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ОглавлениеKapitel 1. Der Herr des Dschungels
1.
Als Dennis damals von den Speeren der Karancula Krieger getroffen wurde, hatte die Sonnenkönigin gewütet. Sie vergaß alles, was Dennis sie gelehrt hatte. Sie nahm an den Karancula Kriegern grausame Rache. Sie verschonte selbst die von den Karancula unterdrückten Indiovölker des Urwaldes in Mittelamerika nicht. In einem neun Monate dauernden Feldzug vernichtete sie alles, was sich ihr in den Weg stellte.
Basuna, der weise Minister der Sonnenkönigin sagte nichts. Er wusste: So hätte das der Thénnis nie gemacht. Er hätte mindestens die Buschvölker verschont. Aber mit der Sonnenkönigin war nicht zu reden. Sie war in infamer Weise brüskiert worden. Sie wollte ein Mahnmal ihrer Macht setzen.
Basuna hätte sich selbst in Gefahr gebracht, wenn er etwas gesagt hätte.
2.
Die Buschindianierin Polia, die zweite Geliebte von Dennis, hatte in einer Audienz mit der Königin über den „Thénnis“ gesprochen. Sie würde in ihr Dorf zurückkehren. Sie würde ihre beiden Kinder mitnehmen und sie würde der Königin nicht in die Quere kommen. Faroa, der treue Diener von Dennis würde sie begleiten. Alle andern Diener würden frei sein, so wie sich Dennis das einmal gewünscht hatte. Sie würden die Schule der Thé in eigener Regie und in Gedenken an den Thénnis weiterführen.
Polia nahm nur einen Beutel Gold und Edelsteine, ein paar Decken und Felle, zwei Lamas, Proviant und einen Sack mit Speer- und Pfeilspitzen, sowie einen großen Pack langer Messer für ihr Dorf mit. Alles andere übergab sie der Königin.
Die Königin war großzügig gewesen. Sie hatte Polia gestattet, die Straße durch den Dschungel zu benutzen, der sonst für die Buschindianer ohne Begleitung durch die Thé verboten war. Sie hatte Polia ein goldenes Sonnensymbol mitgegeben, das sie auf Verlangen vorzeigen konnte, um zu zeigen, dass sie in der Gunst der Königin stand. Sie würde den Schutz der Thé Krieger erhalten, sollte das notwendig sein, und Polia würde das Recht haben, sich in den Dörfern mit Nahrung zu versorgen.
Die Reise dauerte über einen Monat. Polia trug ihr kleines Mädchen. Faroa trug ihren Sohn Para, der immer noch unaufhörlich plapperte. Manchmal setzte er Para auf eines der Lamas. Es war wie ein Wunder. Wenn Para mit den Tieren sprach, waren sie gehorsam, und liefen wie von alleine mit.
Para lauschte auch den Vögeln und den Affen im Wald neben der Straße. Manchmal breitete er die Arme aus und begann seinen Singsang, der bald in ein fröhliches Zwitschern überging. Papageien kamen herangeflogen und setzten sich auf Paras ausgestreckte Arme. Para lachte und zwitscherte. Er trällerte und gluckste mit den Vögeln um die Wette.
Manchmal ahmte er den Ruf der Affen nach. Es gab Stunden, da wurden sie von ganzen Affenfamilien begleitet, die neben der Straße von Baum zu Baum sprangen und die kleine Gruppe begleiteten.
Einmal kam ein ganzer Schwarm von Bienen. Es waren Tausende dieser großen, gefährlichen Bienen, die sich von Fleisch ernähren. Heute werden sie Killerbienen genannt. Aber Para stieß seltame girrende und kaum hörbare Laute aus. Die Bienen umschwärmten die Gruppe eine Weile, aber sie griffen nicht an. Die Lamas wollten zunächst die Flucht ergreifen, aber Para hatte sie mit wenigen Worten und ein paar freundliche Klappsen zur Ruhe gebracht. Die Bienen folgten der Gruppe etwa 20 Minuten, dann flogen sie davon.
Faroa kannte diese Bienen. Sie hatten seinen Vater getötet. Er konnte es kaum fassen, was da eben geschehen war. Natürlich kannte er Paras Vorliebe, mit den Tieren zu sprechen, aber so etwas hatte er noch nie erlebt. Er hatte in diesen 20 Minuten eine Todesangst wie selten zuvor. Er sah, dass Para völlig ruhig, fröhlich, ja glücklich schien. Para hatte nicht die Unbeschwertheit eines nichtsahnenden Kindes gezeigt, sondern er hatte sich ganz bewusst und mit klarem Instinkt auf die Bienen eingelassen, sie akzeptiert und auf seine eigene geheimnisvolle Weise beschwichtigt.
Die Folge dieser Erlebnisse war, dass auch die kleine Vera begann, die Töne und Laute von Para nachzuahmen.
Überraschend für Faroa hatte auch Polia in dieser Situation keine Angst gezeigt. Als Faroa sie darüber begann auszufragen, nickte sie ihm freundlich zu. „Ich habe gelernt, den Fähigkeiten von Dennis zu vertrauen. Para hat diese Fähigkeiten geerbt. Ich beobachte das schon lange. Ich habe Para mit den Bären sprechen sehen. Ich habe Para mit Lamas, Vögeln und Affen sprechen sehen. Ich weiß, dass er sich oft zurückgezogen hat, um mit Ratten und Mäusen zu reden. Warum sollte ich Para nicht auch bei den Bienen vertrauen?“
Faroa, der so etwas wie ein väterlicher Freund war, erkannte, dass Para göttliche Fähigkeiten hatte.
Die Reise war lang. Polia und Faroa waren in der Tradition der Indios erzogen. Also blieb es nicht aus, dass die beiden Vertrauten von Dennis bald begannen, das Nachtlager miteinander zu teilen. Polia und Faroa hatten ein neues Leben vor sich. Ein Leben, in dem Dennis nur noch in der Erinnerung und in seinen Kindern fort lebte. Sie mussten sich diesem neuen Leben stellen. Es war nur natürlich, dass Faroa begann, die Stelle des Ehemannes und Vaters für die Kinder einzunehmen. Vieles verband Polia und Faroa. Sie stammten aus demselben Dorf. Sie hatten beide die heilige Stadt kennengelernt. Sie hatten gelernt eine Gruppe von Menschen zu führen und sie hatten gelernt, sich in der großen Stadt zu behaupten.
„Dennis hätte das so gewollt“, sagte Polia irgendwann einmal. Damit war das Thema für sie abgeschlossen.
3.
Auf dem langen Weg wurden sie ein paar mal von Kriegern der Thé angehalten, die dort patroullierten. Sie konnten sich ausweisen und durften ungehindert weiterreisen.
Para nahm alles mit großen Augen und all seinen Sinnen auf. Es war ähnlich, wie damals bei der Reise mit Dennis und der Karawane der Händler. Das Reisen gefiel ihm.
Als sie dann die große Straße verließen und in den dichten Urwald eindrangen, war Para zunächst aufgeregt und begann dann alles noch viel intensiver zu betrachten. Das hatte er noch nicht gekannt.
Die Geräusche, das eigentümlich gedämpfte Licht, die Blumen und die Schmetterlinge in den Wipfeln. Das Surren, flattern und gurren erregte Para. Als sie abends Rast machten, machte er neue Erfahrungen. Es gab hier Insekten, die er nicht kannte. Spinnen, Käfer, große rote Ameisen, Würmer. Er betrachtete. Er befühlte. Er sah ihnen zu und er begann seltsame Laute auszustoßen.
Para war noch zu klein um richtig zu sprechen. Er konnte sich mit seiner Mutter unterhalten, aber es war eine Kleinkindersprache.
Man kann nicht sagen, ob es eine Kindersprache war, mit der er sich nun mit all diesen Tieren begann zu unterhalten. Vielleicht hatte er so etwas wie einen „Babybonus“, der Tiere veranlasst, Jungtiere zu beschützen. Manche sagen auch „Welpenschutz“ dazu. Doch würde sich schnell zeigen, dass es viel mehr war. Denn eigentlich akzeptierten nicht alle Tiere einen solchen „Babybonus“. Für manche Tiere war das eine willkommene Einladung, um das Baby zu fressen.
Als erstes machte Para die Erfahrung mit einer kleinen aber sehr giftigen Schlange. Sie war nur einen halben Meter groß, schwarzgelb und züngelte. Faroa bemerkte davon glücklicherweise nichts.
