie, doch leiser zu sein, aber Fritz Lechleitner brüllte:

„Warum sollen wir leise sein, es kann jeder hören, was wir über Fremde in unserem Dorf denken!“ Da wurde es Irmi zu bunt, sie drehte sich zu den Alten und rief:

„Zum Glück leben in unserem Dorf nicht nur so verbitterte alte Männer wie Sie, sondern vornehmlich Menschen, die freundlich zu Fremden sind!“ und sie winkte Herrn Schneider herbei, um zu zahlen. Anschließend standen sie zusammen auf und winkten Herrn Schneider zum Abschied zu, danach verließen sie den Gasthof wieder und kamen an ihre alte Schule, an der sich nichts verändert zu haben schien.

„Wenn ich mir überlege, dass wir damals alle unter Lehrer Holzmoser gelitten haben, frage ich mich heute, ob wir davon nicht etwas zurückbehalten haben“, sagte Irmi und Franz pflichtete ihr bei. Das Schulgebäude strahlte in seiner Tristheit immer noch das aus, was damals den Unterricht ausgemacht hatte, aber der hätte sich ja wohl heute mit Lehrer Meyer verändert. Irmi und Franzh trennten sich danach wieder und gaben sich zum Abschied einen Kuss, sie liefen jeder für sich zum Abendessen nach Hause und würden sich gegen 20.00 h wieder bei Irmi treffen. Irmi lief noch schnell zu Mathi und bat ihn, um kurz vor acht nach vorne zu kommen und die Schubkarre mitzubringen, sie wollten danach gleich loslaufen.

„Dein Freund ist aber eine angenehmer Junge!“, sagte Herr Hofmair zu seiner Tochter, „mir gefällt an ihm, dass er so selbstbewusst ist.“ Irmi sagte dazu nichts und aß ihre Brote, es gab an diesem Abend kalte Küche bei Hofmairs, und alle waren zufrieden damit, zumal der gute eigene Schinken auf dem Tisch lag. Irmi lief nach dem Essen auf ihr Zimmer und holte die Utensilien nach unten, die sie für die Venusbetrachtung an diesem Abend brauchten. Kurze Zeit später kam auch schon Franz und half ihr dabei, und als sie alles soweit nach unten geholt hatten, erschien Mathi mit der Schubkarre, und sie luden die Sachen auf die Ladefläche. Irmi hatte auch an die Taschenlampe und etwas zu trinken gedacht, und wenige Augenblicke später liefen sie los.

Mit Franz zur Sternenbeobachtung

Sie gaben schon einen merkwürdigen Anblick ab wie sie da zu dritt am Abend mit der Schubkarre durch das Dorf streiften. Wieder schob Irmi die Schubkarre die gesamte Strecke allein und wies jedes Hilfsangebot von Franz ab, und als sie endlich das Talende erreichten, stellte Irmi die Schubkarre ab und setzte sich für einen Moment neben sie. Es war noch nicht ganz dunkel, als sie schließlich den Hang hinaufliefen und ihre Ausrüstungsgegenstände mit hochnahmen, und sie konnten noch gut erkennen, wo sie herliefen. Als sie auf dem Felsplateau ankamen, begannen sie gleich mit dem Zusammenbau des Teleskops und setzten es auf das Stativ. Nachdem sie es ausgerichtet hatten, holte Irmi ihre Kladde hervor und las die Daten ab, die sie tagsüber von ihrem Computer aufgeschrieben hatte, und sie nahm die Teleskopeinstellung entsprechend der Notierung vor. Irmi schaute zuerst wieder durch den Sucher, obwohl das Instrument anhand der Daten zu Rektaszenion und Deklination der Venus justiert war und sie sah den Planeten sofort. Sie setzte das Okular mit der stärkeren Vergrößerung an und stellte scharf. Es bot sich ihr ein Bild von unermesslicher Schönheit, sie sah den Abendstern dank herrlicher Sichtverhältnisse vollkommen klar und war fasziniert. Die ständige Wolkendecke der Venus verhinderte zwar einen Blick auf die Oberfläche des Planeten, sie verstärkte aber sein Leuchten, das unter allen Planeten das stärkste war. Man konnte die Venus deshalb auch manchmal am Tageshimmel mit bloßem Auge sehen, was ihre Ausnahmestellung unter den Planeten noch unterstrich.

Irmi ließ Mathi und Franz durch das Teleskop schauen und zumindest für Mathi war dieser Blick etwas ganz Außergewöhnliches, hatte er sich doch noch nie genau wie Irmis Vater mit den Planeten beschäftigt, geschweige denn, seinen Blick durch ein Teleskop auf sie gerichtet. So nahm sich die Venus für ihn zwar als etwas Besonderes aus, er war aber nicht in der Lage das, was sich ihm im Okular darbot, entsprechend zu würdigen. Anders dagegen Franz, er kannte die Venus und wusste auch um einige Eigentümlichkeiten dieses Planeten, er kannte die Position der Venus im Planetensystem und wusste auch, dass dem Betrachter der Blick durch eine geschlossene Wolkendecke versperrt blieb. Auch waren ihm die Mythen um diesen Planeten bekannt, er kannte viele künstlerische Darstellungen der Venus und er war ein großer Bewunderer der Renaissance-Maler wie Botticelli, der die Venus von Milo gemalt hatte. Ehrfürchtig blickte er durch Irmis Teleskop auf die Venus und blieb zunächst ganz still. Als Irmi ihn ansah und auf einen Kommentar von ihm zu warten schien, sagte er nur:

„Das ist unfassbar, was ich da gerade durch Dein Teleskop gesehen habe, ist so unbeschreiblich schön, dass mir die Worte fehlen!“ Die Venus war nur rund vierzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt und zählte zu den erdähnlichen Planeten, weil sie aus festem Material bestand, das sich um einen Eisenkern sammelte. Auch erschienen ihre äußeren Maße beinahe wie die der Erde, sie hatte mit 12100 Kilometern fast den Erddurchmesser. Oberfläche und Atmosphäre unterschieden sich aber stark von der Erde.

Auf ihrer Oberfläche herrschten über 400° C, der Druck auf Bodenniveau betrug 92 Bar, ein Venusjahr dauerte 225 Erdtage. Als die drei ihre Venusbeobachtung wieder beendeten, war es 22.00 h geworden und stockfinster um sie herum. Mathi war dabei, das Teleskop für den Abtransport wieder auseinanderzunehmen, während Franz still neben Irmi stand und ihre Hand hielt. Es entstand der Eindruck, als hätte sich etwas von der mythischen Verbrämung um die Venus auf die Szenerie am Hang übertragen. Die beiden standen verliebt nebeneinander und sahen sich an. Anschließend gingen sie aber Mathi zur Hand und brachten die Utensilien wieder nach unten zur Schubkarre. Mehr oder weniger schweigend liefen sie den Weg den Bernebach entlang nach Lerbach zurück, Irmi und Franz waren immer noch ergriffen von dem Blick auf die Venus. Als sie das Dorfzentrum erreicht hatten, verabschiedeten sich Franz und Irmi mit einem Kuss voneinander und gingen getrennte Wege nach Hause, Franz winkte Mathi zu. Irmi und Mathi liefen zum Hofmairhof und stellten die Schubkarre noch beladen in den Stall zurück, die Ausrüstung blieb auf ihr liegen, bis Irmi sie am nächsten Tag auf ihr Zimmer bringen würde. Irmi ging hoch zu sich und setzte sich gleich an den Schreibtisch, sie wollte ihre Gefühlswallungen bei der Venusbeobachtung zu Papier bringen, so lange sie noch frisch waren.

„Mich befiel ein Schauer“, schrieb sie „wie ich ihn noch nie erlebt habe, als ich meinen Blick auf die Venus gerichtet hatte, stellte sich bei mir eine Gefühlsmischung aus Ehrfurcht und Demut ein, beinahe unbeschreiblich, ich musste auf dem gesamten Weg nach Hause darüber nachdenken, die Venus hatte eine magische Anwandlung bei mir erzeugt, wo ich mich doch immer gegen solche astrologischen Verknüpfungen gesträubt habe, aber die Venus ist wohl mehr als ein bloßer Planet im kalten Weltraum.“ Anschließend legte Irmi sich in ihr Bett und dachte lange an das Erlebnis der Venusbeobachtung, sie träumte schließlich sogar davon, dass die noch junge Beziehung zu Franz durch sie noch mehr Nahrung bekam. Am nächsten Morgen unterhielt Irmi sich beim Frühstück mit ihrer Mutter über ihre Venusbeobachtung und erzählte ihr, was sie für Gefühle in ihr geweckt hatte. Ihre Mutter sagte gleich, dass das an ihrer Verliebtheit läge, dass die Venus so auf sie gewirkt hätte. Auf Irmis Erwiderung hin, dass sie an solche astrologischen Humbug nicht glaubte, sagte ihre Mutter:

„Die Menschen haben über Jahrhunderte hinweg an die Sterne und ihre Verheißungen geglaubt, sie haben Aussaat und Ernte und andere lebenswichtige Entscheidungen von der Stellung der Planeten abhängig gemacht, das kannst Du doch nicht einfach so abtun!“ Irmi behielt für sich, was ihr dazu einfiel, sie wollte keinen Streit mit ihrer Mutter heraufbeschwören, sagte aber:

„Nur weil etwas jahrhundertelang praktiziert wurde, muss es doch nicht allein deshalb richtig sein!“ Sie konnte aber nicht leugnen, dass die Venus etwas in ihr ausgelöst hatte, für dessen Herkunft sie auf Anhieb keine rechte Erklärung hatte. Am späten Vormittag kam Franz und begrüßte Irmi und Frau Hofmair, er setzte sich zu ihnen an den Tisch und brachte die Sprache auf Innsbruck. Franz schlug vor, am nächsten Tag dorthin zu fahren und Irmi war einverstanden. Frau Hofmair sagte:

„Ich freue mich für Euch, es ist ja heute überhaupt kein Problem mehr, nach Innsbruck zu fahren, früher zu meiner Zeit hat die Fahrt zwei Stunden gedauert und der Bus hat an jeder Milchkanne gehalten.“ Irmi ging mit Franz auf ihr Zimmer und schaltete den Computer ein, um auf Innsbruck zu gehen und als sie Wikipedia angeklickt hatte, begannen Franz und sie sich über die Stadt sachkundig zu machen. Früher waren sie natürlich schon einmal dort, das war aber lange her und keiner von ihnen konnte sich noch so recht erinnern, wie es in Innsbruck aussah. Zuerst klickten sie ihr neues Gymnasium an, das Akademische Gymnasium Innsbruck und fingen an, über es zu lesen, denn es war ein sehr altes Gymnasium aus dem sechzehnten Jahrhundert. Sie würden beide den gymnasialen Schulzweig besuchen, das bedeutete für sie, dass sie ihre beiden Fremdsprachen Englisch und Französisch fortführen und in die Jahrgangsstufe 11 einsteigen würden.

Sie beschlossen, sich die Schule auch einmal von außen anzusehen, sie machte auf den Fotos einen altehrwürdigen Eindruck mit ihrem repräsentativen Altbau. Sie würden sich aber dort nicht allzu lange aufhalten und sich die Hauptsehenswürdigkeiten Innsbrucks ansehen, dazu gehörten das Goldene Dachl, der Dom zu St. Jakob, das Helblinghaus und die Hofburg mit der Hofkirche. Ansonsten wollten sie einfach durch die Altstadt laufen und hier und dort Kaffee trinken oder bei Mc Donald´s einen Burger essen. Einen Mc Donald´s gab es in der gesamten Umgebung von Lerbach nicht, von daher wäre ein Besuch dort für die beiden etwas Besonderes. Sie hatten sich schnell einen Überblick darüber verschafft, was sie sich in Innsbruck ansehen wollten. Irmi kam danach noch einmal Franz gegenüber auf die Venusbeobachtung zu sprechen und darauf, was sie bei ihr ausgelöst hatte. Franz berichtete von ganz ähnlichen Gefühlen bei sich:

„Ich bin, nachdem ich durch Dein Teleskop geblickt hatte, beinahe benommen gewesen und ich habe immer noch keine Erklärung dafür, ich habe natürlich gleich daran gedacht, dass sich viele Menschen mit Astrologie beschäftigen und mir eine in ihren Augen plausible Erklärung hätten geben können, aber ich glaube nicht an das ganze astrologische Brimborium!“

„Ich glaube ebenso wenig daran und finde es interessant, von Dir zu hören, dass es Dir genauso ergangen ist wie mir!“, entgegnete Irmi.

