Читать книгу Das Netz der Freunde - Hans-Peter Dr. Vogt - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1. Immigration.
Der Umzug und der Neubeginn in Deutschland
...und die Wächter des Lebens
1.
Irina ist alleine in ihrem Haus in einem der gutbürgerlichen Vororte von Atlanta (USA).
Sie hat sich in einen der Sessel gesetzt, die jetzt mit Laken abgedeckt sind. Vor ihr steht ein riesiger Berg aus Koffern und Kisten. Viele Kubikmeter. Daneben steht noch ein kleiner Berg aus Koffern und Taschen.
Irina wartet. Heute ist der große Tag des Umzugs, aber keiner ist da, außer ihr. Mama war heute früh überraschend noch mal in die Firma gefahren. Es gibt da irgendetwas, was noch zu klären ist. Was, das weiß Irina auch nicht.
Opa Leon, der seit einem Jahr mit ihnen zusammenlebt, war irgendwohin gesprungen. Irgendwas in Deutschland. Auch hier weiß Irina nichts genaues.
Ihr Bruder Dimmy war das Warten leid gewesen. Er hatte sich sein Rad geschnappt und war zu Louis gefahren, einem Schulfreund. Louis war scharf auf das Spezial-BMX von Dimmy.
Vielleicht würde Louis ihm das Teil abkaufen.
Seinen Cruiser hatte Dimmy schon vertickt. Es war einer der Retros, die in den USA gerade wieder voll in Mode sind. Ein echter Hingucker im Stil der 1960er mit richtig breiten Schlappen.
Irina ist knapp 14. Sie hat dunkles langes Haar, das sie heute zu einem seitlichen Pony zusammengebunden hat und grau-grüne Augen. Sie ist mittelgroß und hat schon einen ordentlichen Busen. Diese Veranlagung hat sie von Mama geerbt.
Wieder einmal muss sie sich von Freunden trennen. Sie hatten nur ein Jahr in Atlanta gewohnt, aber weil Irina aufgeweckt, fröhlich und ein auffallend hübsches Mädchen ist, war es ihr nicht schwergefallen, in der Schule Anschluss zu finden. Diesen Zickenkrieg hatte sie allerdings nicht mitgemacht, der dort in einigen Gruppen herrschte. Sie hatte sich lieber an die Mädchen gehalten, die sich für selbstgemachte Musik, Lesen, Natur und für Tiere interessiert hatten. In Atlanta gibt es einen Reitstall, wo sie ein-und ausgegangen waren. Solche praktisch orientierte Kontakte sind komplett anders, als bei dieser anderen Gruppe in der Schule, die sich total aufbrezelte, und sich nur für Partys, Jungens, Kleidung, Wimperntusche und die Farbe ihrer langen Fingernägel interessierte. Sie schwänzelten mit dem Po und streckten den Busen nach vorne, und sie hatten auch keine Hemmungen, andere zu verunglimpfen und in den Dreck zu stoßen, wenn die Laune das gerade so wollte.
Irina hatte es nicht immer leicht gehabt, weil diese „Schicksengruppe“, wie Opa das immer nannte, oft richtig stresste, bis hin zum Cybermobbing. Diese Mädchen fühlten sich als Elite, und sie hatten ein richtiges Vergnügen daran, andere auszugrenzen und zu tyrannisieren. Das Leben war für sie ein Spiel. Streber waren verpönt, oder das, was dafür gehalten wurde.
Manchmal hatte Irina ihr Gesumm anstimmen müssen, das sie von Opa Leon gelernt hatte. Irina hatte in diesem einen Jahr begriffen, wie sie sich in die Köpfe ihrer Mitschüler hacken konnte, um sie zu beeinflussen. Nach den ersten noch zögerlichen Anfängen hatte sie verstanden, dass ihr dieses Talent die nötige Ruhe bricht, die sie braucht, und sie hatte gelernt, nicht nur sich zu schützen, sondern auch ihre Freundinnen.
Es waren wirklich nette Mädchen dabei. Sibyll, die jeden Tag auf dem Klavier übt. Lori, die sich für Literatur interessiert und unendlich viel liest. Doris, die sich für Biologie und Chemie begeistert und Laureen, Blondie und Sofie, mit denen Irina oft in den Ställen zusammen war, um auszumisten, zu striegeln oder zu reiten.
All das muß jetzt wieder einmal neu aufgebaut werden. Irina seufzt. Sie kennt die Schule schon, in die Leon sie schicken wird, dort in dieser winzig kleinen Stadt in Deutschland.
Sie würden fast alles zurücklassen. Das Haus hier in Atlanta war nur gemietet. Die Firma würde die Möbel verkaufen und sie nehmen nur das Wichtigste mit, aber davon gibt es genug.
Kleidung, Laptop, Kamera. Ohne seine Skateboards würde Dimmy nicht mitgehen, hatte er bestimmt. Irina lächelt unwillkürlich.
Dimmy und seine Skateboards. Er hatte sich diese Marotte in Berlin angeeignet, als er mal dort zu Besuch war. Auch hier in Atlanta gibt es Halfpipes, und Dimmy ist ein echter Crack. Er hat mehrere Boards, für Sprünge und Langstrecken. Irina hatte manchmal zugesehen, Interesse hat sie nicht an diesen Dingen. Für Dimmy war das in Atlanta die Eintrittskarte gewesen, um bei all diesen coolen Jungs an der Schule mächtig zu punkten. Dimmy ist aber auch wirklich der Obercrack. Seine ”übersinnlichen” Fähigkeiten erlaubem ihm Sprünge und Drehungen, die für die anderen unnachahmbar sind. Einfach „oberaffengeil“. Naja. In der Szenesprache und auf amerikanisch nennen die Jungs das ganz anders, und Irina weiß, dass solche Ausdrücke alle 2 oder 3 Jahre wechseln, wie die Mode. Irina lächelt wieder. Die Jungs und ihr Kauderwelsch.
Sie döst ein wenig. Sie denkt an die Chattahochee Seen im Norden, an die Wasserfälle und die Rafting Touren, die sie im Frühsommer gemacht hatten. Sie denkt an Deutschland. Ein bisschen kennt sie, aber im Grunde ist alles fremd, auch die Menschen sind so ganz anders.
