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Kapitel 1. Die kleine Théra, die Tochter der Sonne

1.

Schon als Théra noch im Mutterleib lebte, lernte sie erstmals dieses wundervolle Gefühl der wärmenden Energie kennen, die sich plötzlich von aussen durch die Bauchdecke zu ihr hinbewegte. Sie dehnte und streckte sich und schwamm im Fruchtwasser auf diese Energiequelle zu. Sie berührte mit ihren kleinen Händen diese Energie, die durch die Bauchdecke zu ihr floss. Noch bevor Théra geboren wurde, erlebte sie diesen Strom noch einige Male.

Als sie frisch geboren war und auf dem Bauch ihrer Mutter lag, um erstmals mit ihren Lippen tastend nach der Brust zu suchen, da saß dieser Quell der Energie direkt neben ihr und sie fasste nach diesen warmen Händen und hielt sich dort am Daumen fest. Obwohl sie bereits abgenabelt war, wirkte diese Hand neben ihr wie eine Nabelschnur, durch die Energie zu ihr, zu Théra hinfloß, warm und pulsierend. Es war wunderbar.

Théra wuchs, und sie wurde von ihrer Mutter in diesem Tuch herumgetragen, in dem Indiofrauen ihre Neugeborenen am Körper tragen. Oft wanderte dieses Tuch zu diesem Quell der Wärme, diesem Jungen Para, der magische Hände hatte, der ihr vorsang und ihr mit leisen Worten von der Sonne und den Wolken erzählte. Er erzählte auch von den Vögeln und diesen vielen Steinen, die sie sah, und die sie damals noch nicht als die Reste einer großen untergegangenen Stadt erkennen konnte, die sie bald prägen würde.

Als Théra drei Monate alt war, kam noch jemand, den sie bald genauso liebte. Genauso warm und energievoll wie Para.

Théra wusste damals nicht, dass das ihr Vater war, der überall bei den Indios nur „der Thénnis“ genannt wurde, was soviel bedeutete, wie der „Sonnengott“. Sie wusste damals auch nicht, dass ihr eigener Name Théra war, die „Tochter der Sonne“. Anders als ihre Mutter, die sie nährte und die sie am Leib trug, hatten ihr diese beiden „Väter“ anderes zu bieten, als eine nährende Brust, und viel mehr, als bloß die Wärme eines Körpers. Sie gaben ihr Kraft in Form von Energiewellen, die in Théras Körper und Kopf hineinwanderten, und sich dort bleibend festsetzten.

Als Théra 3 ½ Monate alt war, gab es eine Zeit, wo sie auf Para und Dennis verzichten musste. In dieser Zeit band sie sich als Ersatz ganz an ihre Mutter. Ihre Mutter Alanque hatte in diesen Wochen das Gefühl, dass Théra sie aussaugt, weil sie besonders oft und intensiv nach ihrer Brust verlangte.

In diesen Wochen kämpften Dennis und Para gegen die Mafia in Peru, um ihre Familie zu schützen. Théra hatte davon natürlich keine Ahnung. Sie war ja noch viel zu klein um zu begreifen, dass es wichtige Pflichten für einen Vater gibt, die weit über die persönliche Anwesenheit hinausgehen. Théra litt unter dieser Abwesenheit. Als Para und Dennis dann wieder in ihrem Leben auftauchten, empfand Théra so etwas wie Glück.

Man kann darüber streiten, ob ein vier oder fünf Monate altes Kind bereits den Begriff des Glücks kennt. Physisch und auch psychisch erlebte Théra dieses Glück wirklich. Dieses Glück des Wiedersehens und die Wiederaufnahme dieser wärmenden Energieströme. Diese zärtlichen Stimmen und diese Gesänge, und diese Erzählungen, die so ganz anders waren, als bei ihrer Mutter. Nicht besser oder schlechter. Sie waren anders.

Théra hatte längst die Bewegungen ihrer Mutter in sich aufgenommen, ihre leichten Schritte und ihre Art sich fast schwerelos zu bewegen. Sie hatte die Herztöne der Mutter gehört und sich im Schritt ihrer Bewegungen gewiegt. Sie nahm auch die ruhige Stimme der Mutter auf, warm und doch klar und sicher, wenn sie mit ihren Mitarbeitern sprach. Sie kannte ihre liebevollen Hände, die sie umfassten, badeten und wickelten. Alles an Mutter war vertraut.

Ihren beiden „Väter“ waren anders. Sie hatten dieselbe Zärtlichkeit wie Mama, aber ihr Vater hatte kräftige Hände, viel größer als die ihrer Mutter. Sie hatte das Gefühl, sie konnte sich hineinlegen in diese großen Hände voller Geborgenheit. Paras Hände hatten hingegen nur die Größe von Mamas Händen. Aber es war manchmal, als wenn sie Funken sprühten, die wie ein Goldregen über Théra auf- und niedergingen.

Para und Dennis sorgten wirklich für Théra.

2.

Als Théra vier Monate alt war, zog sie mit ihrer Mutter aus diesem festen Haus (was Théra damals natürlich noch nicht als „das Hotel“ begreifen konnte) in ein kleines Haus aus Holz um. Es war die Zeit, als „ihre beiden Väter“ für eine Weile fortgingen.

Dieses Holzhaus war anders. Es lebte.

Es war nicht nur dieses Material, was Feuchtigkeit und Wärme transportierte und sich ausdehnte und zusammenzog, und manchmal knackte. Es gab hier viele kleine Tiere: Spinnen, Ameisen, Tausendfüssler, Schaben und kleine gepanzerte Insekten, die sich immer, wenn sie danach fasste, zu einer Kugel zusammenrollten.

Théra beobachtete all das mit wachen Augen. Sie war weit entfernt davon, mit diesen Tieren zu sprechen, aber sie nahm vorsichtig den Kontakt auf. Sie beobachtete.

Sie war zunächst viel zu ungelenk, um diese Tiere mit ihren Händen zu begreifen. Fliegen setzten sich oft auf ihren Kopf, ihre Hände oder ihre nackten Beine. Das kitzelte. Manchmal wurde Théra von diesen Fliegen belästigt. Sie machten mit Théra, was sie wollten. Manchmal gefiel Théra das gar nicht. Théra gab unverständliche Laute von sich. Manchmal grifff sie nach diesen Tieren.

Als dann Dennis und Para wieder zurückkamen und ihr diese spezifische Wärme zurückbrachten, die nur Para und Dennis hatten, da wurde Théra immer wacher. Sie begann zu krabbeln, sie begann mit ihren Händen nach den Tieren zu greifen. Para und Papa erzählten von den Tieren, und sie lehrten Théra Unterschiede zu sehen, wenn auch auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe.

Später lernte Théra zu unterscheiden.

Als sie ein halbes Jahr alt war, spielte Théra bereits mit all diesen Tieren. Sie hatte längst begriffen, dass man diese Tiere nicht essen konnte. Sie ließ die Tiere auf ihren Armen und ihren Beinen herumspazieren. Sie nahm sie mit ihren patschigen Händchen vorsichtig auf, und setzte sie auch wieder auf den Boden, wo sie manchmal in den Ritzen verschwanden, um woanders wieder aufzutauchen. Théras Laute hatten sich verändert. Sie gurrte, pipste und plapperte.

Auch auf der Wiese vor dem Haus gab es solche Tiere. Viel mehr davon. Es gab kleine Vögel die hin-und herflogen und zwitscherten. Théra hörte zu und zwitscherte mit ihnen. Sie sah, wie die Vögel nach Würmern und Insekten pickten und sie verschluckten.

Es gab in dem Holzhaus Mehlmotten. Théra sah zu, wie ihr Vater die Schlupfwespen rief, um die Mehlmotten zu vertilgen. Ihr Vater rief die Spinnen, um die Silberfischchen aufzuessen.

Sie lernte schnell, aber noch ein wenig diffus, dass die Welt der Tiere durch einen Zyklus aus Leben und Tod bestimmt wird. Zunächst verstand sie nicht, warum ihr Vater diese Tiere rief, um andere Tiere zu töten, doch Papa versuchte ihr das zu erklären. Sie konnte das mit ihren sechs Monaten natürlich noch nicht verstehen.

In dem Holzhaus gab es Mäuse. Auch die lebten von Insekten, aber auch von Getreide, Käse oder Speck, den sie Théras Mutter stahlen. Théra liebte diese Mäuse. Sie nahm Kontakt zu ihnen auf, fiepste mit ihnen, und es war bald so, als würden die Mäuse Théra verstehen.

Théra beobachtete die Mäuse genau. Speck und Käse gab es genug. Sie hatte nichts dagegen, wenn die Mäuse sich bedienten.

Ihr Vater untersagte den Mäusen bald, sich im Haus aufzuhalten. Théra verstand das anfangs nicht. Manchmal lud sie die Mäuse heimlich ein und führte sie in die Speisekammer, aber bald weigerten sich die Mäuse der Einladung zu folgen. Dennis hatte es ihnen verboten. Dennis hatte viel mehr Macht als Théra. Er konnte mit den Mäusen sprechen, er galt bei ihnen als großer Zauberer. Die Mäuse spürten seine Aura und die manchmal gefährliche, ja tödliche Kraft, die in seinen Händen lag. Sie wussten, dass Dennis verstand, was die Mäuse sagten. Er sprach ihre Sprache. Er hatte für die Mäuse eine Miete hinter dem Haus gebaut, in dem alle möglichen Essensabfälle landeten, von denen die Mäuse jetzt gut leben konnten. Er war gütig, er tat ihnen nicht weh und er bat sie manchmal um einen Gefallen. Aber Dennis war strikt, was dieses Verbot anbetraf. Die Mäuse achteten das Verbot des Mannes, der für sie „der Thénnis“ war. In den Augen der Mäuse war Dennis ein Gott.

Théra hatte längst gelernt zu krabbeln und sich überall an Gegenständen hochzuziehen. Sie machte ihre ersten Gehversuche. Ihre Laute wurden immer deutlicher, und sie konnte sich inzwischen mit all diesen Tieren unterhalten. Sie hatte begriffen, dass für die Mäuse eine eigene Futterkrippe hinter dem Haus angelegt worden war. Oft besuchte sie die Mäuse und sah ihnen beim Essen zu. Die Mäuse kannten Théra längst und liefen nicht weg. Vor Théra, vor Dennis und auch vor Para brauchten sie sich nicht zu verstecken. Die drei waren keine Gefahr für die Mäuse.