Para betrachtete sie eine Weile, dann begann er hohe, fast unmerkliche Zisch- und Pfeiff-Laute auszustoßen. Die Schlange kroch auf ihn zu. Sie züngelte und erfasste seinen Geruch. Als Beute war Para viel zu groß. Eine Gefahr schien er auch nicht zu sein. Die Laute verwirrten die Schlange. Para bückte sich, streckte seine Hand aus und die Schlange begann auf seine Hand zu kriechen und sich um seinen kleinen Arm zu wickeln. Para fipste weiter.
Er hatte sich ein Stück vom Lager entfernt. Als Polia ihn rief, zuckte der Kopf der Schlange in ihre Richtung. Feindselig. Aber Para fipste weiter. Die Schlange beruhigte sich und Para setzte sie wieder auf den Boden. Dann ging er zu Polia zurück.
Er erzählte von der Schlange, aber er kannte das Wort nicht. Schlangen hatte er zuvor nie gesehen. Langsam begriff Faroa, was Para da gesehen hatte. Es war eine Natterart und ihr Biß war tödlich. Er schnappte sich eines der langen Messer und ging ein Stück in den Wald, aber die Schlange war fort.
Als sie schließlich in ihrem Dorf ankamen, wurden sie mit großem Erstaunen begrüßt. Es hatte sich noch nicht bis hierher rumgesprochen, dass Dennis tot war.
Es war ein großes Hallo und es gab an diesem Tag ein Fest für die Heimkehrer, an dem viel getanzt und gesungen wurde und bei dem sie auch den toten Gott ehrten, der von ihnen gegangen war.
Für Para war alles neu. Der Dschungel, das Lager, die neue Familie, die Hunde. Er war aufmerksam, er war freundlich. Er ging auf die fremden Menschen zu, die nun seine Familie werden sollten. Mit den Hunden nahm er sofort Kontakt auf.
Sie schnupperten zunächst an ihm. Sie kannten ihn nicht, aber die Hunde merkten schnell, dass dieser kleine Junge kein Feind war. Er roch wie ein kleines Kind. Para hatte „Welpenschutz“.
Schon bald begann Para mit den Hunden zu sprechen. Es war kein Gebell oder Gekläff. Es war seine eigene Sprache, die sich bald mit winseln und wuffen mischte. Er fasste die Hunde an, die sich das sonst nicht gefallen ließen. Er befühlte ihre Ohren und Schnauzen. Er wuffte und winselte. Die Hunde nahmen seine Hände in ihr Maul und sie schleckten ihn ab. Sie nahmen ihn in ihre Familie auf. Sie würden ihn beschützen.
Polia sah das alles. Sie hatte immer ein waches Auge auf ihre Kinder. Sie lächelte. Sie stupste Faroa an und machte eine Kopfbewegung in die Richtung von den Hunden. Faroa sah zu Para. Er wollte etwas sagen wie „Hunde sind Hunde“, er meinte damit, dass man ihnen befehlen müsse, aber Polia sah ihn an und lächelte. Sie nahm seine Hand. „Para macht das auf seine Weise.“
Den andern Krieger der Péruan sahen dieses Spiel zwischen Para und den Hunden, aber es war nicht ihr Sohn. Es war nicht ihre Aufgabe, sich da einzumischen, und sein Großvater, der Takilada des Dorfes sah in die Runde. „Para ist einer von uns, aber er hat die weißen Haare und die blauen Augen seines Vaters.“
Alle wussten, was der Takilada damit meinte. Para war der Sohn des Thénnis. Er war ein Sohn Gottes.
4.
Para lebte sich schnell ein. Im Grunde war die Familie der Buschindianer nicht viel anders, als seine bisherige Familie der Knechte und Mägde in der großen Stadt. Es gab andere Kinder. Die Erwachsenen waren freundlich, manche Frauen hatten dicke Bäuche.
Auch mit den andern Kindern schloss er schnell Freundschaft. Sie hatten ihn zunächst scheu und argwöhnisch angesehen, aber sie hatten auch gesehen, dass Para von dem Dorfältesten mit großem Respekt behandelt wurde. Vor dem Dorfältesten wiederum hatten sie großen Respekt. Er war der Anführer des Dorfes. Keines der Kinder hätte es gewagt, dem Takilada zu widersprechen. Sie wären von ihren Eltern oder ihren größeren Geschwistern sofort zur Ordnung gerufen worden.
Die kleine Familie bezog eine der Hütten. Paras Urgroßmutter gesellte sich dazu. Sie begann einen Teil der Erziehung der beiden Kinder zu übernehmen. Vera war noch viel zu klein, um das alles mitzubekommen. Para akzeptierte die alte Frau sofort. Er spürte diese Güte, doch er akzeptierte auch, dass sie streng sein konnte. Es gab hier im Busch vieles, was er erst noch lernen musste.
Er sah Feuer, die den ganzen Tag und die ganze Nacht brannten. Er spürte die Hitze der Flammen und merkte, wie schmerzhaft diese Hitze sein konnte. Er sah das Wasser des Flusses. Er sah, wie sich das Dorf morgens und abends diesem Ritus des Waschens unterzog. Der Fluss war neu für ihn. Wasser machte Spaß.
Aber er sah auch die Blumen auf der Lichtung, die Lianen und Schlingpflanzen, die sich zum Wasser beugten, er sah bald auch die Fische und die Krokodile.
Er merkte sehr schnell, dass mit diesen Krokodilen nicht zu spaßen war. Er merkte, dass sie ihn verstanden, aber er merkte auch, dass sie ihn fressen würden. „Es ist ihre Bestimmung“, sagte Paras Großmutter. „Sie tun, was sie tun müssen. Sie wollen leben. Ein Leben ohne Fressen gibt es nicht.“
Para hatte sie lange angesehen. Er verstand, dass dies anders war. Tiere waren in ihrer Art unterschiedlich.
Was Para mit den Krokodilen nicht gelang, das gelang ihm mit den Fischen. Wenn er ins Wasser ging, dann versammelte er manchmal eine große Anzahl von Fischen um sich. Sie waren ohne Scheu, sie knabberten an seiner Haut. Es kitzelte und es tat gut. Die andern Kinder lachten und warfen sich in den Fischschwarm, so dass alle auseinanderstoben. Para konnte dann ernstlich böse werden.
Die Kinder lachten ihn zunächst aus, doch dann wurde Para richtig grob. Zunächst hatte er auf einen der größeren Jungen einschlagen wollen, der ihn ärgerte, doch er besann sich. Er fing an, hohe surrende Geräusche auszustoßen. Die Kinder lachten zunächst, doch dann begannen sie sich die Ohren zuzuhalten. Es waren unangenehme Geräusche. Bald wimmelte die Luft von großen Bienen, die sich auf die Kinder stürzten.
Die Erwachsenen sahen das und stießen Schreckensrufe aus. Die Kinder tauchten zum Schutz ins Wasser, aber sie konnten die Luft nicht lange anhalten. Wenn sie auftauchten, waren die Bienen sofort wieder da.
Dann waren die Bienen auf einmal weg. Para stand mitten im Wasser. Selbstbewusst und ohne einen einzigen Stich. Die Erwachsenen begannen ihn auszuschimpfen. Doch Para sah sie mit seinen großen Augen an. „Auch Fische muss man achten“, sagte er.
Es wurde an diesem Tag viel über dieses Ereignis geredet.
Der Takilada musste ein Machtwort sprechen. „Ist einem unserer Kinder etwas geschehen?“ fragte er. Die Kinder sahen sich an. Das wurde verneint. Es war unglaublich. Niemand hatte nur einen Stich bekommen.
Der Takilada sah Para an. „Du hast sie gerufen“, fragte er. Para nickte selbstbewusst. Dann begann er mit seinen wenigen Worten zu erklären, dass die Kinder lernen müssen die Tiere zu achten. Er wollte nur eine Warnung aussprechen. Er wollte zeigen: nicht alle Tiere lassen sich quälen. Killerbienen gehören nicht dazu.
Der Takilada sah ihn lange an. „Ich verstehe, dass du die Fische schützen wolltest. Aber wir leben von den Fischen. Wir essen sie.“ Wieder begann Para auf seine kindliche Weise zu erklären. „Jagen ist jagen“, sagte er auf seine Art. „Quälen ist quälen. Beides ist nicht dasselbe. Wenn wir jagen, um die Fische zu essen, dann ist das unsere Bestimmung.“
Der Takilada sah ihn lange an. Dann sah er in die Runde seiner Krieger und der Frauen und Kinder.