Dort sind jetzt auch große Ferien. Ihr Haus in Brandenburg ist nicht einmal ganz fertig und für ihre Verhältnisse ist Wittenberge wirklich ein winziges Nest. Dort werden sie bald wohnen, aber sie werden übergangsweise nach Berlin ziehen. Opa Leon hat dort eine Wohnung organisiert.
Ins Musikzentrum, das der Stiftung gehört, und für das Leon und Mama letztlich arbeiten, da wollte Leon nicht hin, obwohl es auch dort mehrere freie Wohnungen gibt, die der Familie gehören. Aber dort lebt Oma Katharina und Leon hatte bestimmt: „Wir tun Katharina seelisch weh, wenn wir alle zusammen ins Zentrum ziehen. Wir können das nicht machen.“ Schließlich hatte Leon „seine Frau“ Katharina verlassen, um mit Irinas Mama zusammenzusein. Ach was ist das Leben manchmal so schwierig.
Aber Leon und Katharina sind nicht im Streit. Irina wird immer zu Oma Katharina springen können. Sie wird in den nächsten vier Wochen sicher viel vom Musikzentrum haben, aber im Zentrum wohnen - das hatte Leon eben nicht erlaubt. Opa Leon, der jetzt genaugenommen ihr Vater ist. Na, so gut wie.
2.
Irina hört gar nicht, als Leon die Treppe herunterkommt, so versunken ist sie in Gedanken. Plötzlich hockt er vor ihr und nimmt ihre Hände. Irina schreckt auf.
„Opa. Ich hab dich gar nicht kommen hören. Bleibst du jetzt hier, oder musst du noch mal weg?“
Leon schüttelt den Kopf. „Ich hab’ alles erledigt. Ist Vera noch in der Firma?“ Irina nickt. „Und Dimmy?“ „Der will sein BMX verkaufen, hat er gesagt.“
Leon nickt wieder. „Und was ist mit dir? Aufbruchsbereit oder traurig?“
Irina schüttelt den Kopf. „Vielleicht ein bisschen traurig. Ich war in Gedanken und hab’ innerlich Abschied genommen, jetzt wird ja alles völlig anders.“
Leon nickt wieder. „Wenn wir zusammenhalten, dann schaffen wir das. Was meinst du, wollen wir den Haufen da ein klein wenig kleiner machen? Ich hab im Werk einen Container aufstellen lassen. Den können wir jetzt mit unseren Sachen füllen, wenn du bereit bist. Das ist eine Übung, die für dich noch ein bisschen schwierig ist, aber zusammen bekommen wir das hin. Wir werden Vera und Dimmy einen Zettel hinlegen und können anfangen, wenn du bereit bist.“
Irina ist einverstanden. Leon geht in die Küche, wo ein Block und ein Stift liegt, und bringt beides zurück.
Er schreibt etwas auf den Block, zieht Irina aus dem Sessel, legt den Block darauf, und führt sie zu dem großen Haufen mit Koffern und Kisten.
„Also gut“, meint Leon. „Erst mal nehme ich zwei Koffer in die Hände, du hältst dich an mir fest, und konzentrierst dich. Schlüpf in mich hinein. Dann springen wir mit den Koffern in den Container. Achte genau auf meine Energieströme. Versuche das später nachzumachen.“
Irina nickt. Opa nimmt die Koffer, Irina hält sich an seinem Arm fest, sie kriecht in Leons Kopf. Sie sieht das Aufflammen der Energie, dann stehen sie in einem großen leeren Stahlcontainer, an dessen Decke zwei Akkuleuchten brennen.
Leon lächelt, stellt die Koffer ab, greift ihre Hände und meint, „und nun zurück. Diesmal krieche ich in dich hinein. Versuche mich mitzunehmen nach Atlanta.“
Das hatte Irina schon geübt. Sie ist gut darin. Sie war schon mehrmals mit Mama in das Wochenendhaus gesprungen, das sie an den Seen hatten. Aber diesmal geht es quer über den Ozean. Eine viel größere Strecke. Sie konzentriert sich, dann merkt sie, wie sich der Tunnel vor ihr öffnet und sie hineinzieht, wie ein Magnet ein Stück Metall. Sie spürt den Druck von Leons Händen. Sie merkt, dass sie ihn mitnimmt auf diese fast 15.000 Km lange Reise, dann landen sie im Zimmer von Irina.
Leon hatte ihr geraten, nicht in das große Wohnzimmer zu springen, wer weiß, wer sich jetzt dort aufhält. Das Geheimnis der Familie muß stets gewahrt bleiben.
Leon lacht sie an, als die sanft landen. Sie hört seine unausgesprochenen Worte. „Prima. Das hast du gut gemacht.“
Dann gehen sie hinunter. Sie sind immer noch alleine.
„Dann wollen wir mal. Diesmal nehme ich einen großen Karton in die Arme und du entscheidest, ob du mich berührst oder ganz alleine mit mir durch den Tunnel gehst. Du probierst es alleine? Also, dann los.“
Irina konzentriert sich, dann landen sie zusammen in dem Container. Erst Leon, dann nur wenige Sekunden später auch Irina. Sie ist glücklich. „lass mich das noch ein paar Mal probieren. Dann zeig mir, wie ich tote Materie mit mir nehmen kann.“
Leon nimmt jetzt immer einen großen Karton in die Arme. Irina springt alleine, und als sie schließlich zur selben Zeit im Container ankommen, lacht Irina. Jetzt hab ich’s begriffen. Ich muss meine Gedanken nur mit deinen völlig verknoten, damit wir gemeinsam durch den Tunnel fliegen.“ Leon lächelt. „Wenn man weiß wie das geht, ist das gar nicht so schwer. Dann lass uns mal an die nächste Aufgabe gehen.“
Innerhalb der nächsten 60 Minuten bringen sie einen Großteil der Kisten und Koffer in den Container. Dann muss Leon erst mal die Akkus der Leuchten wechseln. Er hatte vorgesorgt. An den beiden großen (heute geschlossenen) Stahltoren steht innen ein Karton mit frischen Akkus und Leon bestückt erst die eine, dann die andere Akkuleuchte.
