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Koller wird Student
ОглавлениеKoller war in Mahnstadt umgezogen, nachdem er sich zu Hause völlig mit seinen Eltern zerstritten hatte und einfach seine Ruhe haben wollte. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die gerne in sich gingen und nachdachten. Dabei war im Vorfeld gar nicht unbedingt klar, worüber er nachdenken wollte. Schon die Handlung, sich hinzusetzen, Ruhe zu haben und zu denken erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit. Koller hatte sich in seiner Wohnung eigens einen gemütlichen Sessel hingestellt, in dem er manchmal stundenlang saß und nachdachte.
Er war zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt und hatte ohnehin vor, sein Elternhaus zu verlassen, denn mit spätestens 20 hieß es für seine Freunde und ihn, von Zuhause auszuziehen. Er hatte sein Abitur gemacht und eine „Ehrenrunde“ drehen müssen. Er war nie ein herausragend guter Schüler gewesen, sein befriedigendes Abitur würde aber ausreichen, ihm die Tore für sein Weiterkommen zu öffnen.
Koller lebte in den Tag hinein, seine Wohnung bezahlte sein Vater, auch seine Alltagsausgaben übernahm er. An Geld herrschte bei Koller zu Hause kein Mangel, und wenn er einmal ein wenig knapp bei Kasse war, brauchte er nur Bescheid zu sagen und bekam von seinem Vater eine Finanzspritze. Sein Vater war ein hohes Tier bei der Stadt und hatte von daher so manche Verbindung, die er in Anspruch nehmen und Koller Gutes tun konnte. Seine Mutter war ein stilles Pflänzchen, tat, was sein Vater sagte und redete ihm nach dem Mund. Während Koller zu Hause wohnte, war sie immer an ihm dran und nervte ihn mit irgendwelchen Belanglosigkeiten. So verlangte sie, dass er beim Saubermachen half, nahm aber selbst die Dienste von reichlich Putzpersonal in Anspruch.
Mit ihren 50 Jahren gehörten Kollers Eltern für ihn zum „Alten Eisen“, und Koller konnte eigentlich wenig mit ihnen anfangen. Beide waren sie von ihrer Körperfülle her eher im oberen Bereich angesiedelt und schon allein deshalb fand Koller sie wenig attraktiv. Das gleiche galt für den Freundeskreis, mit dem sie sich umgaben. Zu ihm gehörte ein dicker Mann, der immer, wenn er ihn begrüßte, sagte:
„Meine Güte, bist Du aber groß geworden, weißt Du schon, was Du einmal werden willst?“ Dabei interessierte ihn überhaupt nicht, was er scheinbar wissen wollte, denn er fragte jedes Mal, wenn er zu Besuch war, dasselbe.
Koller war ein Einzelkind, und er war nicht traurig darum, keine Geschwister zu haben. So brauchte er auf niemanden Rücksicht zu nehmen, wenn er sich irgendwo zum Nachdenken niederließ. Eines Tages wurde ihm aber das Genörgel seiner Mutter zu viel, und als sich auch noch sein Vater auf die Seite seiner Mutter schlug, beschloss er, auszuziehen.
Koller war ein gutaussehender junger Mann, und einige Mädchen waren hinter ihm her. Er hatte aber nur mit Ludmilla eine engere Beziehung, die noch während seiner Schulzeit angefangen hatte. Ludmilla war ein ausnehmend schönes Mädchen, und sie war darüber hinaus auch noch intelligent. Koller liebte es, wenn er sich heftig mit ihr stritt und am Ende wieder versöhnte. Um Ludmilla haben ihn so manche seiner Schulfreunde beneidet, und Koller zeigte sich mit ihr voller Stolz. Dann aber begann etwas in der Beziehung, das Koller immer abgelehnt hatte, Ludmilla begann zu klammern: sie malte sich ein Leben mit ihm aus und sah sich schon mit gemeinsamen Kindern und ihm in einem Einfamilienhaus. Koller fühlte sich noch viel zu jung, solche Gedanken vor sich herzutragen. Er gab Ludmilla zu verstehen, dass er sich ein Leben mit ihr zwar vorstellen konnte, es aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht planen wollte. Ludmilla war aber ganz befangen von der Vorstellung von einem gemeinsamen Leben mit Koller, und sie malte es sich in den schillerndsten Farben aus.
Aber Koller sprang nicht auf ihren Zug und versuchte abermals, Ludmilla zu verstehen zu geben, dass er sich zu jung für solche Zukunftsplanungen fühlte, die sein gesamtes weiteres Leben betrafen. Er war nicht bereit, sich festzulegen und noch bevor er seinen weiteren Lebensweg geplant hatte, sein Leben in fertige Formen zu pressen.
Eines Tages, Ludmilla war gerade zu Besuch bei Koller in der Wohnung, kam es zwischen den beiden zur Aussprache über diesen Punkt, und Koller legte Ludmilla dar, dass er sich auf keinen Fall in der Situation, in der er sich zu diesem Zeitpunkt befand, festlegen wollte, und auch Ludmilla wäre noch viel zu jung und zu unerfahren dafür:
„Du kannst doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich mich schon jetzt in der Rolle des Familienernährers sehe und ein Leben mit Dir und unseren Kindern führe!“, sagte er zu Ludmilla, und Ludmilla sah ihn mit ihren großen Augen an:
„Aber was willst Du denn, Du musst Dir doch Gedanken über Deine Zukunft machen!“, antwortete sie, und so ergab ein Wort das andere, bis Koller die Notbremse zog und die Beziehung beendete. Ludmilla war wie vom Schlag getroffen und fiel in einen Weinkrampf. Sie raffte ihre Sachen zusammen und verließ Kollers Wohnung, ohne ihn noch einmal angesehen zu haben, ohne ein Wort des Abschieds.
Koller war klar, dass er so mit wenigen Worten eine Beziehung zunichte gemacht hatte, die schon zwei Jahre währte, er fand den Schritt, den er gegangen war, aber richtig. Beinahe war er sich vorgekommen wie bei einem Ehepaar, das schon über Jahre zusammenlebte, Ludmilla putzte für ihn, sie bügelte seine Hemden, und sie kochte für ihn. Und obgleich ihn diese Dinge entlasteten, so lehnte er sie doch ab, weil er von seiner Partnerin etwas anderes erwartete und damit bei Ludmilla auf Unverständnis stieß.
Das gesamte Freundesumfeld von Koller und Ludmilla war entsetzt zu erfahren, dass die Beziehung der beiden, die alle schon verheiratet gesehen hatten, mit einem Mal beendet war, und Koller hatte Mühe, sich zu erklären.
Von Ludmilla sah man lange nichts mehr, sie wäre wieder eine Beziehung eingegangen und ähnliches, so verlautete es. Koller sah und hörte von ihr aber erst einmal nichts mehr.
In der Zeit nach der Trennung empfing er regelmäßig alte Freunde in seiner Wohnung, spielte mit ihnen Karten und soff die Nächte durch.
„Ludmilla und ich haben, wenn wir hier zusammen waren, gelebt wie ein altes Ehepaar, das wollte ich nicht länger mitmachen, dazu fühlte ich mich noch zu jung!“, sagte Koller allen, die ihn auf seine Trennung von Ludmilla ansprachen.
Koller ließ sich in der Zeit seines Lotterlebens etwas gehen, was sein Äußeres betraf, er rasierte sich nicht mehr und ließ sich die Haare wachsen, so bekam er einen schwarzen Vollbart und sein glattes Haar wuchs schnell bis auf seine Schultern. Inzwischen, wo das Haar allgemein kurz getragen wurde und man glatt rasiert war, fiel Koller auf, was ihn aber nicht sonderlich störte. Auch seine Kleidung vernachlässigte er, das hieß, dass er immer leicht schmuddelig herumlief und auf sein Aussehen nicht achtete, das hatte Ludmilla immer getan.
Koller war schlank und athletisch, und er blieb es auch, so konnte er seine alten Sachen lange tragen. Er war 1.87 m groß und fiel von daher schon auf, wenn er sich auf der Straße unter Menschen bewegte, und so manches Mädchen drehte sich nach ihm um. Aber Koller stand nicht der Sinn nach Mädchen so kurz nach der gescheiterten Beziehung zu Ludmilla. Es gab da hin und wieder ein Techtelmechtel, er nahm schon mal ein Mädchen mit in seine Wohnung, das er in der Disco kennengelernt hatte, das war aber alles.
Koller verbrachte seine Freizeit lieber mit seinen Freunden, und das bedeutete meistens, dass sie in seiner Wohnung herumhingen oder in die Kneipe gingen. Wenn er einmal nach Hause zu seinen Eltern kam, schaute ihn seine Mutter mit verstörtem Blick an, hielt sich aber mit Kommentaren zu seinem Äußeren zurück.
Da war sein Vater anders, hausbackener, der fragte Koller nach seinen langen Haaren und seinem Vollbart, er bohrte aber nicht nach. Es kam dann auch schon das Gespräch nach Kollers weiterem Werdegang auf, und sein Vater regte an, dass er doch ein Studium aufnehmen sollte. Koller war nicht abgeneigt, konnte sich aber auf die Schnelle kein Studienfach vorstellen, das ihm gelegen käme:
„Ich will mir die Sache mit dem Studium durch den Kopf gehen lassen und Dich dann informieren!“, sagte er zu seinem Vater. Der gab sich mit Kollers Auskunft zufrieden, verwies aber noch auf den Einschreibetermin:
„Denk daran, dass Du Dich zum rechten Termin einschreibst, sonst musst Du noch ein Semester rumhängen!“ Die letzte Bemerkung seines Vaters hatte Koller getroffen, er war also ernsthaft daran interessiert, dass sein Sohn ein Studium aufnahm. Seine Mutter hielt sich da ganz zurück, wie das so ihre Art war. Wenn es früher um ernste Entscheidungen ging, führte immer Kollers Vater das Wort, und seine Mutter war damit einverstanden, bestenfalls sagte sie zu ihrem Ehemann:
„Du wirst das schon richtig entscheiden.“ Diese Schwäche hasste Koller an seiner Mutter, sie war der Inbegriff der Spießerin
Bis zum Einschreibetermin hatte Koller noch 4 Wochen Zeit, und die wollte er nutzen, um sich Studienfächer zu überlegen. Er beratschlagte sich mit Freunden, was denn für ihn in Frage käme, manche von ihnen wollten selbst studieren und überlegten für sich an Studienfächern. Für Koller war eigentlich längst klar, dass er Fächer für das Lehramt an Gymnasien studieren wollte, und er hatte Sport in die engere Wahl gezogen. Seine Freunde orientierten sich an „BWL“, „Digitale Medien“, „E-Commerce“ oder „Spanisch“.
„Du warst doch auf dem Gymnasium immer in „Deutsch“ ganz gut, nimm doch „Deutsch“ als Erstfach!“, schlug einer seiner Freunde vor. Koller dachte an seine Schulzeit zurück und da besonders an den Deutschunterricht in der 10. Klasse. Sie nahmen den „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist durch, und Koller war von Anfang an fasziniert von dem rechtschaffenen Bürger Kohlhaas, dem von der Obrigkeit Unrecht widerfuhr, was ihn zu einem Rebell machte. Kohlhaas war das Paradebeispiel für das Verhältnis zwischen Individuum und Staat, der Unrecht gelten ließ und Kohlhaas quasi zwang, sich aufzulehnen. Koller verkörperte bewundernd das Wesen von Kohlhaas vor anderen, auch wenn die Deutschstunde schon vorüber war, er war völlig eingenommen von „Michael Kohlhaas“, sodass seine Mitschüler ihm den Namen Koller gaben. Er trug den Namen schon 5 Jahre und fand, dass er sich besser anhörte als Andreas Birtler, wie sein wahrer Name war. Koller war in der Lage, sich gepflegt auszudrücken und hat sich auch in den Deutschkursen in der Oberstufe durch interpretatorisches Geschick hervorgetan. Er hatte Deutsch als Leistungskurs im Abitur und eine 2 gemacht.
Zumindest daher konnte man eine Affinität zum Studienfach Deutsch herleiten, und Koller war auch gar nicht abgeneigt, das Studienfach zu belegen. Das Ergebnis der langen Gespräche mit seinen Freunden war am Ende, dass er sich an der Hochschule in Mahnstadt in den Fächern Deutsch und Sport für das Lehramt am Gymnasium einschrieb. Er informierte sofort seinen Vater, dass er von da an Student wäre und unterrichtete ihn über seine Fächerwahl.
„Ich wusste immer schon, dass einmal etwas aus Dir werden wird“, sagte Kollers Vater zu seinem Sohn und gab damit seiner Zufriedenheit Ausdruck.
Die Aufnahme des Studiums war ein Einschnitt für Koller, weil sein Leben von da an getaktet war, je nachdem, wie seine Veranstaltungen lagen. Ansonsten änderte sich für ihn aber nicht so viel, er war in der privilegierten Situation, eine eigene Wohnung zu haben, während seine Freunde und Bekannten in Wohngemeinschaften oder in Wohnheimen lebten. Im schlimmsten Fall lebten sie weiterhin zu Hause, was man aber aus Geldgründen verstehen konnte.
Immerhin bestand sein alter Freundeskreis weiter fort, was seinen Freunden und ihm Sicherheit verlieh, und man traf sich zwar seltener, aber regelmäßig oder hing bei Koller ab. Nur so ganz exzessiv wie früher ging das nicht mehr, denn schließlich musste jeder sein Studium bewältigen, und das verlangte allen doch einiges ab. Aber Koller kam prima mit den Anforderungen des Studiums zurecht. Er konnte mit dem Bus zur Hochschule fahren und hatte es von daher leichter als seine Kommilitonen, die zum Teil mit dem eigenen Wagen angefahren kamen.