Mit acht Monaten konnte Théra nicht nur die Mäuse, sondern auch all die anderen Tiere rufen: Die Fliegen, die Spinnen und die Tausendfüssler. Es war ein Gemisch aus Lauten, Körpersprache und einem seltsamen Energiefeld, das Théra ausstrahlte und auf das diese Tiere reagierten. Théra konnte sie mit ihrem Energiefeld rufen und auch wieder wegschicken. Dennis und Para hatten diese Fähigkeit, und sie hatten auch Théra diese unbändige Kraft gegeben.

Théra verstand bald, dass Spinnen von dem Blut und der Körpersubstanz anderer Tiere leben. Sie sah, dass andere Tiere von Zucker, Hautschuppen, Holz, vom Saft von Pflanzen oder von Mehl leben.

Papa und Para erzählten ihr vieles von den Tieren.

Théras Mutter war im Sommer sehr beschäftigt. Sie nahm Théra anfangs mit in die Ausgrabung (die sie leitete), später übergab sie Théra an Dennis und Para, manchmal an ihre Freunde im Hotel, das nur fünfzig Meter neben ihrer Holzhütte lag. Théra lernte all diese Menschen als ihre Familie kennen. Als Menschen, die für sie da waren und die für sie sorgten.

In unmittelbarer Nähe wurde nun auch gebaut. Dort entstanden zwei riesige Hallen, die bis in den Himmel ragten (so kam es der kleinen Théra vor). Sie sah sich das staunend an. Sie sah die Betonmischmaschinen, die Schreiner und die Glaser, sie sah die Dachdecker und schließlich wurden oben auf dem Dach glitzernde Platten angebracht. Später würde sie lernen, dass das Sonnenkollektoren waren.

3.

Théra lernte andere Tiere kennen. Mit sechs Monaten sah sie erstmals einen Hund. Para hatte sich in einen kleinen Hund verwandelt. Sie fand das wunderbar. Zuerst war sie etwas erschrocken, aber das Fell dieses Tieres war weich, seine Schnauze feucht, es gab seltsame wuffende Geräusche von sich und es wedelte mit den Ohren und mit dem Schwanz.

Als Para sich dann in Menschengestalt zurückverwandelte, hatte Théra geweint. Sie verstand nicht, wohin dieses wunderbare kleine Geschöpf hingegangen war. Dann hatte Para wieder gewufft und gewinselt und er sprach mit Théra. Sie begriff bald, dass Para diese Sprache des Hundes sprechen konnte, und sie erlebte diese Verwandlung nun öfters. Sie erlebte, dass Para mal ein Hund und mal der Onkel Para sein konnte.

Dann hatten ihr Papa und Para diesen kleinen schwarzen Hund geschenkt, der so übermütig und lebhaft war und außerdem noch diesen kleinen wuschelweichen grauen Hund, der schon so große Pfoten hatte, als er noch ein Baby war.

Théra lernte schnell, sich mit diesen beiden Hunden zu verständigen. Während der kleine schwarze Hund nur wenig größer wurde, wuchs der kleine graue Hund sehr schnell, und er wuchs und wuchs und wuchs. Er hatte schon bald seinen wuschelweichen Welpenpelz verloren und er überragte Théra.

Manchmal nahm er Théra mit seinen Zähnen auf, wie ein Bündel. Er trug sie wie einen kleinen Hund, und er folgte dann Mama oder Papa mit Théra im Maul in die Küche oder ins Freie. Obwohl der graue Hund Théra gehorchte, wachte er stets über sie, und manchmal setzte er sich über ihren Willen hinweg, um sie Mama oder Papa nachzutragen.

Sie verstand bald, dass sie mit diesem Hund eine Art dritten Vater bekommen hatte. Sie nannte ihn Suse, weil Papa diesen Namen für angemessen hielt.

Damals wusste Théra noch nicht, dass es bei den Tieren Männchen und Weibchen gab. Suse war eine Hündin. Klar wusste Théra, dass Mäuse Kinder haben. Sie sprach mit ihnen. Es gab viele Mäusekinder, aber den Unterschied zwischen einem Mädchen und einem Jungen begriff Théra anfangs nicht. Wenn sie mit Papa und Mama alleine war, sah sie, dass Mama einen Busen hatte und Papa einen Pimmel. Sie durfte das auch anfassen. Papa und Mama erklärten ihr das, aber sie verstand das damals noch nicht.

Sie erlebte, wenn Papa und Mama Liebe machten. Meistens war das, wenn sie schlief. Sie spürte Geräusche, Bewegungen und Hitze. Manchmal wachte sie auf, und wurde dann von Papa oder Mama in die Arme genommen, bis sie wieder eingeschlafen war. Den Unterschied zwischen einem Jungen und einem Mädchen lernte sie erst später.

4.

Papa, Mama und Para waren viel unterwegs. Théra war mal bei dem einen, mal bei dem anderen in Obhut.

Dann gab es noch dieses große Haus, in dem so viele Menschen lebten. Einige davon waren immer da, andere waren nur kurz da und dann kamen andere, um wieder nur kurz da zu sein. Théra lernte schnell zu unterscheiden. „Bübchen“, Moses, der „kleine Spanier“ und ihre Tante Apanache waren immer da. Manchmal wurde Théra auch von Apanache oder von Bübchen herumgetragen. Es gab auch Personal, das immer da war. Théra lernte, zwischen den Hotelgästen zu spielen und in der Küche zu stibitzen.

Sie konnte noch nicht laufen, als sie all das kennenlernte. Sie krabbelte anfangs überall hin, und begann sich bald an Stuhlbeinen oder an den Hotelgästen wackelnd hochzuziehen. Es roch in der Küche gut und es gab dort immer irgendwelche Leckereien, Obst, Quarkspeisen, Pudding und Kuchen. Es gab auch verschiedene Gemüse, Fleisch und Fisch. Sie liebte es, von all diesen Dingen zu kosten. Jedes schmeckte anders. Es gab höllisch scharfe Schoten und verschiedene Kräuter und Nüsse, die an die Speisen gegeben wurden, um sie aromatischer zu machen. Da war dieser Koch, der eine so schwarze Haut hatte, und der ein Freund von Papa war. Er ließ sie naschen, er erzählte und sang mit Théra und er war unendlich geduldig. Manchmal schickte er sie mit einem Lachen aus der Küche. Sie wurde dann von Papa oder Apanache abgeholt. Er müsse jetzt mal was arbeiten, sagte er dann immer, die Gäste müssen versorgt werden. So erfuhr Théra langsam, das ein Dienstleistungsbetrieb bedeutet, dass man nicht immer für Théra da sein konnte. Théra lernte das, bevor sie in der Sprache der Menschen zu sprechen begann.

Théra hatte früh die gute Laune ihrer Mutter geerbt. Auch Papa und Para waren stets freundlich. Théra übernahm das als ihr „Markenzeichen“. Die Gäste im Hotel liebten dieses kleine und immer strahlende Wesen, und als Théra ihre ersten Laufübungen machte, durfte sie manchmal einen Teller an die Tische bringen. Mit ihren kurzen und wackeligen Beinen war das nicht immer einfach. Manchmal verschüttete sie etwas, doch sie lernte schnell, den Teller gerade zu halten und ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Erstaunlicherweise nahm ihr nie jemand übel, wenn sie etwas verschüttete. Sie lernte aber bald, dass man es besser machen konnte. Sie lernte zu unterscheiden zwischen richtig und falsch.

Manchmal wurde sie von den Zimmermädchen mitgenommen. Sie sah zu, wie Betten abgezogen wurden, wie Staub gewischt wurde, wie Waschbecken und Toiletten mit einer scharfen Flüssigkeit ausgewaschen wurden und wie die Betten mit herrlicher duftender Wäsche frisch bezogen wurden.

Das Leben war für Théra wie ein Schlaraffenland.

Sie lernte schnell, dass es Grenzen gibt. Nicht alles war erlaubt. Mama, Papa, Para und die anderen zeigten ihr, dass Tabus und Verbote eingehalten werden müssen. Sie waren in vielen Dingen nachsichtig, in anderen Dingen waren sie streng. Théra probierte bald aus, die Grenzen zu überschreiten, aber die Menschen um sie herum, die wirklich wichtig für sie waren, so wie Mama oder Papa, ließen sich in wichtigen Dingen nur anfangs auf Verhandlungen ein.

Manchmal ließen sie es zu, dass Théra die Grenzen überschritt, aber oft wurde sie belehrt, später wurde sie hinausgeschickt, in die Arme genommen oder weggebracht, wenn sie störte. Wenn sie dann trotzig wurde, dann waren es besonders Papa und Para, die sie liebevoll ablenkten, neckten und ihr erklärten, dass Tabus wichtig sind, um zusammenleben zu können.

Einmal hätte sie in der Küche beinahe einen Großbrand verursacht. Sie hatte Fett verschüttet, es war in Flammen aufgegangen. Eine richtige Stichflamme. Ihre Haare und Augenwimpern wurden versengt. Sie war auf den Boden gefallen, und Théra hatte ein paar schlimme Brandwunden an den Händen und den Armen, die bald höllisch weh taten. Sie weinte vor Schreck und Schmerz. Einer der Köche hatte das Feuer sofort mit einem Schaumlöscher zum Stillstand gebracht, aber das Essen war verdorben. Die Küche kam ziemlich in Unordnung. Damals lernte Théra, dass Regeln wirklich wichtig sind. Sie wurde nicht ausgeschimpft, sie wurde getröstet und gepflegt, und sie erlebte durch dieses Ereignis, dass sie nicht nur sich selbst in Gefahr gebracht hatte, sondern auch alle anderen Menschen, die dort in der Küche arbeiteten.

Papa hatte ihre Brandwunden gekühlt und später mit ihr noch einmal ein Feuer angezündet, im Freien. Sie lernte dort, was Flammen für eine Kraft haben. Sie sah zu, wie sie das Holz verzehrten. Papa hatte aber auch einige Kartoffeln in Folie gepackt und in die Asche gelegt. Er hatte zwei Stöcke aufgestellt und Würstchen aufgespießt, die er mit Théra über dem Feuer briet. Die Kartoffeln und die Würstchen waren heiß, aber sie schmeckten köstlich.