„Der kleine Para hat da etwas sehr kluges ausgesprochen. Gibt es irgendjemanden, der etwas dazu zu sagen hat?“
Einige der Dorfältesten meldeten sich. „Wir leben nach dem Gesetz des Dschungels“, sagten sie. Wir töten um zu leben. Aber wir achten die Tiere, die unser Leben sind. Unsere Kinder haben eine Dummheit gemacht, aber Para sollte lernen, dass wir seine Familie sind. Er sollte die Bienen lieber von uns fernhalten, statt sie auf uns zu hetzen. Wir verstehen, dass er eine Warnung ausgesprochen hat, aber so etwas darf nie wieder passieren.“
Die Dorfältesten hatten ausgesprochen, was richtig war. Para und auch die andern Kinder hatten einen Rüffel verdient. Die Kinder wurden an diesem Abend von ihren Eltern ermahnt.
Auch Paras Großmutter sprach an diesem Abend sehr ernsthaft mit ihm. „Wir sind deine Familie“, sagte sie. „Vergiss das nie.“
Para wachte in dieser Nacht auf und er weinte. Polia nahm ihn zu sich und beruhigte ihn mit ihrem warmen Körper.
Die andern Kinder hatten nun gehörig Respekt vor Para. Er wurde zunächst gemieden. Doch es zeigte sich bald, dass Para nicht der Typ war, um ein Außenseiter zu sein. Er nahm teil, wenn sie Blüten und Früchte sammelten. Er fing Fische, er stellte Reusen auf, er tat alles, was auch die andern Kinder auch taten, ohne sich anzubiedern. Sie vergaßen diesen Konflikt. Das Ereignis blieb in den Köpfen haften.
Es gab andere Dinge, die Para den Respekt der Gruppe verschafften.
Er hatte gelernt, mit den Affen zu reden. Er ließ sich zu guten Plätzen führen, in denen es Früchte im Übermaß gab. Er teilte diese Funde. Er begann mit den Schmetterlingen und Faltern zu reden. Selbst die gefährlichsten von ihnen akzeptierten ihn und sie taten ihm nichts.
Er lernte Heilkräuter kennen und ihre Wirkung und er ließ sich auch von den Tieren zeigen, wie sie Wunden und Infektionen behandeln.
Als er größer wurde, durchstreifte er mit seiner kleinen Schwester den Wald. Sie sammelten Kräuter, Beeren, Triebe und Rinden. Vera hatte ein großes Gespür für diese Kräuter. Sie sammelten, sie brühten auf, sie zermatschten. Sie entwickelten sich zu Medizinmännern des Stammes. Es gab bald kein Heilkraut und keine Giftpflanze, die sie nicht kannten und nicht anzuwenden wussten.
Sie waren für den Stamm eine große Hilfe. Die anfängliche Angst wich einer großen Bewunderung und Hochachtung für die beiden Kinder. Sie waren höchst ungleich. Vera verstand die Laute der Tiere, sie konnte sie nachmachen, aber es war Para, der wirklich mit all diesen Tieren sprach. Vera hatte diese Fähigkeit nicht, die Tiere zu beeinflussen.
Para lernte, ganz in den Tieren aufzugehen. Es geschah erstmals, als er mit seiner Schwester Beeren sammelte. Sie wurden begleitet von einer Horde von Affen. Para sprach mit ihnen, wie er immer sprach und plötzlich wurde er einer von ihnen. Er nahm ihre Gestalt an.
Vera sah ihn mit großen Augen an. Para begann mit den Affen zu turnen und in die Bäume zu klettern. Dann kehrte er mit einigen seltenen Blüten und Früchten zurück. Dann nahm er wieder die Gestalt des Menschen an. Vera fiel ihm um den Hals. Sie weinte ein wenig. Vor Schreck und vor Glück. Para war selbst überrascht und er bat Vera, nichts davon zu erzählen. Noch nicht.
Nun begann Para das öfter zu tun. Es gelang ihm, sich in die verschiedenen Tiere zu verwandeln. Selbst in Ameisen, Spinnen und Kröten.
Einmal begegneten sie einem Panther. Sie waren leichte Beute. Para rief die Affen zu Hilfe. Während die Affen den Panther ablenkten, beobachtete Para dieses riesige Tier. Dann begann Para zu fauchen. Er ging auf den Panther zu. Er nahm Drohgebärden an und dann verwandelte er sich plötzlich selbst in einen schwarzen Panther. Para griff an. Nicht wirklich. Er drohte. Die Affen schrien. Es war ein irres Spektakel. Die beiden Panther funkelten sich an, dann begann der andere Panther den Rückzug anzutreten. Para folgte ihm eine Weile, dann veränderte er seine Laute und wurde beschwichtigend.
Schließlich liefen sie eine Weile nebeneinander. Sie berochen sich. Der andere Panther sprang schließlich auf einen der Bäume und Para kehrte zurück zu Vera.
Als sie den schwarzen Panther erneut auftauchen sah, blieb ihr das Herz stehen vor Schreck, doch Para verwandelte sich zurück in seine Menschengestalt, und er ging auf seine Schwester zu. Er nahm sie in den Arm und beruhigte sie.
„Machen wir das noch einmal“, schlug er vor. Als Vera ihn ansah, verwandelte er sich wieder in einen Panther, aber diesmal sprach er in seiner eigenen Sprache. „Fass mich an“, bat er und Vera begann, ihm ins Fell zu greifen und die Stärke dieser Muskeln zu spüren, diese unbändige Kraft. Para verwandelte sich zurück.
„Wir müssen lernen, mit den Tieren zu leben“, sagte er. „Sie sind nicht gut und sie sind nicht böse. Sie sind Teile des Waldes, so wie die Früchte und das Wasser. Wir müssen lernen, sie besser zu verstehen.“
Vera nickte. Paras Fähigkeiten hatte sie nicht. Sie konnte sich gegen einen Panther nicht verteidigen, aber vielleicht würde sie lernen mit ihm zu leben. Sie konnte sich das noch nicht vorstellen, wie das gehen sollte. Aber sie nahm sich vor, die Augen und Ohren offen zu halten, um zu lernen.
Auch hier bat Para, dem Dorf zunächst nichts zu erzählen.
5.
Auf Dauer ließ sich das nicht geheim halten. Es gab Situationen, in denen Para seiner Familie beistehen und ihnen helfen musste.
So nahm er immer öfter Tiergestalt an und er lernte mit den Tieren des Waldes zu leben. So wie er mit den Menschen sprach, so konnte er die Tiere rufen und um ihre Hilfe bitten.
Er wusste, dass seine Familie von Fleisch lebt und von Früchten, die auch von den Tieren gegessen wurden. Es gab Konkurrenzsituationen. Aber Nahrung gab es im Urwald im Überfluss.
Para nahm an der Jagd nach Fleisch nicht mehr teil. Er überließ das den anderen Stammesmitgliedern.
Seine außerordentlichen Fähigkeiten begannen sich im Urwald herumzusprechen.
Immer öfter wurden er und Vera von anderen Stämmen um Hilfe gebeten, wenn es galt, kostbare Heilmittel zu finden und sie zuzubereiten. Para und Vera waren bald so etwas wie die heiligen Medizinmänner des Urwaldes. Obwohl sie noch Kinder waren, wurden sie von den Indianern der Péruan mit großer Hochachtung behandelt.
Para hatte nicht nur die Fähigkeiten Kräuter zu finden und sie zuzubereiten. Er entwickelte so etwas wie „heilende Hände“. Es geschah erstmals, als der Häuptling eines Nachbardorfes krank wurde. Niemand wusste, was er hatte. Die Dorfbewohner schickten nach Para und seiner Schwester.
Para setzte sich neben den Kranken. Er legte seine Hand auf die schweißnasse Stirn. Er legte sie ihm auf die Brust und die Arme. Er legte sie auf die Beine, die Füße und Genitalien des Mannes. Er lauschte und schwieg. Er schloss die Augen und hörte in den Kranken hinein. Dann gab er Vera die Anweisung nach einer bestimmten Sorte von Früchten und Blättern zu suchen. „Viele Blätter“, sagte er. „Viele Früchte“. Vera nahm einige der Frauen mit. Sie wusste, wo sie suchen musste.