Ganz allmählich pendelte sich während des 1. Semesters Kollers neues Leben ein. Das Hochschulleben gefiel ihm sehr gut, und er bekam auch schnell Anschluss an das Studentenleben, er lernte viele Kommilitoninnen und Kommilitonen kennen und traf sich später auch außerhalb der Hochschule mit ihnen.
Schon in der Anfangszeit wurden wilde Partys gefeiert, sie fanden noch in der Hochschule statt, man feierte im Audimax und alle ließen sich dort blicken. Der AStA war der Veranstalter der Feten und hatte immer eine Band engagiert. Koller ging zu Anfang noch unschlüssig durch die Reihen der Kommilitonen, man kannte sich ja nur oberflächlich. Es gab welche, die er in seinen Veranstaltungen gesehen hatte, man hatte aber kaum einmal miteinander gesprochen.
Koller forderte Mädchen zum Tanz auf, und man verlor sich danach wieder aus den Augen. So war auch der Hochschulalltag zu Beginn noch gestaltet, man besuchte seine Veranstaltungen und ging danach seiner Wege, Koller fuhr dann immer in seine Wohnung und dachte nach, wie das so seine Art war. Das intensive Nachdenken, das manchmal Stunden dauerte, und zu dem er sich immer in seinen gemütlichen Sessel gesetzt hatte, ließ allerdings mehr und mehr nach. Das lag daran, dass ihn sein Studium regelrecht in die Pflicht genommen hatte, und er kaum Möglichkeiten für sich sah, seine Tage selbst zu planen. Erst allmählich kristallisierten sich solche Freiräume an den Abenden heraus, und man traf sich in den einschlägigen Kneipen.
Die Studenten bevorzugten Kneipen, in die er vorher nie gegangen war, man wusste eben, dass das Studentenkneipen waren, die auch den Studenten vorbehalten bleiben sollten. Koller fühlte sich in der Kneipe auf Anhieb sehr wohl, besonders in der einen, dem „Kakadu“, in der er sich immer mit seinen Kommilitonen traf. Sowie er abends Zeit hatte, ging er in den „Kakadu“, das waren für ihn nur 10 Minuten zu laufen.
In der Mitte des Schankraums befand sich die Theke, an die sich die Leute rundum stellten und ihr Bier tranken. Dort stellte sich auch Koller immer hin, meistens neben einen Bekannten von der Hochschule und bestellte sich ein großes Bier. Die Musik war nie so laut eingestellt, dass man sich nicht unterhalten konnte, und Koller führte viel Gespräche an der Theke, meistens politische.
Sein jeweiliges Gegenüber schwang gleich auf die politische Ebene ein, und das war zu diesem Zeitpunkt die Klimadebatte. Alles drehte sich darum, wie man das „2°C-Ziel von Paris“ erreichen konnte. Dieses Ziel wurde auf der Weltklimakonferenz in Paris im Jahre 2015 von 195 Staaten verabschiedet. Der Temperaturanstieg sollte auf der Erde bezogen auf das Jahr 1850 um weniger als 2°C steigen, und dazu musste der Ausstoß an Treibhausgasen bis 2050 um 40-70% reduziert werden, bis 2100 sogar um 100%!
Koller stieß das Thema gegenüber Rainer, seinem Kommilitonen aus dem Deutschseminar, nur an, und schon sprudelte es aus Reiner nur so heraus. Rainer war sehr beschlagen in der Klimadebatte, das merkte man gleich. Mit zunehmendem Alkoholkonsum erschöpften sich aber seine Redebeiträge in Versatzstücken aus dem Klimabereich: „globale Erwärmung“, „Klimawandel“, „Polschmelze“, „Treibhauseffekt“ usw. Also gab Koller zu verstehen, dass sie beide doch besser aufhörten, über das Klima und seine Gefährdungen zu diskutieren, weil sie doch schließlich immer betrunkener wurden und an ein ernsthaftes Gespräch deshalb nicht mehr zu denken war.
Koller ging zu fortgeschrittener Stunde wieder nach Hause, denn er hatte am nächsten Tag ein schweres Sportprogramm zu absolvieren und musste deswegen nach Möglichkeit ausgeruht sein. Er frühstückte nie sehr viel, meistens nahm er sein bisschen Müsli im Stehen und trank ein Glas Milch dazu. So machte er es auch am nächsten Morgen, und er rannte im Anschluss wie sooft im Dauerlauf zur Bushaltestelle. Er konnte von seiner Haustür aus den Bus schon kommen sehen und musste manchmal neben ihm her rennen, um ihn noch zu kriegen. Die Leute, die an der Haltestelle warteten, kannte ihn schon und baten den Busfahrer dann, so lange stehen zu bleiben, bis Koller den Bus erreicht hatte.
Als Koller an der Hochschule ankam, ging er in den Sporttrakt zur Umkleide und zog sich sein Sportzeug an. Anschließend lief er auf den Platz nach draußen, denn es sollten an diesem Tag ein 1000 m-Lauf und am nächsten Tag ein 400-m-Lauf stattfinden. Sie waren um die 30 Studenten im Sportseminar und Koller war bei der ersten Laufgruppe für den 1000-m-Lauf. Er trug seine neuen Spikes, die er sich noch vor Studienbeginn gekauft hatte. Seine 1000-m-Leistung als Schüler lag bei 3:10 in der Oberstufe, und er wollte bei dem dann anstehenden 1000-m-Lauf nicht dahinter bleiben.
Die 1000 m entsprachen 2.5 Stadionrunden, und man lief sie natürlich nicht gleich im Sprinttempo, sondern man teilte sich die Strecke ein. Erst ab den letzten 300 Metern ging man in den Sprint über, wenn man die Energie noch hatte.
Koller wärmte sich auf, wie das auch seine Mitläufer taten. Beim Aufwärmen ging es um die Herstellung einer optimalen psycho-physischen Verfassung und der Dozent hatte sich einige spielerische Elemente für die Aufwärmphase überlegt.
„Es geht bei dem 1000-m-Lauf darum, dass jeder weiß, wo er läuferisch steht, in allen Fällen kommt Eure Laufzeit aus der Schule und Ihr habt auch noch im Kopf, wie Ihr die Strecke einteilen müsst, orientiert Euch also an diesen Vorgaben!“ Und während der Dozent sprach, machten die Studenten Stretching-Übungen, ganz vorsichtig, um sich nicht schon vor dem Lauf allzu sehr zu belasten. Die Temperatur war mit 20°C optimal zum Laufen, und die Studenten gingen auf die Startpositionen. Dort mussten sie sich an die Startlinie stellen, die nach außen hin ein wenig in die Laufrichtung vorgelagert war. Der Dozent stellte sich mit einer Startpistole an den Rand und gab das Kommando:
„Auf die Plätze-fertig-...“, und bei „los“ gab er für alle vernehmbar den Startschuss ab, Alle waren darauf hingewiesen worden, dass, wenn jemand dreimal einen Fehlstart verursachte, er disqualifiziert werden würde. Und dann ging es los, Koller hatte einen Mittelplatz in der Läuferreihe und hielt sich auf dem dritten Rang. Er hatte sich vorgenommen, sein Lauftempo ganz allmählich zu steigern, was leichter gesagt als getan war.
Es gab nach dem Start wie immer bei Läufen, bei denen man sich seinen Platz erobern muss, leichte Rangeleien unter den Läufern als es darum ging, von außen nach innen zu laufen. Aber Koller ließ sich durch die Drängeleiversuche der anderen nicht aus der Bahn bringen. Er fühlte sich von Anfang an sehr wohl in seinen neuen Spikes, er hatte ein Modell ausgesucht, das sich optimal an den Fuß anpasste, Dazu hatte er ein Video machen lassen, über das gute Sportgeschäfte zu der Zeit verfügten.
In der Hälfte der 1. Runde hatte jeder seinen Platz gefunden und lief dem Führenden hinterher, der ein ordentliches Tempo vorgab. Koller ließ das halbe Feld überholen, er wollte Kraftreserven für den Endspurt sparen.
Als die Hälfte des Laufes vorüber war, hatte sich das Läuferfeld doch ziemlich in die Länge gezogen, und Koller begann allmählich, sein Tempo zu erhöhen. Die anderen hielten eine Zeit lang mit, als Koller aber noch schneller wurde und zu überholen begann, ließen sie sich zurückfallen. Es liefen 7 Läufer in dem Feld und Koller hatte auf dem letzten 300 Metern noch 2 Läufer vor sich. Auf der Zielgeraden gab Koller dann alles, was in ihm steckte und überholte auch tatsächlich die Läufer, die noch vor ihm waren, er lief als Erster durchs Ziel und kam ganz langsam wieder zur Ruhe.
Es dauerte lange, bis sich seine Atemfrequenz soweit normalisiert hatte, dass er wieder reden konnte und ansprechbar war. 03:08 sagte ihm der Dozent, und Koller freute sich riesig über seinen Erfolg. Damit hatte er seine Leistung aus der Oberstufe noch übertroffen, und er führte seinen Erfolg auf seine neuen Spikes zurück. Am nächsten Tag würde er die 400 Meter laufen und hoffentlich ebenso erfolgreich sein.
Um die Mittagszeit hörten sie auf dem Sportplatz auf und gingen in die Umkleiden. Als sich Koller soweit umgezogen hatte, ging er mit seinen Kommilitonen in die Mensa, um zu Mittag zu essen. Die Mensa war auch nicht voll, weil gerade die Mittagspause angebrochen war, und die Studenten aus ihren Seminaren noch nicht eingetroffen waren. Koller ging mit seinem Sportkollegen Pascal an die Essensausgabe und ließ sich ein Hauptgericht mit Suppe, Kartoffeln, Schnitzel, Salat und Schokoladenpudding geben. Pascal nahm einen Bohneneintopf und setzte sich mit Koller an einen freien Tisch.
„Hast Du Dir eigentlich einmal überlegt, welchen Schaden Du der Umwelt mit Deinem Schnitzel zufügst?“, fragte Pascal plötzlich vorwurfsvoll. Koller war regelrecht zusammengezuckt, als er mit diesem Vorwurf konfrontiert wurde:
„Nein!“, antwortete er.
„Eben, allein der Futtermittel- und Energieverbrauch sind immens in der Schweinezucht, es wird viel Ackerland gebraucht und der CO2-Ausstoß ist hoch, die Gewässer werden mit Stickstoff und Phosphor belastet, aber ich will Dir nicht den Geschmack verderben!“, ergänzte Pascal. Koller fühlte sich schon angegriffen, ließ aber Pascals Vorwurf an sich abprallen und aß sein Essen mit Heißhunger. Nach und nach füllte sich die Mensa, und Koller blickte um sich herum auf die Teller: er sah nur wenige Fleischmahlzeiten auf den Tellern seiner Kommilitonen. Stattdessen hatten sich viele den Eintopf genommen und auf Fleisch völlig verzichtet. Niemand behelligte Koller aber, und er verspeiste genüsslich sein Essen.
Nach der Mittagspause sprach Koller Pascal an und und fragte ihn:
„Bist Du ein Umweltaktivist?“
„Ich achte auf umweltgerechtes Verhalten nicht nur beim Essen, das betrifft im Grunde alle Lebensbereiche!“, antwortete Pascal. Koller fragte nicht nach, denn es war Zeit, sich auf den Weg zum Sportseminar zu machen, das von dem Dozenten vom Vormittag gegeben würde, Schwerpunkt würde der Begriff „Schnellkraft“ sein. Pascal hatte Koller begleitet und sich neben ihn gesetzt. Nach dem Seminar bot Koller Pascal an, mit ihm auf einen Kaffee in seine Wohnung zu kommen. Pascal ließ sich von Koller beschreiben, wo er wohnte und fuhr mit seinem Fahrrad dorthin. Er kam tatsächlich vor Koller dort an und schloss vor der Haustür sein Fahrrad ab.
Sie gingen beide in den 1. Stock, wo Kollers Wohnung lag, und Koller bot Pascal im Wohnzimmer einen Platz an, während er in der Küche Kaffee kochte.
„Wie fandst Du unseren 1000-m-Lauf heute Morgen?“, fragte Koller Pascal.
„Ich habe Dich genau beobachtet, wie Du Dir Deinen Lauf eingeteilt und hinterher alle geschlagen hast, das fand ich sehr beeindruckend!“
„Ich war schon in der Schule ein guter Läufer und habe mir vor Aufnahme des Studiums meine Spikes gekauft.“
„Ich bin mit meinen alten Latschen gerannt und war mit meinen 3:14 gar nicht so schlecht!“, sagte Pascal.
„Erzähl doch mal, was Du so alles in Umweltfragen unternimmst“, forderte Koller Pascal auf.
„Du kannst ja am Abend zu unserem Treffen kommen, das heute bei mir stattfindet, wir treffen uns bei mir im Wohnheim und suchen uns einen Raum, der groß genug für uns alle ist, da wirst Du Antworten auf Deine Fragen bekommen.“ Koller sagte sein Kommen zu und ließ sich von Pascal beschreiben, wie er mit dem Bus zu ihm kommen könnte. Nach einer Dreiviertelstunde, 2 Tassen Kaffee und drei Plätzchen war Pascal wieder verschwunden, und Koller dachte über ihn nach. Er setzte sich dazu in seinen gemütlichen Sessel und ging in sich. Gegen 18.00 h lief er zur Bushaltestelle und fuhr in Richtung Wohnheim, und als er den Bau betreten hatte, stiegen ihm die merkwürdigsten Gerüche in die Nase: da waren asiatische Gewürze aber auch Marihuana, und Koller musste sich erst einmal an die Gerüche gewöhnen. Er hatte Pascals Zimmer schnell gefunden und alle, die da waren, begrüßt.