Als sie zurückkommen, ist Dimmy gerade gekommen. „Ich wollte doch helfen“, meint er vorwurfsvoll. Leon nimmt ihn in die Arme. „Ist schon gut. Wir haben noch eine ganze Menge kleiner Kartons hier stehen und deine Lieblingsdinge, wie das Board, die müssen auch noch nach Deutschland. Hast du dein BMX gut losgekriegt?“
Dimmy grinst. „2500 Piepen. Aber Opa, ehrlich, wenn ich nicht wüsste, dass die Eltern von Louis soviel Geld haben, hätt’ ich den Preis nicht so hoch angesetzt.“
Leon nickt. Das hatte er seinen Enkelkindern (die jetzt seine Kinder sind) immer eingeschärft. Solche Dinge muss man notfalls verschenken. Materielle Dinge sind nicht wichtig. Freundschaften sind wichtig. Dimmy würde die Freundschaft von Louis behalten, trotz der 2500 Dollar. Neu hatte es 6 ½ gekostet. Louis war rattenscharf auf das Rad gewesen, und einige andere auch. Das Rad gibt es aber nur einmal. Es hat einen handgemachten verstärkten Freeriderahmen mit Oversize Rohren, Spezialfelgen, Ballonreifen, Nadelkugellager, eine Sonderlackierung und Labels, die heute nicht mehr zu kaufen sind. Das Wettkampfrad ist in den Augen der Kids der Oberkracher, egal ob in der Pipe oder im Gelände. Louis hätte leicht das Doppelte bezahlt, wenn Dimmy das verlangt hätte, und er rechnete es Dimmy hoch an, dass er das nicht ausgenutzt hatte. Dimmy ist ein echter Freund.
Dann beginnen Leon, Irina und Dimmy mit den Übungen, die Irina schon kennt. Für Dimmy ist das bedeutend schwieriger, aber er bekommt das hin. Schließlich kann er einige der kleineren Gerätschaften mit in den Container nehmen. Dann ist plötzlich fast alles weg, und nur das ist übrig, was sie unbedingt in Berlin brauchen, und das, was sie mit in den Flieger nehmen werden.
Auch diesmal nimmt Leon die Kinder erst ohne Gepäckstücke mit in die Wohnung in Berlin. Sie liegt im Stadtteil Moabit, ist ziemlich geräumig, und sie ist voll eingerichtet. Sogar Küchenmesser, Kochtöpfe und solche Altagsgegenstände sind da.
Es gibt zwei Kinderzimmer, ein Schlafzimmer für Leon und Vera, und es gibt eine große Küche, mit Schiebetüren zum großen Wohnbereich. Eine Altbauwohnung, mit hohen Decken und Stuck. So etwas gibt es in den USA nicht. Irina und Dimmy staunen. Es gibt abgeschliffene Dielenböden, die neu lackiert sind. Nicht dieses neue Fertigparkett, das es in den USA überall gibt, sondern ganz breite Dielen mit groben Wachstums-Mustern.
Die Küche ist gekachelt und es gibt ein geräumiges Bad. „Opa“, meint Irina. “Wo hast du denn die Wohnung auf-getrieben?“ Es gibt vierfachverglaste Fenster und als Irina eines davon öffnet, hört sie den Verkehr draussen vorbeibrummen. Hinten ist es auch mit offenem Fenster ganz ruhig.
Sie haben einen Balkon. Es gibt ein großes Geviert aus Wiesen und Bäumen, mit kleinen Gewächshäusern drin und Gartenhäuschen. „Hey, geil“, meint Dimmy, der das alles aufregend findet. Es ist alles so anders als in den USA.
Dann schaffen Sie alles in die Wohnung, was sie dort brauchen werden. Laptops, Skateboard, Kleidung, und auch die Sachen von Mama.
Als sie schließlich wieder in Atlanta stehen, sind nur noch die Sachen für den Flieger da. Ein paar kleine Koffer und Taschen. Mama ist immer noch nicht gekommen.
Leon schaut auf die Uhr. „So langsam wird’s Zeit.“
Er kramt das Handy aus der Tasche und ruft Vera an. Vera ist ganz aufgelöst. Sie ist jetzt auf dem Weg. Ihren Familienvan hatte sie in der Firma verkauft und sie ist jetzt mit dem Taxi unterwegs. „Ist spät, ich weiß, habt ihr schon ein bisschen vorarbeiten können? Chénoa hatte noch so viele Fragen. Es schien kein Ende zu nehmen.“
Chénoa. Das hatte Leon ganz vergessen. Er sieht seine Enkelkinder an. „Habt ihr euch von Chénoa verabschieden können?“ Irina und Dimmy schütteln den Kopf. Irina ist richtig traurig. „Haben wir irgendwie völlig vergessen.“
„Na gut, dann werden wir wohl an einem der nächsten Wochenenden Chénnoa mal besuchen müssen.“ Irinas Blick leuchtet. „Au ja.“
Chénoa ist die älteste Tochter von Leon und niemand, wirklich niemand in der Familie reicht an ihre Kräfte heran. Chénoa hat selbst in ihrer Familie eine einsame Stellung. Sie hatte Leon beerbt. Sie ist die Präsidentin aller Firmen, die der großen Familie von Leon gehören. Leon würde sich mit seiner Arbeit auf Europa beschränken. Er würde dort hoffentlich etwas mehr Zeit für seine (neue) Familie haben.
Als dann das Taxi kommt, staunen sie nicht schlecht. Mama und Chénoa steigen zusammen aus. Irina fällt ihr in die Arme. Tante Chénoa ist wirklich etwas Besonderes.
„Alles schon erledigt?“ fragt Chénoa und Irina strahlt. „Ja. Opa hat uns mitgenommen. Wir haben alles nach Deutschland geschafft. Das was wir hier lassen müssen, das wird die Firma jetzt in die Hand nehmen.“ Chénoa nickt. „Dann mal los. Holen wir das Handgepäck aus dem Haus. Den Schlüssel könnt ihr mir geben. Ich begleite euch noch zum Flugplatz.“
Als sie schließlich im Flieger sitzen, hat Dimmy einen Fensterplatz. Irina sitzt neben ihm. Es ist eines dieser neuen Konstruktionen. Diese kleinen Maschinen, die mit Gas und Solarstrom und Akkus fliegen. Benzin gibt es fast nicht mehr. Die großen Flieger, die früher einmal im Sekundentakt um die Erde geflogen waren, die waren inzwischen alle eingemottet worden. Dafür gibt es keinen Treibstoff mehr. Nur für das Militär hat man noch Dieselöl und Benzin gehortet, für den Fall eines Krieges, der hoffentlich nie eintreten wird.