Während sie in den Wald ging, legte Para seine Hände auf die Brust des Kranken und er begann zu summen. Ein leichtes Zittern ging durch Paras Körper, dann begann sich ein elektrisches Feld um ihn zu spannen. Blau und feingeädert.
Die Péruan sahen das Geschehen mit Entsetzen, aber sie wagten nicht einzugreifen. Para saß da. Das elektrische Feld spann sich zwischen seinen Händen und dem Brustkorb des Kranken. Dann begann sich die Hütte mit Ameisen zu füllen. Schwarze große Ameisen. Sie krochen auf den Körper des Kranken, sie krochen in die Nasenlöcher und die Ohren. Sie bedeckten den ganzen Körper wie eine zweite Haut. Tausende.
Die Péruan waren starr vor Angst.
Dann veränderte sich die Stimme von Para und die Ameisen verschwanden. Der Kranke war trocken. Der Schweiß und das Salz waren von den Ameisen aufgegessen worden. Sie hatten Schleim und Blut aus seiner Nase geholt und verzehrt und sie hatten den Kranken viele Male gebissen, so dass das Gift nun in dem Körper des Kranken wirkte.
Para saß weiter dort und sang. Mal weich und melodisch, mal abgehackt und zerstückt. Das elektrische Feld war immer noch da.
Als Vera kam, bereitete sie die Beeren zu. Sie brachte Para die Blätter, und Para bat, den Kranken ganz mit den Blättern zu bedecken. Er ließ die Hände unter den Blättern liegen. Der Schein des elektrischen Feldes leuchtete durch die Blätter. So saß Para die ganze Nacht. Er sang und brabbelte.
Am nächsten morgen schlug der Takilada die Augen auf. Para befahl, ihm vom Saft der Beeren zu trinken geben. „Kleine Schlucke“, bat er.
Er saß weiter neben dem Kranken und ließ ihn durch Vera ständig mit dem Saft der Beeren versorgen. Am Abend begannen sich seine Wangen zu röten. Er erhielt wieder den Saft der Beeren, und Para saß und wachte auch die zweite Nacht bei dem Kranken.
Am nächsten Morgen hatte der Kranke die Augen ganz offen. Er atmete ruhig. Er verlangte nach Wasser. Para befahl, die Blätter wegzunehmen und den Kranken abzutrocknen. Dann brach Para zusammen.
Vera versorgte den Kranken mit Wasser und dem Saft der Beeren. Sie befahl, Para zuzudecken und ihn schlafen zu lassen.
Am nächsten Morgen setzte sich der Takilada auf. Er sah die Menschen seines Dorfes an. Er atmete tief durch. „Ich fühle mich gut“, sagte er. Er stand auf. Er war noch ein wenig kraftlos, aber das war kein Wunder. Dann ging er zu Para. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sah Vera an. „Lass ihn schlafen“, bat sie. „Er hat viel Kraft verbraucht, um dir zu helfen.“
Para schlief drei Tage und drei Nächte lang. Dann wachte er auf und bat um Wasser. Er sah Vera an. „Der Kranke?“ Vera nickte ihm zu. „Es geht ihm gut. Besser als dir.“ „Dann lasst uns baden“, bat Para und das ganze Dorf ging an die Badestelle am Fluss. Para und der Alte waren noch etwas schlapp, doch das kühle Wasser tat ihnen gut.
„In den nächsten drei Tagen gibt es für den Takilada nur den Saft der Beeren und Wasser“, befahl Para. „Nachts wickelt ihr ihn in die Blätter ein. Er sollte am Morgen und am Abend baden. Das reinigt ihn vom Schweiß und den Ausscheidungen der Haut. Das Gift der Ameisen muss den Körper wieder verlassen. Das dauert noch ein paar Tage. Erst dann darf der Takilada wieder essen. Gebt ihm zuerst Obst. Später darf er etwas Trockenfleisch essen. Aber gebt ihm jeden Morgen etwas rohen Fisch und viel Wasser. Er braucht das.“
„Ich bleibe noch zwei Tage. Ich bin sehr müde. Wenn ich wach bin, werde ich weiter nach dem Takilada sehen."
Es war wie ein Wunder. Dem Takilada ging es von Tag zu Tag besser. Auch Para erholte sich und hatte nach zwei Tagen seine alte Kraft wieder. Er war erst acht und er hatte sich die Dankbarkeit und die Hochachtung des ganzen Dorfes verdient.
Dieses Ereignis sprach sich im Dschungel herum. Es wurde sogar bis in die heilige Stadt getragen.
Die Sonnenkönigin sprach mit ihrer Tochter darüber. Sie waren sich einig, dass Para die Kraft seines Vaters geerbt hatte, wenn alles das so stimmte, wie man ihnen das zugetragen hatte. Die Königin zweifelte nicht daran. Sie wusste längst, dass sich dort im Urwald am Amazonas etwas bedeutendes entwickelte. Sie hatte das Dorf von Abgaben verschont, aber sie hörte die Berichte der Handelskarawanen, die das Dorf in unregelmäßigen Abständen besuchten. Sie war recht gut darüber informiert, was dort geschah.
6.
Auch die älteste Tochter von Dennis und der Sonnengöttin hatte solche außerordentlichen Fähigkeiten wie Para. Auch sie war weißhaarig und blauäugig.
Fala hatte schon früh einen guten Kontakt zu allen Menschen am Hof. Sie konnte gut plappern und sie konnte gut zuhören. Sie konnte vermitteln und Frieden stiften. Sie hatte sehr früh einen Teil der Kraft von Dennis bekommen, damals auf dem großen Fest.
Schon in jungen Jahren kümmerte sie sich um die früheren Diener des Thénnis. Sie ermunterte sie mit der Schule fortzufahren und Vera nahm selbst an diesem Unterricht teil.
Bereits mit vier konnte sie alle diese Zeichen lesen, deuten und schreiben. Sie führte neue Zeichen ein. Manches vereinfachte sie, manches ergänzte sie. Sie hatte eine unglaubliche Auffassungsgabe und ein perfektes Gedächtnis. Sie konnte mit Zahlen umgehen und selbst schwierige Rechenaufgaben lösen. Es war ein Wunder.
Fala war stets offen. Sie lobte und sie kritisierte. Sie kannte keine Scheu und kritisierte auch ihre Mutter.
„Der Krieg damals, gegen die Karancula“, sagte sie, „da hast du Fehler gemacht.“ Die Dörfer des Busches haben unter den Karancula gelitten. Du hättest sie zu deinen Freunden machen sollen.“ Sie war vier, als sie das sagte. Woher sie das wusste, konnte sich niemand erklären. Nur Basuna hatte dabei gestanden und den Kopf gesenkt. Er hatte leise in sich hineingelächelt. Er wusste: Fala war die Tochter eines Gottes. „Götter wissen viele Dinge, die Menschen nicht wissen“, hatte Dennis einmal gesagt. Basuna erkannte Dennis in Fala wieder. Sie hatte dieselbe Art, auf Menschen zuzugehen, sie war großherzig, hellwach und mit einer Ausstrahlung, die auf die Menschen um sie herum wirkte, wie die wärmende Sonne am Morgen.
Auch er hatte schon sehr früh alle Berichte über Para gehört. Während Para und Fala ganz offenbar die göttlichen Fähigkeiten von Dennis geerbt hatten, waren die beiden andern Kinder zwar hellwach und begabt, aber sie hatten nicht diese unvergleichlichen Kräfte.
Palasque, der Bruder von Fala hatte sich schon früh dem Interesse an Waffen und Krieg verschrieben. Er spielte gern mit Dolchen, und übte mit der Palastwache. Basuna beobachtete das, und er beauftragte den Heerführer, sich um den Jungen zu kümmern.
Fala war ganz anders als ihr Bruder. Sie nahm an Besprechungen der Minister und der Hohepriester teil. Man konnte mit ihr reden und diskutieren. Sie gab sehr schlaue und gerechte Anweisungen. Sie begann die Beratungsstelle ihres Vaters einzunehmen. Außerdem hatte sie sich schon sehr früh um die Fortsetzung des Hochzeitsrituals gekümmert. Es war verblüffend. Sie hatte wirklich die Stelle ihres Vaters eingenommen. Sie konnte den Menschen in die Herzen sehen. Sie überließ die Trauung stets den Priestern, aber Fala übernahm alle Arbeiten, die vorher anstanden.