Pascal stellte Koller vor, und Koller erzählte von sich, dass er im 2. Lehramtssemester wäre und Deutsch und Sport belegt hätte, denn so, wie er das sah, saßen nur Studenten bei Pascal, einige standen auch. Pascal hatte einen Kasten Wasser in die Mitte seines Zimmers gestellt, aus dem sich jeder bedienen konnte. Als sich ungefähr 12 Studenten bei Pascal versammelt hatten, eröffnete er den Abend:
„Liebe Freundinnen und Freunde, ich glaube, wir können heute darauf verzichten, uns einen größeren Raum zu suchen, diejenigen, die stehen, lassen sich bitte auf dem Boden nieder. Unser heutiges Treffen dient der Vorbereitung unserer großen Demonstration, die in einer Woche in der Stadt zusammen mit Schülerinnen und Schülern stattfinden soll.“ Koller hinterfragte die großen Demonstrationsziele und bekam dezidierte Antworten auf die Fragen, die er sich vorher überlegt hatte. Begriffe, die sehr häufig genannt wurden, waren Klimawandel, Treibhausgase und Nachhaltigkeit, und Koller stellte fest, dass die Anwesenden ernsthaft bemüht waren, ihre Forderungen nach einer Reduktion klimaschädlicher Einflüsse seitens der Industrie und der Bürger vor die Verantwortlichen zu tragen. Es ging an diesem Abend um Organisatorisches, über die Inhaltlichkeit herrschte einmütiges Einvernehmen. Die 12 Anwesenden verstanden sich als Speerspitzen einer breit gestreuten Bewegung, jeder würde eine Fülle von Mitstreitern repräsentieren, die an der Demonstration teilnahmen.
„Du kommst doch auch, Koller?“, fragte Pascal, und Koller sagte schließlich zu.
Nach 1.5 h war der Abend bei Pascal beendet und Koller fuhr wieder mit dem Bus nach Hause. Er beschloss, sein Verhalten allgemein mehr und mehr auf Umweltbelange abzustellen und besonders beim Essen darauf zu achten, dass er nur Dinge aus nachhaltiger Produktion zu sich nahm.
Am nächsten Tag traf er Pascal in der Umkleide, als sie sich für den 400-m-Lauf umzogen.
„Hallo Pascal, habt Ihr gestern noch lange gemacht, nachdem ich gegangen war?“, fragte Koller.
„Nein“, antwortete Pascal, „die anderen sind kurz nach Dir gegangen. Sie gingen zusammen auf den Platz, wo sie der Dozent begrüßte und sie aufforderte, sich warm zu machen, weil kurz danach die Läufe beginnen sollten. Nach und nach trafen die Studenten ein und als alle da waren, begann eine ausgedehnte Aufwärmphase, damit auch bei jedem der Kreislauf stimmte und die Muskeln ordentlich durchblutet wurden.
400 Meter, Koller musste wieder an seine Schulzeit denken und hatte noch exakt die 51.30´´ im Gedächtnis, mit seinen neuen Spikes sollte er die doch übertrumpfen! Auch Pascal hatte dieses Mal Spikes an, allerdings noch seine alten:
„Die 400 Meter laufe ich in meinen Spikes, ich habe sie noch aus meiner Schulzeit.“
Koller und Pascal wurden für das gleiche Lauffeld eingeteilt, und als die Reihe an ihnen war, begaben sie sich in die Nähe ihrer Startblöcke, sie sprangen hoch und streckten sich. Es waren 6 Startblöcke auf der Laufbahn befestigt, und jeder bekam Gelegenheit, seinen Startblock genau auf seine Bedürfnisse einzustellen. Als das geschehen war, stellte sich der Dozent an den Rand der Laufbahn in Position und gab das Kommando:
„Auf die Plätze...“, und die Läufer gingen jeder zu seinem Startblock. Koller und Pascal liefen nebeneinander und hatten die Laufbahnen 3 und 4. Sie bückten sich in den Startblock und streckten die Beine, bevor sie die Füße vor die Fußstützen stellten. Sie stützten ihre Oberkörper auf ihre Hände, die exakt mit den Mittelhandknochen auf der Startlinie lagen. Alle Läufer ließen in dieser Position noch einmal ihre Muskeln spielen, als der Dozent das Kommando „fertig!“ gab und dabei genau darauf achtete, dass auch keine Hand über die Linie zeigte. Besonders achtete er aber darauf, dass niemand schon bei diesem Kommando loslief. Die Läufer hatten sich halb aufgerichtet und waren in voller Anspannung. Als der Startschuss fiel, richteten sich alle Läufer schlagartig auf und rannten mit aller Kraft los.
Plötzlich fiel Pascal um, er fiel auf die Bahn von Koller, und der musste einen Ausfallschritt machen, um nicht über Pascal zu fallen. Der Dozent feuerte sofort einen zweiten Schuss ab, um das Rennen zu beenden und zu dem gestürzten Pascal zu gehen. Als sie mit allen um Pascal herumstanden, sahen sie, wie ihm aus einer Brustwunde Blut auf sein Sporthemd lief, und niemand hatte zunächst eine Erklärung für die Wunde.
Pascal regte sich nicht, und wie der Dozent, der sofort Erste-Hilfe-Maßnahmen eingeleitet hatte, feststellte, war er tot. Eine genaue Inspektion der Wunde ergab, dass Pascal von einem Schuss getroffen worden war, und der Dozent forderte alle auf, umgehend den Sportplatz zu verlassen, Er nahm sein Handy und rief die Mordkommission an, und kurze Zweit später trafen Hauptkommissar Thieme und Oberkommissar Kösters ein, um sich den Toten und den Tatort anzusehen.
Pascal lag auf der Laufbahn, ohne dass ihn jemand bewegt hätte. Nach ungefähr 20 Minuten trafen die Männer von der KTU ein, die KHK Thieme angefordert hatte. Der ebenfalls herbeigerufene Notarzt stellte Pascals Tod fest und richtete ihn halb auf und auf dem Rücken, und da sahen die Beamten den Austrittskanal des Geschosses, das Pascal getroffen hatte. Sie verfolgten ganz grob den Geschossverlauf und kamen zu dem Ergebnis, dass der Schuss von dem Hang in Laufbahnverlängerung abgegeben worden sein musste, und die Männer von der KTU, der KHK und der KOK liefen dorthin.
Das gesamte Stadion war von dem grasbewachsenen Hang umgeben, und als die Beamten am Zielort angelangt waren, sahen sie in dem relativ hoch stehenden Gras eine Stelle, an der eine Person gelegen haben musste, zweifellos der Schütze. Er hatte offenbar aus einem Gewehr mit Schalldämpfer geschossen und sein Ziel nicht verfehlt.
Pascals Leiche wurde von den inzwischen eingetroffenen Notfallsanitätern zu ihrem Wagen gebracht und zur Forensik gefahren. Die Beamten untersuchten den Ort im Hang, von dem aus der Mörder geschossen hatte, genauer, weil sie die Geschosshülse finden wollten. Es dauerte dann auch nicht mehr lange, und nachdem alle vorsichtig die Grashalme auseinander gebogen hatten, sah der KHK die Geschosshülse als Erster. Auf ihr eingestanzt war das Geschosskaliber 7.62x55 mm R und KHK Thieme übergab sie dem Chef der KTU, und das war Dieter Schulze, ein sehr erfahrener Kriminalbeamter, der sich sehr gut unter den gebräuchlichen Waffen auskannte. KHK Thieme kannte Dieter Schulze schon seit Beginn seiner Dienstzeit in Mahnstadt. Sie hatten damals beide auf dem Präsidium in Mahnstadt angefangen und sich über ihre Arbeit gegenseitig schnell schätzen gelernt. Zu der Zeit waren sie beide jung und drahtig und gingen zusammen zum Polizeisport.
35 Jahre später waren sie beleibt, KHK Thieme hatte einen sichtbaren Bauch, und er trug ein Kränzchen, er war von mittelgroßer Statur und sehr beweglich. Dieter Schulze, ebenfalls KHK, war auch beleibt, hatte aber noch volles schwarzes Haar. Er war von großem Wuchs und ebenfalls sportlich geblieben.
KOK Kösters war gut 10 Jahre jünger als die beiden anderen, und das sah man ihm an, er war gut gebaut, schlank und hatte volles blondes Haar. Sportlich konnte er seinen beiden Kollegen etwas vormachen, beruflich lag die Erfahrung aber eindeutig auf Seiten der beiden Alten.
Dieter Schulze besah sich die Geschosshülse an und glaubte schon zu diesem Zeitpunkt sagen zu können, dass es sich bei der Waffe um ein „Dragunow“- Scharfschützengewehr gehandelt haben musste, endgültig festlegen wollte er sich aber erst nach einer sorgfältigen Laboruntersuchung.
Alle Beamten verließen den Hang wieder und gingen zum Startblock von Pascal, um von dort aus die Bahn des Geschosses einzuschätzen und es zu suchen. Die Suche nach dem Geschoss stellte sich als nicht so schwierig heraus, weil in einiger Entfernung die Weitsprunggrube lag und das Geschoss wohl in den Sand eingeschlagen war. Da der Sand sehr sorgfältig geharkt war, konnte man die Einschlagstelle genau erkennen. An dieser Stelle gruben die KTU-Männer ein bisschen und fanden so tatsächlich das verformte Geschoss. Sie nahmen die Geschosshülse und das Geschoss und fuhren zu ihrem Labor, um beides zu untersuchen.
KHK Thieme und KOK Kösters gingen zusammen zur Umkleide, in der sie die Läufer fanden. Der Schreck stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
„Wer von Ihnen kann uns etwas zu Pascal Brandstätter erzählen?“, fragte der KHK. Nachdem alle geschwiegen hatten und auch der Dozent nichts sagen konnte, er kannte Pascal ja auch erst von den beiden Laufveranstaltungen und aus seinen zwei Sportseminarsitzungen, trat Koller vor und sagte:
„Ich habe Pascal hier beim Laufen kennengelernt, und war mit ihm manchmal in der Mensa essen. Er war einmal auf eine Tasse Kaffee bei mir in der Wohnung und ich habe ihn in seinem Wohnheim besucht. Dort trafen wir uns mit anderen Kommilitonen, die ich aber nicht kannte, um gemeinsam die Demonstration zum Klimaschutz vorzubereiten, die in einer Woche in Mahnstadt stattfinden soll.“
„Ist Ihnen an Pascal etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte KHK Thieme.
„Nein, er hat sich ganz normal benommen, auffällig war höchstens, dass er es mit seiner Haltung zum Umweltschutz wohl sehr genau nahm: er hat mich in der Mensa darauf aufmerksam gemacht, wie umweltschädlich das Schnitzel wäre, das ich auf meinem Teller hatte. Er war unter den ganzen Umweltaktivisten wohl eine führende Person.“
Bitte stehen Sie uns doch für weitere Auskünfte zur Verfügung, wir melden uns wieder bei Ihnen!“, sagte der KHK.
Die beiden Kommissare fuhren zuerst zum Präsidium, um den Dienstwagen auf den Parkplatz zu stellen und von dort mit ihren Fahrrädern zu sich nach Hause. Sie wohnten in einer Einfamilienhaussiedlung in Mahnstadt dicht beieinander und machten vieles gemeinsam. Ihre Kinder besuchten das gleiche Gymnasium, auf dem auch Koller früher war. Die Kinder von KHK Thieme besuchten die Abschlussstufe und die von KOK Kösters waren in der 5. und 6. Klasse. Die Vornamen der Thieme-Kinder waren Tom und Lena, 17 und 18 Jahre alt und die Kösters-Kinder hießen Benno und Kalle, sie waren 11 und 12 Jahre alt. KHK Thieme hieß Bernd und seine Frau Rosi und KOK Kösters hieß Manfred und seine Frau Astrid. Die Frauen trieben zusammen Sport, dazu gingen sie in das Fitnessstudio, das nahebei lag. Sehr oft grillten die Familien sommertags zusammen und trafen sich dazu wechselseitig mal bei der einen und mal bei der anderen Familie. Oder sie machten Fahrradausflüge in die nähere Umgebung und ließen sich in einem Ausflugslokal nieder, wo sie aßen und tranken.
Nicht weit entfernt lag ein chinesisches Restaurant, das sie schon auch besuchten, aber öfter als einmal in zwei Monaten wollte niemand chinesisch essen gehen.
Bernd Thieme war ursprünglich aus Süddeutschland und nach seiner Polizeiausbildung nach Mahnstadt gekommen. Dort hatte er ein halbes Jahr später Rosi kennengelernt, die Erzieherin war. Sie haben dann geheiratet und ihre beiden Kinder in die Welt gesetzt.
Bei Manfred Kösters lief es ähnlich, wenn auch zeitversetzt. Er war aus der Gegend und kam nach seiner Ausbildung auch nach Mahnstadt. Er lernte Astrid kennen, sie war Sekretärin in einer Maschinenfabrik, sie heirateten und bekamen kurze Zeit später ihre Kinder Benno und Kalle. Manfred wurde Bernd zugeteilt und die beiden verstanden sich von Anfang an. Sie verrichteten die Aufträge, die ihnen ihr Chef zuteilte, sehr akribisch und waren in der Regel erfolgreich in ihrer Arbeit.
Das Präsidium von Mahnstadt lag 10 Minuten mit dem Fahrrad von der Eigenheimsiedlung entfernt, und die beiden ließen es sich nicht nehmen, an jedem Morgen mit ihren Rädern zur Arbeit zu fahren, außer bei sehr schlechtem Wetter, da nahmen sie den Wagen.
„Kommt doch gleich noch zu uns!“, sagte KHK Thieme zu seinem Kollegen, „wir können auf unserer Terrasse noch etwas trinken und über den Fall sprechen!“
„Ist gut, bis gleich!“ Beide fuhren sie zu sich nach Hause und aßen zu Abend. Anschließend gingen Manfred und Astrid mit ihren Kindern zu Thiemes und setzten sich zu ihnen auf die Terrasse. Benno und Kalle hatten ihren Ball dabei und spielten in Thiemes Garten.