Théra hatte an diesem Abend erfahren, wie vorsichtig ihre beiden Hunde mit dem Feuer umgingen. Suse hatte sie einmal von hinten pepackt und von dem Feuer weggezogen. Sie blieb stets in Théras Nähe und hatte ihre Augen überall.

Manchmal sprühten Funken und es knisterte. Sie sah, wie ihr kleiner Hund (den sie Konni getauft hatte) dann die Flucht ergriff. Sie sah Suse manchmal zucken, und sie sah, wie Suse sie anblickte, um sofort einzugreifen, wenn es gefährlich wurde.

Das Verhalten der Tiere zeigte Théra, wie gefährlich Feuer wirklich sein konnte. Die Hunde hatten vor dem Feuer einen riesigen Respekt, obwohl sie sich später unweit des Feuers niederlegten, um die Wärme in sich aufzunehmen.

Papa hatte genickt und erklärt. Lerne stets von den Tieren. Sie sind in vielen Dingen viel klüger als wir Menschen. Papa ließ einige Kartoffeln abkühlen. Théra gab sie den Hunden zum Dank für ihre Fürsorge. Von den Würstchen bekamen die Hunde nichts. Die Gewürze in den Würsten sind nicht gut für die Hunde, sagte Papa.

So lernte Théra zu unterscheiden zwischen der Gefahr und dem Nutzen des Feuers. Sie lernte, dass das auch für andere Dinge galt. Das Wasser des Flusses konnte gefährlich werden. Es gab im Hotel und auch Zuhause Anweisungen und Regeln. So lernte sie etwa, dass es für die Zimmermädchen einen Kleiderkodex gab, auf den strikt geachtet wurde. Sie lernte, dass die Wachen des Hotels ihr manchmal sagten, sie dürfe sie jetzt nicht stören, sie hätten etwas wichtiges zu tun.

Manchmal standen die Wachen dann nur still in der Ecke des Raumes und beobachteten die Umgebung völlig bewegungslos. Théra verstand das anfangs nicht. Sie taten doch nichts. Dasselbe Verhalten sah Théra bald auch bei den Kellnern und bei vielen anderen im Servicebereich des Hotels. Es gab offenbar geheime Zeichen, dann setzten sie sich plötzlich in Bewegung, brachten einem Gast Essen, Trinken oder eine Serviette. Théra lernte, dass das Leben manchmal nur aus warten, beobachten und einem sehr kontrollierten Handeln bestand. Alles schien in einer seltsamen Art der Ordnung miteinander verwoben zu sein.

Théra bekam zunächst nur ein sehr vages Gefühl für eine Art innere Ordnung, die das Leben bestimmt.

Para hatte ihr das einmal erklärt. Sie saßen in der Holzhütte. Sie beobachteten die Ameisen und Para erklärte Théra, dass auch die Ameisen Gesetze und Regeln haben, die bestimmen, wer als Späher unterwegs war, wer das Futter besorgt und wer als Krieger galt. Théra hatte mit den Ameisen Kontakt aufgenommen und die Ameisen erzählten ihr, dass es da ein System gab, welches das Überleben des Stammes sicherte. Ohne Regeln würden die Ameisen nicht überleben, sagten sie.

Théra war sehr beeindruckt.

Théra verstand langsam immer klarer, dass dies auch bei den Menschen nicht anders war.

Manchmal wurde sie von Para oder Papa mitgenommen zum Fluss. Das Wasser war kalt. Sie badeten. Sie bespritzten sich gegenseitig mit Wasser. Papa legte sie auf seine starken Arme und übte mit ihr schwimmen. Dann schallte ihr glockenhelles Lachen durch das Tal und die Arbeiter, die verstaubt in den Ruinen der alten Stadt standen und nach Schätzen gruben, sahen sich an, und sie lächelten sich gegenseitig zu. Kinder bedeuteten für die Indios Leben. Alle kannten dieses kleine Mädchen, das ihre Mutter Théra genannt hatte, die Tochter der Sonne. Sie war wirklich wie eine kleine Sonne. Théra hatte eine warme Ausstrahlung und sie steckte mit ihrem Lachen alle an.

Théra wurde von Para und Papa ein paar Mal mitgenommen in das Tal des Wasserfalls. Es lag eine Tagesreise entfernt. Es gab dort Wald, Wiesen, einen kleinen Fluß und ein paar Holzhäuser. Théra lernte dort andere Kinder kennen. Viel größere. Sie machte die Bekanntschaft von Hühnern, Gänsen, Ziegen, Lamas und Maultieren. Sie lernte, dass es auch in diesem Tal eine Ordnung gab, die alles zusammenzuhalten schien. Jeder hatte seine Aufgabe und Théra lernte sehr schnell, dass es unter den Hühnern, den Gänsen oder den Maultieren auch eine Ordnung gab. Es gab bei den Tieren Anführer und es gab Regeln. Théra schloss sich mit den Tieren kurz. Sie hörte ihnen zu, sie stellte Fragen und sie beobachtete.

Jetzt begann sie Papa und Para wirklich zu verstehen.

Es gab überall eine Ordnung und das war wichtig, um das Zusammenleben friedlich zu gestalten. Papa hatte zwei Lieblings-Lamas, die bei den anderen Lamas unangefochten als die Leittiere der Gruppe galten. Sie sah bei den Tieren aber auch, dass es dort manchmal Rangstreitigkeiten gab.

Bei den Maultieren bekam sie einmal eine Beisserei mit. Sie lernte, dass die Tiere um die Machtposition in der Gruppe kämpfen, um den Weibchen zu gefallen.

Théra war noch kein Jahr alt, aber die Fürsorge von Para und Papa, ihre Fähigkeit, mit den Tieren zu sprechen, ihre Beobachtungsgabe, ihre Unbekümmertheit und ihr wacher Geist zeigten ihr all das immer klarer auf. Sie lernte, die Welt mit ihrer kindlichen Auffassungsgabe und der Kraft des Tunnels zu begreifen.

Überall wo sie war, wurde sie mit Freundlichkeit aufgenommen, von den Menschen und auch von den Tieren. Das prägte Théras Verhalten.

5.

Unten am Fluß gab es eine Siedlung aus Holzhäusern. Dort wohnten viele Menschen. Es waren Indios, wie sie selbst. Alle diese Indios arbeiteten in der Ausgrabung, die Mama befehligte. Es gab dort aber auch einen Laden. Para, Papa und Mama gingen manchmal mit ihr dahin. In dem Laden gab es alles zu kaufen. Es waren immer irgendwelche Käufer da. Manche brauchten Zucker, andere Getränke, ein Sägeblatt, eine Sense oder ein Brot. Andere wiederum kauften sich Kleidung, Schuhe oder einen Hut. Hier erhielt Théra ihre erste indianische Kleidung. Ein Hemd aus Leinen, Sandalen, und einen Poncho, den sie überziehen konnte, wenn es regnete.

Sie erhielt auch ein Kopftuch und einen Hut. Mama hatte ihr erklärt, sie sei eine Quechua. Darauf müsse sie stolz sein. Ein Quechua Mädchen müsse indianische Kleidung tragen.

Viele der Indios hatten Instrumente. Panflöten, Rasseln, Trommeln, Gitarren und verschiedene andere Zupf-, Streich-, und Blasinstrumente. Abends wurde viel musiziert. Die Indios sangen und tanzten, und oft saßen sie zusammen und lernten miteinander.

Für Théra war das wunderbar. Mama sang oft mit. Jeder, der ein Instrument spielen konnte oder singen konnte, der durfte mitmachen, egal wie falsch das klang. Auch Théra mischte sich mit ihrer kindlichen Stimme ein. Anfangs sehr schüchtern und leise. Später trällerte und sang sie, wobei sie bald darauf achtete den Takt und die Töne zu treffen. Mama machte ihr das vor. Théra sang Mama einfach nach.

Es gab hier einen Imbiss mit einem großen Hof, in dem viele Tische und Bänke standen. Einfach und roh zusammengezimmert. Mama, Papa und Para aßen oft dort. Sie ließen Théra kosten. Es schmeckte ganz anders als im Hotel. Théra lernte den Unterschied zwischen indianischem Essen und der gehobenen Küche kennen, die im Hotel gepflegt wurde. Sie konnte nicht sagen, was besser war. Beides war gut, aber beides war anders. Sie sah auch immer wieder Gäste, die sie schon aus dem Hotel kannte. Sie liebten diese Zusammentreffen der Indios genauso wie Théra.

Nun vielleicht nicht genauso. Für die Fremden war das exotisch. Es war Urlaub. Für Théra war das ihre Kultur, ihre Lebensart. Die Menschen lebten auch in Holzhäusern, so wie sie und Mama. Sie sprachen eine eigene Sprache, die Sprache der Quechua und der Aymara Indianer. Die Fremden sprachen mexikanisch, amerikanisch, deutsch oder etwas anderes. Sie verstanden vieles nicht.

Théra hatte das indianisch und das spanisch von Anfang an gehört. Beides wurde „Zuhause“ gesprochen. Außerdem kannte sie von Dennis und Para diese Tiersprache, und sie lernte auch diese universelle Sprache zu verstehen und zu sprechen, die Papa und Para manchmal benutzten.

Außerdem sprachen Para und Papa manchmal in einem indianischen Dialekt, den Mama nicht verstand. Später sollte sie verstehen, dass dies die Sprache der Théluan und der Peruan gewesen war. Auch diese Laute verstand Théra seltsamerweise.

Obwohl diese kleine Siedlung rund um die Ausgrabung weit abgeschieden war, wuchs Théra gleichzeitig mit mehreren Sprachen auf und sie konnte diese Sprachen bald unterscheiden und lernte sie alle zu sprechen.

6.

Als die Sporthalle und die Eventhalle fertig waren, die dort neben em Hotel gebaut worden waren, diese muschelförmigen Gebäude, die sich bis hinauf in den Himmel hoben, da begann Papa regelmäßig verschiedene Musiker einzuladen. Es entwickelte sich bald ein weiteres Zentrum in dem indianische Musik genauso gepflegt wurde wie klassische Musik.

Théra nahm an diesen Ereignissen von Anfang an Teil. Sie lernte, dass es ganz verschiedene Musikrichtungen gab. Jede hatte irgendetwas besonders schönes. Da gab es einen Klavierspieler. Papa hatte sie in dieses Konzert mitgenommen. Théra hatte mit wachen Augen und Ohren dagesessen, der Mund stand offen. Speichel tropfte aus den Mundwinkeln, so vertieft war Théra in diese Musik. Sie sabberte Dennis das ganze Hemd voll. Später schlief sie in seinen Armen ein.