„Kann es nicht sein, dass uns beiden bekannt war, welche Geschichten sich um die Venus ranken und uns von daher in einer Art self-fulfilling-prophecy mit ihnen konfrontiert worden sind?“, fragte Franz.

„Ich habe schon an etwas Ähnliches gedacht, ich kann mir keinen anderen Reim darauf machen, wir sind einfach beide diesen existierenden Voreinstellungen erlegen.“ Irmi holte das Sternenbuch von Mathi und fragte Franz:

„Welchen Planeten sollen wir und denn als Nächsten ansehen?“ Franz antwortete, dass er den Mars sehr interessant fände, ohne aber näher anführen zu können, warum. Plötzlich fragte Irmi völlig unvermittelt:

„Wie findest Du es eigentlich, dass ich mich so für die Astronomie interessiere?“ Franz wusste zunächst keine Antwort auf die unverhoffte Frage, sagte aber nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens:

„Ich finde Dein Interesse sehr aufregend und es passt irgendwie zu Dir, Du bist der Typ, der allen Dingen auf den Grund gehen will, und das mag ich an Dir!“ und er gab Irmi einen Kuss.

„Aber es ist doch eine Beschäftigung, die völlig untypisch ist für ein Mädchen in meinem Alter“, sagte Irmi darauf. Aber Franz winkte ab und erwiderte:

„Du bist eben nicht wie jede andere in Deinem Alter, sondern etwas ganz Besonderes!“ und er küsste sie noch einmal. Für Irmi waren Franz´ Worte Balsam auf ihre Seele und sie schaute ihren Freund dankbar an. In letzter Zeit waren bei ihr hin und wieder Selbstzweifel aufgekommen, die sie verunsicherten.

„Ich finde wir sollten gemeinsam mit unserer Planetenbeobachtung fortfahren und uns überraschen lassen, wie sie auf uns wirken, denn dass es eine Wirkung gibt, haben wir ja bei der Venus gesehen.“ Irmi, die wieder gefestigt war, entgegnete:

„Dann lass uns beim nächsten Mal den Mars ins Auge fassen, was assoziierst Du, wenn Du an Mars denkst?“

„Mars war der römische Kriegsgott, und ich denke an Krieg und Gewalt, wenn ich Mars höre, er gibt auch das Wort martialisch in der deutschen Sprache, das für kriegerisch und gewaltsam steht.“

„Wenn wir Morgen nach Innsbruck fahren“, meinte Irmi, „können wir nicht am Abend auch noch zur Planetenbeobachtung gehen, wir sollten uns den Mars übermorgen ansehen!“

„Ich bin einverstanden“, erwiderte Franz „und wir haben noch die gesamten Sommerferien, um uns all die anderen Planeten anzusehen.“

„Ich weiß ja, dass der Weltraum kein Ende hat, jedenfalls keins, das für uns Menschen begreifbar wäre, aber das ist es gerade, was mich so fasziniert, mit meinem Teleskop in die unendliche Weite vorzudringen, wobei wir bei der Venus gerade einmal am Rand gekratzt haben!“ Franz meinte:

„Genau das ist es, was mich auch so daran begeistert, ich weiß, dass es nie möglich sein wird, mit dem Teleskop weiter als bis zur nächsten Himmelsnachbarschaft zu schauen, aber das ist egal, wir blicken in den für den Menschen immer unerschlossen bleibenden Weltraum!“

„Es ist doch gut, dass unsere Interessen gleichgelagert sind, so könne wir uns austauschen und über solche Fragen unterhalten“, fuhr Irmi fort.

„Für mich ist der Blick durch mein Teleskop auch eine Art Flucht aus der miefigen Enge, die mich hier in Lerbach umgibt, wie siehst Du das?“ Franz antwortete:

„Wenn wir demnächst jeden Morgen nach Innsbruck fahren werden, sind wir ja raus aus Lerbach und können befreit aufatmen, aber so schlimm finde ich es gar nicht, in Lerbach zu leben, Lerbach ist schließlich unsere Heimat, in der wir aufgewachsen sind, und die uns geprägt hat.“

„Das stimmt schon“, entgegnete Irmi, „aber man muss doch seinen Horizont auch einmal erweitern und sich die Welt ansehen, sonst wird man noch so wie die drei griesgrämigen Alten aus dem Gasthof „Schneider“, was hältst Du davon, wenn wir für den Rest des Tages ins Freibad gehen?“

Franz schaute sie verblüfft an und sagte danach:

„Gute Idee, ich laufe nur schnell nach Hause und hole meine Sachen, wir treffen uns in einer halben Stunde an der Kasse!“ Als Franz gegangen war, nahm Irmi eine Tasche und steckte ihre Schwimmsachen hinein, anschließend lief sie nach unten zu ihrer Mutter und sagte ihr, dass sie mit Franz ins Schwimmbad gehen wollte, sie wäre zum Abendessen zurück. Sie lief langsam los und blickte auf dem Weg zum Schwimmbad immer wieder zum Himmel hoch, ob sie die Venus nicht mit bloßem Auge sehen könnte, aber das gelang ihr nicht.

Franz stand schon an der Schwimmbadkasse und wartete auf Irmi, sie sahen sich an und küssten sich, danach gingen sie ins Bad. Es war ziemlich voll im Freibad und sie hatten nach dem Umziehen ein wenig Mühe, für sich einen Platz auf der Liegewiese zu finden, waren aber am Ende erfolgreich. Irmi erblickte unter den Badegästen mit einem Mal Herrn Meyer, sie fand, dass Franz aber einen mindestens so muskulösen Körper hatte wie er. Franz war schon zum Wasser unterwegs und schaute sich nach Irmi um, die kam schnell angelaufen und die beiden machten jeder am Schwimmerbecken einen Kopfsprung vom Startblock. Nachdem sie wieder eine lange Strecke getaucht und anschließend wieder hochgekommen waren, sagte Irmi, dass sie nach der Venus Ausschau gehalten, sie aber nicht am Himmel entdeckt hätte. Franz stellte sich am Ende des Beckens auf das Einmeterbrett und vollführte einen gekonnten Kopfsprung. Irmi stand im Wasser am Beckenrand und beobachtete seinen athletischen Körper dabei. Als sie danach Händchen haltend wieder zur Liegewiese zurückliefen, schauten sie sich gegenseitig an und lächelten einander zu, sie waren beide glücklich miteinander. Von ihrem Liegeplatz aus konnten sie zum Grindelkopf sehen und Irmi fragte Franz:

„Glaubst Du, dass es sehr anstrengend ist, auf den Grindelkopf zu steigen?“ Franz sah zu dem Berg hinüber und antwortete:

„Ich habe meinen Eltern von unserem Vorhaben erzählt, und sie haben beide gesagt, dass sie früher einmal oben gewesen waren, und wenn die das geschafft haben, werden wir das doch wohl auch schaffen!“

„Ich habe auch mit meiner Mutter darüber gesprochen“, sagte Irmi, „sie war mit meinem Vater oben, von großen Schwierigkeiten hat sie mir nichts erzählt.“

„Hat Deine Mutter etwas dazu gesagt, wie lange sie für den Aufstieg gebraucht haben?“, fragte Franz und Irmi antwortete:

„Ich meine, Mutter hat irgendetwas von vier Stunden für den Aufstieg und zwei Stunden für den Abstieg gesagt.“

„Wir müssen an dem Tag früh los, auch damit uns während des Aufstiegs nicht die Mittagssonne so unbarmherzig auf den Kopf brennt, und wir uns tot schwitzen!“, meinte Franz.

„Aber erst einmal fahren wir nach Innsbruck und schauen uns die schöne Stadt an, ich freue mich schon sehr darauf, Du musst mir aber den Gefallen tun und mit mir einkaufen gehen, nicht lange, das verspreche ich Dir!“, sagte Irmi. Mittlerweile war es im Freibad etwas leerer geworden, es war Nachmittag und die Ersten waren wieder nach Hause gegangen. Neben Irmi und Franz wurde Volleyball gespielt und die beiden fragten, ob sie mitspielen dürften. Es fehlte jeweils genau eine Person in jeder der Mannschaften und Irmi und Franz passten deshalb dazu und spielten eine halbe Stunde mit.

Danach gingen sie noch einmal ins Wasser, um anschließend das Freibad wieder zu verlassen und nach Hause zu gehen. Sie trennten sich im Dorf voneinander und küssten sich zum Abschied:

„Bis Morgen früh!“, riefen sich die beiden zu. Irmi aß mit ihren Eltern zu Abend und besprach kurz mit ihnen ihre Innsbruck-Fahrt. Irmi sagte ihren Eltern, was Franz und sie sich ansehen wollten und dass sie noch nicht wüsste, wann sie wieder zu Hause sein würde. Am nächsten Morgen saß sie um 8..00 h mit ihrer Mutter am Frühstückstisch, ihr Vater war schon auf die Felder gefahren, als Franz eintraf, um sie abzuholen. Die beiden sagten Tschüss und liefen zur Bushaltestelle, jeder hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, in dem sich eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken befand. Die Bushaltestelle lag auf dem kleinen Platz vor der Kirche und vor dem Gasthof „Schneider“, und sie mussten noch eine Viertelstunde warten, bis schließlich der Bus ankam. Es saßen nur ganz wenige Fahrgäste in ihm, und als sie ihren Fahrschein gelöst hatten, ging die Fahrt los. Sie erreichten bald Feldweiler und konnten ihre alte Realschule sehen, sie weinten ihr aber keine Träne nach, wenn auch ihre Zeit dort gar nicht so schlecht gewesen war. Sie saßen mehr oder weniger wortlos im Bus und sahen die Landschaft an sich vorüberziehen, bis sie nach gut einer Dreiviertelstunde Innsbruck erreichten. Mitten im Zentrum verließen sie den Bus und mussten sich zuerst einmal eine Orientierung verschaffen. An der Bushaltestelle war ein Stadtplan angebracht und sie warfen einen Blick darauf.

Sie suchten die Angerzellgasse und fanden sie recht schnell, sie sahen, dass sie nur dreihundert Meter von ihrer neuen Schule entfernt waren und liefen langsam dorthin. Der Verkehr in Innsbruck war für die beiden natürlich vollkommen ungewohnt und sie mussten aufpassen, wenn sie die Straße überquerten, sie hatten die Situation aber schnell im Griff. Alle Sehenswürdigkeiten, die sie sich am Vortag auf Irmis Computer angesehen hatten, lagen im Altstadtkern und waren deshalb fußläufig gut zu erreichen. Sie steuerten als Erstes die neue Schule in der Angerzellgasse an und waren nach Kurzem dort. Da gerade Sommerferien waren, lag das Gebäude still und verlassen dort, aber das wussten Irmi und Franz natürlich vorher. Es reichte ihnen aber schon der Blick, um sich einen Eindruck zu verschaffen, und als sie zwei zwölf, dreizehn Jahre alte Kinder vor der Schule in der Gasse spielen sahen, sprachen sie sie einfach und fragten sie, ob sie Schüler des Gymnasiums wären. Die Kinder hörten auf, Fußball zu spielen und bejahten die Frage, woraufhin Franz sie weiter fragte, ob sie ihre Schule mochten.

„Meine Freundin Irmi und ich wollen nämlich nach den Ferien auf Eure Schule gehen!“, sagte Franz. Da tauten die beiden Kinder ein wenig mehr auf und schwärmten, dass das Gymnasium große Klasse wäre und sie jeden Tag gerne dorthin gingen, sie gingen beide in die siebte Klasse und wären gute Schüler.

„Fahrt Ihr in den Ferien nicht weg?“, fragte Irmi, „alle fahren doch weg in die Sonne und wollen am Strand entspannen!“

„Doch“, antworteten die beiden, „unsere Familien fahren sogar zusammen in zwei Wochen nach Mallorca, wir waren schon einmal dort und freuen uns darauf.“

„Gibt es denn besonders strenge Lehrer auf Eurer Schule?“, fragte Franz und die beiden Kinder schauten ihn an, als verstünden sie nicht, was Franz meinte. Schließlich sagte der eine von beiden aber:

„Unser Lateinlehrer ist manchmal sehr streng und gibt uns jede Menge Hausaufgaben auf, alle anderen Lehrer sind aber sehr in Ordnung.“ Daraufhin bedankten sich Irmi und Franz für die Auskünfte und liefen ein paar Schritte auf den Schulhof, wurden aber gleich von einem Hausmeister zurückgepfiffen und mussten ihm erklären, warum sie auf den Schulhof gelaufen wären. Als sie ihm glaubhaft versicherten, vom Beginn des nächsten Schuljahres an Schüler dieser Schule zu sein, wurde der Hausmeister gleich freundlich und sagte ihnen, dass die Schule leider geschlossen wäre und sie nicht in die Gebäude könnten.