„Was sagst Du zu dem Mordfall?“, fragte der KHK.
„Es ist noch viel zu früh, eine Einschätzung vorzunehmen, alles, was wir wissen ist, dass Pascal Brandstätter Student war und der Umweltszene angehörte.“
„Und was sagst Du zu dem Zeugen, wie war noch mal sein Name, Andreas Birtler?“
„Da ist wenig Verwertbares, der Birtler kannte den Brandstätter ja selbst erst seit ein paar Tagen.“
„Lass uns Morgen einmal zu KHK Schulze gehen, vielleicht haben die in der KTU schon etwas für uns herausbekommen!“
Die beiden Kommissare saßen wie schon sooft mit ihren Frauen zusammen und verbrachten einen gemütlichen Abend. KHK Thieme hatte für die Frauen kalten Weißwein geholt, den Kindern hatte er Limo besorgt und KOK Kösters und er tranken Bier, ebenfalls kalt. Sie redeten nicht weiter über ihren Fall und ließen die Frauen erzählen, wie sie ihre Zeit im Fitnessstudio verbracht hatten.
In Wirklichkeit ging aber beiden Kommissaren ihr Fall durch den Kopf, und sie überlegten, wer Pascal erschossen haben könnte. Sie ließen den Abend wegen der Kinder nicht allzu lang werden, und Kösters gingen dann zusammen nach Hause. KHK Thieme reif seinem Kollegen noch hinterher:
„Morgen an der gleichen Stelle!“, und er meinte den Treffpunkt, an dem sie sich immer mit ihren Rädern in aller Frühe sahen.
Ihr erster Gang führte sie am nächsten Morgen im Präsidium zu KHK Schulze von der KTU, und sie hatten Glück, ihn in seinem Dienstzimmer anzutreffen:
„Guten Morgen Dieter, hast Du etwas für uns?“, fragte der KHK Thieme.
„Wir haben gestern noch den Rest des Tages damit verbracht, die Geschosshülse und das Geschoss zu untersuchen, und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei der Waffe um ein „Dragunow“-Scharfschützengewehr gehandelt haben muss. Dieses Gewehr ist 1963 in der Sowjetarmee eingeführt worden und deshalb weit verbreitet, alle Warschauer-Pakt-Staaten führten es ebenfalls. Auf dem Schwarzmarkt dürfte es mit einiger Mühe zu bekommen sein“, führte KHK Schulze aus.
„Wir danken Dir sehr herzlich, Dieter“, sagte KHK Thieme und ging mit seinem Kollegen zu ihrem Dienstzimmer.
Sie hatten die Tür noch nicht ganz hinter sich ins Schloss gezogen, als ihr Chef, Kriminalrat Demel, erschien:
„Na., meine Herren, was gibt es Neues im Mordfall Brandstätter, die Presse rückt mir auf den Pelz und will Futter!“
„Lieber Herr Kriminalrat, der Fall ist erst einen Tag alt, wie sollen wir da groß mit Neuigkeiten aufwarten, immerhin haben wir von der KTU erfahren, dass die Waffe ein „Dragunow“-Scharfschützengewehr gewesen war“, antwortete der Hauptkommissar.
„Na bitte, das ist doch immerhin etwas!“, sagte der Kriminalrat und war wieder verschwunden.
„Das ist die Presse“, rief KOK Kösters aus, „ich glaube, der sonnt sich in den Meldungen, in denen er als Dienstherr erwähnt wird!“ Aber KHK Thieme hielt seine Hand über seine Chef und musste an den Vorfall denken, bei dem der Kriminalrat besonders positiv in Erscheinung getreten war, das war zwar schon beinahe 10 Jahre her, es hatte sich bei ihm aber doch eingeprägt. Damals stand ein inzwischen pensionierter Kollege unter Korruptionsverdacht und war vom Dienst suspendiert worden. Kriminalrat Demel hatte sich für seinen Mitarbeiter stark gemacht und war für ihn eingetreten, besonders vor der Presse. Dank seines vehementen Einsatzes löste sich der Korruptionsverdacht in Luft auf, und der Mitarbeiter wurde wieder in den Dienst übernommen. Kriminalrat Demel wurde daraufhin von den Mitarbeitern hoch angesehen, und niemand von denen, die damals schon dabei waren, ließ etwas auf ihn kommen.
„Du warst damals noch nicht bei uns, Manfred, Du hättest sehen sollen, mit welcher Energie sich Demel für den Kollegen eingesetzt hat, er war felsenfest davon überzeugt, dass an dem Korruptionsvorwurf nichts dran war, und er focht seine Sache bis zum Innenminister durch, von dem er eine Belobigung bekam. Seitdem halte ich große Stücke auf ihn!“, sagte der Hauptkommissar.
„Wie wollen wir jetzt weiter vorgehen?“, fragte KOK Kösters.
„Wir müssen im Umfeld von Pascal Brandstätter weiter untersuchen und ehemalige Freunde von ihm befragen, ob sie etwas wissen, das uns weiterhilft. Pascal war Hamburger, wir müssen dorthin fahren und zunächst seine Eltern befragen, auch ehemalige Schulkollegen. Sicher gibt es auch in Hamburg irgendwelche Umweltgruppen, bei denen er aktiv gewesen war. Vielleicht lässt sich ein Personenkreis identifizieren, der in starker Gegnerschaft zu den Umweltaktivitäten Pascals gestanden hat“, sagte der KHK.
Doch zunächst versuchten die Kommissare, an der Hochschule fündig zu werden und begaben sich am nächsten Tag dorthin. Sie bemerkten in den Fluren der Universität eine gedrückte Stimmung. Sie hatten noch eine Stunde, bis alle in die Mensa stürmen würden und nutzten die Zeit, um mit den wenigen Studenten zu sprechen, die schon in der Mensa saßen:
„Guten Morgen, wir sind von der Mordkommission und ermittel in der Sache Pascal Brandstätter, können Sie uns irgendetwas dazu sagen?“, fragte KOK Kösters den ersten Studenten, auf den sie in der Mensa trafen.
„Ja, ich komme auch aus Hamburg und war mit Pascal sogar auf der gleichen Schule und in der gleichen Stufe. Pascal war schon auf der Schule ein verbissener Kämpfer für die Umwelt, ich weiß nicht, ob der Mord an ihm damit zusammenhängt.“
„Reden Sie weiter“, forderte der KHK.
„Einmal ging er über den Schulhof und überprüfte alle Papierkörbe auf Plastikinhalt. Er nahm das Plastik heraus und legte es neben den Papierkorb auf den Boden neben Fotos von verendeten Seetieren, die das im Meer verklappte Plastik gefressen hatten. Als ein Schüler der Unterstufe seine Butterbrottüte aus Kunststoff in den Papierkorb werfen wollte, den Pascal gerade entleert hatte, wäre es beinahe zum Eklat gekommen, und einige meiner Schulkollegen haben Pascal zurückgehalten, als er den Schüler verprügeln wollte“, sagte der Bekannte von Pascal.
„Geben Sie uns doch bitte Ihren Namen und ihre Anschrift in Hamburg!“, verlangte der KOK.
Sind Ihnen weitere solcher erwähnenswerter Ereignisse mit Pascal bekannt?“
„Ja, er war auf einer Demonstration gegen den CO2-Ausstoß der vielen Autos und so mancher Hamburger Fabrik, als sich Pascal mit einem Polizisten anlegte und den Kürzeren zog, er bekam den Schlagstock zu spüren. Von dem Zeitpunkt an trug er immer seinen Fahrradhelm bei Demonstrationen auf dem Kopf.“
Inzwischen kamen die Studenten aus den Seminaren in die Mensa und stellten sich an der Essensausgabe an. Die Polizisten gingen zu der Warteschlange und sprachen einzelne Studenten an, ob sie Pascal gekannt haben. Einige wenige kamen aus Hamburg und kannten Pascal, wenn überhaupt, dann nur flüchtig. Die Beamten trafen auch auf Koller, der ihnen aber schon alles gesagt hatte, was er wusste.
Sie gingen zu dem Studenten zurück, den sie zuerst gefragt hatten, er hieß Timo Bender und sagten ihm, dass er sich zur Verfügung halten sollte.
Dann fuhren sie zum Präsidium zurück und gingen in ihr Dienstzimmer.
„Was haben wir von den Studenten erfahren?“, fragte der Hauptkommissar seinen Kollegen.
„Pascal war jemand, der durchaus auch handgreiflich werden konnte, wenn es um die Durchsetzung seiner Ziele ging, man kann sich schon vorstellen, wie er auf Demonstrationen aktiv geworden ist.“
„Deine letzte Äußerung gehört in das Reich der Fantasie, wir wissen nichts, außer der Verlautbarung von Bender, was das Verhalten Pascals auf Demonstrationen anbelangt!“
„Ja, ja, schon gut, wir werden uns die Demonstration in Mahnstadt ansehen!“
Koller war in den Folgetagen sichtlich angeschlagen, und obwohl er Pascal nur oberflächlich gekannt hatte, hatte er doch eine freundschaftliche Beziehung zu ihm aufgebaut, und Pascal hatte es geschafft, aus ihm einen umweltbewussten Menschen zu machen. Er hatte auch schon ein paar kleine Dinge in seinem Leben geändert: er nahm im Supermarkt keine Plastiktüten mehr, sondern benutzte Stoffbeutel, er achtete darauf, in der Mensa nach Möglichkeit kein Fleisch mehr zu essen, es wurden dort schließlich auch andere schmackhafte Gerichte angeboten, er legte weite Strecken nur noch mit dem Bus zurück, wie er das schon immer tat und benutzte für die kürzeren Wege sein Fahrrad, und, was das Wichtigste war, er achtete auf seinen Energieverbrauch, also Heizung und Strom.
Wenn er es sich recht überlegte, beging er kaum Umweltfrevel, wenn er da an andere dachte wie zum Beispiel seine Eltern oder deren Freunde!
Pascals Leichnam wurde, nachdem er in der Forensik untersucht worden war, in seine Heimatstadt Hamburg überführt. Seine Eltern, besonders seine Mutter, kamen lange nicht über Pascals Tod hinweg. Auf seiner Beerdigung weinte sie heftig und musste von ihrem Mann, Pascals Vater, gestützt werden.
Koller hatte eine Zeit lang überlegt, auch nach Hamburg auf die Beerdigung zu fahren, es aber dann gelassen, denn, wie gesagt, er kannte Pascal ja erst seit ein paar Tagen und wäre auf der Beerdigung wie ein Fremder erschienen.
Bei Kösters zu Hause überlegten die Kommissare, wie sie am besten nach Hamburg kämen, und sie favorisierten den Zug, und in Hamburg nähmen sie öffentliche Verkehrsmittel. Sie saßen mit ihren Frauen am Grill, Astrid hatte Vegetarisches für den Grill besorgt, und wer unbedingt etwas Fleischähnliches haben wollte, bekam Tofu.
Tom und Lena wussten sich natürlich selbst zu beschäftigen und trafen sich mit Freunden in der Kneipe bzw. gingen mit Freundinnen ins Kino. Benno und Kalle schwirrten im Haus herum oder sahen fern.
„Ich denke, dass wir Morgen früh den Zug nach Hamburg nehmen sollten und dann am Vormittag da sind“, sagte der Hauptkommissar.
„Ich hole uns eben im Internet die Fahrkarten!“, sagte der KOK.
„Wann werdet Ihr denn aus Hamburg wieder zurück sein?“, fragte Rosi und ihr Mann antwortete:
„Wir werden einmal in Hamburg übernachten und dann übermorgen wieder hier sein, ich rufe Dich aber von Hamburg aus an und teile Dir mit, wann genau wir hier sein werden!“
Benno und Kalle kamen nach draußen und hatten Langeweile. Astrid gab ihnen eine Limo und Manfred sagte mit einem Mal:
„Wenn Ihr ein kleines Fußballfeldnd auf dem Rasen absteckt, spielen Herr Thieme und ich gegen Euch beide ein Match!“ Als Benno und Kalle das hörten, waren sie auf der Stelle wie ausgewechselt und rannten los, um etwas Geeignetes für die Tore zu finden und steckten am Ende zwei kleine Tore und die Spielfeldecken mit Steinen ab.
Die Männer standen auf und machten sich kurz locker, dann sagte Manfred:
„2x10 Minuten ohne die üblichen Fußballregeln“, und los ging´s. Die Jungen waren den Alten läuferisch stark überlegen, sie waren aber nicht so ballsicher. Wenn die Alten einmal den Ball hatten, waren sie nur sehr schwer von ihm zu trennen, gegen Ende der 1. Halbzeit schossen sie das 1. Tor. In der 2. Halbzeit merkte man dann aber doch, dass den Alten die Luft fehlte, die Jungen erhielten die Chance zum Ausgleich und schossen das 1:1. Die Alten standen beide wie die Mumien und die Jungen umspielten sie, kurze Zeit später gelang ihnen das 2:1, und das war der Endstand. Völlig ausgepumpt gratulierten die Altern den Jungen zu ihrem Sieg und gingen wieder zum Grill. Wo sie erst einmal einen großen Schluck Bier nahmen, die Kinder tranken eine Limo
Dann nahmen sie sich von dem Grillgemüse und dem Tofu, von dem Salat, dem Baguette und den Soßen und verhielten sich ganz still. Während sie aßen, mussten sie sich von ihren Frauen anhören, wie schwach sie doch gespielt hätten und nahmen das zur Kenntnis.