Manchmal kamen Gruppen, die indianische Musik spielten. Théra kannte das aus der Indiosiedlung, dennoch klang es anders.

Schließlich kamen auch Conny, Armando und Fatima. Natürlich kannte sie diese Namen nicht. Aber Mama und Papa nahmen sie mit. So etwas hatte Théra noch nie gehört. Die Musik blieb in ihrem Kopf. Noch lange nachdem die Musiker aufgehört hatten zu spielen.

Théra hatte auf Papas Schoß gesessen. Sie hatte die Ärmchen zu der Musik gestreckt. Manchmal bewegte sie die Ärmchen im Takt der Musik und wiegte mit dem Kopf. Sie hatte fieberheisse Wangen und ihr Atem ging schwer und stoßweise. In dieser Nacht prägte Théra ein eigenes Wort für Musik. Es klang wie eine Mischung aus Geige, Panflöte und dem Gesang Fatimas. In den Folgetagen sang sie immer wieder diese Art der Musik. Manchmal saß sie bei Papa oder Para auf dem Schoß, manchmal bei Mama. Théra sang und sang und sang.

Sie sang auch ihren Hunden vor, die dann anfingen zu kläffen und zu heulen, und der Gesang wurde dreistimmig, Théra und ihre zwei Hunde. Manchmal klang das schaurig, manchmal melodisch. Théra und ihre zwei Hunde hatten einen eigenen Gesang gefunden.

7.

Im Herbst war Papa dann fortgegangen. Mama, Para und einige Menschen im Hotel, die wirklich wichtig für Théra waren, blieben. Papa kam erst im nächsten Frühjahr wieder.

Théra lernte ihren ersten Winter kennen.

Sie spürte, wie es kalt wurde. Sie lernte, wie der Atem vor dem Mund „rauchte“, sie bekam warme Kleidung. Sie spürte die Kälte an ihren Händen, in ihren Lungen und an den Wangen. Sie lernte den ersten Schnee kennen. Diese wunderbaren weissen Flocken, die vom Himmel tanzten, manchmal so dicht, dass man durch dieses Treiben nicht mehr hindurchsehen konnte.

Sie sah, wie der Schnee liegenblieb, sie spürte, wie schwer es war, mit ihren kurzen Beinen gegen diese weisse Masse anzukämpfen. Sie erlebte, wie der Wasserfall im Tal zu einer einzigen großen Wassersäule gefror. Para hatte sie mitgenommen. Sie lebten ein paar Tage bei den Indios in der Hütte, die warm war von der Glut des Feuers. Sie erlebte, wie sich die Hunde vor das Feuer legten und mit ihr im Schnee balgten. Sie spürte den kalten Luftstrom, wenn sich die Tür öffnete und sie merkte, wie wichtig es war, dass sie draussen eine Mütze aufsetzte. Im Stall, bei den Hühnern, den Schweinen, den Gänsen und Ziegen war es immer warm. Manchmal warf sie sich quiekend ins Stroh.

Sie sah, wie die Lamas und die Maultiere mit den Hufen im Schnee scharren, um etwas essbares zu finden. Sie lernte, die Tiere mit Heu zu füttern, und sah wie ihre Schnauzen in der Kälte dampften. Manchmal setzte Para sie auf eines der Maultiere. Dann spürte sie die Wärme unter diesem dichten Fell. Sie legte sich hin und nahm die Wärme in sich auf. Ihre kleinen Hände griffen in den Winterpelz und hielten sich fest.

Para zeigte ihr, dass man auf Maultieren reiten kann. Das war wunderbar. Ein paar mal machten sie Ausflüge hinauf auf die Hochebene. Hier war der Schnee sehr tief. An Weihnachten ging der Schnee den Maultieren bereits bis zum Hals. Die Hunde waren schon lange vorher umgekehrt. Später konnte man gar nicht mehr hinauf.

Sie sah auch, wie sich Para ein paar Mal in einen Adler verwandelte und in die Lüfte hinaufstieg. Das war etwas ganz Neues für Théra. Sie sah zu und staunte.

Sie war noch viel zu klein, um solche Fähigkeiten zu entwickeln, aber sie beobachtete und lernte.

In diesem Winter sah Théra zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum. Es gab hier in Peru keine Tannen. Bübchen hatte irgendeinen jungen Baum abholzen lassen. Er hatte sich aus Deutschland bunte Kugeln und Kerzen schicken lassen.

Der Baum stand in der Hotelhalle und Théra erlebte, wie unter den Arbeitern, den Wachleuten und den wenigen Gästen, die es im Winter hier gab, Geschenke getauscht wurden. Es wurde gesungen. Diese Klänge waren für Théra neu.

Bald wurden die Gesänge abgelöst durch die typischen indianischen Gesänge und Instrumente. Es wurde ein lustiges Fest und Théra träumte in den nächsten Tagen viel davon.

Im Winter lernte Théra auch erstmals die Schule der Indios kennen. Sie kannte das alles nicht, und sie verstand nicht genau, was die Erwachsenen da machten, aber sie sah, wie wichtig das für die Indios und die Wachleute war, was sie da machten. Einige Hotelgäste mischten sich dazu. Sie staunten über diese Schule, und sie ließen sich von der gutgelaunten Schar anstecken, und stellten ihr Wissen bereitwillig zur Verfügung. Es war im Hotel ganz anders als im Sommer.

Théra mit ihren 12 Monaten begriff instinktiv, dass das alles anders war, aber sie konnte das nur gefühlsmäßig begreifen. Es wurde mehr gelacht. Die Menschen genossen die Wärme der Öfen im Hotel, und die Kälte des Schnees ließ sie enger zusammenrücken. Es gab wunderbar duftende Kuchen und gefüllte Gänsebraten. Es wurde viel musiziert und Théra nahm all das tief in sich auf.

Auch von ihrer Mutter hatte sie in diesem Winter viel. Nicht nur, weil Alanque mehr Zeit für Théra hatte, als im Sommer. Théra bekam viel mehr von ihrer Mutter mit. Was mit sechs Monaten eher wie ein diffuses Erleben für sie war, das nahm sie jetzt alles mit wachen Augen auf. Sie stolperte überall mit ihren kurzen Beinen herum. Sie hatte im Laufen inzwischen viel mehr Sicherheit bekommen und sie genoß diese neue Freiheit. Sie hatte richtige Zähne bekommen, das Essen wurde nicht mehr wie früher nur gelutscht oder zwischen den Zähnchen hin und hergeschoben, sondern richtig gekaut. Alles war anders.

Théra lernte den Winter zu lieben.

8.

Als der Schnee taute und der Frühling Gras, Blumen und Blätter herbeizauberte, erlebte Théra schon wieder eine neue Welt. Ihre beiden Hunde wurden regelrecht übermütig. Sie tollten draussen herum und sie kläfften die Blumen, die Wolken und die Sonne fröhlich an.

Sie konnte die warme Kleidung endlich ablegen und tankte die ersten Sonnenstrahlen. Sie begann zu verstehen, was ihr Para über die Kraft und die Güte der Sonne erzählte.

Dann kam Papa wieder.

In ihrem zweiten Lebensjahr erlebte Théra alles viel intensiver und viel bewusster. Sie konnte jetzt selbstständig überall herumstapfen – auch wenn sie mit ihren eigenen Beinen noch keine großen Entfernungen überwinden konnte. Ihre Laute wurden immer klarer. Sie kannte längst solche Worte wie Papa, Mama, Para, Hund und Haus und sie kannte die Namen der Tiere und sie erweiterte ihren Wortschatz immer mehr.

Sie hatte genau aufgepasst, wenn sich Para manchmal in einen Hund verwandelte. Sie begann, sich selbst manchmal in einen Hund zu verwandeln, und sie lernte, dass ein Hund mit anderthalb Jahren eine gewaltige Ausdauer hat. Sie musste aber auch lernen, dass Papa und Para ihr verboten, sich überall und in jedes Tier zu verwandeln. Sie lernte, was ein Geheimnis ist.

Auch das war zunächst ein sehr diffuses Wissen, doch Para und Papa erklärten ihr das immer wieder und immer wieder, bis sie begriff, dass es gefährlich war, sich in manche Tiere zu verwandeln. Sie lernte, dass es in ihrer Familie Fähigkeiten gab, die man fremden Menschen nicht offen zeigen durfte.

Das war ein harter Lernschritt und er formte das Bewusstsein der kleinen Théra. Sie merkte, dass sie anders war, als andere Menschen. Nicht wie Para oder Papa, aber anders als alle anderen und sogar anders als Mama. Sie lernte auch, dass es einige Menschen gab, denen sie ihre Fähigkeiten zeigen durfte. Dazu gehörten Onkel Bübchen, Tante Apanache, der Koch Moses und der „kleine Spanier“, aber nur, wenn sonst niemand in der Nähe war. Anderen durfte sie das nicht zeigen, dass sie gerade lernte, die Gestalt von Tieren anzunehmen und sich nach Belieben wieder zurückzuverwandeln konnte in ein kleines Mädchen.

Papa und Para verboten ihr strikt, sich in eine Spinne, eine Fliege oder eine Maus zu verwandeln. Das Leben dieser Tiere ist gefährlich, erklärten sie. Wie leicht konnte Théra zur Beute werden. Sie begriff, dass sie verletzt oder getötet werden konnte, wenn sie das Falsche tut.

Para und Papa waren in diesem Punkt wirklich energisch. Sie zeigten ihr, wie Fliegen von Vögeln gefressen werden, wie sie sich in Spinnennetzen verfangen, oder wie Mäuse von den Hunden gejagt, gefangen und aufgefressen werden. Das ist der Lauf der Dinge, hatten sie Théra erklärt. Das ist die Natur. Setze dich nicht unnötig einer solchen Situation aus, die dein Leben in Gefahr bringt.

Auch das war ein schmerzhafter Prozess. Théra begann die Tiere mit anderen Augen zu sehen, und sie verstand bald, was sie als Baby bei den Tieren nur als eine Art immerwährenden Zyklus des Lebens sehr diffus beobachtet hatte.

Théra war schließlich mit anderthalb Jahren ihren Altersgenossen weit vorraus, aber sie war - natürlich - immer noch ein sehr kleines Mädchen.

9.