„Wir wollten ja auch nur einen kurzen Blick auf die Gebäude werfen und gleich wieder gehen“, sagte Irmi zum Hausmeister, der sie wieder zum Schulhoftor begleitete und es hinter ihnen abschloss.

„Viel haben wir über unsere neue Schule ja nicht gerade in Erfahrung bringen können, aber wir wissen ja, dass Ferien sind und der Schulbetrieb deshalb ruht, was die beiden Jungen uns aber erzählt haben, lässt zumindest hoffen“, sagte Franz. Sie liefen durch die Angerzellgasse bis zur Universitätsstraße, bogen nach links ab und schwenkten an der Hofkirche in die Hofgasse ein.

Deren Verlängerung war die Herzog-Friedrich-Straße, an deren Anfang sie plötzlich vor dem Gebäude mit dem Goldenen Dachl standen. Das Goldene Dachl war eines der Wahrzeichen Innsbrucks und man muss an dem prunkvollen Erker, den es eindeckt, hinaufschauen, um etwas von seinem Glanz mitzubekommen. Es handelt sich bei dem Dach um 2657 feuervergoldete Kupferschindeln, die dem Dach des Prunkerkers seinen Glanz verliehen. Es standen sehr viele Touristen auf dem Platz vor dem Erker und nahmen Fotos von dem Dach. Franz hatte sein Handy dabei und machte Fotos von Irmi mit dem Goldenen Dachl, und er bat jemanden Fremden, ein Foto von Irmi und sich mit dem Goldenen Dachl zu machen. Viel mehr gab das Goldene Dachl aber nicht her, und Irmi und Franz liefen weiter, bis sie auf die Herzog-Otto-Straße und die Innbrücke trafen. Sie liefen über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite und setzten sich neben einen Kiosk auf eine Bank, von der aus sie einen schönen Blick auf den Inn hatten. Am Kiosk kauften sie sich beide ein Eis und genossen es, in der Sonne zu sitzen, obwohl der Verkehr auf der Hauptstraße und der Brücke doch ziemlich laut war. Sie fragten am Kiosk nach dem nächsten Mc Donald´s und man sagte ihnen dort, dass es einen in der Bienerstraße gäbe, das wären eineinhalb Kilometer zu laufen.

Irmi und Franz bedankten sich für die Auskunft und setzten sich wieder auf ihre Bank, wo sie in Ruhe ihr Eis zu Ende schleckten. Auf der anderen Innseite konnte man schon das Helblingerhaus sehen und nachdem sie ihr Eis gegessen hatten, liefen sie über die Brücke, gingen nach links und standen vor dem barocken Helblingerhaus, das für seine Stuckfassade überall berühmt war. Sie stellten sich für eine Zeit vor das Gebäude, in dem heute ein Best Western Hotel untergebracht war. Franz nahm wieder sein Handy und schoss Bilder von Irmi vor dem Helblingerhaus, er ließ auch einige Fotos von Irmi und sich machen. Anschließend liefen sie wieder über die Brücke zurück in die Altstadt und hatten überlegt, zu der Mc Donald´s – Filiale zu laufen, weil es auf Mittag zuging und sie beide Hunger bekommen hatten. Sie drehten sich noch einmal um und nahmen einen letzten Blick auf das Helblingerhaus, das auch aus der Ferne sehr schön aussah, jedenfalls für Touristen, die die barocken Hausverzierungen mochten. Danach liefen sie zurück zur Universitätsstraße, die sie ein Stück entlanggingen, bis sie nach links in die Kaiserjägerstraße abbogen. Der folgten sie, bis sie auf die Bienerstraße traf, in der sich die Mc Donald´s – Filiale befand. Auf dem Weg dorthin fiel den beiden auf, wie schön grün doch Innsbruck war, und welche angenehmen Wohnquartiere es in der Stadt gab. Auf sie wirkte das Stadtbild in jedem Fall sehr gemütlich und sie malten sich beide aus, irgendwann vielleicht einmal in Innsbruck zu leben, ob zusammen, wussten sie noch nicht.

Nach knapp zwanzig Minuten erreichten sie die Mc Donald´s – Filiale, gingen hinein und bestellten jeder einen doppelten Cheeseburger und eine mittlere Cola. Sie nahmen die bestellten Sachen mit vor die Tür, wo es Tische und Stühle gab, an die sie sich setzten, und wo es einige Jugendliche gab, die sich dort die Zeit zu vertreiben schienen. McDonald´s war mehr als ein Fast-Food-Restaurant, es war für die Jugendlichen eine Kultstätte. Für sie war dort ein Treffpunkt, der sich von allen möglichen anderen Treffpunkten dadurch unterschied, dass man dort einen Kulminationspunkt amerikanischer Kultur vor Augen hatte, und genau darin lag das ganz Besondere diese Ortes. Die Jugendlichen holten ihre Smartphones hervor und zeigten sich gegenseitig die neuesten Apps. Irmi und Franz saßen neben ihnen, aßen ihren Burger und tranken ihre Cola, wortlos, sie beobachteten die Jugendszene und fanden sie ein Stück weit erbärmlich. Denn die Jugendlichen hatten sich völlig einem Konsumdiktat unterworfen und schienen kaum fähig, Dinge aus eigenem Antrieb zu gestalten. Irmi und Franz konnten sich nicht vorstellen, dass in ihnen der Drang erwachen könnte, auf den Grindelkopf zu steigen und sich freiwillig dieser Anstrengung zu unterziehen. Nach einer halbstündigen Pause standen die beiden wieder auf und liefen die gleiche Strecke zurück, die sie vorher gekommen waren, denn sie hatten in der Altstadt noch die Hofburg und den Dom zu besichtigen, die beide nebeneinander lagen.

Nach zwanzig Minuten kamen sie wieder in der Hofgasse an und standen damit vor der Hofburg. Sie war in höfischem Rokoko gebaut, ein Detail, das sich Irmi und Franz vorher angelesen hatten, von dem sie bei der Betrachtung des mächtigen Gebäudekomplexes aber kaum berührt wurden. Es gab 5000 Quadratmeter umbauten Raum mit mehr als vierhundert Zimmern, das war schon gewaltig und dieser Eindruck wurde auch vermittelt, als sie auf dem Burghof standen und sich umsahen. Franz nahm sein Handy und fotografierte Irmi vor der Hofburg und Irmi nahm anschließend ein Foto von Franz. Franz hatte auch bei Mc Donald´s kurz überlegt, zu fotografieren, das aber schließlich gelassen, um sich in den Augen der dort versammelten Jugendlichen nicht lächerlich zu machen. Es hätte für die beiden die Möglichkeit bestanden, die Prunksäle zu besichtigen, darauf verzichteten sie aber, denn das hätte sie Zeit gekostet, und sie mussten schon überlegen, am Nachmittag wieder nach Hause zu fahren. Stattdessen gingen sie in die Hofkirche, obwohl sie beide zur Kirche ein eher distanziertes Verhältnis hatten. Es sprach in ihren Augen aber nichts dagegen, eine Kirche mit touristischem Interesse zu besichtigen. Der Haupteingang der Kirche befand sich in der Universitätsstraße schräg gegenüber der Hofburg, und an der Hofkirche war deutlich weniger Trubel zu verzeichnen als an der Hofburg. Als letzter Besichtigungspunkt stand für sie der Dom zu St. Jakob auf dem Programm, und sie setzten sich zuerst auf eine Bank vor dem Dom.

Sie sahen vor sich eine Barockkirche, die ursprünglich ein gotischer Dom gewesen und im 18. Jahrhundert umgestaltet worden war. Die zweitürmige Fassade der Domkirche St. Jakob beherrschte den Domplatz im Nordwesten der Hofburg und sie war schon deshalb eine Augenweide. Leider hatten die beiden das schöne Glockenspiel verpasst, das jeden Mittag gegen 12.15 h ertönt, aber da saßen sie gerade bei Mc Donald´s. Als Irmi und Franz den Dom betreten hatten, sahen sie einen besonders prachtvollen und schönen Kircheninnenraum vor sich liegen, in dem dezente Fresken an den heiligen Jakobus erinnerten. Der wertvollste Schatz in diesem Dom war aber das berühmte Gnadenbild „Maria hilf“, das 1537 von Lukas Cranach d. Älteren gemalt worden war und sich seit 1650 in Innsbruck befand. Irmi und Franz liefen langsamen Schrittes und schweigend durch die Kirchengänge und schauten sich die Orgel, die Fresken und auch das Gnadenbild an, sie waren überwältigt von der Pracht im Kircheninnern. Nach ihrem Kirchenbesuch liefen sie noch einmal zum Goldenen Dachl und setzten sich dort vor ein Cafe, bestellten sich jeder ein Stück Sachertorte und nahmen jeder ein Kännchen Kaffee. Sie ließen ihren Innsbruck-Besuch auf sich wirken und waren beide überaus zufrieden. Anschließend liefen sie zur Bushaltestelle zurück, an der sie am Morgen aus dem Bus gestiegen waren und warteten auf den Bus nach Lerbach. Als der ankam, stiegen sie in einen beinahe leeren Bus und fuhren still und noch ganz benommen nach Hause zurück.

Je mehr sie sich von Innsbruck entfernten, desto mehr fühlten sie sich in eine andere Welt versetzt, die vom städtischen Trubel abgewandt ihr Eigendasein führte. Aber die beiden fühlten sich in Lerbach nicht unbedingt unwohl, wenngleich besonders Irmi manchmal unter der geistigen Enge des Dorfes litt. Irmi und Franz gingen zusammen zu Hofmairs und mussten dort erzählen, was sie in Innsbruck erlebt hatten, sie setzten sich mit Irmis Eltern an den Esstisch und es sprudelte geradezu so aus Irmi heraus. Sie schwärmte von Innsbruck, wie toll und weltstädtisch es doch dort wäre, Franz stieß in die gleiche Richtung und schwärmte auch von der Stadt:

„Ich kann mir vorstellen, dort einmal zu leben, ich weiß aber natürlich, dass es bis dahin noch ein paar Jahre dauern wird.“ Auf jeden Fall hätte sich die Innsbruckfahrt für Irmi und ihn gelohnt. Sie aßen miteinander zu Abend und Irmi sagte:

„Morgen Abend gehen wir wieder zum Talabschluss, ich habe mir den Mars zur Beobachtung vorgenommen.“ Sie wollte noch an diesem Abend zu Mathi und ihn auf den morgigen Abend vorbereiten, sicher würde er auch von ihr wissen wollen, was sie in Innsbruck erlebt hatte. Nach dem Essen verabschiedete sich Franz von Irmi und ihren Eltern bis zum nächsten Tag und lief nach Hause, er war genau wie Irmi von dem anstrengenden Tag erledigt. Irmi ging zu Mathi und traf ihn draußen vor seinem Zimmer sitzend an, sie begrüßte ihn und Mathi freute sich, Irmi zu sehen:

„Wie war es denn in Innsbruck“, fragte er, „setz Dich doch zu mir und erzähl!“ Irmi setzte sich auf die Bank an seinem Tisch und fragte Mathi, ob er nicht ein Glas Wasser für sie hätte, und Mathi entschuldigte sich, dass er nicht von allein daran gedacht hatte. Er ging in sein Zimmer und kam mit einer Sprudelflasche und zwei Gläsern wieder nach draußen. Nachdem Irmi einen tiefen Schluck aus ihrem Glas genommen hatte, fragte sie Mathi:

„Was willst Du wissen, soll ich Dir erzählen, was mir in Innsbruck besonders gefallen hat?“ Mathi antworte:

„Haben sich Deine Erwartungen an die Stadt erfüllt“, und er wollte von ihr wissen, was ihrer Meinung nach in Innsbruck so anders wäre als in Lerbach. Irmi sagte:

„Gleich nach unserer Ankunft in Innsbruck waren wir gefangengenommen von dem Weltstädtischen, das Innsbruck umgibt, das fing schon mit dem Straenverkehr an, an den man in unserem Dorf ja nicht gewöhnt ist.“ Mathi schaute Irmi an als wollte er sagen, dass der Straßenverkehr allein ja wohl noch nichts Weltstädtisches ausmachte. Und Irmi verstand schon, was Mathi bewegte und sagte gleich:

„Wir sind am Anfang durch die Straßen zu unserer neuen Schule gelaufen und haben das alte riesige Gebäude in Augenschein genommen, das war schon sehr beeindruckend, wir haben vor der Schule zwei junge Schüler des Gymnasiums nach den Lehrern befragt, und sie waren vollkommen zufrieden mit der Lehrerschaft, wir sind danach auf den Schulhof gelaufen und wurden von einem Hausmeister mehr oder weniger direkt wieder hinunter komplimentiert.“

Mathi schaute sie an als erwartete er, dass Irmi endlich davon erzählte, was ihr den ultimativen Kick gegeben hätte und Irmi fuhr fort zu erzählen:

„Als wir zum Goldenen Dachl gelaufen waren, standen dort Touristen aus aller Welt und fotografierten die glänzende Dachfläche, wir haben uns dort aber nicht allzu lange aufgehalten und sind zu Inn gegangen.“

Mathi hörte aufmerksam zu, war aber offensichtlich nicht nicht zufrieden mit dem, was Irmi da berichtete und bat sie, weiterzuerzählen.