Gegen 22.30 h beendeten sie den Abend und Thiemes gingen nach Hause, nicht ohne dass der Hauptkommissar den Jungen noch zum Abschied gesagt hätte:
„Das nächste Mal geht Ihr so etwas von unter, Ihr werdet sehen!“ Die Jungen hatten dafür nur ein Grinsen übrig und erwiderten:
„Training ist das halbe Leben!“
Am nächsten Morgen trafen sich die Kommissare mit ihren Rädern an der üblichen Stelle und fuhren zum Präsidium. Ihre Dienstreise hatte ihnen ihr Chef genehmigt, und sie fuhren mit dem Bus zum Hauptbahnhof. Pünktlich um 9.06 h kam ihr ICE und sie stiegen ein und nahmen auf ihren reservierten Sitzen Platz. Am Hamburger Hauptbahnhof stiegen sie in die U-Bahn und fuhren bis „Sternschanze“.
Von dort mussten sie ungefähr 600 Meter laufen bis sie in die „Langenfelder Straße“ kamen, in der Brandstätters wohnten. In diesem Augenblick hatten die Kommissare ihren Wagen herbeigesehnt, aber sie waren zu Fuß, und das war nun einmal nicht zu ändern. In der „Langenfelder Straße“ standen lauter Einfamilienreihenhäuser, das Viertel war gutbürgerlich.
Die beiden Kommissare waren bei Brandstätters angemeldet und der KHK schellte bei ihnen. Frau Barndstätter öffnete die Tür, sie war in schwarz gekleidet und in sich gekehrt, sie bat die beiden Polizisten ins Haus.
„Ich möchte Ihnen unser aufrichtig gemeintes und tiefes Beileid aussprechen, Frau Brandstätter“, sagte der Hauptkommissar. Sie bedankte sich und wischte sich mit einem Taschentuch eine Träne aus ihrem Gesicht.
„Bitte nehmen sie doch Platz, ich habe Kaffee für Sie fertig!“, sagte sie.
„Machen Sie sich bloß keine Umstände, Frau Brandstätter, aber wenn Sie den Kaffee schon fertig haben, nehmen wir jeder eine Tasse.“ Frau Brandstätter hatte auch selbstgebackenen Apfelkuchen hingestellt und bat die beiden Polizisten, sich zu bedienen.
„Frau Brandstätter, wie Sie sich sicher denken können, sind wir nach Hamburg gekommen, um den Mord an ihrem Sohn aufzuklären, erzählen Sie uns doch einmal von seinen Freunden oder seinem schulischen Umfeld!“
„Wenn Pascal früher aus der Schule nach Hause kam, erledigte er schnell seine Hausaufgaben und nutzte dann die Zeit, sich um Umweltbelange zu kümmern, da machten auch einige Freunde aus seinem Gymnasium mit. Sie trafen sich mal bei uns und mal bei den anderen. Was sie im Einzelnen getrieben haben, das haben mein Mann und ich gar nicht mitbekommen, alles, was wir wussten war, dass es um die Vorbereitung und Durchführung von Demonstrationen zum Klimaschutz ging. Einmal rief die Polizei bei uns an, wir sollten unseren Sohn doch auf der Wache abholen, er wäre erwischt worden, wie er mit seinen Freunden in ein Kraftwerk eingedrungen war, der Nachtwächter hätte sie entdeckt.“
„Was hat er gesagt, als Sie ihn zur Rede gestellt hatten?“, fragte der KHK.
„Das Kraftwerk wäre eins von den Alten und würde mit Kohle betrieben, deshalb gäbe es dort einen nicht vertretbaren Ausstoß an CO2.“
„Glauben Sie, dass die Umweltgruppe von Pascal einen Sabotageakt durchgeführt hätte?“
„Sie meinen Anschläge, Zerstörungen?“
„Ja, irgendetwas in der Art“, antwortete der KHK.
„Mir ist so etwas nie zu Ohren gekommen, Pascal hatte nie viel über seine Aktivitäten geredet.“
Dann kam Herr Brandstätter von der Arbeit nach Hause, begrüßte die Polizisten und setzte sich zu ihnen.
„Wir möchten auch Ihnen unser Beileid aussprechen, Herr Brandstätter.“
„Danke.“
Herr Brandstätter blickte ernst um sich und stand dann auf, um einen Cognac anzubieten. Er schenkte 3 Cognacschwenker voll, seine Frau wollte keinen, und er stieß mit den Polizisten an.
„Ihre Frau hat uns schon einiges über Ihren Sohn erzählt, vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein!“
„Hast Du erzählt, wie wir Pascal einmal von der Wache abholen mussten?“
„Ja, das habe ich.“
„Die Jungen waren in ein Kraftwerk eingedrungen, das muss man sich einmal vorstellen!“
„Wir haben zu Hause an unserer Universität nur Gutes über Pascal gehört, können Sie uns bitte die Wache nennen, auf die die Jungen gebracht worden waren?“ Herr Brandstätter holte einen Stift und einen Zettel und schrieb den Beamten den Namen der Wache auf.
„Sie können dorthin laufen, das dauert höchstens 10 Minuten!“, sagte er. Die Beamten wussten, dass Pascal einen kleinen Bruder hatte, der im Moment nicht zu Hause war, und KOK Kösters sagte:
„Wir wissen, dass Sie noch einen jüngeren Sohn haben, lassen Sie ihm so viel Liebe zukommen, wie Sie können! Wir danken Ihnen für ihre Auskünfte und für Kaffee und Kuchen und wollen Sie nicht länger belästigen,“ sagte KHK Thieme, und die Polizisten standen auf und verabschiedeten sich von Frau und Herrn Brandstätter, um sich auf den Weg zu der Wache zu begeben.
Als sie durch das Viertel liefen, mussten beide Beamten daran denken, wie furchtbar so ein Schlag für eine Familie sein musste, wie ihn Brandstätters zu erdulden hatten.
Sie schellten an der Wache, und nachdem sie von der Video-Kamera aufgenommen worden waren, die am Eingang fixiert war, traten sie ein und gaben sich zu erkennen. Sofort trat der Dienststellenleiter in den Raum und begrüßte seine Kollegen aus Mahnstadt, er bat sie in sein Büro und bot ihnen einen Kaffee an.
„Ihr wollt den Vorfall um die jungen Umweltaktivisten haben, die in das Kraftwerk eingedrungen sind?“, fragte er die beiden Kommissare.
„Wir kommen besonders wegen Pascal Brandstätter, der bei uns studiert hat und erschossen worden ist“, sagte KOK Kösters.
„Du meine Güte, erschossen, ich hole nur eben die Akte“, sagte der Dienststellenleiter. Nachdem er den Aktenordner vor sich gelegt und ihn aufgeschlagen hatte, stieß er gleich auf den Namen Pascal Brandstätter und sagte:
„Pascal Brandstätter war der Anführer der Umweltgruppe, die man im Kraftwerk festgenommen hatte, er sagte auf Befragen, dass das Kraftwerk zu den größten Umweltverschmutzern zählt, die es in Hamburg gibt. Auf meine Frage, warum, antwortete er: in Deutschland werde mehr als 50% des Stroms durch Verbrennen von Kohle erzeugt, was zu einem CO2-Ausstoß von Millionen von Tonnen führe, CO2 wäre aber das Treibhausgas, das für den Klimawandel verantwortlich sei. Ich fragte ihn, ob seine Gruppe Sabotageakte geplant hätte, daraufhin schwieg Pascal, und wir ließen jeden Einzelnen von seinen Eltern abholen.“
„Wo liegt das Kraftwerk?“ Der Dienststellenleiter ging mit seinen Kollegen zu einer Wandkarte und zeigte ihnen die Lage des Kraftwerks.
„Ich glaube, dass wir Morgen einmal bei dem Kraftwerk vorbeischauen sollten!“, sagte KHK Thieme zu seinem Kollegen.
„Kannst Du uns vielleicht bei der Hotelsuche helfen?“
„Kein Problem“, sagte er Dienststellenleiter und tätigte einige Telefonate, bis er für seine Kollegen ein Dreisternehotel gefunden hatte. Die Beamten aus Mahnstadt dankten ihrem Kollegen für seine Mühe und liefen zu ihrem Hotel. Sie waren nur 2 Kilometer von Sankt Pauli entfernt, und in diese Richtung mussten sie auch laufen.
Der KHK zückte sein Handy und rief Rosi an:
„Rosi, wir sind hier in Hamburg und gerade auf dem Weg in unser Hotel, wir werden Morgen früh noch zu einem Kraftwerk gehen und dann am Nachmittag in einen ICE nach Mahnstadt steigen, ich schätze, dass wir so um 16.00 h zu Hause sein werden, bis dann also!“ KOK Kösters ließ Astrid die gleiche Nachricht zukommen.
Ihr Hotel machte einen guten Eindruck, sie richteten sich in ihrem Zimmer ein und machten ein kurzes Schläfchen. Anschließend gingen sie zu den Landungsbrücken und suchten nach einem Lokal, in dem sie essen und trinken konnten. Sie fanden einen Italiener, bei dem sie draußen sitzen konnten und nahmen beide einen „Insalata della Casa“ und jeder ein großes Bier. Der Salat war wirklich riesig, und sie waren beide im Anschluss satt. Sie unterhielten sich über die Umweltgruppe von Pascal und deren kriminelles Eindringen in das Kraftwerk.
„An welcher Stelle des Kraftwerks hätten Pascal und seine Leute denn einen Sabotageakt begehen können?“, fragte KOK Kösters.
„Auf diese Frage kann uns Morgen sicher der Kraftwerksleiter eine Antwort geben!“, antwortete KHK Thieme.
Am nächsten Morgen gab es in dem Hotel ein herrliches Frühstück, das sich die beiden Polizisten nach draußen bringen ließen, die Temperatur war danach. Nach dem Frühstück machten sie sich auf zum Kraftwerk, das ein Stück außerhalb lag, weshalb sie mit dem Bus fuhren. Sie wurden im Kraftwerk schon erwartet, denn sie hatten sich angemeldet. Der Kraftwerksleiter begrüßte die beiden Polizisten höchstpersönlich und erklärte sich zu einer Kurzführung über das Kraftwerksgelände bereit:
„Meine Herren, ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen und werde Ihnen die wichtigsten Elemente des Kraftwerks zeigen!“ Herr Brock, so der Name des Kraftwerksleiters, kannte natürlich den Grund für das Erscheinen der Polizisten, und er sagte gleich, nachdem sie das Kraftwerksgelände betreten hatten:
„Die Umweltaktivisten sind dort durch eine marode Stelle im Zaun auf das Gelände gelangt, die am nächsten Tag repariert werden sollte“, und die beiden Kommissare sind zu der Stelle gegangen, um sie genau in Augenschein zu nehmen.
„Der Hund eines unserer Nachtwächter hatte angeschlagen und der hat sich gleich mit Verstärkung und einer Taschenlampe auf den Weg gemacht und die sechs Personen gestellt und später der Polizei übergeben.“ Die Beamten ließen ihre Blicke über das Gelände schweifen, und da fielen ihnen gleich der Kühlturm und der Schornstein auf, weil sie sehr hohe Bauten waren. Aus dem Kühlturm stieg weißer Qualm in den Himmel und aus dem Schornstein gräulicher Rauch.
„Sie können von hier aus die fünf wichtigen Einheiten des Kraftwerks erkennen: Kühlturm, Maschinentransformator und Stromübergabe, Generator und Turbine, Kohleverbrennung und Wasserkühlung und den Schornstein“, sagte der Kraftwerksleiter.
„An welcher Stelle wäre denn ein Sabotageakt möglich gewesen?“, fragte der KOK.
„Am einfachsten wäre es für die Umweltaktivisten“, so nannte er die Gruppe um Pascal Brandstätter, „sie hätten sich an Turbine und Generator oder an der Kohlezufuhr zu schaffen gemacht, am Generator hätten sie einen Kurzschluss herbeiführen und die Kohlezufuhr hätten sie unterbrechen können, aber zum Glück haben wir ja wachsame Nachtwächter, die die Eindringlinge festsetzen konnten!“
„Und Sie versorgen ganz Hamburg mit Strom?“, fragte KHK Thieme.
„Der gesamte Strom, den wir erzeugen, geht an die Hamburger Privathaushalte. Jeder Bundesbürger verbraucht im Schnitt 1400 Kw/h, jeder Haushalt durchschnittlich etwa 3300 Kw/h im Jahr.“
„Und warum haben die Umweltaktivisten überhaupt etwas gegen Ihr Kraftwerk?“ Der Blick des Kraftwerkleiters ging zum Schornstein, und er sagte:
„Weil die Kohleverbrennung wie jeder Verbrennnungsprozess einen CO2-Ausstoß bewirkt, und der liegt im Moment bei etwa 1000g/kWh. Es kommen auf diese Weise beträchtliche Mengen an CO2 zu Stande, und wenn man weiß, dass das CO2 das Haupttreibhausgas ist, das verhindert, wenn es in der Erdatmosphäre angelangt ist, dass die Sonnenstrahlen wieder von der Erdoberfläche abprallen, und sich deshalb die Temperatur erhöht, die auf der Erde herrscht, dann erschließt sich einem schon die Kritik der Umweltaktivisten“, sagte der Kraftwerksleiter.
„Aber zu den Kraftwerken kommen ja noch weitere CO2-Erzeuger, ich denke da zum Beispiel an den Straßenverkehr oder die Industriebetriebe und da besonders die Stahlproduktion!“, meinte KHK Thieme.
„Man ist dabei, Verfahren zu entwickeln, das CO2 aufzufangen und in unterirdische oder unterseeische Hohlräume zu pressen, man nennt das Sequestrierung oder englisch CCS: Carbon capture and Storage. Dabei werden drei verschiedene Verfahren unterschieden, das CO2 aus der Kohle zu extrahieren:
die Post-Combustion, die Pre-Combustion und das Oxyfuel-Verfahren, aber ich will Sie nicht mit Fachbegriffen langweilen.“
„Nein, nein, erzählen Sie ruhig weiter, es ist sehr interessant für uns, etwas über CO2-Abscheidungzu erfahren!“, sagte KHK Thieme.