In diesem Sommer erzählten Para und Papa viel von der alten Stadt, die dort ausgegraben wurde. Sie erzählten von einer längst vergangenen Kultur, von der Sonnenkönnigin und von Kriegern der Théluan.

Sie nahmen Théra überall hin, sie verstand (wenn auch zunächst noch sehr verschwommen), dass diese Ruinen einmal eine richtige Stadt gewesen waren mit vielen Häusern und Bewohnern. So richtig konnte sie sich das noch nicht vorstellen, aber sie sah natürlich diese vielen Hütten der Arbeiter, und das war für Théra zunächst eine Stadt.

Théra ahnte, dass etwas zwischen dieser Stadt und ihren Bewohnern besonders war. Etwas, das sie mit diesen Bewohnern verband. Vielleicht war es diese besondere Hochachtung, die Para und ihr Vater bei diesen Indios genossen, die dort in der Erde wühlten und die gegenüber in ihrer eigenen Stadt wohnten.

Sie sah, wie ganze Karawanen von Lamas und Maultieren mit Körben voller Erde und Schutt beladen, und weggebracht wurden. Ein immerwährender Strom von Tieren.

Unten am Fuß des Berges wurden diese Körbe auf Lastwagen umgeladen und weggebracht. Sie sah, dass hier etwas wichtiges passierte, aber sie verstand die Bedeutung noch nicht. Ihre Mutter war immer mittendrin in all diesem Gewimmel. Sie dirigierte, sie leitete an, sie gab Befehle. Es gab Besprechungen, an denen Théra manchmal teilnehmen durfte, bis es ihr zu langweilig wurde. Sie durfte auch Scherben, Steine, Goldstücke und andere Funde in die Hand nehmen. Papa und Para erzählten ihr dann geduldig von diesen Dingen.

Papa und Para nahmen Théra oft mit in ihr Tal des Wasserfalls. Das Tal wurde Théra bald zu ihrer zweiten Heimat. Ein Teich war angelegt worden. Sie konnte mit den Maultieren, den Gänsen und den Schweinen viel besser reden als ein Jahr zuvor. Théra nahm alles viel bewusster auf. Sie lernte auch mit den anderen Kindern zu spielen, auch wenn es so war, dass die Kinder der Indiofmilie mehr auf Théra aufpassten, als wirklich mit ihr zu spielen. Der Altersunterschied war einfach zu groß.

Im Tal des Wasserfalls gab es Füchse, Eulen und es gab noch viele andere Wildtiere. Para zeigte ihr die Rehe und die Wildschweine, die Eichhörnchen, die Wiesel, die Raben, die Kaninchen und die Luchse.

Manchmal nahm Para sie mit auf die Hochebene. Dort lernte Théra eine ganz andere Welt kennen. Eine Welt aus Gras und Gestrüpp, eine Welt mit klaren und kalten Seen. Eine Welt, in der es Adler, Riesengürteltiere und Pumas gab. Es gab hier wilde Hunde. Füchse und Mäuse gab es überall. Manchmal rief Théra die Mäuse und ließ sich von ihrer Welt auf der Hochebene erzählen.

Als es dann Winter wurde, ging Papa wieder fort. Alle andern blieben. Théra erlebte ihren zweiten Winter, ihr zweites Weihnachten und sie merkte bald, dass ihre Mutter einen dicken Bauch bekam. Es war Para, der ihr erklärte, dass in diesem Bauch ein kleines Mädchen wuchs. Théra würde im Sommer eine kleine Schwester bekommen.

Mama ließ sie den Bauch befühlen. Théra konzentrierte sich ganz stark, und sie konnte bald den Herzschlag dieses kleinen Wesens spüren, das hier wuchs. Es gab zwei Herzschläge. Den von Mama und den von ihrer kleinen Schwester. Théra konnte das bald deutlich voneinander unterscheiden.

Dann schmolz der Schnee. Das erste Grün zeigte sich, die Hunde tollten wieder draussen herum und bellten vor Freude die Blumen und die Sonne an.

Papa kam wieder.

Théra hatte ihn lange vermisst. Sie lag an diesem abend lange in Papas Armen, und sie erzählte Dennis von ihren Erlebnissen im Winter und von all diesen Tieren, die Para ihr gezeigt hatte. Ihre menschlichen Worte waren einfach, aber sie hatte ja ihren Strom von Energiewellen, die Papa viel besser erzählten, was sie alles erlebt hatte, als sie das mit ihren wenigen menschlichen Worten beschreiben konnte. Später lag sie mit Papa und Mama in dem großen Bett. Sie spürte die Wärme und die Liebe von Papa und Mama und sie war glücklich.

10.

In diesem Jahr sah Théra, wie die Stadt langsam wuchs. Überall um das Hotel herum entstanden neue Gebäude. Die Siedlung der Arbeiter wurde zu einem Teil durch feste Bauten ersetzt. Viele neue Arbeiter zogen zu. Es waren vorwiegend Aymara und Quechua Indianer, so wie sie.

Papa ließ ein Appartementhaus errichten, in dem die Angestellten des Hotels kleine und saubere Einzimmerappartements bezogen.

Nur ihr eigenes Holzhaus - in dem sie mit Mama und Papa lebte - blieb unverändert. Sie liebte dieses Haus.

Sie hatte schon mehrere Unwetter in diesem Holzhaus erlebt. Sturm und Regen. Das Haus lebte wirklich. Es knackte und knarrte. Die Balken bogen sich manchmal ein wenig unter der Last des Sturms. Sie sah, wie Spinnen, Käfer, Wespen und Mäuse Zuflucht suchten, wenn sich das Wetter änderte. Sie sah auch, wie ihre Hunde manchmal die Nasen schnüffelnd in die Luft hoben, und die Luft prüfend durch die dicken Nasen einsogen. Sie lernte, selbst auf solche Wetterveränderungen zu achten, und begann sie zu spüren, längst bevor solche Ereignisse eintrafen.

Im Winter lebte sie mit Mama und Para im Hotel. Das bot mehr Sicherheit und es war warm.

In diesem Winter hatte ihr Para etwas gezeigt. Er war mehrfach mit ihr ins Tal des Wasserfalls gezogen. Einmal ritt sie auf einem Maultier. Ein anderes Mal verwandelten sich Para und Théra in große Hunde und liefen zusammen neben den Maultieren her. Ein drittes Mal verwandelte sie sich zusammen mit Para in ein Lama. Das war ja ein leichtes Laufen. Im Tal lag Schnee. Während Suse bis zum Bauch im Schnee versank, lief sie mit Para fast mühelos durch den Schnee. Es machte den Lamas gar nichts aus.

Para hatte in der Hütte der Aymara warme Kleidung für sich und Théra deponiert. Es war schon lästig, dass Théra sich für solche Verwandlungen immer erst nackt ausziehen musste. Lamas oder Hunde tragen nun mal keine Menschenkleidung. Sie hatte jetzt begriffen, dass diese Verwandlungen ein Geheimnis waren. Die Aymara im Tal wussten allerdings davon. Para hatte sie verpflichtet, nie etwas darüber zu sagen.

Im Tal saßen sie mit den Kindern der Aymara Familie in der warmen Stube, Para lernte mit den Kindern und den Eltern schreiben, lesen und rechnen. Er erzählte indianische Märchen. Théra nahm all das in sich auf. Schreiben und lesen war noch sehr fremd. Sie konnte das nicht, aber sie hörte genau zu. Es gab bald einzelne Worte, die sie grob entziffern konnte.

Sie sahen nach den Hühnern und Gänsen. Théra liebte all diese Tiere. Sie waren für sie wie Brüder und Schwestern.

Dann kam der Tag, wo Théra von Para in ein leeres Hotelzimmer mitgenommen wurde. Er fasste sie an den Händen und bat sie, die Kleidung anzubehalten und zu versuchen zu erraten, was er gerade denkt. Théra konnte das nicht. Sie sah Para an, runzelte die Stirn, und sie versuchte es noch einmal und noch einmal. Dann hatte sie eine diffuse Ahnung von Fliegen und stand plötzlich in Papas Holzhütte im Tal des Wasserfalls. Para nahm sie mit hinaus in die Schneelandschaft. Théra staunte. Sie sah Para lange an und bat ihn, sie hochzunehmen, so dass sie in seinen Armen lag. Para setzte sie auf die Hüfte und Théra schlang ihre kleinen Arme um Paras Hals.

Es war das erste Mal, dass sie diesen Sprung machte. Diese Überwindung von Raum. Sie hatte gespürt, wie sie durch eine Art Tunnel flog. Warm und dunkel. Später sprang Para mit Théra zurück. Diesmal landeten sie in dem winterleeren und unbeheizten Holzhaus von Papa und Mama. Para hatte ihr erklärt, dass auch Papa solche Fähigheiten hat, und dass Théra mit niemandem darüber reden dürfe, auch nicht mit der Familie in ihrem Tal des Wasserfalls. „Das ist ein Geheimnis unserer Familie“, hatte Para gewarnt.

Er war mit Théra hinüber ins Hotel gegangen. An diesem Abend lag Para lange neben ihr im Bett, und erzählte von den Königen der Théluan Krieger, vom Urwald und von seiner eigenen Familie, seiner Mutter und seinen beiden Schwestern. Langsam begriff Théra, dass Para nicht ihr Onkel war, sondern ihr Bruder. Dass Papa auch der Papa von Para war, und dass Para aus der Vergangenheit gekommen war, um sie, Théra, zu beschützen. Théra lag mit roten Wangen neben Para. Manchmal richtete sie sich auf. Manchmal legte sie sich auf Paras Brust und hielt ihn mit ihren Ärmchen fest.

Sie verstand sehr diffus, dass ihre Familie eine lange und fast königliche Tradition hatte, die Théra mit der Vergangenheit verband, aus der Para gekommen war, um sie zu beschützen.

Inzwischen war es wieder Sommer geworden. Papa war längst wieder da. Théra hatte viele Fragen. Papa nahm sie jetzt oft in die Ausgrabung mit und erzählte Théra von diesem geheimnisvollen Volk, das einmal hier gelebt hatte und das Théras Familie war. Théra nahm das auf mit ihren zweieinhalb Jahren und sie bat Papa manchmal, mit ihr ins Tal des Wasserfalls zu springen.

Sie sah, dass Papa das genauso gut konnte wie ihr Bruder Para. Es machte sie glücklich.