„Franz und ich haben eine ganze Weile am Inn gesessen und die Geräuschkulisse des Verkehrs um uns gehabt, auf der anderen Seite des Inns konnten wir das Helblinghaus sehen und sind nach unserer kurzen Pause dorthin gelaufen und haben uns die barocke Fassade dieses schönen Hauses angeschaut.“

Mathi begann, zu lächeln, denn das, was Irmi da berichtete, erinnerte ihn an seinen Innsbruckaufenthalt Jahre früher, als er an eben dieser Stelle an der Innbrücke gesessen und den gleichen Blick auf das Helblinghaus genossen hatte.

„Wir sind von dort aus zu einer Mc Donald´s – Filiale zwanzig Minuten lang quer durch die Stadt marschiert und haben dort unsere Mittagspause gemacht, auffällig war für uns bei Mac Donald´s, dass dort viele Jugendliche herumgehangen haben und eigentlich nichts Erbauliches taten, außer dass sie gegenseitig auf ihre Smartphones schauten.“ Mathi fragte:

„Was ist denn an dem Verhalten der Jugendlichen besonders gewesen, sie haben eben in der Stadt keine andere Möglichkeit, ihre Freizeit zu verbringen!“ Irmi entgegnete:

„Franz und ich haben haben uns das zunächst auch gefragt, waren hinterher aber der Meinung, dass sie völlig abgestumpft dem Konsumdiktat erlegen und kaum in der Lage waren, aus sich heraus für sie interessante andere Dinge anzustoßen. Mathi fragte:

„Was hätten sie denn tun sollen, die Stadt schlägt doch alles tot, was einem selbst an Initiativen zuwächst und lässt sie gar nicht erst zum Ausbruch kommen!“

„Das sehe ich aber ganz anders“, sagte Irmi dagegen, „die Stadt bietet doch viele Möglichkeiten der Beschäftigung, angefangen von Sport über vor allem auch Kultur bis hin zu Rafting-Fahrten auf dem Inn oder anderen Dingen, die man hier nicht ohne Weiteres tun könnte, wir sind nach der Mittagspause in die Stadt zurück und haben uns die Hofkirche angesehen.“ Mathi schüttete die beiden Gläser noch einmal voll und hörte weiter zu, was Irmi berichtete, er war gespannt darauf, zu erfahren, was sie sich noch angesehen hatten.

„Als wir vor der Hofburg standen, überkam uns schon Ehrfurcht vor dem riesigen Bauwerk, in dem es über vierhundert Zimmer gibt, am Schluss sind wir in den imposanten Dom zu St. Jakob gegangen, obwohl wir eigentlich beide keine Kirchgänger sind.“ Mathi ging es da so wie Irmi und Franz, er hatte schon vor Jahren aufgehört, in die Kirche zu gehen, weil er nicht länger mit ansehen konnte wie bigott die Kirche mit Fragen der Sexualität umging, wie sie Frauen von der Bekleidung von Ämtern abhielt und wie sie völlig überkommene und verstaubte Regeln zum Inhalt ihrer Lehre machte.

„Der Dom war sehr eindrucksvoll“, fuhr Irmi fort, „wir haben uns kaum getraut, in seinem Inneren zu reden, eine so andächtige Stimmung herrschte dort vor, an den Wänden gab es sehr schöne Fresken, die Stationen aus dem Leben des heiligen Jakobus wiedergaben, und es gab das kostbare Gnadenbild „Maria hilf“, das von Lukas Cranach dem Älteren gemalt worden war, zum Abschluss unseres Innsbruckaufenthaltes haben wir uns haben wir uns am Goldenen Dachl vor ein Cafe gesetzt und Sachertorte gegessen und Kaffee getrunken, Franz und ich haben unsere Innsbruckfahrt überaus interessant gefunden.“

„Das freut mich für Euch“, sagte Mathi, „ich bin selbst einmal vor Jahren in Innsbuck gewesen und habe gerade versucht, mich aus Deinen Erzählungen an bestimmte Dinge zu erinnern, was mir teilweise auch gelungen ist.“

„Mathi, ich will Dich bitten, morgen Abend wieder mit Franz und mir zum Talabschluss zu gehen, ich habe dieses Mal die Absicht, mein Teleskop auf den Mars zu richten“, sagte Irmi danach.

„Da sehe ich überhaupt keine Probleme, natürlich begleite ich Euch wieder und helfe dabei, die Teleskopteile auf den Hang zu tragen!“

„Vielen Dank“, sagte Irmi, „ich wusste doch, dass Du ein verlässlicher Mensch bist!“

Sie stand auf, verabschiedete sich für diesen Abend von Mathi und ging wieder zurück nach vorne. Irmis Eltern saßen vor dem Fernseher, und Irmi ging auf ihr Zimmer, um sich ein wenig über den Mars zu informieren. Sie schaltete ihren Computer ein, übernahm für den nächsten Abend um 21.00 h die Daten für die Rektaszension und die Deklination des Mars und schrieb diese in ihre Kladde:

Rektaszension 14 h 31 m 56 s, Deklination -16° 11´40´´. Der rote Planet hatte seine Benennung von oxidiertem Eisen (Rost) auf seiner Oberfläche, was Irmi längst wusste, sich aber noch einmal ins Gedächtnis rief. Er war der äußere Nachbarplanet der Erde von der Sonne aus gesehen. Er hatte nur etwa den halben Erddurchmesser und ein Achtel des Volumens der Erde und war damit der zweitkleinste Planet in unserem Sonnensystem. Es sollte Irmi gelingen, mit ihrem Teleskop die Polkappen und die dunklen Flecken auf der Marsoberfläche zu sehen, ihr sehr modernes Teleskop müsste das eigentlich hergeben. Irmi ließ es für diesen Tag dabei bewenden, sie blätterte im Bett noch eine Weile in Mathis Sternenbuch und löschte danach das Licht im Zimmer.

Am nächsten Morgen unterhielt sich Irmi mit ihrer Mutter über ihr Vorhaben am Abend und Frau Hofmair sagte:

„Alles, was ich über den Mars weiß, ist, dass er der rote Planet ist und nach ihm der römische Kriegsgott benannt wurde.“ Irmi verbrachte den Vormittag damit, Zeitung zu lesen und sich über die neuesten Weltgeschehnisse sachkundig zu machen. Gegen Mittag erschien Franz und aß bei Familie Hofmair. Irmi und er beschlossen, den Nachmittag wieder im Freibad zu verbringen. Frau Hofmair bat ihre Tochter aber, ihr vorher noch im Stall zu helfen, und sie ging mit ihr zu den Kühen, um das Melkgeschirr anzuschließen und die Milchpumpe in Gang zu setzen. Franz war mitgegangen und ging Frau Hofmair zur Hand. Danach lief er nach Hause, um seine Schwimmsachen zu holen, er wollte sich einer halbe Stunde später mit Irmi wieder am Kassenhäuschen treffen. Als sie schließlich beide nebeneinander auf der Liegewiese lagen und vollkommen relaxt in den Himmel schauten, dachte sie an Innsbruck zurück und Irmi fragte Franz:

„Was hat Dir an unserem Ausflug nach Innsbruck am besten gefallen?“ Franz musste eine Zeit lang überlegen, bis er antwortete:

„Ich möchte da gar keine Einzelheiten hervorheben, mir hat der gesamte Aufenthalt in der schönen Stadt sehr gut gefallen.“ Da schaute ihn Irmi an, und sie erzählte, dass sie am Vorabend noch bei Mathi gewesen war und ihm alles berichten musste, was sie in Innsbruck erlebt hatten. Sie liefen anschließend zum Schwimmerbecken, sprangen wieder mit einem Kopfsprung von den Startblöcken und tauchten ein großes Stück die Schwimmbahn entlang.

Am Ende der Bahn stellte Franz sich auf das Einmeterbrett und absolvierte einen gekonnten Kopfsprung, wobei er seinen athletischen Körper zur Geltung kommen ließ und Irmi ihn genau beobachtete.

Sie machten an diesem Tag im Freibad nicht mehr lange und gingen am Nachmittag wieder nach Hause. Sie trennten sich mit einem Kuss im Dorf und verabschiedeten sich, bis Franz gegen 19.00 h wieder zu Irmi käme. Irmi brachte die Teleskopteile schon einmal nach unten, sodass sie sie später nur noch in die Schubkarre legen mussten, und als Mathi nach dem Essen mit der Schubkarre kam, und Franz inzwischen wieder eingetroffen war, packten sie alle mit an und luden die Teile auf die Karre. Irmi nahm noch etwas zu essen und zu trinken mit und sie liefen los. Unten am Hang saßen sie eine Weile und blickten in den mit Sternen übersäten Himmel. Schließlich standen sie auf, und Mathi schulterte wieder das größte Teil des Teleskops. Franz trug das Stativ und Irmi lief mit der Taschenlampe vorweg und leuchtete den Anstieg aus. Oben auf dem Felsplateau stellten sie das Stativ hin und setzten das Teleskop darauf. Irmi setzte im Anschluss das Okular und den Sucher an den Tubus, und als das erledigt war, nahm sie ihre Kladde und stellte nach ihren Eintragungen an der Montierung Rektaszension und Deklination des Planeten Mars ein. Eigentlich brauchte sie deshalb den Sucher gar nicht, um das Beobachtungsobjekt ins Blickfeld zu holen. Sie schaute trotzdem hindurch und sah auf Anhieb den roten Planeten,der aber erst beim Blick durch das Okular in seiner ganzen Schönheit sichtbar wurde.

Sie sah gleich die Polkappen und die dunklen Flecken auf der Planetenoberfläche und verhielt eine ganze Zeit in der Beobachtungsposition, schweigend, bis sie Mathi und Franz auch einen Blick durch ihr Teleskop gewährte. Bevor sie richtig ihre Sprache wiedergefunden hatten, musste jeder erst einmal die überwältigenden Eindrücke verarbeiten, die der Blick auf den Mars ihm beschert hatte. Auch Mathi und Franz waren wie benommen, es war eben ein vollkommener Unterschied, einen Planeten mit bloßem Auge oder durch ein Teleskop zu betrachten, noch dazu hatte Irmi das Okular mit der starken Vergrößerung angesetzt. Als sich die drei endlich wieder gefangen hatten, setzten sie sich auf das Felsplateau und erzählten sich gegenseitig, was die Marsbeobachtung bei ihnen bewirkt hatte. Irmi sagte, dass sie ja schon sehr Vieles über den Mars in Erfahrung gebracht hätte, der Blick auf ihn wäre aber etwas ganz anderes.

„Ich habe tiefste Ehrfurcht vor dem Blick in den Weltraum und ich weiß, dass das, was wir uns da angesehen haben, nach Weltraummaßstäben nur ein Steinwurf weit entfernt ist“, sagte Irmi.