Dabei verlangte sie kein Geld. Sie wies es ausdrücklich zurück. „Ich bin die Tochter der Königin“, pflegte sie zu sagen. „Ich habe euch so zu dienen, wie ihr mir gehorchen müsst.“ Auch das war neu. Jeder andere wäre dafür verachtet, vielleicht sogar hingerichtet worden. Es war eine Ungeheuerlichkeit. Aus dem Mund von Fala klang das ganz selbstverständlich. Das Volk liebte Vera, und es begann die Beziehungen untereinander zu verändern. Es war wirklich, als wenn Dennis in Fala weiterlebte.
Die Sonnenkönigin bat Fala manchmal, sich etwas zurückzuhalten um die Hochachtung vor dem Hof nicht zu verwässern, aber Fala wehrte ab. „Ich werde nichts unternehmen, was deine Stellung untergräbt. Du bist die Herrscherin des Sonnenstaates. Ich bin nur deine Tochter.“ Es war wirklich so. Fala hielt sich daran. Sie ließ ihrer Mutter bei den Festen stets den Vortritt. Bei den Besprechungen mit Ministern und den Hohepriestern überließ sie ihrer Mutter stets das letzte Wort. Sie unternahm nichts, was ihrer Mutter schadete.
Nur manchmal, nach einer Sitzung kritisierte sie ihre Mutter unter vier Augen, und bat sie etwas zu überdenken, was sie für falsch hielt. Aber das blieb ein Geheimnis zwischen Fala und der Sonnenkönigin. Nicht einmal Basuna wusste davon.
Außerdem besprachen sich Fala und ihre Mutter oft vor wichtigen Entscheidungen. Manchmal wusste Fala keinen Rat, dann holten sie die Minister und die Hohepriester zu ihren Besprechungen. Fala wuchs in die Rolle der zukünftigen Herrscherin des Landes.
Als sie sechs Jahre alt war, unternahm sie ihre erste Reise. Sie begleitete eine Karawane weit nach Süden und kam mit neuen Eindrücken und Erkenntnissen zurück.
Sie nahm bald regelmäßig an solchen Reisen teil. Sie lernte andere Städte und Fürsten kennen. Sie hörte stets aufmerksam zu und sie ließ nichts zu, was die Stellung der Königin hätte schmälern können. Auf einer dieser Reisen wurde Fala von Basuna begleitet. Er erstattete der Königin Bericht. Er war voller Hochachtung für die diplomatischen Fähigkeiten von Fala.
7.
Als sich das Gerücht um die wundersame Heilung im Lande verbreitete, beschloss Fala ihren Stiefbruder aufzusuchen.
Sie erklärte das ihrer Mutter so. „Du hast mir einmal erzählt, dass du mit Polia eine Vereinbarung getroffen hast. Sie soll in ihr Dorf zurückkehren und den Erben deines Thrones nicht gefährlich werden. Ich sehe da keine Gefahr. Aber ich sehe da ein außerordentliches Talent, was wir uns zunutze machen sollten. Aus diesem Grund will ich meinen Stiefbruder kennenlernen. Ich werde eine Karawane begleiten, die mich in sein Dorf führt. Ich will keine Elitekrieger dabei haben. Ich kann mich selbst verteidigen, wenn es dazu kommen sollte.“
Die Königin besprach das mit ihren Beratern und sorgte für eine ausgesuchte Mannschaft der nächsten Karawane an den Amazonas. Alle Thé waren Krieger. Fala würde mehr Schutz haben als sie vermutlich brauchte.
8.
Die Karawane brauchte zwei Monate um das Dorf am Fluss zu erreichen. Es waren Händler. Also suchten sie jedes Dorf auf, um zu handeln. So lernte Fala vieles über die Sitten und Rituale der Buschindianer. Das war neu für Sie. Auch jetzt zeigte sie sich als die Tochter des Thénnis. Gewiss, sie war auch die Tochter der Königin. Sie konnte Befehle aussprechen, denen man gehorchen musste. Aber Fala zeigte nie Überheblichkeit. Sie ging auf die Menschen zu und lebte mit ihnen. Sie verbreitete Hochachtung. Hörigkeit ließ sie nur in Ausnahmesituationen zu. Sie hörte zu. Sie gab Ratschläge. Sie versprach Dinge an die Königin weiterzuleiten, die sie nicht selbst entscheiden konnte.
Als sie schließlich im Dorf von Polia und Para ankamen, wusste Fara mehr über die Péruan als ihre Mutter.
Die erste Begegnung zwischen Fala und Para war entscheidend. Sie standen sich gegenüber. Zwei blonde und blauäugige Achtjährige.
Para wusste natürlich, wer da vor ihm stand. Bei der Ankunft von Fala waren die Péruan vor Achtung auf die Knie gegangen und sie hatten die Köpfe gesenkt. Auch Para hatte das gemacht, wie alle.
Fala war durch die Gruppe gegangen und hatte Para befohlen aufzustehen. „Du musst Para sein“, sagte sie, und als Para nickte, nahm sie seine Hände und sagte, „mein Bruder.“
Para sah sie lange an. Er fühlte die Kraft in ihren Händen. Sie verband sich mit seiner eigenen Kraft und es begann sich ein Gespinnst von Lichtern um die beiden zu zeigen. Das Gespinnst entwickelte sich zu einem Sturm an Licht. So standen die beiden und sahen sich in die Augen und in die Herzen. Sie erkannten: Sie waren sich ebenbürtig und sie stellten für einander keine Gefahr da. Sie waren Bruder und Schwester. „Meine Schwester“, sagte Para stolz.
Fala blieb zwei Tage da, dann wollte die Karawane weiterziehen. Fala nickte. „Wie lange seid ihr unterwegs? Noch einen Monat? Gut dann holt mich hier wieder ab. Ich bleibe hier.“ Der Kaufmann war bestürzt. Das war mit der Königin nicht vereinbart. Aber Fala blieb eisern. „Wenn dir mein Wunsch nicht genug ist, dann befehle ich es dir. Die Péruan werden mich beschützen.“ Sie sah ihren Bruder an, der ihr aufmunternd zunickte. „Para wird mich beschützen.“
Der Karawane blieb nichts anderes übrig. Ein Bote wäre nicht rechtzeitig in die große Stadt gekommen. Sie mussten sich der Anweisung ihrer zukünftigen Königin beugen.
9.
Dieser Monat war für Fala ein Schlüsselerlebnis. Sie lernte nicht nur die Freundschaft der Péruan kennen, sondern auch ihre Fürsorge, ihre Offenheit und ihre Ehrlichkeit.
Para und Vera nahmen sie mit in den Busch. Sie sah zu, wie sich Para in wilde Tiere und Schmetterlinge verwandelte. Sie sammelte Kräuter und bereitete Tees und Aufgüsse. Sie nahm Fische aus und webte. Sie nahm all das mit offenen Augen und Ohren auf. Es war ihr Dorf. Nicht nur, weil sie die zukünftige Königin war. Es war ihre Familie. Sie lernte viel von Para. Einmal begleitete sie Para und Vera zu einem Krankenbesuch in ein Dorf, das drei Tagesmärsche weiter am Fluss lag. Para und Vera versorgten und bewachten sie. Sie machten es auch möglich, dass Fala nie krank wurde.
Dieser Krankenbesuch war für Fala ein einschneidendes Erlebnis. Der Indio war einem Krokodil zu nahe gekommen und hatte einen Arm verloren. Als sie in das Dorf kamen, war der Mann schon so gut wie tot. Zwar hatte die Medizin Entzündungen und Wundbrand verhindert, aber der Blutverlust und die Schmerzen hatten den Indio bewusstlos gemacht. Para wusste von den Boten, was passiert war. Er hatte unterwegs mit Vera verschiedene Kräuter gesammelt. Dann war er mit Vera in die Sümpfe gestiegen und hatte einige große Kröten mitgebracht. Sie hatten grüne Bäuche und große Warzen. Sie hatten sie auf Blätter gesetzt und in einen Beutel getan.
Als sie ankamen wollte Para sofort den Kranken sehen. „Keine Unterwerfungen“, befahl er den Indios. Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Dann bat er Vera nach einer bestimmten Schneckenart Ausschau zu halten. „Nimm die Frauen des Dorfes mit“, bat er. Zu Fala gewandt sagte er, „du kannst mir helfen.“
Er richtete den Kranken mit Falas Hilfe etwas auf, aber der Indio blieb ohnmächtig. Er legte ihn wieder hin. Dann sah er sich die Wunde an. Der Mann hatte Fieber. Die Wunde sah aber gut aus. Dennis holte die Kröten aus dem Sack, drückte ihnen auf den Bauch, so dass große Mengen Schleim aus den Mündern quoll, er verteilte den Schleim auf der Wunde. Dann bat er um Wasser und wartete auf Vera.