Vera und Leon sitzen hinter Irina und Dimmy. Die ganze Maschine hat nur 40 Sitzplätze. Diese neuen Konstruktionen verbrauchen aber auch wirklich wenig Energie. Dimmy und Irina waren in ihrem Leben bisher aber nur ein paar mal geflogen. Das war selten geworden. Inzwischen werden die USA von schnellen Fernzügen „durchflogen“, die sich mit Gas und Elektroenergie fortbewegen. Es gibt einige Linien mit Magnetbahnen, die sind noch schneller. Sie fahren aber nur in einigen Gebieten der USA, die sicher vor Hurrikans und Windhosen sind, denn davon gibt es gewaltig viele.
Selbst das Taxi, mit dem sie zum Flughafen gefahren waren, das hat solch einen Elektroantrieb. Auch diese Antriebssysteme werden in den Fabriken hergestellt, die der Familie von Leon gehören. Die Familie ist im Bereich Energieversorgung und Umwelttechnologien weltweit führend. Diese Geschäftszweige sind noch weit gewinnbringender als diese riesige Mac Best Food Company, für die Mama direkt arbeitet.
Irina kennt sich nicht wirklich gut mit diesen Umwelttechnologien aus. Opa hatte ihnen im vergangenen Jahr einiges erzählt und sie weiß, dass Onkel Paco diese Unternehmensgruppe führt. Alles zusammen wird wiederum von Tante Chénoa geleitet, die heute am Flughafen zurück-geblieben ist.
„Ich soll euch einen Gruß von Fred und euren Geschwistern sagen“, hatte Chénoa auf dem Flughafen nachgerufen, bevor sie durch die Schleusentore gingen.
Frederik.
Fred ist ihr eigentlicher Papa. Die ersten Jahre ihres Lebens hatten sie mit Fred zusammengelebt. Eine große glückliche Familie aus vier Frauen und vielen Kindern. Alle von Fred. Irina ist die Erstgeborene, aber die großen Kinder von Tatjana, Sonja und Anastasia (das waren die anderen Freundinnen von Fred), die sind nicht viel jünger. Sie haben alle ein gutes Verhältnis zueinander, auch wenn das in den letzten Jahren etwas gelitten hat, weil sie sich nicht mehr so oft sehen.
Opa Leon hatte versucht, in den letzten 12 Monaten den Kontakt zwischen den Kindern zu verbessern. Sie hatten manchmal ihre „Tante“ Anastasia, manchmal Tatjana oder Sonja besucht. Manchmal hatten sie sich in ihrem gemieteten Ferienhaus in dem großen Seengebiet getroffen, für ein Wochenende.
Was jetzt vor ihnen liegt, wird sie wohl so beschäftigen, dass der Kontakt zu den Geschwistern zurückgehen wird. Irina ist sich sicher. Jeder Umzug hat etwas gewaltiges.
Dank ihrer Kräfte können sie sehr gut deutsch sprechen. Mit dem Schreiben hapert es aber gewaltig und sie werden viel lernen müssen.
Irina wird in die neunte Klasse kommen. In Deutschland wird das allerdings ein ganz anderer Stoff sein, als an ihrer Schule in Atlanta. Es wird nicht leicht werden.
Nur gut, dass Opa Leon sie erst mal mitnehmen wird nach Berlin. Sie werden die nächsten 2 Wochen viel zusammen unternehmen, dann wird sich zeigen, wann sie nach Brandenburg ziehen. Das Haus, was Leon und Vera dort bauen, ist nicht fertig geworden, aber sie werden einen Weg finden.
Leon legt großen Wert darauf, dass sie vom ersten Schultag an in der neuen Schule sitzen werden. „Sonst wird die Eingliederung zu schwierig“, hatte er gewarnt. „Auch so wird das nicht ganz einfach für euch werden.“
3.
Als sie auf dem Airport Berlin-Brandenburg ankommen, staunt Irina nicht schlecht. Sie sieht plötzlich eine Hand durch die Luft wirbeln, an der ein Arm hängt, dann schieben sich Oma Katharina und Tante Lara durch das Gedränge. Na, das ist ja toll.
Oma Katharina ist der gute Geist der Familie. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Sie umarmt Irina und Dimmy. Sie umarmt Leon und Vera. Irina schielt zu Oma hoch. Ist da wirklich nichts, das an Eifersucht erinnert??? Aber Irina sieht nichts dergleichen.
Lara umarmte ihren Vater lange. Irina sieht die Ströme von Energie, die zwischen den beiden hin- und herfließen. Sie schnappt auch ein paar Worte dieser Kommunikation auf, die da lautlos zwischen den beiden stattfindet. Dann umarmt Lara auch Vera und meint. „Seid willkommen in Deutschland.
Schauen wir mal, dass ihr euch gut hier einlebt. Vera, du weißt, dass du mich jederzeit rufen kannst, wenn du mich brauchst?“
Mama ergreift die Hände von Lara. Irina sieht den Dank in ihren Augen. Lara meint es wirklich ehrlich, das spürt Irina, und Mama, die scheint das auch zu spüren. Dann nimmt Lara die Hand von Dimmy, Oma nimmt Irinas Hand und lacht. Leon organisiert einen Rollwagen für die vielen Taschen, holt sie am Gepäckband ab und sie gehen zusammen zum Taxi. Die sind hier fast weiß und nicht so schön gelb wie in Atlanta, aber auch sie fahren mit Solarstrom und Gas. Es ist inzwischen überall auf der Welt so.
Oma und Lara bringen die Familie zu ihrer neuen Wohnung, dann verabschieden sie sich. Abends werden sie sich wieder sehen. Oma hat sie zum essen eingeladen. Das weiß Irina schon. Wenn Oma zum Essen einlädt, dann wird mächtig was aufgefahren.
Als Irina, Dimmy, Vera und Leon endlich alleine in der Wohnung sind, bittet Leon alle zu sich.