„Mir geht es so wie Dir“, entgegnete Franz, „ich habe auch vorher einiges über den Mars gewusst, der Blick durch Dein Teleskop aber schafft ja die direkte Konfrontation und liefert ein fantastisches Erlebnis. Mathi, noch ganz in sich gekehrt, sagte:

„Einen Planeten in einer so starken Vergrößerung zu sehen, das ist schon ein ganz besonderes Erlebnis!“ Die drei standen noch einmal auf und nahmen einen erneuten Blick durch Irmis Teleskop, und wieder verschlug es jedem beinahe die Sprache.

Irmi ließ die Sprudelflasche herumgehen und gab jedem von dem Essen, das sie mitgebracht hatte, sie tranken, aßen und sahen abwechselnd durch das Teleskop, das war eine umwerfende Erfahrung für sie. Schließlich bauten sie das Teleskop wieder ab und brachten alle Teile und auch die Reste von ihrem Essen und Trinken nach unten zum Fuß des Hanges. Dort luden sie sie in die bereitstehende Schubkarre und liefen nach Lerbach zurück, niemand sagte unterwegs ein Wort. Irmi fing plötzlich an zu singen und die beiden anderen stimmten ein: „Geh´aus mein Herz und suche Freud“, ein Sommerlied, das genau ihre Stimmung traf. Im Dorf fragte Irmi Franz:

„Was hältst Du davon, wenn wir morgen auf den Grindelkopf gehen?“ Franz, dem das eigentlich ein wenig plötzlich kam, überlegte erst, bevor er antwortete:

„Einverstanden, aber wir sollten um spätestens 8.00 h loslaufen!“ Irmi entgegnete:

„Dann lass uns doch morgen früh um 8.00 h auf der Bernebachbrücke treffen!“, und Franz nickte. Die beiden küssten sich zum Abschied und trennten sich. Zu Hause schob Irmi die Schubkarre mit Ladung in den Stall, sie hatte keine Lust, die Sachen noch an diesem Abend abzuladen und ging gleich ins Bett. Am nächsten Morgen traf sie in aller Herrgottsfrühe ihren Vater beim Frühstück, der immer schon um 6.00 h am Tisch saß, Kaffee trank und einen Blick in die Zeitung warf.

„Na, was machst Du denn schon so früh in Deinen Ferien in der Küche?“, fragte er Irmi und Irmi erwiderte:

„Franz und ich wollen heute den Grindelkopf besteigen, wir haben uns das schon seit Längerem vorgenommen, Du warst doch schon einmal mit Mama oben!“ Herr Hofmair sah seine Tochter an und sagte:

„Das ist aber schon so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann, aber ich weiß bis heute, dass der Anstieg nicht unbedingt sehr einfach ist, und man muss schon über eine gute Kondition verfügen, aber da mache ich mir bei Euch beiden keine Gedanken!“ Irmi fragte vorsichtshalber zurück:

„Du traust uns das also zu?“ und sah dabei ihren Vater an, der sofort entgegnete:

„Natürlich schafft Ihr das, wenn nicht Ihr, wer denn dann?“ Irmi erläuterte:

„Wir wollen über die Bernebachbrücke und von dort in den Weg zum Grindelkopf einbiegen, ist das gut so?“

„Genau so müsst Ihr laufen!“, antwortete ihr Vater, „wir sind damals den gleichen Weg gegangen, ich glaube, dass das auch der kürzeste Weg ist, es gibt noch einen weiteren, etwas anspruchsvolleren Weg, der außerhalb des Dorfes ein Stück Richtung Feldkirchen verläuft, Ihr solltet aber den Weg nehmen, den Ihr Euch ausgesucht habt!“ Irmi aß ordentlich viel zum Frühstück, was ihr nicht leichtfiel, denn morgens aß sie nie die großen Mengen, aber sie musste etwas im Bauch haben, wenn sie die großen Steigungen bewältigen wollte.

Sie nahm anschließend ihren Rucksack und packte eine Flasche Wasser und zwei Tüten Plätzchen hinein, das musste reichen wie sie fand, viel mehr würde sie auch nicht über die ganze Strecke tragen können. Sie legte aber schließlich doch noch eine leichte Sommerjacke mit in den Rucksack. Als ihre Mutter zu ihnen stieß, wünschte sie einen guten Morgen und fragte Irmi, ob sie an alles gedacht hätte, das sie für den Anstieg zum Grindelkopf benötigte. Irmi antwortete:

„Viel kann ich ja nicht mitnehmen, ich habe etwas zu trinken und zu essen mit, ich habe auch noch meine Sommerjacke eingepackt, glaube aber nicht, dass ich sie brauchen werde.“

„Ich wünsche Euch beiden viel Spaß bei der Bergbesteigung, macht ausreichend Pause und trinkt genug unterwegs, das ist wichtig!“ Schließlich nahm Irmi ihren Rucksack, setzte ihn auf, verabschiedete sich von ihren Eltern und lief los, Frau und Herr Hofmair standen in der Haustür und winkten ihrer Tochter hinterher. Der Bernebach umfloss das Dorf zur Grindelkopfseite hin und Irmi konnte Franz auf der Bernebachbrücke stehen sehen, als sie an der Kirche vorbeilief. Als sie bei ihm angekommen war, küssten sich die beiden zur Begrüßung und Irmi sah, dass Franz auch einen leichten Rucksack mit hatte. Sie befanden sich auf der Bernebachbrücke inmitten der Ländereien, die zu Hofmairs gehörten. Das Vieh stand auf der Weide, und die Kühe glotzten zu ihnen herüber. Ohne sich großartig lange auf der Brücke aufzuhalten, liefen die beiden los zum Fuß des Grindelkopfes.

Die Morgenluft war noch angenehm frisch, und es war eine Wonne für sie, durch die saftigen Wiesen zu laufen, nur das Sirren umherfliegender Insekten war zu hören. Sie erreichten am Berg den Saum des dichten Tannenwaldes, mit dem der Grindelkopf in seinem unteren Teil bis in etwa zweitausend Metern Höhe bestanden war. Im Wald gab es gleich kühlen Schatten, den sie bei der Frische, die noch herrschte, gar nicht gebraucht hätten. Die Luft roch würzig nach Tannengrün und der Weg nahm unmittelbar im Wald einen sehr steilen Verlauf. Irmi und Franz mussten am Anstieg erst noch ihren Laufrhythmus finden, das hieß, dass sie eine ausgeglichene Balance zwischen Atmung und Schritt herstellen mussten. Das pendelte sich mit der Zeit aber wie von selbst ein und die beiden liefen nach einer Stunde des Kletterns wie die Uhrwerke, ohne dass sie miteinander redeten. Die Waldvögel meldeten sich und gaben laute Warngeräusche von sich, besonders auffällig war das abgehackte Geschnatter des Eichelhähers. Der Weg zum Gipfel war mit einem roten Dreieck markiert, am ersten Wegweiser war eine Zeit von noch dreieinhalb Stunden angegeben. Nachdem sie zwei Stunden wortlos den Berg hinaufgeklettert waren, hielten sie inne und Franz fragte, ob sie eine Pause machen sollten. Irmi war einverstanden, und sie setzten sich am Wegesrand auf eine Moosfläche, jeder nahm seine Flasche aus seinem Rucksack und nahm einen kräftigen Schluck Wasser.

In unmittelbarer Nähe entsprang ein Bach aus einem Felsen, dessen Wasser man trinken konnte und Franz nahm eine Handvoll und fand die Temperatur und den Geschmack hervorragend.

„Ich finde, wenn wir so weiterlaufen wie bisher, kommen wir doch sehr gut zurecht, und wenn sich die Steilheit des Weges nicht weiter verschärft, sollten wir den Berg ohne Mühe schaffen!“, sagte Irmi und Franz pflichtete ihr bei. Sie hatten an der Stelle, an der sie die kurze Pause eingelegt hatten, doch schon beträchtlich an Höhe gewonnen und konnten zwischen zwei riesigen Tannen hindurch auf Lerbach blicken, das unten lag und aussah wie ein Dorf aus dem Modellbaukasten. Sie waren zu weit entfernt, um Geräusche aus dem Ort wahrnehmen zu können, nicht einmal die Kirchturmuhr konnten sie schlagen hören. Nachdem sie ungefähr eine halbe Stunde lang gesessen hatten, standen sie wieder auf und stiegen weiter den Weg bergan. Der Weg war inzwischen doch recht holprig geworden und hatte in seiner Mitte eine vom Regenwasser ausgespülte Rinne. Irmi und Franz liefen auf den Wülsten am Rande der Rinne und mussten darauf achten, nicht abzurutschen und in der Rinne laufen zu müssen, denn dort lag Schlamm, der das Laufen erschwert hätte. Sie gewannen immer mehr an Höhe und konnten auf einmal über sich erkennen, dass das Sonnenlicht immer stärker zu ihnen durchdrang, was daran lag, dass sie endlich die Baumgrenze erreichten. Sie atmeten längst synchron mit ihren Schritten und fühlten sich dabei wohl.

Sie waren aber dennoch völlig außer Atem und machten, kurz nachdem sie die Baumgrenze überschritten hatten, eine erneute Pause. Sie befanden sich auf einer Art Geröllfeld, das zu einem Sattel gehörte, der sich unterhalb des Gipfels ausbreitete und sie suchten sich einen Platz, an den sie sich setzen konnten. Irmi holte die Wasserflasche und die Plätzchentüte aus ihrem Rucksack und bot Franz von ihren Plätzchen an. Sie sahen beide zum Gipfel hoch und schätzten, dass sie für das letzte Stück noch eine Stunde Anstieg vor der Brust hatten. An dieser Stelle wollten sie eine ausgiebige Pause machen und räkelten sich in der inzwischen doch heißen Sonne. Irmi hatte Sonnencreme dabei und rieb sich ihre Arme und ihr Gesicht damit ein, bevor sie sie an Franz weiterreichte.

„Ob unsere Eltern damals auch so geschwitzt haben wie wir im Moment?“, fragte Franz und Irmi antwortete:

„Das haben sie mit Sicherheit, vielleicht sogar noch mehr als wir, sie haben sich zwar körperlich betätigt, waren aber solche Extrembelastungen nicht gewöhnt.“ Sie nahmen beide einen ordentlichen Schluck aus ihren Wasserflaschen und legten sich eine Zeit lang schweigend in die Sonne. Dort oben gab es viele Dohlen, die die starke Thermik nutzten und sich von der Luft tragen ließen. Schließlich standen Irmi und Franz aber wieder auf und machten sich an das letzte Stück bis zum Gipfel, das ihnen noch einmal alles abverlangen sollte, denn am Ende wurde der Weg doch noch einmal richtig steil.

Als sie den Gipfel erreichten, schaute Irmi auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie für den gesamten Anstieg vom Tal bis zum Gipfel dreieinhalb Stunden gebraucht hatten. Es gab dort oben ein Gipfelkreuz und einen Berg zusammengelegter Steine. Da haben sich irgendwann einmal Leute die Mühe gemacht und die Steine aufeinandergeschichtet. Irmi und Franz setzten sich auf den Steinhaufen neben das Gipfelkreuz und Franz machte ein Selbstauslöserfoto von Irmi und sich. Sie aßen ihre letzten Plätzchen und Bonbons und genossen den fantastischen Ausblick. Man konnte in der Ferne mit einiger Mühe Innsbruck erkennen, zur anderen Seite hin blickte man bis nach Südtirol und über viele andere österreichische Alpengipfel hinweg. Franz gab Irmi einen Kuss und sagte ihr:

„Jetzt habe ich wahrhaftig mit Dir den Gipfel erklommen!“, und Irmi musste über seine Worte lachen, denn sie klangen doppeldeutig. Sie saßen eine Zeit lang still nebeneinander und blickten in wechselnde Richtungen, Irmi erneuerte noch einmal die Sonnencreme an den empfindlichsten Stellen und gab Franz auch davon.