Sie hatte sich beeilt. Sie hatten Schnecken gefunden, aber nicht viele. Para nickte. "Schick die Frauen noch einmal fort. Wir brauchen mehr." Dann verteilte er die Schnecken auf dem Körper des Kranken. Es war eine besondere Art. Eine Kreuzung aus Schnecken und Blutegeln. Sie bissen sich in die Haut und tranken das Blut des Opfers. Sie spritzten dabei ein besonderes Gift in die Blutbahn, das hochtoxisch war und das Blut verdünnte. Als die Frauen mit mehr Schnecken kamen, setzte Para auch diese Schnecken auf den Körper des Kranken. Dann bat er Vera eine bestimmte Sorte von Beeren und Wurzeln zu suchen. Vera wusste Bescheid. Sie nahm die Frauen wieder mit.
Als sie zurückkamen, hatte Para die Schnecken von der Haut entfernt. Sie waren groß und fett geworden.
Sie kochte die Beeren und die Wurzeln zu Tee. Dann warf sie die Schnecken in einen Topf und kochte sie ein.
Para richtete den Kranken erneut auf und flößte ihm etwas von dem Tee ein. Er schlug die Augen auf und Para bat ihn noch etwas zu trinken. Dann setzte er sich neben ihn und begann seinen Singsang. Er legte die Hände auf das Herz des Kranken und sang. Bald begann die Brust des Kranken gleichmäßig im Takt des Atems und im Schlag des Herzens auf und abzuschwellen.
Para warte eine Stunde, dann noch eine. Dann weckte er den Kranken auf. „Du musst essen und trinken“, sagte er. Er gab ihm etwas Tee, dann gab er ihm zwei Löffel von dem Schneckenmus. „Willst du mehr?“ Der Kranke nickte und bekam noch etwas Tee und Schneckenmus. Dann legte er sich zurück und schlief ein. Para legte erneut die Hände auf das Herz und sang.
Nach zwei Stunden wiederholte er die Behandlung. So ging das die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag.
Fala war todmüde, aber sie wachte die ganze Zeit neben Para und dem Kranken und sie beobachtete.
Am darauffolgenden Tag bat er erneut um diese Schnecken.
Die Frauen hatten sich die Stelle gemerkt, wo sie die Schnecken gefunden hatten. Sie kamen bald zurück und Para wiederholte die Behandlung mit den lebenden Schnecken. Diesmal verwendete er sie nicht wieder. „Setzt sie wieder aus, bat er. Lasst sie am Leben. Wir haben ihnen zu danken.“
Dann erhielt der Kranke wieder Tee und Schneckenbrei. Am Abend ging es ihm schon viel besser. Am nächsten Tag richtete er sich auf. Im Laufe des Tages besserte sich sein Zustand zunehmend. Er bekam wieder Farbe im Gesicht.
Para hatte die Kröten mehrfach gemolken, und immer wieder von diesem Schleim auf die Wunde gegeben. Sie sah gut aus. Sie schloss sich. Es bildete sich eine Art dicker Schorf. Nun gab er dem Kranken auch feste Nahrung. Obst, Fisch und Fleisch.
Dann brach Para zusammen. Es war wie das letzte Mal. Er schlief zwei Tage und Nächte. Vera und Fala waren selbst todmüde, aber sie versorgten den Kranken weiter und schliefen zwischendurch abwechselnd. Sie baten, Para ganz in Ruhe zu lassen.
Als Para wieder aufwachte, ging er ans Wasser und nahm ein Bad. „Kein Wasser an die Wunde“, befahl er den Indios. „Lasst die Wunde heilen. Keine heftigen Bewegungen. Gebt ihm den Rest an Schneckenmus. Sucht neue Beeren. Kocht sie zu Tee. Sie sorgen dafür, dass sich neues Blut bildet. "Keine lebenden Schnecken mehr. Der Kranke soll nun normale Nahrung zu sich nehmen. Viel Fisch und Obst.“
Dann machte er sich mit Vera und Fala auf den Rückweg. Sie wurden von drei Jägern begleitet, um sie sicher zurückzubringen. Fala war neugierig. „Was war das mit den Kröten und mit den Schnecken“, fragte sie.
Para erklärte. "Der Schleim der Kröten hat ein Mittel, dass die Wunde reinigt und Entzündungen verhindert. Die Schnecken trinken das Blut und spritzen ein Gift in die Blutbahn, welches das Blut besonders flüssig macht. Der Kranke hatte viel Blut verloren. Er musste das Blut wieder zu sich nehmen, das die Schnecken aus ihm herausgesaugt haben. Deshalb haben wir ihm die Schnecken zum essen gegeben. Die Beeren regen den Körper an, neues Blut zu produzieren. Die zweite Ladung Schnecken hat Giftstoffe aus dem Blut gesaugt. Deshalb haben wir sie wieder freigelassen.“
„Wir Peruan kennen viele Rezepte und Heilmittel. Ich habe gelernt, sehr früh mit den Tieren zu sprechen. Sie haben mir gezeigt, dass es noch viel mehr Heilmittel gibt, als wir Menschen wissen. Ich bin froh, dass mir Vera immer zur Seite steht. Meine kleine Schwester ist mir eine große Hilfe.“
„Und warum hast du kein Geld genommen für deine Behandlung“, fragte Fala.
Para schüttelte den Kopf. „Wir haben hier alles, was wir brauchen. Wenn ich Hilfe brauche, dann sind die Peruan immer für mich da. Sie sind meine Brüder und Schwestern. Wenn ich die Hilfe der Tiere brauche, dann brauche ich sie nur zu rufen. Sieh nur…“
Er stieß einige Laute aus und streckte den Arm aus. Einige Schmetterlinge kamen und setzten sich auf seinen Arm. Sie hatten riesige Flügel, handtellergroß. Sie waren bunt und hatten schwarze behaarte Körper. Para redete mit ihnen. Sie schlugen die Flügel auf und nieder und wippten mit ihren Körpern, als wollten sie tanzen, dann erhoben sie sich wieder und flatterten davon.
Sie hatten für diese Reise zehn Tage gebraucht. Als sie zurückkamen, wartete die Karawane bereits auf sie. „Oh“, sagte Fala bedauernd.
Sie blieb noch zwei Tage, dann verabschiedete sie sich. Sie hatte Para und Vera liebgewonnen. „Sehn wir uns wieder“, fragte sie zum Abschied. „Wer weiß“, sagte Para. Als Péruan darf ich nicht in die große Stadt, aber du bist hier jederzeit willkommen. Wenn du mich brauchst, dann rufe nach mir.“
Sie umarmten sich zum Abschied.
Die Karawane war heilfroh, dass Fala wohlauf war. Sie hatten ihre Geschäfte abgeschlossen und sie marschierten auf schnellstem Weg zurück.
Fala war vier Monate weggewesen. Es wurde Winter als sie in der großen Stadt ankamen.
Die Königin atmete auf, als sie Fala gesund und munter wieder zurück sah. Sie hatte rote Wangen bekommen, und sie strotzte vor Kraft und Selbstbewusstsein.
Die Königin rief ihren Rat zusammen und ließ sich berichten.
„Para ist für uns keine Gefahr“ begann Fala. „Er ist glücklich dort im Dschungel des Amazonas, und er vollbringt wahre Wunder. Er ist ein großer Medizinmann.“ Sie schaute in die Runde. „Keine Angst. Er hat keine Ambitionen auf den Thron. Er hat kein Interesse an Macht. Er fühlt sich als Diener der Péruan, nicht als ihr Herrscher. Er ist so wie ich, und er ist der Königin sehr ergeben. Er ist mein Bruder und er steht unter meinem Schutz.“ Sie sah ihre Mutter an. „Dieses mal werde ich deine Stimme nicht abwarten. Wir können beraten, aber Para steht unter meinem Schutz. Ich will, dass ihr das alle respektiert.“
„Hat Para dir den Kopf verdreht“, wollte einer der Hohepriester wissen.
Fala wollte zunächst ärgerlich auffahren, doch dann besann sie sich. Das musste gefragt werden.