„Wir sind gerade eben erst durch eine neue Tür getreten. Vor uns liegt eine ungewisse Zukunft. Nun nicht ganz. Wir haben viele Freunde hier. Wir haben unsere sicheren Jobs, aber vieles ist noch unsicher und neu. Wollt ihr erst mal in der Wohnung ankommen, ein bisschen Musik hören, ein bisschen nachdenken oder schlafen? Nachher fahren wir mit der U-Bahn und mit dem Bus ins Zentrum. Nein, wir springen nicht dorthin. Wir müssen uns erst einmal erden, bevor wir diese Kräfte nutzen. Erdung heißt, sich hier vertraut zu machen und diese Bindung dauerhaft zu knüpfen. Wir benutzen die Verkehrsmittel, die alle hier benutzen. Wir gehen zu Fuß. Wir fahren U-Bahn und Bus. Fahrräder haben wir hier nicht, und das Board kann Dimmy später im „Zentrum“ nutzen, aber nicht auf unseren ersten Touren durch Berlin. Das Zauberwort heißt Erdung.“
Sie sind aufgekratzt und Leon sieht, dass sie jetzt nicht schlafen werden, deshalb fängt er sein leichtes Gesumm an. Dimmy versucht sich anfangs dagegen zu wehren, aber gegen die Kraft von Leon kommt er nicht an. Irina weiß das schon und sie macht gar nicht erst den Versuch, sich zu sträuben. Sie schlafen auf der Wohnzimmercouch ein. Leon deckt sie zu und zieht sich mit Vera zurück.
Sie legen sich in das große Bett, angezogen, wie sie sind. Sie legen die Arme umeinander und Leon summe leicht, bis auch Vera und Leon in einen leichten Schlaf fallen.
Als Leon aufwacht, schläft Vera noch. Er verspürt Lust auf Vera und beginnt sie zu streicheln. Vera wacht davon auf und es ist das erste mal, wo sie in Deutschland zusammen kommen. Dann liegen sie keuchend nebeneinander und Veras Gesicht liegg an Leons unrasierter Wange. Es kratzt, aber es macht Vera heute nichts aus. Ach, was liebt sie diesen Mann.
Dann sieht Leon auf seine Uhr. „Wollen wir mal?“
„Ist schon Zeit“, fragt Vera und Leon nickt. „Wir müssen nicht hetzen, aber wir sollten die Kinder jetzt mal wecken.
Sie duschen alle, sie ziehen sich um, und machen sich auf den Weg. Es ist ein langes Stück Fahrt. Sie müssen mehrmals umsteigen, schließlich geht es im Bus weiter. „Zurück können wir springen“, meint Leon beruhigend, aber jetzt lernen wir erst mal ein Stück von Berlin kennen.“
Berlin ist um vieles größer als Atlanta. Irina weiß das schon, aber die Fahrt zeigt ihr, was Größe bedeutet. Atlanta hat grade mal 640.000 Einwohner, Berlin inzwischen fast sieben Millionen. Es war in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen.
Das „Zentrum“ kennt Irina bereits.
Sie laufen heute die Treppen hinauf, bis sie an diese Stahltür kommen, die das oberste Geschoß verschließt. Leon hat eine Codekarte und schließt die Tür damit auf.
Dann gibt es nur noch eine Treppe. Hier oben ist das Reich der Familie. Hier ist die Wohnung von Oma. Es gibt hier Gästewohnungen und Zimmer, die nur für die Familie reserviert sind.
Als sie dann durch die Tür von Oma Katharinas Wohnung kommen, hören sie schon Gelächter und Stimmen.
Sie sind nicht die Einzigen. Oma Katharina hat Gäste.
Als sie in die riesige Wohnküche kommen, staunt Irina nicht schlecht. Tante Helen ist da und ihr kleines Mädchen, Aysa mit ihren vier Kindern und mehreren Enkelkindern, Roman, Jochen, Lara, und ein paar Musiker, die sie schon kennt. Robert und auch Evi und Cindy. Dann sind da noch ein paar Freunde von Opa und Oma und auch Tante Conny, die Geigenvirtuosin. Auch Juanita. Ihre elfjährige Tochter Elvira und zwei weitere Kinder sind da, die Juanita jetzt von einem deutschen Filmproduzenten bekommen hat. Onkel Spek sitz da, und sogar Jens Faruk und Fatima. Irina kennt sie alle und doch wieder nicht.
Fatima ist eine der ganz Großen in der Musikbranche. Eine Legende. Ihr Sohn Jens Faruk hatte ihr nachgeeifert, aber er hatte sich irgendwann vom Gesang und Gitarre auf das Musikmanagement verlegt. Jens Faruk ist so etwas wie der Guru unter den Musikmanagern. Er tritt als Musiker (der er ja immer noch ist) selten öffentlich auf, obwohl er als Musiker ein Genie ist, aber er kennt die Gruppen fast alle. Nicht nur in Berlin. Auch in London, Amsterdam, Stockholm, Frankfurt und New York. Er managt Bands in den USA, in Frankreich, Australien und China, in Indien und - natürlich auch in Deutschland. Seine Firma hat allein in Berlin 180 Mitarbeiter, und es gibt Ableger in Bombay, New York, London, Lima, und sogar in Moskau. Viel mehr weiß Irina allerdings auch nicht, außer, dass Jens Faruk bei Videoproduktionen eng mit Irinas Tante Lara zusammenarbeitet, und die wiederum betreibt die bedeutendste Videoproduktion in Europa.
Die Küche ist wirklich riesig. Es duftet nach Braten und sie werden mit einem vielstimmigen Hallo begrüßt.
Dimmy ist baff. Alles hat er erwartet, aber das nicht. Er hat in den USA eine große Familie. Er kennt die große Familie in Peru. Das hier steht dem in nichts nach. Jetzt versteht er, warum Opa ihn eingesummt hatte. Das wird ein langer Abend werden.
Oma hat Pute gemacht. Es gibt diverse Gemüse und Sossen. Reis, Nudeln und Kartoffeln. Tante Aysa hatte sich um die Herstellung von frischen Säften gekümmert. Das ist es, was sie so besonders gut kann. Alle helfen irgendwie mit, und nach Eis und Kaffee gehen sie hinüber in das Wohnzimmer - eigentlich eine Lounge - und Evi fängt an zu singen. Sie wird bald begleitet von Robert, Cindy und Jens Faruk. Fatima beginnt zu tanzen und summt dazu. Die Kinder und Enkelkinder von Aysa tanzen mit. Es ist eine gewaltige Jamsession und ein Stück folgt dem nächsten.