Mamas Bauch wurde in dieser Zeit immer dicker. Théra fühlte das Leben in diesem Bauch. Sie nahm Kontakt auf zu diesem Wesen, das dort wohnte und sie merkte, wie dieses Wesen, das einmal ihre Schwester werden sollte, manchmal die kleinen Händchen von innen fest gegen die Bauchdecke drückte, um Théras Hände zu fühlen.

Längst bevor ihre Schwester geboren war, bestand eine Art der Kommunikation zwischen den beiden Schwestern. Sie waren miteinander verbunden durch ein Band aus Energie.

Als Théras Schwester im Sommer geboren wurde, staunte Théra, wie klein dieses Wesen war. Es konnte nicht mit Worten sprechen wie sie, aber sie fühlte, wie sich ihre kleine Schwester mit ihr durch Energieströme verständigte.

Die kleine Schwester wurde Clara genannt.

Théra sah zu, wie Clara an der Brust von Mama trank. Jetzt wurde ihr bewusst, wozu diese Brust gut war. Sie durfte manchmal daran nippen. Es schmeckte süss, und sie begriff, dass auch sie, Théra, lange von dieser Brust genährt worden war. Jetzt war sie schon groß und jetzt lernte sie von Papa und Para ganz andere Dinge.

11.

Im Sommer kamen viele Indios in die neu gebaute Siedlung. Männer, Frauen und Kinder.

Immer wieder durfte Théra mit Papa, mit Para oder mit einem ihrer Freunde aus dem Hotel dorthin gehen. Sie lernte jetzt viele neue Kinder kennen. Kleine und große.

Dann gab es ein einschneidendes Erlebnis. Eines der Kinder war krank geworden. Papa hatte Para hingeschickt, und Para hatte Théra mitgenommen.

Das Mädchen lag mit hohem Fieber im Bett. Der Arzt, der manchmal kam, um nach dem Kind zu sehen, wusste keinen Rat mehr.

Para hatte sich zu dem Kind gelegt und bat auch Théra, sich dazuzulegen. Was dann kam, war wie ein Traum. Para entführte sie in eine neue Welt. Es war, als wenn Théra sich in ihre Atome auflöste. Sie spürte, wie sie zusammen mit Para in den Körper dieses kranken Kindes kroch. Sie flogen durch die Blutbahnen. Sie besuchten das Herz, die Leber und den Darm dieses Kindes. Sie besuchten die Nervenzellen und das Gehirn. Para nahm sie an der Hand und begann mit Théra zusammen kranke Zellen aufzuspüren. Para zeigte ihr, was gesunde und kranke Zellen sind. Er kroch in die Zellen des Mädchens, er rief gesunde Zellen zu Hilfe, und bildete Gürtel aus Abwehrzellen um die kranken Zellen, bis sie abstarben. Es gab viele davon.

Théra hatte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Para war stets bei ihr, und er führte sie durch den Körper des Mädchens. Später sollte sie erfahren, dass sie drei Tage und drei Nächte neben dem kranken Mädchen gelegen hatten. Ein Netz aus Blitzen hatte sie umgeben. Die Mutter und der Vater des Mädchens hatten still im Raum gesessen und gewartet. Sie hielten sich gegenseitig fest. Sie hatten geweint und gebetet. Manchmal waren sie vor Erschöpfung eingeschlafen.

Dann waren Para und Théra aus den Blutbahnen, den Nervenzellen und dem Körper des Mädchens wieder ausgezogen. Sie wachte auf, sie sah, dass Para nach Wasser verlangte, nach rohem Fisch und nach Früchten. Er hatte dem Mädchen zu trinken gegeben, und er hatte darum gebeten, dem Mädchen nun alle zwei Stunden etwas Wasser, Obst und Fisch zu geben. Sie müsse jetzt viel schlafen. Die Familie dürfe auch nicht darüber reden, was in den letzten Tagen geschehen sei.

Dann hatte Para nach Dennis gerufen. Er wankte mit Théra zurück in ihr Holzhaus. Er war zu schwach, um gerade zu laufen oder gar zu springen. Dort legte er sich mit Théra ins Bett, und schlief mit Théra drei Tage durch. Théra fühlte sich regelrecht ausgelaugt. Manchmal wurde sie ein wenig wach, mehr wie ein Dämmerzustand, Papa war immer da. Er versorgte sie mit Wasser und mit Obst und rohem Fisch. Das hatte sie vorher noch nie gegessen. Es war schwer zu kauen und es schmeckte eigenartig. Dann war sie jedes Mal wieder eingeschlafen. Sie war völlig kraftlos.

Nach drei Tagen wachte sie auf. Para nahm sie mit zum Fluss, und badete mit ihr in diesem kalten und klaren Wasser. Théra spürte, wie das Wasser ihre Müdigkeit wegwusch. Es war wie eine Reinigung an Körper und Geist. Dann waren sie zurückgegangen, hatten noch zwei Tage geschlafen und standen dann auf. Théra fühlte sich wieder fit und voller Kraft.

Diesmal gingen Papa, Para und Théra gemeinsam zu dem kleinen Indiomädchen. Ein Wunder war geschehen. Sie hüpfte und lachte wieder. Es war, als wäre sie nie krank gewesen. Die Eltern warfen sich vor Dankbarkeit vor Para und Théra auf die Knie, aber Para hob sie auf und umarmte sie. Sie aßen gemeinsam, erzählten und sangen zusammen. Para bat die Eltern, niemandem davon zu erzählen.

Dennoch waberte dieses Ereignis wie ein Gerücht durch die Indiosiedlung. Man sprach nur hinter vorgehaltener Hand und Théra erlebte, wie die Indios ihr plötzlich hochachtungsvoll, ja voller Verehrung gegenübertraten.

In den nächsten Tagen und Wochen wollte Théra von Papa und Para viel über dieses Ereignis hören, an dem sie teilgenommen hatte, was sie mit ihren zweieinhalb Jahren aber noch nicht völlig verstand.

12.

Es gab noch ein anderes Ereignis, das für Thera in diesem Sommer bedeutend war. Sie stapfte manchmal alleine in Begleitung ihrer beiden Hunde durch die Ansiedlung. Manchmal besuchte sie auch ihre Mutter in der Ausgrabung. Das war ein sehr weiter Weg für ihre kurzen Beine, den sie nur bewältigen konnte, weil sie immer wieder ein Stück des Weges durch den Raum sprang.

Ihre kleine Schwester war inzwischen geboren worden, Mama ging wieder zu ihrer Arbeit in der Ausgrabung und Clara wurde stets mitgenommen.

Es gab rings um die Ausgrabung immer irgendwelche schwer bewaffneten Soldaten, welche genau kontrollierten, wer in die Ausgrabung durfte und wer nicht.

An diesem Tag waren einige neue Soldaten gekommen. Sie hatten Ausweise kontrolliert, aber sie kannten die Gesichter der Arbeiter noch nicht.

Als Théra mit ihren beiden Hunden angestapft kam, hatte sich ihr einer der neuen Soldaten in den Weg gestellt. Sie war gekleidet wie in Indiomädchen. Er hielt sie für die Tochter eines der Arbeiter. Sie hatte hier nichts zu suchen.

Es war an diesem Tag sehr heiß. Er hatte nichts mehr zu rauchen und er war schlecht gelaunt. Er hatte vor zwei Tagen erfahren, dass seine Frau ihn betrog und er durfte diese Ausgrabung nicht verlassen. Alles war Scheiße.

Als dann dieses Mädchen mit den Hunden vor ihm auftauchte, hatte er grob geantwortet, sie solle bloss abhauen und er hatte die Hand erhoben, um diese Gör wegzustoßen.

Mit der Reaktion des großen Hundes hatte er nicht gerechnet. Er sah trottelig aus, dieser große graue Hund. Er bewegte sich wie in Zeitlupe. Ein Drecksköter.

Als der Soldat die Hand hob, sprang der Hund dem Soldaten aus dem Stand direkt an die Kehle. Es war ein gewaltiger Satz. Das war so blitzschnell geschehen, dass keiner der anderen Soldaten eingreifen konnte.

Der Soldat wurde auf den Rücken geworfen, der Hund stand über ihm. Er spürte diesen heissen Atem und das fauchende Knurren. Jetzt bloss keine falsche Bewegung machen, dachte sich der Soldat. Er hörte, wie um ihn herum die Maschinenpistolen entsichert wurden. Er kannte dieses metallische Klick.

Dann rief dieses Mädchen mit einer hellen und klaren Stimme den Hund zurück. Der Soldat sprang auf, er griff nach seiner MP. Er würde diesen Drecksköter erschießen. Er kam nicht dazu. Einer der Soldaten griff ihm in dem Arm, so dass sich die Ladung Kugeln in den Himmel ergoss. „Bist du wahnsinnig“, wurde er angefahren. Das ist die Tochter von Alanque, der Leiterin der Ausgrabung.“

An diesem Tag ging Dennis zu dem Mann und hatte ein langes Gespräch mit ihm. Irgendwann hatte er genickt. „Geh für ein paar Wochen zurück zu deiner Frau. Sorge dafür, dass deine Ehe gerettet wird. Wenn du deine Frau mit hierher bringen willst, so werde ich mit eurem Oberstleutnant reden. Ich werde dafür sorgen, dass ihr irgendwo im Tal eine kleine Hütte bekommt. Villeicht solltest du mit deiner Frau ein Kind machen. Das wirkt manchmal wie ein Wunder.“

Dennis hielt sein Versprechen. Der Soldat wurde verwarnt, er wurde nicht degradiert, er hatte drei anstrengende Wochen, in denen er nach Hause gefahren war, mit seiner Frau sprach, weinte, schimpfte und ihr Geschenke machte. Dann hatte er mit Dennis telefoniert, und durfte mit seiner Frau zusammen eine der Holzhütten beziehen. Es dauerte tatsächlich nicht lange, da wurde seine Frau schwanger.

Dennis ging zu ihm und er nahm Théra und ihre Hunde mit. „Nicht der Hund“, hatte der Soldat gesagt und gemeint, er solle draussen vor der Hütte bleiben.