Sie wartete einen Moment, dann schüttelte sie energisch den Kopf. „Ihr habt mich erzogen. Ihr habt mich lange beobachtet. Ihr wisst, dass man mir den Kopf nicht verdreht. Ich habe ein sehr ausgewogenes Urteil. Um die Frage direkt zu beantworten: Ich habe Para sehr genau beobachtet. Ich habe ihn einen Monat lang studiert. Ihn und seine kleine Schwester Vera. Nein. Er hat mir nicht den Kopf verdreht und er ist auch keine Gefahr. Er ist ein wunderbarer Mensch, so wie viele Théluan und Péruan. Ich bin stolz, einen solchen Bruder zu haben. Vera ist seine kleine Schwester. Sie ist begabt, aber sie hat nicht die Kraft ihres Bruders. Vater hat seine Kraft nur an zwei seiner Kinder weitergegeben.“
Die Hohepriester und die Minister senkten die Köpfe. Ja. Palasque hatte diese Fähigkeiten nicht. Er entwickelte sich zu einem geschickten Kämpfer, die strategischen Fähigkeiten seiner Schwester hatte er nicht. Er würde nie ein großer Feldherr werden.
10.
Auch Palasque hatte von Para gehört. Palasque wurde als kleines Kind immer nur Pala gerufen. Er wollte Palasque genannt werden. Das klang nach mehr Hochachtung. Er hantierte liebend gern mit Waffen. Er war ein geschickter Kämpfer, aber er trieb sich mehr auf den Plätzen der Thé Krieger herum, als gut war. An den Dingen, die seine Schwester da tat, hatte er kein Interesse. Weiberkram. Er wusste, dass Fala die zukünftige Königin war, aber er begriff nicht, was sie da alles machte. Diplomatie war nicht seine Sache. Herzlichkeit war keine Sache der Krieger. Alle Versuche, ihn in einem andern Sinn zu beeinflussen, waren vergebens. Palasque war ein verlorener Sohn.
Leider war Palasque auf die Stellung seiner Schwester eifersüchtig. Er hatte nie diese hohe Anerkennung der Menschen erfahren wie seine Schwester, obwohl er als Kind genauso geliebt worden war wie Fala. Er konnte sich das nicht erklären, und als er nun von dem Jungen da in den Sümpfen hörte, gab es in seinem Herzen einen Stich.
Er war der Sohn der Königin. Ihm gebührte die Achtung. Nicht diesem Sohn einer hergelaufenen Péruan.
Je mehr er von Para hörte, desto mehr vertiefte sich diese Abneigung. In den Folgejahren hörte er immer wieder von den Erfolgen dieses Para. In Palasque wuchs die Eifersucht und die Abscheu. Er redete nicht darüber und so konnte sich dieses Gefühl immer mehr ausbreiten. Schon mit acht unternahm er Streifzüge mit den Théluan. Er baute sich eine eigene Truppe auf. Es gab Berichte über Grausamkeiten. Auch einige der Karawanen beschwerten sich.
Die Minister gaben das an die Königin weiter, aber sie war nicht geneigt, einzuschreiten. Sie sprach manchmal mit Palasque, aber der schwieg, oder redete die Sache klein.
Insgeheim dachte er sich: er würde das Reich anders führen. Mit harter Hand. Dann könnten sie das Reich bis zum großen Ozean ausbreiten. Dort hinter den großen schneebedeckten Bergen.
11.
Para wusste von alledem nichts. Er tat, was er immer tat. Freundlich und aufopferungsvoll. Seine Verwandlungskünste steigerten sich von Jahr zu Jahr. Seine Kenntnisse der Heilkräuter und die Kraft seiner Hände nahm stetig zu. Er entwickelte sich zur Legende. Manchmal unternahm er weite Reisen, um Kranke zu heilen und um seine Kenntnisse von Heilkräutern und ihrer Wirkung an andere weiterzugeben.
So wie seine Halbschwester Fala sich der Kunst des Lesens und Schreibens verschrieben hatte, und alles tat, um die Schulen zu stärken, so wurde Para zu einem Medizinmann und Lehrer für das Volk der Péruan.
Seine kleine Schwester begleitete ihn auf all seinen Reisen. Sie betete ihn an. Beide gemeinsam wurden von den Indios im Amazonasgebiet vergöttert. Auch Vera wurde immer geschickter. Die geheimnisvolle Kraft von Paras Händen hatte sie nicht.
Obwohl sie inzwischen die Sprache der Tiere gut verstand, hatte sie nicht diese Aura, um die Tiere in ihrem Sinn zu beeinflussen und zu steuern. Es machte ihr nichts. Sie war glücklich mit ihrem großen Bruder. Er war ihr Halbgott.
Ohne dass sie es wussten, wurden immer wieder Berichte über Para und Vera an den Palast geschickt. Die Königin wurde immer wieder unterrichtet und auch Palasque hatte inzwischen seine eigenen Spione.
Irgendwann hatte Palasque beschlossen, es reicht jetzt.
Er wusste, dass Para wieder auf einer Reise war und wann er in seinem Dorf zurückerwartet wurde. Palasque nahm eine Schar seiner Spezialtruppe und machte sich auf den Weg. Seiner Mutter sagte er schon lange nichts mehr über seine „Ausflüge“.
12.
Para war dreizehn Jahre alt, als er eine größere Reise in den Süden machte. Er ging mit Vera alleine. Er kannte die Peruan, er musste sich keine Sorgen machen. Er kannte die Tiere und fürchtete sich nicht.
Auch auf dieser Reise gab er viel seiner Kenntnis der Medizin an die Stämme der Péruan weiter. Er war glücklich. Es war ein gutes Leben.
Immer wieder spielten sie mit Schmetterlingen, mit Kolibris und mit den Affen. Er hatte keine Angst vor den Schlangen. Er kannte die schwarzen großen Ameisen und die Kröten und Echsen. Nur vor den Krokodilen nahm er sich acht. Dann gab es im mittleren Amazonas noch eine Fischart, die er mied. Sie hatten messerscharfe Zähne. Sie hatten immer Hunger und sie fraßen ihre Opfer bei lebendigem Leib auf. Aber er kannte die Gefahren des Dschungels.
Es war nur noch wenige Tage bis zu ihrem Dorf. Sie rasteten auf einer Lichtung, als die Affen begannen, Warnrufe auszustoßen. Para hörte, dass sich Menschen näherten, aber seine angeborene Vorsicht versagte in diesem Moment. Vor Menschen hatte er keine Angst.
Als die Krieger der Théluan aus dem Schatten der Bäume traten, erkannte Vera die Gefahr als erstes. Sie versuchte ihren Bruder zu warnen.
Die Théluan wurden angeführt von einem Jungen, der blond und blauäugig war, so wie Para selbst. Er stand grinsend von Para. „Ergreift sie“, befahl er. In diesem Moment wurde Para die Gefahr bewusst. Er stellte sich schützend vor seine Schwester. Einige Thé hatten die Schwerter gezogen. Der blonde Junge stand feixend vor ihm. Da verwandelte sich Para in einen schwarzen Panther um seine Schwester zu verteidigen. Er griff an. Mit einem Sprung hatte er den Jungen erreicht. Er zermalmte ihm mit einem Biss den Schädel, dann drehte er sich zu den Kriegern der Théluan um.
In diesem Moment wurde er von dem ersten Speer getroffen. Zwei weitere folgten unmittelbar danach und dann noch zwei. Sie drangen in seinen Leib ein, sie trafen seine Lungen und sein Herz.
In diesem Moment erfolgte ein gewaltiger Lichtblitz. Die Krieger der Théluan wurden umgeworfen, so heftig war die Detonation.
Als sie wieder aufblickten, war der Panther verschwunden. Die Speere lagen da, mit blutverschmierten Spitzen. Der Panther war fort.
In diesem Moment dämmerte es den Théluan, was sie da gemacht hatten. Sie kannten alle die Geschichte des Thénnis und von seinem geheimnisvollen Verschwinden. Sie hatten die grausame Rache der Königin an den Karancula erlebt. Wozu hatten sie sich bloß hinreißen lassen.
Sie verneigten sich vor Vera und baten sie um Vergebung. Dann hoben sie den Leichnam auf und folgten Vera in ihr Dorf.
Vera war tief verstört. All das ging über ihren Horizont.
Als die Krieger der Thé im Dorf ankamen, gab es Verwunderungsrufe. Der Takilada brachte sie zum schweigen und bat um Aufklärung. Die Krieger der Thé berichteten stockend und voller Bedauern. Vera schwieg. Sie stand unter Schock.