„Bei der Post-Combustion werden die Abgase aus dem Verbrennungsprozess der Kohle mittels einer Gas-Separation abgeschieden. Bei dem Post-Combustion-Verfahren muss mit einem Wirkungsgradrückgang von 8-14 % und einer Erhöhung des Brennstoffbedarfs von 10-40 % gerechnet werden. Beim Pre-Combustion-Verfahren wird der Energieträger Kohle in einem Vergaser zu einem Gemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid umgewandelt. In einem katalytischen Reaktor wird das Kohlenmonoxid in Reaktion mit Wasserdampf zu Kohlendioxid und weiterem Wasserdampf umgewandelt, das CO2 kann dann abgetrennt werden. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass es unter Druck abläuft und deshalb weniger Energiezufuhr benötigt. Vorteile bietet die Wasserstoffgewinnung aus fossilen Brennstoffen, der zum Beispiel in Brennstoffzellen Verwendung finden könnte. Beim Oxyfuel-Verfahren findet eine Verbrennung in fast reinem Sauerstoff statt, das bewirkt geringe Rauchgasmengen und eine hohe CO2-Konzentration (über 70 %). Die Herstellung des reinen Sauerstoffs aus der Luft ist nur mit einem hohen Energieaufwand möglich.
Es gibt noch weitere CO2-Abscheidungsverfahren, die aber erst in 20 oder 30 Jahren ausgereift sein werden“, fuhr Herr Brock fort.
„Herr Brock, wir bedanken uns für Ihre lehrreichen Worte und verabschieden uns hiermit, vielen Dank nochmal!“, sagte der Hauptkommissar und die beiden Polizisten verließen das Kraftwerk wieder und fuhren mit dem Bus zum Hauptbahnhof. Ihr ICE nach Mahnstadt fuhr um 11.45 h, und sie hatten deshalb noch 20 Minuten Zeit. Die verbrachten sie an einem Kaffeestand vor ihrem Bahnsteig und Manfred Kösters sagte:
„Herr Brock hat die ganze Zeit darüber geredet, wie man das CO2 separieren kann, ich finde es aber viel interessanter zu erfahren, wie man die CO2- Entstehung verhindern kann!“ Bernd Thieme gab ihm Recht, verwies aber auf ihren ICE, und die beiden gingen auf ihren Bahnsteig. Im Zug sprachen sie über ihren Hamburg-Aufenthalt und der Hauptkommissar sagte:
„Familie Brandstätter ist wohl sehr durch den Tod ihres Sohnes getroffen, Herr Brandstätter konnte es sich aber nicht verkneifen, sein Missfallen darüber zum Ausdruck zu bringen, dass sein Sohn kriminell geworden und in das Kraftwerk eingebrochen ist.“
„Pascals Mutter war stärker vom Tod ihres Sohnes betroffen!“, sagte der KOK. Sie verbrachten ihre Zeit im Zug damit, über CO2-Vermeidung zu sprechen und Bernd Thieme meinte:
„Ich mit meinem laienhaften Verstand sage, dass wir alle als Konsumenten Änderungen in unserem Energieverbrauch herbeiführen müssen, man muss sich darüber im Klaren sein, wann man jeweils welche Energie verbraucht, denn meistens ist die Bereitstellung der Energie mit CO2 verbunden.“
„Richtig, schon allein unsere Zugfahrt kostet Energie, der Strom, den die Lok verbraucht, kommt aus Kraftwerken, die wiederum viel CO2 emittieren. Wenn man die CO2-Menge auf die Fahrgäste umlegt, relativiert sich der CO2-Verbrauch. Von daher wäre es wenig sinnvoll gewesen, wenn wir zu zweit mit dem PKW nach Hamburg gefahren wären.“
„Eigentlich sind alle Dinge, die wir als Konsumenten verbrauchen, die wir als Ware kaufen, in ihrer Herstellung CO2-Verursacher. Wenn man sich einmal überlegt, dass ein Kraftwerk im Mittel 5 Mio. Tonnen CO2 im Jahr erzeugt, dass es in Deutschland rund 150 Kraftwerke gibt, dass weltweit 1500 Kohlekraftwerke geplant sind, dann kann einem ganz anders werden!“
2 Stunden später waren sie in Mahnstadt und Bernd Thieme rief Rosi an, dass sie sie abholen käme. Nach einer kurzen Begrüßung setzten sie sich bei Thiemes auf die Terrasse, Manfred rief Astrid an, dass sie doch mit den Kindern rüber kommen sollte.
„Na, erzählt mal, was war denn im Hamburg das Interessanteste!“, forderte Rosi. Die beiden Männer sahen sich an und Manfred sagte:
„Darum ging es ja gar nicht bei unserem Hamburg-Abstecher, wir waren bei Pascals Familie, auf einer Wache und in einem Kraftwerk, und jeder dieser drei Orte hatte für uns eine unterschiedliche Bedeutung, uns beiden ist erörtert worden, was die Klimaproblematik und da insbesondere die CO2-Bewältigung anbelangt.“ Bernd hatte längst den Grill angesteckt und Rosi und Astrid hatten Baguette, Soßen und das Grillgemüse mit dem Tofu herausgeholt. Die Kinder spielten mit ihrem Ball auf dem Rasen oder sie liefen ins Haus und sahen fern. Als die Grillsachen soweit fertig waren, rief Astrid ihre Söhne nach draußen und sagte ihnen, dass sie sich an den Tisch setzen sollten. Bernd hatte für Getränke gesorgt und den Frauen Weißwein, den Männern Bier und den Kinder Limo geholt.
Als sie mit dem Essen fertig waren und niemand mehr Hunger hatte, nahm jeder einen Schluck von seinem Getränk und Kalle fragte:
„Na, wie wär´s mit einer Revanche?“ Manfred sah Bernd an, und der erwiderte:
„Also, wenn Ihr unbedingt mit Pauken und Trompeten untergehen wollte, dann steckt das Feld ab, wenn Ihr soweit seid, ruft uns!“ Die Männer prosteten sich zu, als Benno und Kalle auch schon riefen:
„Wir können anfangen!“
„Zu den gleichen Regeln wie beim letzten Mal, zweimal 10 Minuten“, sagte Manfred. Das Spiel begann, und die Männer merkten gleich ihre schweren Beine, sie waren von der Hamburg-Fahrt wie ausgepumpt. Die Jungen tänzelten scheinbar schwerelos mit dem Ball um sie herum und schossen im Verlauf der 1. Halbzeit auch das 1:0.
Zu Beginn der 2. Halbzweit bot sich das gleiche Bild, die Männer standen wie die Mehlsäcke in ihrem Feld und konnten sich anscheinend nicht bewegen. Die Jungen machten sich einen Spaß daraus, sie zu umspielen und dribbelten, was das Zeug hielt. Einmal erwischten die Männer dabei den Ball und Manfred stürmte nach vorne. Aber als Bernd ihm den Ball zu schlenzen wollte, hatte Kalle ihm den Ball auch schon wieder abgenommen, spielte ihn zu Benno, und der versenkte ihn im Tor zum 2:0. Die Männer schienen völlig demoralisiert und um dem Fass die Krone aufzusetzen, hielten die Jungen den Ball bei sich, umspielten die Männer eine Weile und schossen zum Abschluss des Spiels noch das 3:0.
Nach dem Spiel saßen die Männer gesenkten Hauptes auf ihren Plätzen am Grill, und die Jungen kamen beschwingt angelaufen und machten sich über die Alten auch noch lustig:
„Ihr Flaschen könnt Euch nicht einmal bewegen und den Ball nach vorne treiben, es war uns ein Leichtes, Euch niederzukämpfen!“ Die Männer schauten scheinbar gelangweilt in die Gegend, bis Bernd antwortete:
„Aber beim nächsten Mal werden wir Euch besiegen, das verspreche ich Euch, so wahr ich hier sitze!“
Am nächsten Tag waren die beiden Kommissare wieder auf dem Präsidium, Kriminalrat Demel kam ins Dienstzimmer und machte keine Umschweife um sein plötzliches Erscheinen, er wollte sofort wissen, ob seine Beamten im Fall Pascal Brandstätter weitergekommen wären.
„Wir haben noch keine Spur, wir hatten lediglich Kontakt zu Pascals Eltern, zu dem Leiter des Kraftwerks, in das Pascal mit Gesinnungsgenossen eingedrungen war und zu dem Dienststellenleiter der Wache, die Pascal und seine Freunde festgesetzt hatte“, sagte der Hauptkommissar.
„Na, ein bisschen mehr brauche ich schon für die Presse!“, erwiderte der Kriminalrat.
„Sagen Sie denen doch einfach, dass Pascal in Hamburg in ein Kraftwerk eingedrungen ist, um gegen die CO2-Emissionen zu demonstrieren!“ Damit war der Kriminalrat zufrieden und zog wieder ab.
„Wie kommen wir weiter? Wir müssen herausbekommen, wer in Deutschland ein „Dragunow“-Scharfschützengewehr besitzt und dazu alle Waffenbesitzkarten kontrollieren. Die Karten sind computererfasst, und wir können sie leicht durchsehen!“, sagte der Hauptkommissar.
„Wir müssen ein Merkmal haben, das nur auf die eine Waffe passt, und deshalb müssen wir noch einmal zu KHK Schulze“, so der KOK.
„Ich glaube aber nicht, dass sich der gesuchte Mörder unter den kontrollierten „Dragunow“-Besitzern befindet“, sagte der KHK. Bei KHK Schulze herrschte Hochbetrieb, er war mit allem Möglichen beschäftigt, jeder wollte etwas von ihm. Schließlich machten die beiden Kommissare aber auf sich aufmerksam und KHK Schulze schaute hoch:
„Ach, die Kollegen von der Mordkommission, na, wie weit seid ihr mit der Aufklärung Eures Falles?“
„Wir sind erst ganz am Anfang und wollen von Dir wissen, ob es an der Geschosshülse, die wir gefunden haben, irgendwelche Charakteristika gibt, die zu dem speziellen Gewehr gehören.“ KHK Schulze stand auf und ging zu dem Regal mit den Asservaten, dort lag auch die Geschosshülse und er nahm eine Lupe und besah sich die Hülse.
„Es gibt in der Mitte der Hülse eine Längsriefe, die von dem Schloss des Gewehres stammt, sieh mal durch die Lupe, Bernd!“, sagte KHK Schulze. Und der Hauptkommissar nahm sich die Lupe und schaute auf die Riefe.
„Und die gibt es nur bei einer Geschosshülse, die mit der Waffe des Mörders abgeschossen worden ist?“, fragte er.
„Ja, nur mit der „Dragunow“, mit der unser Opfer getötet worden ist“, antwortete KHK Schulze.
„Vielen Dank für Deine Unterstützung, Dieter!“, sagte KHK Thieme und die beiden Kommissare gingen wieder auf ihr Dienstzimmer.
In der Folgezeit ließen sie die Besitzer der „Dragunow“-Scharfschützengewehre ermitteln und kamen auf fünf, von denen es auch eine Waffenbesitzkarte gab. In einem sehr aufwändigen Verfahren ließen sie Beamte von den Wachen an deren Wohnort Geschosshülsen von deren „Dragunow“-Gewehren untersuchen und die Untersuchungsergebnisse zu sich schicken. Aber wie nicht anders zu erwarten war, stimmte keine Geschosshülse mit der überein, die sie besaßen.
„Ich hatte ja so etwas schon befürchtet“, sagte KHK Thieme, „jetzt fangen wir von vorne an!“
In der Mittagspause gingen die Kommissare immer in die Kantine zum Essen, so auch an diesem Tag. Die Kantine lag im Präsidium ganz oben unter dem Dach, und sie trafen schon im Treppenhaus viele Bekannte, die sie grüßten, oder mit denen sie sogar ein Schwätzchen hielten. Dieses Mal trafen sie Otto Fischer auf der Treppe, der KHK war und für das Schießtraining der Beamten zuständig war, die zu ihm in den Keller kamen. Otto Fischer kannte sich mit Waffen aller Art besonders gut aus.
„Hallo Otto, wir sind auf der Suche nach dem Besitzer eines „Dragunow“-Scharfschützengewehrs, vielleicht kannst Du uns da weiterhelfen?“, fragte KHK Thieme.
„Ich nehme an, Ihr habt schon den Computer befragt?“, fragte KHK Fischer.
„Ja, aber die Nachfrage blieb ergebnislos“, antwortete KHK Thieme.
„Ein „Dragunow“ Kal. 7.62x55 mm R?“
„Ja, genau die!“
„Ich halte die Augen und Ohren auf, und wenn ich etwas erfahre, sage ich Euch Bescheid.“ Sie setzten sich mit Otto Fischer in der Kantine an einen Tisch und die beiden Kommissare aus der Mordkommission nahmen beide den Möhreneintopf. Otto Fischer nah ein Schnitzel mit Salat. Als Getränk nahmen sie alle drei ein Mineralwasser, an Bier war während der Dienstzeit natürlich kein Denken.
Koller hatte sich inzwischen sachkundig gemacht, was die Umweltproblematik und den Klimawandel anbelangt, und er hatte sich angeboten, das letzte Treffen der Umweltgruppe vor der großen Demonstration in Mahnstadt bei sich stattfinden zu lassen. Er kannte die Leute, die er beim letzten Treffen bei Pascal kennengelernt hatte, von der Hochschule und sprach jeden einzeln an, mit dreien war er gemeinsam im Deutschseminar, unter ihnen war Timo Bender.
Am vorletzten Abend vor der Demonstration, die auf Plakaten angekündigt worden war, und auf die Timo Bender in der Mensa mit einem Megafon aufmerksam machte, trafen sich die Leute, die auch bei Pascal gewesen waren, bei Koller, und auch Timo Bender kam.