„Weißt Du eigentlich, dass der Mittelaltermensch nie auf Berge geklettert oder durch die Lande gereist ist, sein Lebensmotto war das ihm von der katholischen Kirche auferlegte ora et labora, bete und arbeite, an das er sich sklavisch zu halten hatte.“ Franz sagte:

„Ich habe davon gehört, beginne mich aber erst in letzter Zeit für das Mittelalter zu interessieren.“

„Natürlich war der Mittelaltermensch auch zu arm, und er hatte zu wenig Zeit, um zu reisen, aber er unterlag auch diesem kirchlichen Diktat und erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert begann, den Menschen von dieser kirchlichen Fessel zu befreien“, ergänzte Irmi, „der italienische Geschichtsschreiber und Dichter Petrarca brachte schon früh die Wende des Menschen hin zur bewussten Wahrnehmung der ihn umgebenden Landschaft, er galt als der erste Tourist und das schon im 14. Jahrundert, allerdings noch nicht mit dem durchschlagenden Erfolg, der aus seinem Ansinnen eine umfassende Bewegung gemacht hätte, erst die Aufklärung verhalf dem Menschen dazu, seinen Horizont zu erweitern und zu lernen, sapere aude!, war das Motto, wage zu wissen wie es Immanuel Kant formuliert hat, wir können es uns heute ja gar nicht vorstellen, was es damals hieß, von allen Möglichkeiten des Erfahrungs- und Wissenserwerb abgeschnitten zu sein, aus der Sicht der Herrschenden war das durchaus willkommen, die breiten Massen der Gesellschaft von der Bildung fernzuhalten, denn Bildung hätte immer die Gefahr in sich geborgen, dass sich die Menschen der Unterdrückung bewusst gewesen wären, der sie unterworfen waren.“

„Eigentlich schrecken wir doch davor zurück, freiwillig zu lernen, weil wir alle weite Teile unseres Lebens in der Schule damit verbracht haben, unter Zwang lernen zu müssen“, entgegnete Franz.

„Und genau dadurch wird bei vielen der Motivationsschub zugeschüttet, den jeder von Natur aus mitbringt, der Motivationsschub, aus Erfahrungen oder aus Imitation der Erwachsenen zu lernen“, sagte Irmi.

„Man muss eigentlich die Wissensvermittlung in den Schulen überprüfen und fragen, ob die Schüler geeignete Rezipienten für die Wissensvermittlung auf traditionelle Art sind“, führte Franz aus.

„Ich habe für mich die Notwendigkeit erkannt, meinem Wissensdrang permanent zur Geltung zu verhelfen und zu lernen, ich empfinde keinen Zwang dabei, sondern befriedige nur meine Neugier. Ich weiß, dass ich mich damit außerhalb der Verhaltensnormen für ein siebzehn jähriges Mädchen bewege, aber soll ich mich deshalb gegen den in mir schlummernden Impetus wenden, der mich drängt?“, fragte Irmi.

„Nein, das sollst Du sicher nicht“, antwortete Franz, „Du sollst in Deinem Bestreben, Dein Wissen zu erweitern, kennen lernen, dass nicht alle Deinem Beispiel folgen!“

„Ich bin noch jung und gerate schnell an meine Grenzen, aber ich teste meine Möglichkeiten aus, auch mein Teleskop dient dazu, mir Erkenntnisse zu verschaffen, nicht nur über das Planetensystem, dessen Aufbau ist mir aus Büchern längst bekannt, sondern über den Weg wie man sich Zugang verschafft zu der Erkenntniswelt mit seinen Schwierigkeiten und Hindernissen, genau darum bin ich mit Dir übrigens auch auf den Grindelkopf gelaufen“, erwiderte Irmi.

„Ich habe mir schon gedacht, dass Du nicht der schönen Aussicht wegen hier hoch gelaufen bist“, entgegnete Franz, „aber auch ich bin nicht der Konsument, der nur die Eindrücke auf sich wirken lässt, sondern ich möchte auch die Erfahrung in mir aufsaugen, die wir beide mit unserem Abenteuer verbinden.“

„Und was hat Dir der Aufstieg gebracht, kannst Du das einmal ausdrücken?“, und Franz druckste zunächst herum, bevor er antwortete:

„Die Erfahrung körperlicher Anstrengung, die mit dem Aufstieg verbunden war, habe ich schon öfter gemacht, neu war für mich, dass ich mich der Anstrengung mit der Person, für die ich so viel empfinde, unterzogen habe.“

„Aber was genau ist es, dass Du als Deinen Erfahrungszugewinn bezeichnen würdest?“, fragte Irmi.

„Wir beide haben uns nicht damit begnügt, uns von der Anstrengung des Aufstiegs auszuruhen, sondern wir tauschen uns darüber aus, was sie uns gegeben hat“, antwortete Franz.

„Mir geht es genauso wie Dir, eigentlich ist der Ausblick von hier oben in das Tal sehr schön, aber man sollte sich damit nicht begnügen, sondern die Besonderheit der Situation, in der wir uns hier oben befinden, nutzen, um vielleicht einen anderen Zugang zu einer Erfahrungserweiterung zu erlangen und insofern ähnelt unsere Situation hier auch dem Gipfel, den der Mittelaltermensch vielleicht erstiegen hatte, als sich ihm völlig neue Horizonte eröffnet hatten.“

Nachdem sie beide genug herum theoretisiert hatten, fanden sie aber doch auch noch Worte zu der Schönheit der Blicke, die sich oben darboten und sie unterhielten sich darüber, doch einmal gemeinsam nach Südtirol zu fahren, um einen neuen Landschaftstypus kennen zu lernen. Sie standen im Anschluss auf, räumten alle Reste weg, die sie hinterlassen hatten, setzten ihre Rucksäcke auf ihre Rücken und machten sich an den Abstieg. Das Herunterlaufen fiel zunächst ungeheuer leicht und sie waren beide sehr guter Dinge. Nach einer Stunde des mühelosen Abwärtsgleitens machte sich aber bei beiden ein stechender Schmerz in der Wade bemerkbar, der sie zwang, eine längere Pause einzulegen. Der Schmerz rührte daher, dass beim Abwärtslaufen durch die nach vorn geneigte Fußstellung der Wadenmuskel stark beansprucht und von Muskelkater geplagt wurde. Während der Pause brachten beide ihre Füße wieder in die Normalstellung und waren gleich wieder schmerzfrei. Die Schmerzen kehrten aber gleich wieder zurück, als sie ihren Abstieg fortsetzten und ihre Füße wieder so stark nach vorn beugten. Erst als sie ganz unten den Waldsaum erreicht hatten und wieder in der Waagerechten durch die Wiesen liefen, stellte sich bei beiden eine Erleichterung ein und sie konnten ohne Schmerzen laufen.

Es war Nachmittag geworden und bei ihnen hatte sich Hunger eingestellt, schließlich hatte sie beide den ganzen Tag über noch nichts Richtiges gegessen. Sie beschlossen, im Dorf den Gasthof „Schneider“ aufzusuchen und dort zu essen, sie setzten sich nach draußen in den Biergarten und Herr Schneider kam persönlich, um sie zu bedienen.

„Na, das ist ja eine Überraschung, dass ihr einmal wieder hier seid wie geht es Euch?“, fragte er Irmi und Franz.

„Wir kommen gerade vom Grindelkopf und haben großen Hunger“, antwortete Irmi, „wir haben es auf dem Berg sehr schön gefunden und den Anstieg genossen.“

„Ich war ganz früher mal oben“, sagte Herr Schneider „und ich kann mich daran erinnern, dass ich oben geschwitzt habe,als ich mich da hoch gequält hatte, was darf ich Euch bringen?“

„Erst einmal bringen sie uns bitte jedem eine große Apfelschorle und danach die Speisekarte“, verlangte Irmi, und Franz und sie freuten sich auf ein gutes Essen. Nachdem die Speisekarte vor ihnen auf dem Tisch lag, suchten Irmi und Franz nach dem geeigneten Essen und kamen sehr schnell auf Wiener Schnitzel mit Pommes und Salat, was sie auch bestellten. Herr Schneider nahm die Bestellung auf und lief in die Küche. Irmi und Franz tranken ihre Apfelschorle aus und bestellten gleich noch eine, und nachdem Herr Schneider sie ihnen gebracht hatte, servierte er ihnen auch die Schnitzel. Die drei griesgrämigen Alten vom letzten Mal waren nicht im Biergarten zu sehen, und Irmi war froh darum.

„Das sind die lebendigen Beispiele für die stehengebliebene Zeit, die waren nie bereit, sich weiterzuentwickeln und zu lernen. Das Ergebnis sieht man ganz deutlich, sie sind verbittert, weil sie niemanden mehr finden, der zu der von ihnen favorisierten Sicht der Welt passt“, sagte Irmi. Sie zahlten ihr Essen und liefen zu Hofmairs, wo sie auf Irmis Mutter trafen und ihr gleich von ihrem Abenteuer auf dem Grindelkopf erzählen mussten. Als schließlich auch Herr Hofmair zu ihnen stieß, mussten sie auch ihm berichten, was ihnen auf ihrer Bergtour widerfahren war.

„Hat es damals zu Eurer Zeit auch schon das Gipfelkreuz und den Steinhaufen gegeben?“, fragte Irmi ihre Eltern und ihr Vater bejahte ihre Frage:

„Ich weiß noch wie Deine Mutter und ich oben neben dem Gipfelkreuz auf dem Steinhaufen gesessen und den schönen Ausblick genossen haben.“

„Könnt Ihr Euch daran erinnern, ob Euch beim Abstieg die Waden geschmerzt haben“, fragte Irmi weiter, „Franz und ich mussten eine längere Pause einlegen, um die Schmerzen zumindest für den Moment abklingen zu lassen.“ Irmis Mutter antwortete:

„Ich weiß noch , dass die Wadenschmerzen bei mir so stark gewesen sind, dass sie mich beinahe gezwungen haben, das Absteigen abzubrechen und nur, weil Dein Vater mich aufgefordert hat, weiterzugehen, habe ich mich überwunden und den Schmerz in Kauf genommen, sonst säße ich heute noch auf dem Berg.“ Sie saßen zu viert am Kaffeetisch und Irmis Mutter hatte selbst gebackenen Kuchen hingestellt, von dem sich jeder ein Stück nahm, und als alle ihr Stück gegessen hatten, sagte Irmi:

„Franz und ich haben beschlossen, einmal einen Trip nach Südtirol zu unternehmen, was haltet Ihr davon?“ Irmis Mutter war sofort begeistert von ihrem Vorhaben und schlug vor, dass sie doch zu ihrer Tante Christa fahren und bei ihr übernachten sollten, da hätten sie schon mal die Hotelkosten gespart. Tante Christa wohnte mit Jeanette und ihrem Mann in Sand in Taufers, das lag im Ahrntal und war mit Bahn und Bus gut zu erreichen.

„Ihr müsst zuerst mit dem Bus nach Innsbruck, danach mit dem Zug durch den Brennertunnel nach Brixen, von dort mit dem Zug nach Bruneck und das Reststück mit dem Bus zum Bahnhof in Sand in Taufers, von dort kann Euch Tante Christa bestimmt abholen“, sagte Irmis Mutter, „wenn Ihr fahren wollt, solltet Ihr vorher Tante Christa anrufen und Euer Kommen ankündigen!“ Irmi und Franz sahen sich an und Irmi sagte:

„Darüber haben wir uns noch gar keine Gedanken gemacht, ich denke, dass wir in einer Woche fahren könnten!“

„Wenn Du willst, rufe ich bei Tante Christa an und kläre ab, wann Ihr dort willkommen seid!“, sagte Irmis Mutter.

„Das ist gut“, sagte Irmi, „dann brauchen wir uns darum nicht zu kümmern!“ und auch Franz gab Frau Hofmair zu verstehen, dass er ihren Vorschlag sehr gut fand. Irmi lief mit Franz zu Mathi und sie trafen ihn Kaffee trinkend draußen bei sich vor seinem Zimmer an. Mathi freute sich über den Besuch der beiden und fragte sie:

„Was führt Euch denn zu mir? Setzt Euch doch!“ Irmi und Franz setzten sich zu Mathi und Mathi ging schnell auf sein Zimmer und holte noch zwei Tassen nach draußen. Er schenkte Irmi und Franz Kaffee ein und bot ihnen auch ein Plätzchen an.

„Wir wollten Dir nur einmal guten Tag sagen und Dir mitteilen, dass wir heute tagsüber auf den Grindelkopf gewesen und dementsprechend geschafft sind“, sagte Irmi.