Tante Helen zieht sich mehrfach zurück, um ihr Kind in Ruhe zu stillen. Sie ist bereits zum zweiten mal schwanger, aber es ist noch nicht viel zu sehen. Irina weiß schon, dass ihr leiblicher Vater Fred auch der Vater des ungeborenen Kindes von Helen ist. Sie hatte mit Opa darüber geredet und Opa hatte mit den Schultern gezuckt. „Das war der Wunsch von Helen. Sonja war einverstanden. Fred war einverstanden. Mehr muss uns nicht interessieren. Du wirst also noch einen Bruder bekommen.“
Ja, Irina hat viele leibliche Geschwister, aber sie weiß, dass alle diese Geschwister Kinder der Liebe sind. Alle diese verschiedenen „Frauen“ von Papa wissen voneinander. Sie hatten viele Jahre alle zusammen gelebt. Irina hatte das nie anders erlebt, als dass sie eine gemeinsame große Familie sind. Die andern Mütter waren auch für Vera wie eine Mutter. Als Mama dann fortgezogen war nach Detroit, um die Ausbildung der Mac Best Food Manager zu organisieren, hatte das an dem Zusammenhalt nichts geändert. Als Mama dann Papa verließ, um mit Opa Leon zusammenzuleben, hatte das auch nichts geändert an dieser wunderbaren großen Gemeinsamkeit.
Nun spürt Irina, dass sie hier in Berlin noch eine zweite Familie hat. Eine Familie aus vielen guten Freunden. Es ist ein schönes Gefühl.
Als sie müde werden, beschließt man, das Fest aufzulösen. Es hat viel schmutziges Geschirr gegeben. Leon schlägt vor, sie werden morgen helfen kommen.
Dann springt Leon mit Vera und seinen beiden Enkelkindern in ihre neue Wohnung. Irina und Dimmy sind inzwischen so müde, dass sie sofort einschlafen, und auch Vera und Leon ziehen sich zurück.
Am nächsten Morgen schlafen sie aus, dann springen sie zu Oma Katharina und helfen ihr beim Abwasch und beim Aufräumen.
Später gehen sie zu Aysa, nehmen einen Brunch und Leon schlägt vor, gemeinsam in den Stadtwald zu fahren. Unten im Sportshop mieten sie sich Elektroräder, sie nehmen den Linienbus mit dem Fahrradanhänger und verbringen den Nachmittag im Stadtwald. Es gibt da mehrere Ausflugsrestaurants. Sie essen schließlich etwas zu abend, bringen die Räder zurück und springen in die Wohnung. Irina und Dimmy sind müde. Die Zeitumstellung macht ihnen zu schaffen, und sie gehen gleich ins Bett. Leon und Vera haben den Abend für sich und genießen die Zeit mit sich alleine.
4.
Am nächsten Morgen wird Irina wach, weil es Sturm klingelt.
Sie schlüpft in den Bademantel und geht an die Tür. Sie trifft Opa Leon im Flur. Draußen steht ein Lieferant, den Aysa geschickt hat. Aysa, die eine ganze Reihe von türkischen Läden in Berlin befehligt. Sie lässt vier große Kartons bringen. Wasser, Säfte, Brot, Käse, Oliven, Butter, frische Hörnchen und türkisches Fladenbrot. Es gibt Kiwis, Orangen, Bananen, Äpfel und verschiedene Gemüsesorten, wie Tomate, Paprika und Gurke. Außerdem Kaffee und Tee.
Der Lieferant hilft, alles in die Küche zu tragen, dann verabschiedet er sich. Ein Brief liegt dabei, von Aysa und Lara. Es ist ein Willkommensgeschenk. Irina ist wirklich baff.
Leon lacht. „Dann wollen wir mal. Hilfst du mir?“
Sie kochen Kaffee. Sie decken den Tisch. Irina kann sich das nicht verkneifen und muß an den frischen Hörnchen knabbern. Croissants gibt es in den USA so gut wie nicht. Das ist wirklich eine Spezialität. Aysa hat noch etwas mitgeschickt: salzige Butter, Marmelade, handgemachtes Pflaumenmus und Honig.
„Pflaumenmus? Opa, was ist das?“
„Heb dir dein Hörnchen auf“, rät Leon. „Probier das, zusammen mit süßer Butter und Pflaumenmus. Dann weist du, was das ist.“
Dann gehen sie Dimmy und Mama wecken.
Es heißt, was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht, aber Irina konzentriert sich ganz auf das Pflaumenmus. Sie riecht erst daran. Es ist fest und fast schwarz. Es geht mit dem Messer schwer zu schneiden und es ist ziemlich schwierig das handgemachte und fest eingekochte Mus auf das weiche Hörnchen zu bringen, ohne es dabei zu zerbröseln, aber Irina läßt sich nicht entmutigen.
Dann macht sie die Augen zu und steckt das Hörnchen in den Mund. Sie beißt ab und kaut langsam. Der Geschmack des Hörnchens, der fettigen Butter und der süßen pflaumenartigen Masse vereinigen sich zu etwas völlig Neuem. Irina spürt, wie der Speichel in den Mundraum schießt. Der Geschmack und der Duft steigen ihr in die Nase, und die Geschmacksnerven von Zunge und Gaumen erfassen dieses Neue als Genuss.
Es ist etwas völlig anderes, als dieses Essen bei Oma. Diese Pute und dieses Gemüse. Es ist fein und doch kräftig. Irina sitzt da, mit geschlossenen Augen und vergißt die Welt um sich. So etwas hat sie wirklich noch nie gegessen. „Hmmm.“
Dimmy ist eher für was Kräftiges. Schwarzwaldschinken, Schimmelkäse und italienische Salami. Aysa hat ein Schwarzbrot mitgeschickt. Dimmy belegt jetzt Fladenbrot mit Schinken, einem Salatblatt und Gurkenscheiben, bestreicht das Schwarzbrot mit gesalzener Butter und legt die Scheibe noch obendrauf. „Whoaah“, meinte er. „Musst du mal probieren. Das ist voll Hammer.“
Leon lächelt. Er fasst nach Veras Hand. Das ist ein guter Anfang.
Später reden sie darüber, wie sie die nächsten zwei Wochen verbringen werden.
Leon ist erst mal für Urlaub. Bisschen Müggelsee, bisschen Musikzentrum, bisschen Ostsee, dort bei Tante Cindy und ihren Pferden in der Holsteinischen Schweiz, und auch mal Sachsen, Brandenburg, München, oder an die Elbe.