„Ich kenne Pascal schon sehr lange aus Hamburg, wir waren auf der gleichen Schule und haben die gleichen Umweltziele verfolgt, Pascals Tod reißt eine tiefe Lücke in die Umweltbewegung, die hier in Mahnstadt gerade im Entstehen ist.“ Koller kannte Timo Bender nur vom Sehen, was er aber an dem Abend bei ihm sagte, machte ihn sehr sympathisch und er rief aus:
„Wer ist dagegen, Timo zum Nachfolger von Pascal und zum Organisationschef unserer Gruppe zu machen?“ Und als sich niemand meldete, war Timo Bender der Anführer der studentischen Umweltgruppe von Mahnstadt. Timo zeigte sich gerührt von so viel Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, und er sagte:
„Liebe Mitstreiter, trotz des etwas unorthodoxen Vorgehens erkläre ich mich bereit, Euer Anführer zu sein, und ich habe auch schon ein Projekt, möchte aber erst nach der Demonstration darüber reden.“ Als Erstes wurde Timo damit beauftragt, auf der Demonstration eine Rede zu halten, in der er die Ziele der Umweltgruppe darlegen sollte.
Am Morgen der Demonstration sollten sich alle Teilnehmer am Kreisverkehr in der Innenstadt treffen. Die Parkallee durchzog die gesamte Stadt, von ihr zweigten einige Nebenstraßen ab, die zu bedeutenden Gebäuden oder Einrichtungen führten wie die Kranstraße zum Präsidium, die Steinstraße zum Gymnasium, der Kirchweg zur katholischen Kirche, die Bahnhofstraße zum Bahnhofplatz und zum Hauptbahnhof, die Siegfriedstraße zur Grundschule, die Krappstraße zum Stahlwerk, die Einheitsstraße zum Kraftwerk, der Kampweg zur Realschule, die Rathausstraße zum Rathaus und in der Verlängerung zur Universität, die Gartenstraße zum Park und der Tannenweg zum Schwimmbad.
In Mahnstadt gab es kein richtiges Zentrum, wenn man einmal von dem Kreisverkehr an der Parkallee absieht, aber da konnte man nicht von einem städtischen Zentrum sprechen. Mahnstadt war im Krieg komplett zerstört worden, weil es die Engländer auf das Stahlwerk abgesehen hatten und gleich die gesamte Stadt mit bombardierten. Nach dem Krieg wurde in Mahnstadt einfach etwas hochgezogen, wie das in vielen Städten Deutschlands auch der Fall war, ohne dass es jemanden interessierte, ob es gefiel oder nicht.
Und so wirkte Mahnstadt etwas unansehnlich, es gab die typischen Innenstadtgeschäfte in Bahnhofsnähe oder Rathausnähe. Das Stück Straße bis zum Rathaus und weiter bis zur Universität war Fußgängerzone. In dieser kurzen Fußgängerzone gab es inzwischen eine Disco und ein Kino, und um die jungen Leute zu halten und daran zu hindern, in die Nachbarstädte zu fahren und sich dort zu unterhalten, gab es auch ein Cafe und eine Kneipe, jeweils mit Außenbetrieb.
Die Verkehrspolizei war längst am Kreisverkehr und sorgte für einen ordnungsgemäßen Ablauf. Vor der Stadt wurde in beiden Richtungen der Verkehr umgeleitet, nur Linienbusse durften auch weiterhin durch die Parkallee fahren.
Weltweit versammelten sich Studenten und Schüler freitags während der Unterrichtszeit, um gegen die ausbleibenden Maßnahmen gegen den Klimawandel zu protestieren. Sie meinten, dass die Politik die Lösung immer wichtigerer Probleme der Zukunft zu ihren Lasten verweigerte. Zu der „Fridays for Future“-Demonstration kamen Studenten und Schüler zusammen, und die Schüler schwänzten den Unterricht, sehr zum Ärger der Schulleitungen und der Kultusministerinnen, denn bis auf diese Ebene waren die Demonstrationen inzwischen vorgedrungen. Was konfligierte da miteinander?
Da waren auf der einen Seite die Schuloberen, die sich hinter ihre Vorschriften zurückzogen und verlangten, dass Unterricht stattfände und auf der anderen Seite Schülerinnen, die ein Verfolgen von Klima-Strategien seitens der Politik einforderten und dabei weniger an ihre Unterrichtsveranstaltungen dachten. Auf beiden Seiten waren die Fronten aber nicht so verhärtet, wie man eigentlich glauben konnte. Es gab bei den Politikern durchaus Vertreter, die das Engagement der Schülerinnen lobten und all denen widersprachen, die eine unpolitische Generation heranwachsen sahen, was die Schüler da boten, war politische Partizipation par excellence. Und auf der anderen Seite war es schwer auszumachen, welche Schüler wirklich hinter den Demonstrationszielen standen, und welche nur den Unterrichtsausfall genossen.
Angefangen hatte der Schülerprotest in Schweden, wo sich die 16-jährige Greta Grundberg mit einem Schild, auf dem „Schulstreik für das Klima“ stand, vor das schwedische Parlament in Stockholm setzte. Und schnell sprang der Funke über, Greta Grundberg redete mit einem Mal in Hamburg, auf der UN-Klimakonferenz in Kattowitz, beim Papst in Rom, und ihr Vorbild nahmen viele Schülerinnen zum Anlass, in ihren Ländern für das Klima zu demonstrieren und die Schule dafür zu schwänzen.
Auch durch Mahnstadt zog an einem Freitag die große Klimademonstration, zu der sich Studenten und Schüler gemeinsam in der Stadt organisierten. Niemand wusste, wie die Demonstration von der Bevölkerung aufgenommen werden würde, aber das spielte in diesem Augenblick auch nur eine untergeordnete Rolle, und die Studenten und Schüler setzten sich über die etwaigen Gegner ihrer Demonstration einfach hinweg. Jeder Teilnehmer war bemüht, mit der Bevölkerung lebhafte Gespräche über die Klimaproblematik zu führen und mit den Menschen zu reden.
Koller traf am Kreisverkehr ein und sah dort schon an die 100 Schüler stehen, die alle Plakate trugen, auf denen zum Beispiel stand:
„Klimaschutz statt Kohleschmutz“ oder:
„Wir sind klein, wir sind laut, weil Ihr uns die Zukunft klaut!“, „Save the Earth!“ oder, sehr lustig: „more trees, less assholes!“
Koller hatte sich zu Hause ein Plakat gemacht, auf dem stand:
„Gegen CO2!“ Er musste feststellen, dass es gar nicht so einfach war, ein Plakat herzustellen, das auch hielt, während man es auf der Demonstration trug. Er nahm wie viele andere auch einen Karton und beschriftete ihn mit einem dicken Filzstift, anschließend befestigte er einen verkürzten Besenstiel mit Klebeband auf der Rückseite. So gewappnet stand er mit vielen Schülerinnen am Kreisverkehr und hielt Ausschau nach seinen Kommilitonen.
Das Gymnasium hatte den Unterricht an diesem Tag ganz eingestellt, die Realschule nur zum Teil, die Schulleiterin dort hatte den 10. Klassen frei gegeben, alle anderen hatten am Unterricht teilzunehmen, aber natürlich hielten sich die Neuntklässler und auch die Achtklässler nicht an dieses Gebot.
Koller zwängte sich durch die Menge in die Bahnhofstraße, und als er auf den Bahnhofplatz gelangte, sah er auch seine Kommilitonen. Viele hatten so wie er ein Plakat dabei. Einige waren damit beschäftigt, ein provisorisches Rednerpult für Timo, zu errichten.
Als sich ein Linienbus durch die Bahnhofstraße schob, und der Fahrer aufpassen musste, dass er keinen Demonstrationsteilnehmer anfuhr, kam ein lautes missbilligendes Murren auf, insgesamt hielten sich die Demonstranten aber zurück. Koller schaute sich um und sah eine solche Zahl von Demonstranten, dass er ihre Zahl nur schwer schätzen konnte.
Und dann bemerkte er am Rand der Demonstration einige Leute, die offensichtlich Stunk machen wollten, sie schrien:
„Geht doch in die Schule!“ oder
„Wollt Ihr denn das Klima retten?“ und
„Lass doch lieber erfahrene Menschen an das Klima!“
„Lasst Euch nicht provozieren, lasst Euch nicht provozieren!“, fuhr Koller dazwischen, und er bemerkte, wie einige Demonstranten doch eingeschüchtert waren. Sie wandten sich von den Störenfrieden ab und unterhielten sich mit ihren Freunden. Als einer der Störenfriede aber ein Plakat ergreifen wollte, hinderte ihn ein Polizist daran und wies ihn in seine Reihe am Rand der Demonstration. Die Polizisten standen immer zu zweit in regelmäßigen Abständen am Rand, sie waren über Funk miteinander verbunden, um sich gegenseitig helfen zu können, wenn es irgendwo nötig werden sollte, so wie bei den Störenfrieden.
Inzwischen war das provisorische Rednerpult fertig und Timo kletterte hinauf, um seine vorbereitete Rede zu halten. Auch von den Schülern gab es jemanden, der reden wollte, er musste sich aber gedulden.
„Liebe Freunde, liebe Mitstreiter, ich freue mich, dass Ihr so zahlreich hier erschienen seid, das ist die erste Demonstration, die Mahnstadt erlebt!“ Lautes Gegröhle und Beifall waren die Antwort auf Timo, der auch kein erfahrener Redner war, und er musste abwarten, bis man ihn wieder zu Wort kommen ließ.
„Wir sind heute auf einer Demonstration zusammengekommen, um zu zeigen, dass wir nicht einverstanden sind mit der Art und Weise, wie die Politiker Klimapolitik machen bzw. nicht machen.“ Wieder ertönt lautes Gejohle, die Demonstranten halten ihre Plakate hoch und nähern sich Timo.
„Meine Feinde sind die CO2-Emissionen, an denen allerdings auch jeder von uns selbst beteiligt ist, jeder Bundesbürger ist für über 11 Tonnen CO2 im Jahr verantwortlich.“ Ein Murren geht durch die Menge, vermutlich ist diese Zahl vielen neu.
„Verglichen mit den beinahe 900 Mio. t CO2 insgesamt ist das natürlich wenig, aber jeder sollte bei sich anfangen!“ Bravorufe, lauter Beifall.
„Wir leben in Zeiten des Klimawandels, und der ist von Menschen gemacht, auch wenn manche das Gegenteil behaupten!“ Buh-Rufe, Pfiffe.
„Wir können es uns nicht erlauben, die Köpfe in den Sand zu stecken und nichts tun. Wie auf einigen Plakaten zu lesen ist:
„We don´t have a planet B!““ Lautes Beifallsschreien, Klatschen.
„Also Freunde, packen wir´s an, lasst uns umweltfreundlich, klimabewusst und nachhaltig leben, wer mehr Information dazu braucht, wende sich an mich!“ Beifall.
„Bereiche, in denen wir CO2-Emissionen vermeiden können, sind das Reisen, der Stromverbrauch, das Essen und natürlich der Kraftverkehr, 1 kg Rindfleisch fordern 15 kg CO2, das Wohnen, das Heizen, das Konsumieren generell - viele Produkte können wir mehrfach gebrauchen oder den Gebrauch mit anderen teilen.“
Timo trat unter johlendem Applaus vom Rednerpult ab und half dem Vertreter der Schüler nach oben. Auch er wurde mit frenetischem Beifall begrüßt.
„Liebe Freunde, ich möchte daran erinnern, dass an diesem Freitag weltweit Schüler auf der Straße sind und für die Klimarettung demonstrieren!“ Ein markerschütternder Jubel ging durch die Menge, Schreie, Beifallsstürme.
„Auch Greta Grundberg ist wieder unterwegs, wir sollten ihr einen besonderen Jubel zukommen lassen!“, und es gab Stürme von Begeisterung und Jubel aus allen Kehlen.
„Wie mein Vorredner schon betont hat, sollte jeder bei sich selbst anfangen, CO2-Emissionen zu verhindern, allerdings sollten wir auch den Politikern in Berlin auf die Finger schauen!“ Ein höllisch lautes Gejohle setzte ein.
„Lasst uns alle friedlich durch die Stadt ziehen und den Menschen unsere Plakate zeigen, lasst Euch nicht provozieren oder zu Rangeleien hinreißen!“ Damit stieg der Schülerdeputierte vom Rednerpult und verschwand in der Menge.
Koller stand bei Timo und die beiden waren mit dem Verlauf der Demonstration bis dahin sehr zufrieden. Es gab Vertreter der Presse, die insbesondere Schüler der unteren Klassen befragten, was sie denn unter Klimaschutz verstünden. Natürlich gaben sich die Kleinen sehr unbeholfen, konnten aber angeben, in welchem Bereich sie bei sich zu Hause CO2-Emissionen verhinderten. Der Presse kam es aber darauf an, das vermeintlich Stümperhafte der Demonstration hervorzukehren. Als Koller das bemerkte, ging er zu den Presseleuten und fragte sie:
„Warum befragen Sie die jungen Schüler, befragen sie doch einmal die älteren Schüler oder die Studenten!“ Daraufhin verließen die Presseleute den Demonstrationszug und waren nicht mehr gesehen.
Der Demonstrationszug bewegte sich langsam die Bahnhofstraße entlang zum Kreisverkehr und bog dann nach links ab. Timo und der Leiter der Schüler hatten sich im Vorfeld darauf verständigt, bis zum Stahlwerk zu gehen und dann kehrt zu machen.
Es gab auf der gesamten Strecke Menschen, die am Straßenrand standen und den Demonstranten entweder lauthals Mut machten oder sie kritisierten.