„Wie hat Euch denn der Berg gefallen?“, wollte Mathi wissen. Franz sagte:

„Wenn man seine Kräfte einzuteilen weiß, kommt man problemlos hoch, was aber viele unterschätzen, ist der Abstieg, der doch ganz schön in die Waden geht.“ Mathi sah Irmi und Franz an und entgegnete:

„Ich habe Euch vorher davor warnen wollen, aber jetzt habt Ihr eben die Erfahrung selbst gemacht, die Waden sind eine Anstrengung, wie sie beim Bergabstieg auftritt nicht gewohnt und schmerzen deshalb sehr stark, es gibt auch kein Mittel dagegen, man muss die Zähne zusammenbeißen und absteigen.“ Als Mathi zu Ende geredet hatte, sagte Irmi:

„Franz und ich wollen in der nächsten Woche einmal nach Südtirol fahren und uns dort die Landschaft anschauen, wir wollen meine Tante Christa besuchen, sie wohnt in Sand in Taufers im Ahrntal.“

„Ich bin noch nie in Südtirol gewesen“, sagte Mathi daraufhin, „ich habe aber schon viel Gutes über Südtirol gehört, besonders Wanderern gefällt Südtirol sehr gut, aber auch Feinschmecker fühlen sich dort gut aufgehoben und lieben die Südtiroler Küche.“

Irmi und Franz hatten überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, welche Aktivitäten sie in Südtirol unternehmen wollten, das Wandern könnte ihnen aber schon gefallen und der Südtiroler Küche gegenüber waren sie auch aufgeschlossen, sie wollten die Dinge auf sich zukommen lassen. Franz verabschiedete sich mit einem Kuss von Irmi und ging nach Hause, sie hatten besprochen, am nächsten Tag eine Radtour durch ihr Tal zu unternehmen und am Abend wieder zum Talabschluss zu laufen, um den Jupiter zu beobachten. Irmi ging auf ihr Zimmer und schlief gleich ein, sie war rechtschaffen müde von der Bergbesteigung und spürte beinahe jeden Knochen in ihrem Leib, aber das machte ihr nichts aus, schließlich, so sagte sie sich, müsste man sich regelmäßig durchaus auch einmal selbst herausfordern.

Am nächsten Morgen spürte sie immer noch ihre Knochen, aber schon längst nicht mehr so stark wie noch am Vortag, und sie setzte sich zu ihrer Mutter an den Frühstückstisch. Es war inzwischen 9.00 h geworden, sie hatte also ausgiebig geschlafen und für ihre Mutter war das schon das zweite Frühstück an diesem Tag. Sie wollte noch an diesem Vormittag nach Sand in Taufers anrufen und ihre Schwester auf das Kommen von Irmi und Franz vorbereiten, sie war davon überzeugt, dass sich Christa über den Besuch von Irmi und Franz freuen würde, und besonders auch Jeanette würde sich freuen. Irmi sagte:

„Wenn Franz gleich kommt, werde ich mit ihm eine kleine Radtour machen, weißt Du, ob unsere Fahrräder in Ordnung sind?“, und Irmis Mutter zuckte mit ihren Schultern:

„Woher soll ich das wissen, geh doch einfach in den Fahrradschuppen und sieh nach!“ Irmi lief gleich hin und überprüfte ihr Fahrrad, mit dem sie schon sehr lange nicht mehr gefahren war, sie drückte auf beide Reifen und fand, dass sie Luft gebrauchen konnten. Also nahm sie die Luftpumpe und pumpte Luft auf die Reifen, das war eine Tätigkeit, die sie noch nie gut beherrscht hatte, sie schaffte es aber, beide Reifen mit ausreichend Luft zu versorgen. Sie schob ihr Rad aus dem Schuppen und lehnte es gegen die Hauswand, wo sie es in Augenschein nahm und eigentlich noch als ganz in Ordnung ansah. Irmi ging wieder zu ihrer Mutter zurück und traf sie dabei an, wie sie mit Tante Christa telefonierte, sie bekam gerade noch mit wie ihre Mutter sagte, dass sie und Franz Mitte nächster Woche kämen.

„Tante Christa fährt am Wochenende auf Besuch zu ihrer Schwägerin nach Bozen, ist aber die ganze nächste Woche über für Euch da und freut sich sehr, wenn Ihr kommt, auch Jeanette freut sich über Euren Besuch!“ In diesem Moment klopfte es an die Küchentür und Franz trat herein. Er gab Frau Hofmair die Hand und wünschte ihr einen guten Morgen, Irmi gab er einen Kuss auf die Wange und Frau Hofmair nahm das leicht irritiert zur Kenntnis.

Sie musste sich erst noch daran gewöhnen, dass Irmi kein kleines Mädchen mehr, sondern fest mit einem Freund liiert war, und sie sich deshalb mit ihm auch küsste.

„Setz Dich doch, Franz, willst Du noch eine Tasse Kaffee mit uns trinken?“, fragte sie den Freund ihrer Tochter und Franz nahm dankend an.

„Ich musste an meinem Rad in der Frühe noch einen Platten flicken, das habe ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr getan, konnte es aber noch“, erzählte Franz.

„Meine Mutter hat gerade mit Südtirol telefoniert und ausgemacht, dass wir Mitte nächster Woche hinfahren“, sagte Irmi zu Franz, „ich denke, dass Dir das recht ist.“ Franz nickte und gab sein Einverständnis und nach einer halben Stunde standen Irmi und er auf und verabschiedeten sich von Irmis Mutter. Sie liefen zu ihren Rädern und überprüften, ob sie alles Wichtige dabei hatten, und dazu gehörten Geld, Handy und Flickzeug. Danach stiegen sie auf ihre Räder und fuhren in Richtung Dorf, es war herrliches Wetter zum Radfahren, und sie traten ordentlich in die Pedalen. Es war bewölkt, aber warm, man konnte nicht sagen, ob es noch regnen würde, dann müssten Irmi und Franz sich eben unterstellen. Im Dorf fuhren sie am Biergarten vorbei und winkten Herrn Schneider zu, der gerade damit beschäftigt war, die Stuhlkissen auf die Stühle zu legen.

Anschließend trampelten sie in Richtung Feldweiler, sie wollten die Hauptstraße bis zu ihrem alten Schulort entlangfahren und den Verkehr bis dorthin in Kauf nehmen, zurück würden sie die Strecke am Waldsaum an der Grindelkopfseite entlang nehmen. Der Verkehr hielt sich aber sehr in Grenzen, wenn sie allerdings von einem Auto überholt wurden, raste es mit großer Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Einmal überholte sie ein Raser so dicht, dass sie beinahe ausweichen mussten, er hupte zu allem Überfluss sogar noch und zeigte ihnen einen Vogel. Franz war drauf und dran, sich die Autonummer aufzuschreiben und den Raser beider Polizei anzuzeigen, aber Irmi sagte, dass er das doch lassen sollte, der Raser wäre mit sich selbst sicher schon gestraft genug. Der Bernebach schlängelte sich durch das Tal und als er einmal die Straße unter einer Brücke kreuzte, bogen Irmi und Franz über einen Wirtschaftsweg von der Hauptstraße ab und fuhren ein Stück den Bach entlang. Sie erreichten eine flache sandige Stelle, an der sie sich ans Wasser setzten. Der Bach floss an dieser Stelle sehr langsam und hatte in einem Bogen eine Art Becken gebildet, das eine Tiefe von geschätzten sechzig bis siebzig Zentimetern hatte und vielleicht drei Meter lang und einen Meter breit war. Franz sah Irmi an und sagte ihr:

„Ich habe nicht übel Lust, hier in das Wasser zu steigen und mich in das Becken zu begeben“, und noch ehe Irmi antwortete, zog Franz sich aus und stieg in Unterhosen ins Wasser. Der Bach war kalt und es kostete Franz eine Menge Überwindung, bis er sich ins Wasser setzte und abkühlte.

Schließlich tauchte er aber ganz unter und legte sich in das Bachbecken. Irmi beobachtete Franz dabei, verspürte selbst aber keine Lust, ihm in das kalte Wasser nachzusteigen. Sie hatten auch keine Handtücher dabei, und Franz würde sich an der Luft trocknen lassen müssen. Nach zehn Minuten stieg er wieder aus dem Bach, schüttelte sich und zog seine Unterhosen aus, um sich nackt neben Irmi zu setzen, er deckte seine Blöße dabei mit seiner Hose ab. Hinter ihnen standen Kühe auf der Weide, die an dieser Stelle bis an den Berghang reichte. Das Gras der Weide stand am Bachufer sehr hoch, weil es dort nicht gemäht wurde. Es gab eine Fülle von Insekten, die zwischen den Blüten der Pflanzen herumflogen, auch Bienen, die zu der benachbarten Streuobstwiese wechselten und dort die Blüten der Apfelbäume bestäubten. Als Franz wieder trocken war, zog er seine Hose über, auf seine Unterhose musste er verzichten, weil sie noch nass war und er bekleidete sich mit den restlichen Sachen, die er vorher ausgezogen hatte. Irmi und er bogen an der Bernebachbrücke wieder auf die Hauptstraße ab und fuhren weiter in Richtung Feldweiler. Sie erreichten nach einer halben Stunde Fahrzeit den Ort und hielten im Ortszentrum an einer Eisdiele, stellte ihre Räder ab und gingen an die Eistheke. Irmi ließ sich ein Hörnchen mit ihrer neuen Lieblingssorte geben und das war Jogurteis, sie nahm noch ein Bällchen Vanille dazu, Franz nahm Schokolade und Erdbeere. Sie setzten sich vor der Eisdiele auf eine Bank und schleckten ihr Eis, schauten sich um und sahen das Zentrum von Feldweiler so zum ersten Mal.

Nie hatten sie früher einen Blick für das Ortszentrum gehabt, als sie noch Realschüler gewesen waren und nach Schulschluss immer gleich zur Bushaltestelle gerannt und nach Hause gefahren waren. Dabei war Feldweiler ein durchaus schönes kleines Städtchen mit gemütlichen verwinkelten Gässchen, durch die Irmi und Franz spazierten, nachdem sie ihr Eis gegessen hatten. Mitten durch Feldweiler floss der Bernebach und war im Ortskern mit ungefähr fünf Metern sogar recht breit, auf ihm schwammen Enten und Teichhühner. Auf ihrem Gang kamen sie auch an ihre alte Realschule und stellten sich eine Zeit lang auf den Schulhof, um das Schulgebäude zu betrachten. Sie sagten beide kein Wort und ließen die Zeit, die sie gemeinsam auf der Schule verbracht hatten, noch einmal Revue passieren, aber weder Irmi noch Franz weinten dieser Zeit eine Träne nach. Für sie begänne ach den Ferien in Innsbruck ein neuer Lebensabschnitt. Langsam liefen sie zu ihren Rädern zurück und fuhren von Feldweiler aus an den Berghang am Grindelkopf, und als sie den Waldsaum erreichten, fing es prompt an zu regnen. Sofort postierten sie ihre Räder an den Wegrand und stellten sich unter eine große Tanne am Waldrand. Als es aber blitzte und donnerte, wurden sie vorsichtig, was würde passieren, wenn der Blitz in die Tanne einschlüge, unter der sie standen, fragten sie sich. Aber in diesem Augenblick hatte sich das Gewitter verzogen, und es hörte auf zu regnen, sie stiegen auf ihre Räder und fuhren weiter.

An einer Stelle des Weges schmiegte sich der Bernebach beinahe ganz an den Berghang und Irmi und Franz konnten sehen, dass er ziemlich angeschwollen war. Er hatte weiter oberhalb natürlich den ganzen Regen aufgenommen und auch die kleinen und kleinsten Zuflüsse sind in den Bach geflossen und hatten dafür gesorgt, dass der Bachpegel anstieg. Die Luft war nach dem Gewitter frisch und sehr angenehm beim Radfahren. Es war nicht mehr so drückend schwül wie zu Beginn, als sie losfuhren und gleich ins Schwitzen gerieten. Sie ließen sich ganz bedächtig nach Lerbach treiben, kamen nach einer guten Stunde dort an und als sie am Biergarten vorbeifuhren, sahen sie, dass inzwischen viele Gäste an den Tischen saßen und Kuchen aßen und Kaffee tranken. Zu Hause bei Hofmairs waren ihre Kleider wieder getrocknet, nur Franz´ Unterhose befand sich auf dem Gepäckträger seines Rades und war noch nass. Frau Hofmair saß mit ihrem Mann am Kaffeetisch und forderte Irmi und Franz auf, sich zu setzen. Sie mussten erzählen, wo sie gewesen waren und was sie dort erlebt hatten.