Langsam eingewöhnen, schlägt er vor.
Aus den 2 Wochen werden drei. Nun haben sie nur noch eine Woche bis zum Schulanfang und Leon sieht mit ihnen nach dem Haus in Brandenburg.
Er hatte in der Firma zwei Mitarbeiter beauftragt, sich um alles zu kümmern. Als sie jetzt dort nachsehen, ist innen fast alles fertig. Putz, Elektrik, Tapeten, die Böden. Die Fußleisten fehlen, und die Fliesen sind noch nicht ganz fertig verfugt. Die Türen haben noch keine Klinken und der Außenputz ist nicht dran. Der Garten und der Zaun fehlen auch noch.
Im Prinzip ist das Haus bezugsfertig. Die Firmen hatten wirklich schnell gearbeitet. Es gibt keinen Keller. Das hatte man sich gespart. Stattdessen gibt es eine starke Beton-Bodenplatte, die mit Stelen im Boden verankert ist. Sie ist gegen die Bodenkälte gedämmt und es gibt eine Fußbodenheizung. Die Solarpaneelen auf dem Dach sind noch nicht angeschlossen, aber sie haben schon heißes Wasser über die Erdwärmepumpe.
So nutzen sie die letzte Ferienwoche, um sich Möbel zu kaufen und die Wohnung einzurichten. In der kleinen Stadt gibt es außerdem noch eine kleine Wohnung, die ist für Mo Li, das frühere Kindermädchen von Irina und Dimmy. Vera und Leon hatten mit Mo Li gesprochen. Sie wird in einigen Tagen mit ihrer kleinen Schwester und ihrem Neffen hier ankommen und sie wird auch in Zukunft für die Kinder da sein.
Das finden Irina und Dimmy wirklich gut. Mo Li ist schon viele Jahre bei ihnen. Sie ist wie eine zweite Mutter für sie. Vera und Leon hatten sie überredet, von den USA hierher zu ziehen. Es hatte etwas Überredungskunst gekostet, denn die kleine Schwester von Mo Li und der Neffe müssen hier eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz bekommen. Dafür wird Leon sorgen. Er hat es versprochen.
Da Mo Li die Kinder liebt, hat sie sich schließlich bereit erklärt. Leon wird sie am Airport Berlin abholen.
Irina findet, das ist wirklich eine gute Lösung. Mo Li ist ein Stück Heimat. Sie ist nicht nur vertraut, Mo Li hat auch eiserne Regeln. Irina hat das zu schätzen gelernt. Mo Li ist herzenswarm, aber Vera hatte immer wieder und immer wieder mit Mo Li und den Kindern über die Notwendigkeit von festen Regeln gesprochen. „Das ist es, was uns Halt gibt“. Mo Li hatte immer dafür gesorgt, dass die von Vera gesetzten Regeln auch eingehalten werden.
Mo Li hatte auch im letzten Jahr mit ihnen zusammen in Atlanta gewohnt. Ihre kleine Schwester und ihr Neffe waren „Zuhause“ in Detroit geblieben und hatten ihre Ausbildung zu Ende gemacht. Sie waren von einer Nachbarin betreut worden und Vera hatte die Kosten dafür übernommen. Nein, wirklich, Mo Li gehört schon fast zur Familie.
5.
Irina ist Opa Leon dankbar, dass er ihnen dieses Stück Urlaub gegönnt hat. Dieses Möbelkaufen und Einrichten ist zwar spannend, aber es ist auch anstrengend. Schließlich müssen all ihre Sachen aus dem Container noch ins Haus gebracht werden, die sie mit Leon und Dimmy dorthin gebracht hat. >Dieses Einrichten, Auspacken und Einräumen ist nervig und in diesen Tagen liegt wirklich viel rum. Bei Dimmy sieht es aus wie nach der Schlacht im Teutoburger Wald und schließlich muß Mama ihrem Sohn helfen. Dimmy bringt das nicht alleine auf die Reihe.
Irina ist sich aber auch darüber im Klaren, dass sie in einer völlig privilegierten Situation ist. Opa ist hier der Chef dieser riesigen Firma. Sie haben genug Geld. Sie werden im eigenen Haus wohnen und sie haben diese übernatürlichen Kräfte. Außerdem sprechen sie fließend deutsch, englisch, spanisch und russisch. Wenn es Konflikte gibt, so hatten sie gelernt, die anderen einzusummen. Schließlich hatte es Opa bisher verstanden, sie hervorragend in dieses neue Land einzuführen und dann ist da auch noch diese riesige Familie aus Freunden, auf die sie im Notfall zurückgreifen können.
Irina sieht offen und mit Spannung in die Zukunft. Sie ist wirklich nicht das typische Immigrantenkind. Sie ist deutlich privilegiert. Das kann ihr helfen, es birgt aber auch die Gefahr des Neids und der Überheblichkeit. Dann denkt sie daran, was Oma Katharina immer von der Erdung spricht. Sie redet mit Dimmy und Dimmy sieht sie lange und schweigsam an. Dann nickt er zustimmend. Durch seine Aktivitäten mit dem Board und dem Bike hat er wirklich erstklassigen Zugang zu den Kids seiner Altersgruppe. Hier wird das sicher ähnlich sein, wie in den USA, aber er stimmt seiner Schwester zu. Integration heißt in erster Linie, dass man sich an die Bedingungen anpasst, ohne sich selbst zu verleugnen. Er hätte das nicht so formulieren können, aber ja, es steht deutlich vor seinem geistigen Auge und Irina liest seine Gedanken. Sie nickt. Schließlich haben sie ja noch Opa und Vera. Sie wissen, dass sie mit den beiden über alles reden können.
Als Mo Li kommt, bringt Leon die kleine Familie im Ort unter. Es ist eine kleine helle Wohnung. Leon hat während der Fahrt gesummt und er hat sich erzählen lassen. Er hat nach der Ausbildung und den Vorlieben der beiden „Kinder“ gefragt. Chan Lan (die schöne Orchidee) hat Interesse an Sozial-berufen. Irgendwas mit Krankenhaus, Kindern, genau weiß sie das nicht. Ji Long (der heldenhafte Drache) hat in einem Eisenwarenladen gearbeitet. Na so eine richtige Ausbildung war das nicht. Er hat mitgeholfen und alles mögliche dabei gelernt. Der Lohn war gering gewesen, und er war ziemlich oft schlecht behandelt worden.