Mit den Letzteren kamen viele der Teilnehmer ins Gespräch und versuchten, sie von ihrem Vorhaben, den CO2-Ausstoß zu verringern, zu überzeugen. Aber es war nicht so einfach, die Leute, die behaupteten, der Klimawandel wäre nicht menschengemacht, eines Bessern zu belehren. Es fehlten dazu die Unterlagen für ein freies Gespräch an der Straße, die belegen konnten, dass Menschen den CO2-Ausstoß mit verantworteten und dieser das Klima verschlechterte.
Die Schüler waren inzwischen zu ausgelassenem Tanzen übergegangen, was verdeutlichte, dass sie der Demonstration auch etwas Fröhliches abgewinnen konnten. Überhaupt war die Stimmung auf der Demonstration als durchaus lustig zu bezeichnen, und die Studenten ließen sich von den Schülern anstecken und tanzten auch.
Koller und Timo waren gerade am Kreisverkehr angekommen, als zwei Kommilitoninnen sie sich schnappten und wild mit ihnen herumtanzten. So bewegte sich der Demonstrationszug langsam in Richtung Stahlwerk und Kraftwerk. Als sie in der Höhe des Stahlwerks angekommen waren, sagte Timo:
„Dort werden pro Tonne Stahl 1.5 t CO2 emittiert, man muss sich nur vorstellen, wie viel CO2 die Stahlwerke weltweit in die Umwelt emittieren!“ Dann nahm er Koller zur Seite und sagte ihm in etwas leiserem Tonfall:
„Ich habe die Absicht, in das Stahlwerk einzudringen und auszukundschaften, ob ich da einen Störfall provozieren kann, die Firmenchefs sollen merken, dass sie so nicht einfach weitermachen können, machst Du mit?“ Koller sah Timo mit großen Augen an und dachte nach, dann sagte er:
„Okay, wann willst Du loslegen?“
Timo zuckte mit seinen Schultern und meinte dann:
„Ich muss den Betrieb erst einmal beobachten und sehen, wie man hineinkommt, ich sage Dir dann Bescheid!“
Als der Demonstrationszug am Stahlwerk vorbeilief, stellte sich Timo hin und gab ein Zeichen zum Anhalten. Dann sprach er mit sehr lauter Stimme, sodass die Demonstrationsteilnehmer ihn auch hören konnten:
„Liebe Mitstreiter, in diesem Stahlwerk werden pro Tonne erzeugten Stahls 1.5 t CO2 in die Luft emittiert!“ Laute Buh-Rufe und Murren waren die Antwort.
„Auch an die Herren Chefs des Stahlwerks richtet sich unsere Demonstration, haltet ein mit der umweltschädlichen Stahlproduktion! In Deutschland werden über 40 Mio. t Rohstahl produziert, das entspricht mehr als 60 Mio. t CO2, die Ihr einfach in die Luft ablasst!“ Lautes Gemurre und Geschreie war die Antwort und der Demonstrationszug hatte zum Ernst des Anlasses zurückgefunden.
Dann wandte sich Timo dem Kraftwerk zu, das auf der anderen Straßenseite im Hintergrund lag:
„Das Kohlekraftwerk, das wir dort drüben liegen sehen, gehört zu den Kohlekraftwerke mittlerer Größe, wir wissen, dass die Kohlekraftwerke in Deutschland zu 38% am gesamten CO2-Ausstoß beteiligt sind und die gesamte CO2-Emission liegt bei 856 Mio. t!“ Laute Unmutsäußerungen waren die Antwort der Demonstrationsteilnehmer, bevor sich alle auf den Rückweg begaben.
Am Kreisverkehr bog der Zug nach links in Richtung Rathaus ab, vor dem sich noch einmal 2 Redner postierten und ihren Protest abließen. Beifallsklatschen und Unmutsäußerungen waren zu hören.
Dann lösten Timo und sein Schülerkollege die Demonstration auf, und viele verteilten sich auf Cafe und Kneipe, der Rest machte sich auf den Weg nach Hause. Auch Timo und Koller gingen ein Bier trinken. Timo sagte:
„Wir müssen noch 1,2 Kommilitonen für das Stahlwerk gewinnen, hör Dich doch mal um, aber häng das nicht allzu sehr an die große Glocke, sei vorsichtig!“
Koller absolvierte ein Deutschseminar, in dem auch Timo saß, das Thema war:
„J. W. v. Goethe: Faust, was bringt er uns heute?“ Koller und Timo saßen zusammen und waren beide sehr angetan von Goethe. Keiner von beiden hatte den „Faust“ auf der Schule besprochen, und beide fanden die Figur des „Faust“, wie er auf der Suche nach dem war, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sehr interessant. Timo fragte:
„Was hätte er wohl zu so viel CO2 in der Atmosphäre gesagt?“
„Die kannten damals doch noch keine Klimaaufzeichnungen und CO2 schon gar nicht!“, antwortete Koller. Einen Pakt mit dem Teufel zu schließen schied für die beiden aus:
„Würdest Du Dich mit dem Teufel einlassen, wenn er Dir verspräche, für die Verringerung des CO2 in der Atmosphäre zu sorgen?“, fragte Koller.
„Ich glaube kaum, dass ich das täte, ich weiß auch gar nicht, ob er mit meiner armen Seele zufrieden wäre“, antwortete Timo.
Die beiden verloren aber das Stahlwerk nicht aus dem Gedächtnis, und Koller tat auch jemanden aus seinem Sportseminar auf, den er noch von Pascal her kannte, während Timo jemanden aus seinem Geschichtsseminar für sich gewinnen konnte, der auch bei Pascal gewesen war. Sie trafen sich öfter zu viert, um sich genauer kennenzulernen. Timo sagte, dass er erst einmal allein ins Stahlwerk wollte, um die näheren Umstände zu untersuchen. Sie trafen sich bei Koller in der Wohnung, und Koller sorgte für Getränke und etwas zu essen.
Timo stellte sich in den folgenden Tagen auf die andere Seite des Stahlwerkeingangs und beobachtete den Verkehr, der in das Stahlwerk fuhr bzw. es verließ. Es fiel ihm auf, dass um die Mittagszeit ein Wagen der Firma „Catering Services“ aus Mahnstadt in das Stahlwerk fuhr, um die Kantine mit Essen zu beliefern. Timo beschloss, sich bei der Firma in den Wagen zu schmuggeln, um auf das Gelände des Stahlwerks zu gelangen. Abends fuhr der gleiche Wagen noch einmal ins Stahlwerk, um das Abendessen zu bringen. Sie müssten sich zu viert in dem Wagen verstecken.
Die Firma „Catering Services“ lag am anderen Ende der Stadt, und als Timo vor deren Tor stand, schaute er sich unauffällig um, wie er sich in den Wagen schmuggeln konnte. Der in Frage kommende Wagen war ein Kastenwagen von mittlerer Größe, und als der Fahrer den Wagen öffnete, um ihn mit Essen zu beladen, sah Timo die Möglichkeit, schnell hineinzusteigen und sich im Inneren zu verbergen.
Es gab in dem Kasten genügend Möglichkeiten für vier, sich hinter abgestellten Kisten zu verstecken. Timo fasste den Entschluss, am nächsten Tag den Wagen zu besteigen und sich ins Stahlwerk bringen zu lassen.
Koller war mit David und Jens, wie seine beiden Mitstreiter hießen, bei sich in der Wohnung und wartete mit ihnen, bis Timo zurück war und berichtete. Er sagte:
„Wir können uns zu viert in dem Lieferwagen von „Catering Services“ verstecken, wir müssen nur den Moment abpassen, wenn der Wagen mit Essen beladen wird, dann springen wir schnell hinten hinein und verbergen uns hinter den Kisten, die sich in dem Kasten befinden.“ Timo hatte ein wenig Angst vor seiner Aktion, er raffte aber alle in ihm schlummernden Kräfte zusammen und begab sich am nächsten Tag zu „Catering Services“. Er hielt sich in der Nähe des Lieferwagens im Verborgenen auf, hinter einem Gebüsch und in dem Moment, in dem der Fahrer die Kabine geöffnet hatte und in die Küche lief, um das Essen zu holen, das er in Kisten verpackt laden wollte, sprang Timo in den Wagen und begab sich ganz nach hinten hinter die Kisten. Er hörte den Fahrer noch, wie er das Essen einlud und dann die Kabine wieder verschloss. Dann startete er den Wagen und fuhr los.
Timo rechnete mit 10 Minuten Fahrzeit und schaute auf seine Armbanduhr. Der Wagen befuhr die Parkallee, und Timo wusste genau, wann er am Kreisverkehr ankam, weil er dort in die Ecke gedrückt wurde. Nach weiteren 5 Minuten hörte er den Wächter am Tor des Stahlwerks reden, er kannte den Fahrer offenbar sehr gut:
„Hallo Paul, fahr durch!“, sagte er, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung, um dann an der Kantine zu halten. Paul stieg aus und öffnete die Kabine, und als er das Essen in die Kantine trug, sprang Timo schnell aus dem Wagen und rannte hinter einen Mauervorsprung, wo er von niemandem gesehen werden konnte. Hinter ihm befand sich eine Tür zu einer Art Mannschaftsraum, und er ging hinein. Dort nahm er einen gelben Schutzhelm vom Haken und dazu eine Arbeitsjacke, er setzte den Helm auf und zog die Jacke an.
In diesem Aufzug wagte er sich nach draußen und begann seine Runde durch das Stahlwerk. Er trottete, eine Hand in der Tasche, den Hauptweg entlang. Dem Stahlwerk angeschlossen war eine Kokerei, in der aus der Steinkohle Koks gewonnen wurde. Koks war praktisch reiner Kohlenstoff, und mit Koks wurden die Hochöfen beschickt.
Die Kokerei stieß eine fürchterlichen Gestank aus, und Timo machte, dass er schnell daran vorbeikam. Er sah vor sich eine riesige verzweigte Gleisanlage, über die das Stahlwerk mit Kohle und Eisenerz beliefert wurde. Diese Rohmaterialien wurden in Kohle- und Erzbunkern gelagert und von dort für den Schmelzprozess im Hochofen entnommen. Neben dem Kohle- und Erzbunker gab es ein Schrottlager, denn es wurde außer dem Erz auch Schrott geschmolzen.
In den Hochofen kamen abwechselnd Kalk, Kohle, Erz bzw. Schrott und Gas, um das Feuer im Ofen zu intensivieren. Das Gas wurde in einem großen Gasometer bereit gehalten, aus dem es über eine Gasleitung zum Hochofen geleitet wurde. Die Schlacke wurde am Ende des Schmelzprozesses aus dem Hochofen entfernt und entsorgt, das schwerere Roheisen wurde dem Konverter zugeleitet, wo es von Rückständen wie Kohlenstoff und Phosphor befreit wurde, indem für ungefähr 15 Minuten reiner Sauerstoff in die Schmelze geblasen wurde, der mit den Fremdstoffen reagierte und in einer riesigen Stichflamme aus dem Konverter schoss.
Der dann fertige Stahl wurde in Formen gegossen, um weiter verarbeitet zu werden. Als Timo neben der Sauerstoffleitung zu dem Konverter stand, rief plötzlich jemand:
„Was machst Du denn hier?“, und Timo erschrak zuerst. Er schaute sich um und sah in das Gesicht eines Arbeiters, genau wie er selbst im Schutzhelm und Arbeitsjacke, und als er die Arme hob, sagte die Stimme:
„Ach, Du willst sicher nur einmal entspannen!“, und Timo nickte und ging weiter. Gleichzeitig schossen ihm Gedanken an seinen widerrechtlichen Aufenthalt im Stahlwerk durch den Kopf. Was würde passieren, wenn ihn der Werksschutz aufgriff? Er musste ganz vorsichtig sein und aufpassen, dass ihn sonst niemand sah. Im Grunde hatte er auch alles gesehen, was für ihn wichtig war.
Er würde die Gaszufuhr vom Gasometer zum Hochofen unterbinden und den Verbrennungsprozess im Hochofen stören. Dazu müssten sie zu viert den Hauptabsperrhahn am Gasometer schließen, was einige Kraft erforderte.
Timo musste dann warten, bis der Wagen von „Catering Services“ am frühen Abend noch einmal erschien, um mit ihm das Stahlwerk wieder zu verlassen.. Er lief zur Kantine zurück und versteckte sich im Mannschaftsraum, aus dem er Helm und Jacke genommen hatte und hängte beides wieder an seinen Platz. Timo musste noch 2 Stunden im Verborgenen bleiben, bis der Wagen kam.
Plötzlich hörte Timo Stimmen und Männer näherten sich dem Mannschaftsraum, er musste sehen, dass er sich woanders versteckte. Er rannte schnell zur Hintertür des Raumes und verließ ihn nach draußen, wo er sich in einem Gebüsch verbarg. Dort ließ er sich seinen geplanten Anschlag auf das Stahlwerk durch den Kopf gehen: sie müssten sich alle einen gelben Schutzhelm besorgen und dann an den großen Absperrhahn gehen, der sich am Gasometer befand. Er würde über ein großes Eisenrad betätigt, das zu bewegen es einiger Kraft bedurfte, sie würden zu viert dort anfassen und es drehen müssen.
Als Timo über ihre Vorgehensweise nachdachte, kam plötzlich der Wagen von „Catering Services“ wieder, der Fahrer brachte das Abendessen und öffnete die Kabine. Timo sprang hinein und verstecke sich hinten, und als die Kabine wieder verschlossen war, fuhr Paul auch schon los. Ohne Probleme ging es durch das Werkstor, und auf dem Gelände von „Catering Services“ sprang Timo in einem günstigen Augenblick wieder aus dem Wagen und fuhr zu Koller.
Dort traf er außer Koller auch seine 2 Mitstreiter, erzählte von seinem Aufenthalt im Stahlwerk und was er sich zum Vorgehen überlegt hatte. Am nächsten Tag besorgte sich jeder einen Helm, und am übernächsten Tag wollten sie losschlagen.