„Ich war zum ersten Mal in meinem Leben im Bernebach baden“, berichtete Franz, „das Wasser war sehr kalt und es kostete Überwindung, reinzugehen.“

„Seid Ihr während des Gewitters auf Euren Rädern nicht nass geworden?“, fragte Frau Hofmair, „hier hat es nämlich kräftig geschüttet und irgendwo in der Nähe muss auch der Blitz eingeschlagen sein, wir haben einen ziemlich Knall gehört!“

„Gleich nachdem es angefangen hatte zu regnen, haben wir uns unter eine Tanne gestellt und dort gewartet, das Gewitter war sehr schnell wieder vorüber und wir haben Glück gehabt“, antwortete Irmi. Nach dem Kaffeetrinken gingen Irmi und Franz wieder zu Mathi und Irmi bat ihn:

„Lieber Mathi, bitte begleite uns doch heute Abend wieder zum Talabschluss, ich möchte mir heute Abend den Jupiter ansehen.

„Mathi überlegte nicht lange und sagte sofort zu:

„Wann sollen wir denn los?“, fragte er und Irmi antwortete:

„Wir sollten wie immer so gegen 19.30 h aufbrechen, es wäre schön, wenn Du vorher mit der Schubkarre bei uns wärst!“ Mathi sagte, dass er zu dem Zeitpunkt mit der Schubkarre vorne wäre, und Irmi und Franz verließen ihn wieder bis zum Abend. Sie gingen auf Irmis Zimmer und Irmi schaltete ihren Computer ein, um die Daten für Rektaszension und Deklination des Jupiter zu suchen und aufzuschreiben.

„Was weißt Du über diesen Planeten?“, fragte sie Franz. Aber Franz musste zugeben, dass er bislang nur etwas über die Jupitermonde gehört hatte und dass Jupiter der höchste römische Gott gewesen war, vergleichbar mit Zeus bei den Griechen. Irmi las vor:

„Größter Planet des Sonnensystems mit 143000 Kilometern Äquatordurchmesser, ein Jupiterjahr dauerte 11.9 Erdenjahre, die Rotation um die eigene Achse dauert knapp zehn Stunden.“ 1994 explodierte der Komet Levi Shoemaker auf der Jupiterberfläche und erzeugte dabei eine Explosionsgaswolke, die so groß war wie die gesamte Erde. Man hatte die Explosion gut von der Erde aus beobachten können. Der Jupiter hatte siebenundsechzig Trabanten, die ihn umkreisten, seine größten Monde hießen Io, Europa, Ganymed und Kallista. Irmi schrieb die Jupiterdaten in ihre Kladde:

Rektaszension - 8 h 40 m 29 s, Deklination - 18° 47 ´39´´ und legte die Kladde griffbereit zu den anderen Sachen, die sie zu ihrer Exkursion mitnehmen wollte. Um 19.00 h begannen Irmi und Franz, alles, was sie benötigten, nach unten zu bringen und als Mathi erschienen war, in die Schubkarre zu laden. Irmi nahm wieder die Schubkarre und schob sie den ganzen Weg bis zum Hang am Talabschluss, obwohl Franz ihr mehrfach angeboten hatte, sie abzulösen, aber Irmi blieb stur und setzte sich am Hang erschöpft hin, um zu entspannen. Sie blickte zusammen mit Mathi und Franz in den Sternenhimmel und sah das weite Band der Milchstraße über sich ausgebreitet. Gleich überkam sie ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit, weil sie wusste, wie groß die Entfernungen waren, die sie zu sehen in der Lage war. Der Himmel war wolkenlos und es war gleichzeitig so dunkel, dass man einen herrlichen Blick auf die Sterne hatte. Nach einer kurzen Pause stand Irmi auf, nahm die Taschenlampe, lief den Hang hoch und leuchtete den beiden anderen.

Mathi hatte wieder das größte Teil des Teleskops geschultert und Franz folgte ihm mit dem Stativ. Nachdem sie das Felsplateau erreicht hatten, stellte Franz das Stativ auf, und Mathi fixierte das Teleskop auf ihm. Irmi setzte Sucher und Okular an, sie nahm das Okular mit der starken Vergrößerung und justierte das Teleskop nach den Angaben in ihrer Kladde. Danach nahm sie einen Blick auf den Jupiter, zuerst durch den Sucher, anschließend durch das Okular. Was sie sah, verschlug ihr den Atem, sie wusste schon von den Bändern, die den Gasriesen umgaben, und sie kannte auch schon den großen roten Fleck, der in etwa 22° südlicher Breite lag. Diese Dinge aber nun wahrhaftig vor den eigenen Augen zu haben, war ein großartiger Moment und Irmi verharrte eine ganze Zeit vor ihren Teleskop, bevor sie Mathi und Franz an das Gerät ließ. Der Jupiter zählte nicht zu den terrestrischen Planeten, weil sein Aufbau nicht erdähnlich war, sondern er bestand wie die Sonne zu einem großen Teil aus Wasserstoff, gefolgt von Helium und zu sehr kleinen Teilen Methan und Ammoniak. Diese Gase verflüssigten sich zum Planeteninneren hin wegen des zunehmenden Drucks, der Planetenkern war somit flüssig und nicht etwa ein Eisenkern wie bei der Erde. Die Farben des Jupiter stammten vom Schwefel in seiner Atmosphäre, wo sie in Wolken durcheinandergewirbelt wurden, Schwefel konnte Farben von Rot, Braun, Weiß oder auch Schwarz annehmen.

Entlang des Jupiteräquators wüteten Stürme, die in Streifen um den gesamten Planeten zogen, benachbarte Streifen bewegten sich in entgegengesetzter Richtung, sodass es zwischen ihnen zu Verwirbelungen kommen konnte, ein solcher Wirbel war der große rote Fleck des Jupiter. Der große rote Fleck hatte die Menschen schon immer am Jupiter fasziniert und natürlich die Helligkeit des Planeten. Seine vier Monde hatte erst Galilei im 17. Jahrhundert entdeckt, als er den Jupiter durch das erste Fernrohr, das es gab, beobachtet hatte. Das alles kannte Irmi schon vor dem Blick durch ihr Teleskop, den Jupiter dann aber wirklich vor den eigenen Augen zu haben, war ein unvergleichliches Erlebnis und auch Mathi und Franz waren hin und weg. Mathi fragte, was das für merkwürdige Ringe wären, die den Jupiter umgaben und Irmi antwortete ihm:

„Es handelt sich dabei um gegenläufige Strömungen, an deren Berührungslinien Verwirbelungen entstehen.“ Sie stand noch einmal auf und schaute erneut durch ihr Teleskop, und wieder war sie wie benommen von dem Anblick, den ihr der Jupiter bot. Irmi setzte sich mit den beiden anderen auf das Felsplateau und redete mit ihnen darüber, was für einen Eindruck der Jupiter bei ihnen hinterließ. Franz sagte, dass er sich den Planeten nicht so groß vorgestellt hätte und seine Rotfärbung schön fand. Mathi bestätigte das, was Franz sagte und ergänzte, dass es bei ihm so wäre wie beiden anderen Planetenbeobachtungen auch, es wäre ein vollkommener Unterschied, ob man sich die Planeten auf Bildern in irgendwelchen Büchern ansähe oder sie direkt durch ein Teleskop betrachtete.

Und mit einem Mal stand die Frage im Raum, ob der Jupiter auch eine astrologische Wirkung auf sie ausübte, schließlich galt er als der Planet des Optimismus und der Zuversicht. Menschen, die sich ihm verbunden fühlten, liebten es, andere zu beschenken oder ihnen weiterzuhelfen, wie die Astrologen sagten. Als Irmi die Sprache auf diese astrologischen Verbindungen gebracht hatte, sahen sich Mathi und Franz an, und keiner von ihnen wollte so recht daran glauben, aber auch Irmi verwarf jedweden Gedanken daran, dass sie den Astrologen Glauben schenkte, sofort. Sie saßen noch eine halbe Stunde und schauten sich den Himmel mit bloßem Auge an, sie fanden den Blick auch ohne Teleskop sehr schön, besonders, da sie jetzt in der Lage waren, die Planeten zu identifizieren. Der Jupiter war ungefähr 500 Millionen Kilometer von der Erde entfernt und man konnte ihn trotzdem mühelos unter den Planeten erkennen. Irmi hatte etwas zu essen ausgepackt und ließ auch eine Sprudelflasche herumgehen und als sie gegessen und getrunken hatten, packten sie das Teleskop zusammen. Mathi schulterte es wieder, Franz nahm das Stativ, und sie kletterten den Hang hinunter, wo sie die Dinge auf die Schubkarre luden.

Die Jupiterbeobachtung hatte ihnen Energie gegeben, so viel stand fest, das lag aber nicht an der Astrologie, sondern an der positiven Grundstimmung, mit der sie den Planeten betrachtet hatten, und es lag an der Situation auf dem Hang, in der sie sich abgehoben fühlten und beinahe alles um sich herum vergaßen. Im Gegensatz zu früheren Teleskopbeobachtungen waren sie auf dem Nachhauseweg geradezu ausgelassen und lachten sich zu. Mathi gab alte Geschichten zum Besten, zum Beispiel wie er Irmi einmal, als sie noch ein kleines Kind war, aus einer Pfütze im Hof hochhob und zu ihrer Mutter gebracht hatte, Irmi hätte in der Pfütze wie selbstverständlich gespielt. Im Dorf trennten sich Irmi und Franz wieder mit einem Kuss voneinander und wollten sich am nächsten Tag, einem Samstag, bei Franz treffen. Irmi war noch nie bei Heinbichlers gewesen und gespannt darauf, die Eltern von Franz kennen zu lernen. Geschwister hatte Franz keine, genauso wenig wir Irmi. Zu Hause bei Hofmairs schob Irmi die Schubkarre wieder einfach noch beladen in den Stall und wollte sich am nächsten Tag um die Sachen kümmern und sie auf ihr Zimmer bringen. Sie ging, nachdem sie Mathi eine gute Nacht gewünscht und sich noch einmal bei ihm bedankt hatte, gleich zu sich hoch und schrieb die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, in ihre Kladde. Sie hielt fest wie sie zu dritt nach der Jupiterbeobachtung auf dem Felsplateau gesessen und ihre Eindrücke zur Sprache gebracht hatten, und wie sie anschließend auf dem Weg nach Hause einen Witz nach dem anderen gerissen und sich darüber beinahe halb tot gelacht hatten. Sie schrieb auch auf, dass keiner von ihnen an irgendwelche astrologische Verbindungen geglaubt und jeder das alles in das Reich des Aberglaubens abgeschoben hätte.

Beim Frühstück am nächsten Morgen sagte Irmi zu ihrer Mutter:

„Ich bin heute bei Heinbichlers eingeladen und fahre gleich mit meinem Fahrrad dorthin.“ Irmis Mutter antwortete:

„Ich kenne die Heinbichlers überhaupt nicht und kann Dir deshalb zu ihnen auch kaum etwas sagen, ich weiß nur, dass Herr Heinbichler in Feldweiler bei der Maschinenfabrik Körber als Prokurist arbeitet und Frau Heinbichler Hausfrau ist.“

„Ich werde schon feststellen, was sie für Leute sind, es hat doch keinen Sinn, sich vorher ins Blaue hinein über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen!“, entgegnete Irmi. Sie kam noch einmal auf den Vorabend zu sprechen und sagte ihrer Mutter:

„Gestern Abend hatten Marhi, Franz und ich viel Spaß miteinander, ich weiß gar nicht mehr wie das kam, wir waren bei den anderen Beobachtungen hinterher immer ganz still und in uns versunken, gestern sind wir aber richtig aus und herausgegangen und haben gelacht!“

„Vielleicht liegt das am Jupiter, der seinen Einfluss auf Euer Gemüt ausgeübt hatte“, sagte Frau Hofmair und Irmi erwiderte gleich barsch:

„Das ist doch alles Blödsinn, es gibt solche behaupteten Einflüsse gar nicht, und wenn sie auch noch so sehr von sogenannten Astrologen herbeigeredet werden!“

Frau Hofmair schwieg dazu, weil sie wusste, dass sie in diesem Moment nicht gegen Irmi anreden können würde. Irmi sah noch kurz in die Zeitung, die an diesem Samstag besonders dick war. Sie löste samstags im Regelfall immer zwei Sudokus und das Buchstabenrätsel. Dieses Mal ließ sie das Rätseln sein und stieg, nachdem sie sich von ihrer Mutter verabschiedet hatte, stattdessen auf ihr Fahrrad, um zu Franz zu fahren. Heinbichlers hatten ein Einfamilienhaus auf der anderen Dorfseite und Irmi musste am Gasthof „Schneider“ und an der Kirche vorbei, um dorthin zu gelangen.

Irmi

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