Da die drei kein Wort deutsch sprechen, macht Leon den beiden „Kindern“ folgenden Vorschlag. „Ich könnte versuchen, Chan Lang an das hiesige Krankenhaus zu vermitteln, oder in den Kindergarten, aber Voraussetzung ist, dass sie erst mal deutsch lernt. Ji Long könnte ich in eine Autowerkstatt vermitteln, in den Elektronikmarkt, den wir hier im Ort haben, oder auch in unsere Fabrik. In jedem Fall müsst ihr hier aber noch eine Ausbildung haben, wenn ihr nicht als ungelernte Kräfte arbeiten wollt. Sonst gibt es nicht viel Geld zu verdienen. Das was ihr bisher gemacht habt, das wird hier nicht anerkannt.“
Er fährt fort: „Ich möchte euch einen Vorschlag machen. Wir haben an unserer Schule einen Bauernhof angegliedert. Es gibt dort Tiere und einen Gemüsegarten. Es gibt einen Tierarzt, der regelmäßig kommt und auch einen Hufschmied. Es gibt Werkzeuge, die ständig in Schuss gehalten werden müssen. Viele dieser Tätigkeiten könnt ihr durch Zusehen und Zuhören lernen. Es gibt auch einen Hofladen. Wir haben Sensen, die geschliffen werden müssen und Traktoren, die gewartet werden. Unser Bauer spricht ziemlich gut englisch und auch unsere Pferdepfleger sprechen das ziemlich gut. Wenn ihr also dort ein oder zwei Jahre mitarbeitet, dann lernt ihr deutsch. Vielleicht hat Ji Long dann Lust, Hufschmied zu werden oder Pferdepfleger. Vielleicht hat Chan Lan Lust im Laden zu bleiben oder dem Tierarzt zu helfen. Ihr bekommt ein kleines Gehalt und wenn ihr gut aufpasst, dann findet ihr schnell Anschluss und ihr findet einen Beruf, der euch Spaß macht. Anders als Detroit ist das hier eine sehr kleine und überschaubare Stadt. Ihr werdet hier schnell Freunde finden. Ich bin mir sicher. Was meint ihr dazu?“
Die „Kinder“ können das noch nicht entscheiden. Sie sind 17 und 19, hier ist alles fremd und von der Arbeit auf einer Farm, die gleichzeitig eine Schule ist, können sie sich nichts vorstellen. Sie müssen hier erst einmal ankommen, und Leon sieht Mo Li an. „Also gut. Dann machen wir das anders. In unserem Haus sind erst einmal viele Dinge zu erledigen. Die Kinder können dir ein paar Tage helfen. Vielleicht kann Ji Long die Fußleisten anbringen, einen Gartenzaun bauen, oder den rasen einsäen. Dann hast du ein wenig Zeit übrig und kannst dir mit den Kindern mal frei nehmen, um unsere Kleinstadt zu erkunden. Aber das wird nicht lange so gehen. Ihr braucht ein Ziel für die Zukunft. Lasst uns in ein paar Tagen noch mal darüber reden. Bis dahin werdet ihr Gelegenheit haben, unser Hofgut einmal kennenzulernen.“
6.
Irina weiß noch nicht, dass sie ein Mutant ist. Sie weiß nichts von Artemis. Sie weiß noch nichts von der Aufgabe, die ihrer Familie in dieser Welt noch zukommen wird. Ihre Kräfte sind noch nicht gut ausgebildet, und von dem Umfang der Kräfte, die Tante Chénoa zur Verfügung stehen, ist Irina weit entfernt, aber sie hatte im letzten Jahr viel dazugelernt. Sie verlässt sich voll auf ihren Großvater Leon, ihren eigenen Instinkt und ihr Aussehen. Sie wird das hier in Deutschland schon packen. Sie ist sich sicher. Schließlich wird ihr auch die Position ihres Großvaters in Wittenberge helfen. Die Schule gehört immerhin der Stiftung.
Irina gehört zur Elite. Sie hatte das bisher nur nie so empfunden, und jeder Gedanke, daraus einen Nutzen zu ziehen, um sich persönlich zu bereichern und zu erhöhen, liegt ihr fremd. Irina hat die Gene des Artemis. Sie ist Teil des Clans, und so etwas wie eine soziale Fürsorge ist ihr angeboren. Sie ist schließlich nicht nur ein menschliches Wesen, sie ist auch eine Cantara. Sie weiß das nur nicht. Sie ist unter einer ständigen Anleitung durch das Volk der Cantara, das sich in den letzten Jahrzehnten auf dieser Welt tausendfach vermehrt hat, und auch in ihrem Kopf sitzt. Völlig unsichtbar für die menschliche Gattung.
Irina wird nicht alleine sein, wenn sie sich hier integrieren muss. Sie wird die Hilfe der Cantara haben.
Die Cantara sind sich sicher, nicht alle Konflikte für Irina und Dimmy leicht lösbar zu machen. Wenn man für eine bestimmte Aufgabe vorherbestimmt ist, so wie Irina oder Dimmy, dann muss man lernen, die Mechanismen zu entdecken, die den Lauf der Welt bestimmen. Im Kleinen, wie im Großen, oder anders formuliert, Irina und Dimmy müssen konfliktfähig werden, und sie müssen lernen, wie beide Kontrahenten eines Konflikts stolz und gestärkt hervorgehen, aber doch so, dass Irina und Dimmy ihren Willen letztendlich durchsetzen, zum Wohl aller.
Das ist manchmal eine Gratwanderung, denn was ist letztlich das Wohl aller?
Für die Cantara ist dies nicht diskutabel. Sie wollen ihrer Weltanschauung auf diesem Globus Geltung verschaffen, und der Clan der Auserwählten ist ein Instrument auf diesem Weg.
Soviel weiß Irina immerhin: Sie hat ihre Kräfte erhalten, weil ihre Familie auf dieser Welt eine Aufgabe hat. Aber dieses Wissen ist noch diffus. Sie glaubt, die Kräfte von ihrem Vater geerbt zu haben, und Opa Leon ist nur der Verstärker eben jener Grundfähigkeiten.
Mehr muss Irina zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht wissen. Sie ist eine Lernende.