Dennis hatte den Kopf geschüttelt. „Théra und ihr Hund sind unzertrennlich. Er wird dir nichts tun, wenn du friedlich bist.“

Tatsächlich hatte sich der Hund still und wachsam hinter die Tür gelegt. Er beobachtete den Soldaten und Théra, und als er sicher war, dass nichts böses passieren würde, stand er auf, stellte sich neben den Soldaten, und legte sich dort schließlich mit einem Schnaufer auf den Boden. Théra hatte die Frau angesehen. Sie kletterte ihr auf den Schoss und legte ihr die Hände auf den Bauch. „Du bekommst ein Kind“, hatte sie gesagt. Das war längst bevor die Frau des Soldaten selbst davon wusste. Die Frau hatte unsicher gelacht und Dennis angeschaut. Dennis war zu dem Soldaten gegangen und hatte ihm die Hand geschüttelt.

„Théra weiß stets, was sie sagt“, meinte er. „Ihr werdet erleben, dass Théra eben die Wahrheit gesagt hat. Meinen Segen habt ihr.“

Es wurde an diesem Abend noch mehr gesprochen, aber das vergaß Théra bald.

13.

In diesem Sommer passierten noch einige bedeutende Dinge.

Die Ausgrabung hatte einen riesigen Erfolg. Oben auf dem Berg wurden Dinge gefunden, die viele fremde Menschen ins Tal lockten. Mama hatte viel zu tun.

In dieser Zeit kümmerten sich Para und Papa intensiv um Théra. Manchmal war Papa weg. Er musste ab und zu verreisen. Wohin er dann ging, erzählte er Théra nicht.

Théra sah, wie sich bei der Ausgrabung so etwas wie grosse Gebäude aus der Erde schälten. Viele Mauern und viele Steine. Papa und Para erklärten ihr den Zusammenhang. Jeder mit seinen eigenen Worten. Hier hatte einmal ihre Schwester gelebt, die zur Königin eines großen Reiches geworden war. Lange bevor Théra geboren wurde. Théra begriff, dass sie Teil einer Dynastie mit einer langen Tradition war. Die Kräfte, die sie hatte, sie, Papa und Para, waren ein Teil dieser Geschichte aus Sonnenkönigen.

Théra entwickelte in dieser Zeit viele Fragen.

Mama konnte einige dieser Fragen beantworten. Auf viele Fragen hatte sie keine Antwort. „Dennis und Para wissen darüber viel mehr als ich“, hatte sie Théra gesagt. „Ich grabe diese Dinge nur aus.“

14.

Auch in diesem Winter ging Papa wieder fort. Théra würde bald drei Jahre alt werden. Sie wollte jetzt wissen, warum Papa im Winter fortgeht und sie an ihrem Geburtstag alleine lässt.

Papa war ehrlich. Er erzählte Théra von einer anderen großen Stadt, weit weg. Er erzählte, dass er dort viele Freunde hat. Er erzählte, dass dort viel Musik gemacht wird. Eine ganz andere Musik, wie bei den Quechua, hatte er gesagt. Dann hatte Papa von Conny der Geigerin, von Armando, dem Panflötenspieler und von Fatima, der Sängerin erzählt.

Théra hatte sich erinnert. Das war lange her gewesen, doch dann stieg diese Musik in ihr wieder auf, die sie damals gehört hatte, als Conny, Armando und Fatima das Konzert in „der großen Muschel“ gegeben hatten, dem Konzertsaal des Hotels.

Sie begann plötzlich zu singen, und ihre beiden Hunde stimmten schauerlich schön in den Gesang ein. Papa hatte gelächelt. „Wenn du etwas größer bist, dann nehme ich dich einmal mit nach Berlin. Dann wirst du Conny und Fatima wiedersehen. Du wirst Musik hören, die du noch nie zuvor gehört hast. Ich werde aber erst mit Mama darüber reden. Sie wird traurig sein, wenn du sie im Winter verlässt.“

Dann erzählte Papa von Bübchen, von Moses (dem Koch), von dem kleinen Spanier und anderen Freunden. Sie kommen alle aus Berlin, hatte Papa gesagt. Berlin ist eine sehr große Stadt. Sie ist ganz anders als unsere kleine Stadt hier. Ich werde dich darauf vorbereiten müssen.

Théra hatte ihre Arme um Papa gelegt und war irgendwann eingeschlafen. Sie träumte von einer fernen Stadt und stellte sich vor, dass es dort viele solcher Holzhäuser gab wie die, in der sie mit Papa und Mama lebte.

In diesem Winter wurde Théra drei Jahre alt. Onkel Bübchen besorgte wieder einen Baum mit vielen Lichtern und Kugeln und es gab Geschenke für Théra.

Die beiden schönsten Geschenke waren zwei Bücher. Eines über Tiere und Pflanzen. Es hatte viele Bilder und es gab dort viele Tiere, die Théra noch nie gesehen hatte.

Das andere war ein Bilderbuch über Berlin. Bübchen hatte sich das extra aus Berlin schicken lassen. Papa hatte es für sie ausgesucht. In den Folgetagen mussten Bübchen, Moses und der kleine Spanier immer wieder von Berlin erzählen. Théra lernte, dass auch die Wachleute des Hotels darüber Bescheid wussten, und sie löcherte sie mit vielen Fragen.

Das andere Buch war anders. Über den Winter hatten die Indios ihre Schulungen verstärkt aufgenommen. Die vielen Kinder der neuen Siedlung nahmen jetzt an dieser Schule teil. Théra ging oft mit Para dorthin. Sie nahm das Buch mit. Sie sah sich mit den anderen Kindern die Bilder an, sie lernte viel über Tiere und Pflanzen, und sie lernte die Zeichen für Tiere und Pflanzen kennen.

Die Siedlung der Indios war inzwischen noch einmal gewachsen. Es gab nun ein großes Zentrum, in dem sich die Aymara und Quechua trafen. Es gab dort viele Läden. Das Zentrum war beheizt. Es gab viele Tische und Bänke. Sie waren immer noch roh zusammengezimmert, aber das störte niemanden. Es gab die typischen Gerichte der Indios und es wurde viel gelacht und gesungen. Immer wieder begannen die Indios Geschichten zu erzählen. Vieles über ihre Traditionen war in Vergessenheit geraten. Langsam bildete sich ein ganz neues Bewusstsein über eine sehr alte Kultur.

Théra hätte gern über ihre eigenen Erlebnisse erzählt, von Königinnen und der alten Stadt, aber Para hatte ihr das verboten. „Alles das, was deine Mutter ausgräbt und was sie über unser Volk herausfindet, darüber dürfen wir sprechen. Das andere bleibt unser Geheimnis. Denk immer daran. Wir wissen manches, was andere nicht wissen. Es muss unser Geheimnis bleiben.“ Théra hatte solche Worte von Papa und Para schon oft gehört. Es tat manchmal körperlich weh, nicht über all diese Dinge sprechen zu dürfen. Théra hielt sich aber daran. Sie sprach nur mit Para, Papa und Mama über diese Dinge, die ein Geheimnis ihrer Familie waren.

Ihre kleine Schwester Clara war nun ein halbes Jahr alt. Clara war äußerlich ganz anders als Théra. Théra hatte die dunklen Haare und die warmen braunen Augen ihrer Mutter. Clara hingegen war blond und hatte die leuchtendblauen Augen ihres Vaters. Nur der Körperbau der beiden Kinder war gleich und Théra spürte, dass auch Clara die gleiche Kraft in sich trug wie Papa, Para und wie Théra selbst.

Théra hatte noch etwas bemerkt. Bevor es Weihnachten wurde, war Mama wieder schwanger geworden. Théra hatte in den Bauch von Mama hineingehorcht. „Ich bekomme einen Bruder“, hatte sie mit Bestimmtheit gesagt.

15.

Ohne dass Théra das wusste, hatte sich in diesem Sommer etwas sehr wichtiges ereignet. Sie sah immer wieder, dass Papa mit einem fremden Mann sprach. Er kam ab und zu. Er hatte Wachleute dabei (Théra kannte den Unterschied zwischen Wachleuten und anderen Menschen) und er schien ein sehr wichtiger Mann zu sein.

In diesem Herbst hatten Dennis und der Ministerpräsident lange zusammengesessen. Dennis hatte über die Ausgrabung gesprochen und über die vielen Schichten aus Erde, die über dem ganzen Tal lagen. Erde, die vor vielen Jahrhunderten aus Asche entstanden war, die aus dem fernen Vulkan herabgerieselt war.

Er lag 120 Kilometer entfernt auf der Hochebene. Stets zeigte sich dort eine dünne Rauchsäule. Théra hatte sie schon oft gesehen.

Papa und Para waren - ohne dass Théra das wusste - schon oft in der Gestalt von Adlern dorthin geflogen. Sie hatten den Vulkan umkreist, und sie hatten auf dem Kraterrand gestanden und in den tiefen blauen See hinabgeblickt, in dem immer wieder Gasblasen aufstiegen.

An diesem Tag hatten Papa und der Ministerpräsident beschlossen, dass in dem Vulkan und an einigen Stellen außerhalb des Kraters Mess-Stellen errichtet werden, um die Aktiviät des schlafenden Vulkans ständig zu beobachten.

Der Vulkan ist schon zu lange still gewesen, hatte Dennis gewarnt. Irgendwann wird er wieder ausbrechen. „Wir wissen nicht, wann das geschehen wird. Wir wissen, wie viele Meter Asche damals herabgeregnet sind. Wir wissen inzwischen, wie viele Menschen von dem gewaltigen pyroplastischen Strom verbrannt worden sind. Es waren Zehntausende. Wir sollten gewappnet sein. Vulkane haben stets bestimmte Zyklen. Dieser Vulkan ist seit langem überfällig. Wir wollen unsere wertvolle Ausgrabung nicht noch einmal verlieren. Schließlich wohnen hier inzwischen viele Menschen. Sie und viele Ihrer politischen Freunde haben hier Häuser. Bauen wir ein Frühwarnsystem.“

Der Ministerpräsident hatte genickt. In den nächsten Wochen waren viele Experten befragt worden. Der Ministerpräsident hatte schließlich angeordnet, dass auf dem Berg und auch rundherum Frühwarnstationen errichtet wurden. Es gab dort bald sehr teure Messgeräte, und es gab dort ein festgebautes Haus aus Stein und Holz, in dem sich ständig ein oder zwei Vulkanologen aufhielten. Der Ministerpräsident hatte auch angeordnet, dass dieses Gebiet, das als Naturpark ausgezeichnet war, stets von mehreren Rangern bewacht wurde, die mit allen Indios Kontakt aufnahmen, die dort oben auf der Hochebene wohnten und Lamas züchteten. Straßen gab es hier oben nicht, aber Wildpfade und Trampelpfade der Lamaherden. Die Gefahr, dass Fremde hierauf kamen, war Gott sei Dank gering.