Der Takilada handelte.
Er befahl eine bestimmte Sorte von Blättern zu sammeln und alles an Tüchern zusammenzubringen, was da war.
Die Frauen schickte er, um eine bestimmte Sorte von Kröten zu suchen. Dann wurde der Körper komplett ausgeweidet und auch das Gehirn wurde entfernt. Er wurde kunstvoll mit dem Exkret der Kröten eingestrichen, mit Blättern bedeckt und mit Tüchern eng umwickelt. Es war eine Art der Einbalsamierung, die bei den Indios seit langen bekannt war. Dann wurde der Leichnam auf lange Stangen geschnürt und war reisefertig.
Der Takilada ließ es sich nicht nehmen, die Truppe zu begleiten. Er nahm Vera mit.
Sie liefen sehr schnell und schon nach drei Wochen kamen sie in die große Stadt. Vor den Toren blieben der Takilada und Vera zurück. Sie hatten keinen Zugang.
Die Kunde hatte sich schon verbreitet und die Menschen standen schweigend in den Gassen und ließen den Zug passieren.
Die Königin empfing den Zug im Beisein ihrer Minister und der Hohepriester. Dann ließ sie sich berichten.
Fala sah den Zorn der Königin und sie fragte nach dem Dorf. Als sie hörte, dass der Dorfälteste und Vera vor den Toren auf Befehle warten, gab sie ihrer Palastwache einen Wink: „Bringt die beiden her, aber behandelt sie gut.“
Die Krieger setzten sich sofort in Bewegung. Dann ging Vera zu ihrer Mutter. „Bitte“, sagte sie. „Höre den Takilada und Vera erst an.“ Sie sah den Zorn ihrer Mutter und versuchte sie zu beruhigen. „Denk daran, dass der Thénnis vier Kinder hatte. Jetzt sind wir nur noch zu zweit. Ich möchte meine Schwester nicht auch noch verlieren.“
Die Königin sah Fala an. Sie wollte explodieren, doch dann besann sie sich. Sie hatte längst eingesehen, dass sie damals mit der Strafaktion gegen die Dörfer in Mittelamerika einen Fehler gemacht hatte. Das sollte ihr nicht noch einmal passieren.
Als der Takilada und die kleine Vera schließlich vor der Königin standen, hatte sie sich beruhigt. Sie war ganz Königin.
Sie ließ von dem Takilada berichten, aber der konnte zu dem Tod ihres Sohnes nichts sagen. Er war nicht dabei gewesen. Dann unterzog sie Vera einem Verhör.
Vera weinte. Sie erzählte alles, was sie wusste. Von dem plötzlichen Überfall, von dem feixenden Jungen mit den weißen Haaren, von den Théluan, die mit Schwertern auf sie eindrangen, von Para, der sich vor sie gestellt hatte und sich in einen Panther verwandelt hatte, um sie zu beschützen. Sie erzählte vom Tod des Jungen und dem großen Lichtblitz und dem plötzlichen Verschwinden des Panthers.
Die Königin schwieg lange. „Und es ist nichts übriggeblieben? Kein Zeichen? Nichts?“ Vera schwieg, dann schüttelte sie den Kopf und weinte. „Nichts“, presste sie heraus.
Der Fall war klar. Fala ging zu ihrer Mutter und legte ihr die Hand auf den Arm. „Lass sie laufen“, bat sie und mit einem Kopfnicken zu den Théluan, die mit gesenkten Köpfen und schuldbewusst da standen, meinte sie. „Lass auch die Thé laufen. Sie haben nur auf Befehl meines Bruders gehandelt. Sie konnten nicht anders. Dann aber haben sie das Richtige getan. Sie haben Vera am Leben gelassen und den Leichnam zurückgebracht.“
Die Königin überlegte lange. Dann wandte sie sich an den Takilada und Vera.
„Gut. Euch wird nichts geschehen. Ihr könnt in euer Dorf zurückkehren. Ihr steht weiter unter meinem Schutz.“
Zu den Théluan gewandt, sagte sie. „Ihr habt es verdient, dass man euch hinrichtet. Alle. Ihr hättet mich von dem Vorhaben meines Sohnes unterrichten müssen. Jetzt ist es zu spät. Aber meine Tochter hat für euch um Gnade gebeten. Geht in eure Kaserne zurück. Eure Waffen lasst ihr hier. Meine Tochter wird in einigen Tagen in die Kaserne gehen. Sie wird die Neuorganisation der Truppe befehligen. So etwas wird nie wieder passieren.“ Sie sagte das mit Nachdruck. Dann gab sie ihnen einen Wink. „Entfernt euch jetzt. Meine Palastwache wird euch begleiten.“
Dann sah sie Vera lange an. „Ich habe einen Sohn verloren. Du hast einen Bruder verloren. Meine Tochter hat gleich zwei Geschwister verloren. Das war absolut unnötig. Wir müssen überlegen, was wir daraus lernen.“ Sie winkte Fala zu sich und begann leise mit ihr zu sprechen.
Dann wandte sie sich wieder an Vera. „Meine Tochter fühlt sich einsam. Sie will dich nicht als Schwester verlieren. Sie hat dich kennengelernt und sie liebt dich. Sie bietet dir an, dass du zu uns in den Palast ziehst. Nicht als eine Sklavin, nicht als ihre Dienerein. Sie möchte eine Schwester haben.“
„Es steht dir frei, das abzulehnen und in dein Dorf zurückzukehren. Vielleicht bist du noch zu klein, um das entscheiden zu können. Sprich mit deinem Großvater.“
Vera schwieg lange, dann ging sie langsam auf Fala zu. Sie streckte die Hände bittend aus und Fala nahm die Hände von Vera.
„Ich liebe dich.“ sagte Vera. Wenn du willst, dass ich hier bleibe, dann bleibe ich bei dir. Aber ich würde mich alleine fühlen, ohne meine Familie. Ohne Polia und Faroa. Ich habe gehört, dass sie damals in der großen Stadt gewohnt haben, mit anderen. Ich habe gehört, dass sie eine Schule gegründet haben. Para hat mich stets mitgenommen. Wir haben mit den Péruan gelebt und wir haben ihnen unsere Kenntnisse von Heilkräutern weitergegeben. Es wäre schön, wenn wir diese beiden Schulen miteinander verbinden könnten.“
Fala spürte den Strom von Wärme, der von ihren Händen zu Vera floss. Sie sah sie lange an, dann sah sie ihre Mutter an. „Darf ich das entscheiden“, bat sie.
Die Königin sah kurz zu ihren Ministern und den Hohepriestern, dann nickte sie. „Du bist die zukünftige Königin. Es wird Zeit, dass du weitreichende Entscheidungen triffst.“
Fala atmete tief ein. „Dein Vorschlag gefällt mir gut. Bleib hier. Wir schicken den Takilada in dein Dorf zurück, um Polia und Faroa zu rufen. Ich werde es einrichten, dass ihr euer früheres Haus wieder beziehen könnt, mit all den Dienern, die heute nach dem Wunsch des Thénnis freie Menschen geworden sind und die unsere Schule leiten.“
13.
Para war zwar in einem Lichtblitz verschwunden, aber er war nicht tot. Als er aufwachte, war er nackt bis auf sein Piri Piri (*).
Er lag in einem von Schnee bedeckten Tal. Es war bitter kalt. In einiger Entfernung sah er Lamas und Maulesel, die im Schnee scharrten und nach Nahrung suchten.
Außerdem gab es eine Hütte aus Stein und Holz. Sie rauchte. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Er schüttelte sich. Um nicht zu erfrieren, verwandelte er sich kurzerhand in ein Lama mit einem dichten Winter-pelz. Auch Maulesel hatte er noch nie gesehen. Das hatte es in seiner Welt nicht gegeben.
Wo war er hier?
Er sah sich weiter um. Dort, dieser Wasserfall, der jetzt überall von Eiskristallen glitzerte, hatte er den nicht schon einmal gesehen?
Langsam, ganz langsam kam die Erinnerung an dieses Tal zurück. Er war damals noch sehr klein gewesen. Er konnte sich an seinen Vater, an die Bären und den Puma erinnern und auch an die Goldklumpen, die er gefunden hatte. Damals war es Sommer gewesen. Jetzt sah das Tal ganz anders aus. Auch der See war verschwunden.
(*) Das Piri Piri ist aus Leder und bedeckt bei den Buschindianern das Glied der Jungen und Männer als Schutz vor Insekten