Der Ministerpräsident hatte Dennis später einmal gesagt: „Die Ausgrabung ist derzeit unser wichtigstes aussenpolitisches Aushängeschild. Wir müssen dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Sorgen Sie für die Sicherheit der Besucher in Ihrem Hotel. Ich sorge für die Sicherhheit der Region.“

Dennis hatte in diesem Herbst auch dafür gesorgt, dass dort neben der Solaranlage, die auf der Hochebene errichtet worden war, ein festes Haus gebaut wurde. Hier wurden Planen in ausreichender Zahl glagert, um die Solaranlage notfalls schnell abdecken zu können. Solche Planen gab es auch im Hotel, um die Solaranlage auf den Dächern zu schützen.

Théra hätte mit diesem Wissen damals nichts anfangen können. Sie wusste davon nichts. Später einmal sollte sie erfahren, wie weise die Vorraussicht von Papa und dem Ministerpräsidenten war.

16.

Als der Frühling kam, kam auch Papa wieder.

Théra hatte den Winter über gelernt, Verantwortung für ihre Schwester Clara zu übernehmen. Aber auch, wenn sie die Älteste war, so war sie doch immer noch Papas kleines Mädchen.

Als Dennis dann gekommen war, hatte Théra ihren Papa mit Beschlag belegt. Sie erzählte ihm von ihren Erlebnissen und sie bat auch Papa von seinen Erlebnissen in dieser fernen Stadt zu erzählen. Papa hielt Wort.

Immer wieder, wenn die Zeit dafür gut war, setzte er sich mit Théra zusammen in einen Liegestuhl, oder legte sich mit ihr auf eine Decke vor ihrem Holzhaus und er erzählte. Théra hatte viele Fragen. Sie lernte Berlin von seiner positiven Seite kennen, aber Papa erzählte auch, dass viele seiner Freunde im Verborgenen leben. Sie verstecken sich vor der Polizei, erzählte Papa.

Théra war in einer Welt aus Geborgenheit und Liebe aufgewachsen. Nur einmal hatte sie diesen Zusammenstoß mit dem Soldaten. Jetzt hörte sie Papa mit großen Ohren und Augen zu. Eine solche Welt war neu für sie.

17.

In diesem Sommer passierte noch mehr. Die Siedlung der Indios wurde fertig. Die Stadt entlang des Flusses wuchs und wuchs. Eine Brücke aus Stahlbeton war gebaut worden, welche die alte Holzbrücke ersetzte. Der Staudamm unten im Tal wuchs und wuchs, und schließlich wurde der See geflutet. Über den Staudamm führte eine Straße, die man als Fussgänger und mit Tieren begehen durfte. Man kam über diesen Staudamm viel schneller in die Ausgrabung hinüber.

Im Sommer wurde Théras kleiner Bruder Pesa geboren. Er war dunkelhaarig wie Mama und wie Théra, und auch er hatte diesen braunen warmen Augen seiner Mutter Alanque.

Théra lernte, dass sie Mama entlasten musste. Sie fühlte sich jetzt schon groß. Manchmal fegte sie mit Mama oder Papa das kleine Haus und sie machte Besorgungen. Mama lehrte sie mit Nadel und Faden umzugehen. Bei den Indios in der Siedlung lernte sie wie man aus der Wolle der Alpaccas Fäden sponn, Decken und warme Pullover webte. Sie lernte, manchmal auf Pesa aufzupassen. Mama nahm das Baby aber fast immer zur Arbeit mit.

Ihre Schwester war noch klein. Para kam oft mit in die Siedlung und trug Clara auf dem Arm. Sie wuselte überall unter den Indios umher und lachte sie alle an. Sie hatte inzwischen richtige Goldlocken bekommen und sie hatte dieselben energiegeladenen Hände wie ihre Schwester. In der Ausgrabung war entdeckt worden, dass zwei der Königinnen blondes Haar hatten. Die Indios wussten, dass Para, Dennis und Théra große Kräfte haben. Sie entdeckten, dass auch die kleine Clara sich genauso entwickelte. Sie konnte in die Menschen hineinhorchen. Sie galt den Indios bald als eine Art Wiedergeburt der Sonnengöttin, die dort in dem Sarkophag gefunden worden war. Die Indios glaubten an diese Dinge.

Schließlich hatten Para und Théra schon mehrfach Kinder der Indios auf wunderbare Weise geheilt. Es waren immer Krankheiten, bei denen das Wissen der Ärzte versagte. Immer wurden Para und Théra von einem geheimnisvollen Feuer umgeben, das manchmal statisch war, das sich manchmal aber auch wild bewegte. Manchmal sprühten Funken, manchmal legte sich dieses Feuer wie ein dichter Nebel über den Raum. Tiere, die in der Nähe waren, wurden still und geradezu andächtig. Sie stellten das Fressen ein. Sie legten sich hin, sie beobachteten das Geschehen, sie winselten manchmal leise. Die Indios wussten, dass sie darüber nicht mit den Weißen reden durften. Es blieb ein Geheimnis unter den Indios.

Para und Théra wurden bald so etwas wie Götter für die Indios. Sie wurden gerufen, wenn nichts mehr anderes half. Sie waren stets freundlich. Nie kam es vor, dass die beiden Geld nahmen. Sie ließen sich gern zum essen und trinken einladen. Sie saßen bei den Schulungen und beteiligten sich daran. Sie lernten, genauso wie auch die Indios selbst lernten. Sie waren ein Teil der Indiogruppe, und dennoch waren sie etwas Besonderes. Sie verlangten keine Unterwürfigkeit und sie hätten das strikt abgelehnt, aber sie besaßen die Hochachtung aller Indios. Diese Hochachtung wurde auch auf die kleine Clara übertragen.

Im Hotel war es nicht anders. Es gab dort viele Indios. Manche halfen in der Küche. Ein Großteil der Zimmermädchen waren Aymara-Indianer, einige bedienten die Gäste. Dennis und Bübchen hatten dafür gesorgt, dass sie englisch lernten. Einige lernten sogar französisch und japanisch. Dennis und Bübchen (der als Direktor alles im Hotel befehligte) sorgten gut für die Indios und sie honorierten jede gute Leistung.

Schließlich war auch die Siedlung von Papas Stiftung gebaut worden, in der alle diese Indios lebten. Die Indios hatten damals darüber diskutiert, sie hatten abgestimmt, sie hatten an den Bauarbeiten mitgewirkt, und sie hatten ihre Familien hergeholt. Ihr Herzblut steckte in dieser Siedlung. Inzwischen wohnten dort über 5000 Indios, Erwachsene und Kinder.

Die Familie von Dennis und ihre Freunde waren für die Indios wie das beschützende und sorgende Oberhaupt ihres Clans.

Théra hatte jetzt eine große „Familie“ bekommen. Alle diese Indios waren „ihre Familie“. Manchmal kam sie alleine mit ihren beiden Hunden und ließ sich von den Indios einladen. Sie aß mit ihnen. Manchmal schlief sie bei ihnen. Théra war ein Teil dieses Clans. Sie konnte überall ein- und ausgehen. Sie kannte nicht jeden der 5000 Indios, aber doch viele von ihnen. Auch bei den Kindern genoss sie eine seltene Hochachtung.

18.

Eigentlich durfte man nicht mehr nur von zwei Hunden sprechen.

Théra war im Frühjahr mit Papa einmal ins Tal des Wasserfalls gesprungen. Die Familie hatte drei Hütehunde, die Para ihnen besorgt hatte und die inzwischen schon wieder eigene Nachkommen hatten.

Papa fand, es sei an der Zeit, dass Théras großer irischer Wolfshund eigene Kinder bekommt. So wurde Suse (so hieß Théras Wolfshund) von dem Leitrüden der Hundemeute gedeckt.

Im Herbst brachte Suse sechs Welpen zur Welt. Es war eine Mischung zwischen Wolfshund und den großen struwweligen Hirtenhunden aus dem Tal des Wasserfalls. Zunächst hatten sie noch ein kurzes dichtes Fell. Sie waren blind. Später öffneten sie die Augen und wackelten auf ihren kurzen Beinchen herum. Sie hatten immer Hunger und piselten überall hin.

Théra und Clara liebten diese Welpen. Es war eine aufregende Zeit.

Clara, die längst gelernt hatte, mit den Tieren zu sprechen, lag manchmal mit der kleinen Meute in dem großen Hundekorb, der Suse und ihren Welpen als Bett diente. Die Welpen turnten auf ihr herum. Manchmal nahm Suse die Welpen ins Maul, und setzte sie von Clara weg, wenn sie gar zu aufdringlich wurden. Suse sorgte für Clara genauso gut wie für Théra und ihre eigenen Welpen.

Am liebsten hätten Théra und Clara alle sechs Welpen behalten. Aber Papa entschied, dass vier der Hunde ins Tal des Wasserfalls gebracht wurden. Théra und Clara durften sich jeweils einen der kleinen Welpen aussuchen.

19.

In diesem Jahr passierte noch etwas. Papa baute unweit der Hütte ein großes Haus. Es hatte einen Keller aus Stahlbeton und vier Etagen. In der obersten Etage würde eine Wohnung für die Familie gebaut. Zum See hin würde es sogar einen Balkon geben mit einem wunderbaren Ausblick. In den unteren Etagen würden Büroräume entstehen.

Noch wohnte die Familie in diesem Holzhaus, das Théra so liebte. Im nächsten Frühling würden sie umziehen. Théra nahm ihrem Vater das Versprechen ab, das Holzhaus nicht abzureißen. Théra wollte es behalten.

Mit ihren kindlichen Worten hatte Théra Papa erklärt: „Du hast mir viel von der Geschichte unserer Familie erzählt. Auch dieses Holzhaus ist ein Teil unserer Geschichte. Es ist mein Leben. Bitte laß es so, wie es jetzt ist. Wir Kinder können das Haus zum spielen und toben benutzen. Ich möchte dort noch oft mit den Spinnen, den Tausendfüsslern und den Mäusen reden und ich möchte das auch meinem kleinen Bruder zeigen.“

Dennis hatte genickt. Das war ein sehr vernünftiger Vorschlag und er hatte Théra versprochen, das Holzhaus würde bleiben.

Die Geburt der Schamanin

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