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ОглавлениеKapitel 1. Nils. Kickboxen und andere Spielarten
1.
Nils war heute in der Schule unaufmerksam. Er war hier gut angesehen und etliche seiner Mitschüler waren regelmäßig an den Nachmittagen im Musikzentrum, in dem Nils mit seiner Familie wohnte. Sie trafen sich auf den Halfpipes oder bei Konzerten. Mal in Aysas Imbiss oder bei Tanzaufführungen. Eigentlich hatte Nils in der Schule sonst gar keine Probleme, aber heute war er wirklich zerstreut.
Er wachte aus seinen Gedanken auf, als er von dem Lehrer zum zweiten Mal angesprochen wurde. „Nils. Was ist heute los mit dir? Kannst du uns mal den nächsten Absatz vorlesen und übersetzen?“
Nils schreckte auf, dann sah er in sein Buch und begann. Er wurde von seinem Nachbarn in die Seite gestoßen. „Da doch nicht, hier sind wir. Er zeigte mit dem Finger auf den nächsten Absatz.“
„Halt, halt,“ meinte der Lehrer. „Irgendwie scheinst du heute zu schlafen. Also lies bitte diesen Absatz und den nächsten und übersetze beides.“
Nils atmete tief durch. Das war russisch. Es fiel ihm leicht, weil er mit Hilfe seiner geheimen Kräfte alle Sprachen im Handumdrehen erlernen konnte. Auch die kyrillische Schrift machte ihm keine Probleme. Er begann zu lesen und übersetzte dann die zwei Abschnitte.
Der Lehrer nickte. „Wenn das alle so fließend hinbekommen, dann seid ihr alle ein Stück weiter.“ Er sah Nils an. „Geht’s jetzt wieder, oder soll ich dir ein Kissen holen?“
Ein paar Schüler in der Klasse lachten, und Nils hob beschwichtigend die Hände. „Tut mir leid. Ich geb’ mir Mühe.“
Nach der Stunde wurde Nils von dem Lehrer zu sich gerufen. „Ist irgendwas, was du mit mir besprechen willst?“ Nils bedauerte. „Tut mir wirklich leid Herr Thielmann. Im Moment gibt’s zu Hause Probleme. Vater und ich, wir suchen nach einer Lösung, aber manchmal ist das gar nicht so einfach. Bitte entschuldigen Sie. Ich werde mir mehr Mühe geben.“
„Du weist, dass es nicht um deine Note geht. Du bist mein bester Russisch-Schüler. Aber das klingt, als wenn du im Moment auch in den andern Fächern nicht ganz da bist.“
Nils nickte. „Stimmt. Ich hab’ da einen Durchhänger. Ich hoffe, es kommt bald alles wieder in Ordnung.“
Als er in die Pause ging, wurde er von Tina angesprochen. „Sehn wir uns heute Nachmittag im Zentrum?“ Tina war dunkelhaarig und hübsch. Sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und versprühte Lebenslust und Witz. Etliche der Mitschüler träumten nachts von einer Beziehung mit Tina.
Nils wusste, dass Tina in ihn verschossen war. Sie war ganz in Ordnung. Er traf sich manchmal mit ihr auf der Halfpipe. Sie hatten schon einige Konzerte besucht. Er hatte sie ein par mal geküsst, aber er war nicht in Tina verliebt und heute hatte er Training. „Vielleicht heute abend. Wir telefonieren, ja?“
2.
Nach der Schule schnappte sich Nils das Skateboard und kurvte zur nächsten Haltestelle. Heute wollte er mit dem Bus fahren. Es ging ihm soviel durch den Kopf. Er setzte sich ganz hinten hin auf den Eckplatz und lehnte sich an. Der Fahrer wollte schon losfahren, doch dann stoppte er noch mal. Die Tür öffnete sich mit einem Zischen und zwei Schüler sprangen in den Bus. „Danke, Mann. Is’ echt nett, dass sie uns noch mitnehmen.“
Sie gingen durch den Bus, erkannten Nils und ließen sich neben ihm auf die Sitze fallen.
Wenn Pitt und Konni da waren, war an träumen nicht zu denken. Es wurde eine ziemlich kurzweilige Fahrt, dann rollten alle drei Kids zu der Halfpipe hinter der Musikakademie und drehten eine Runde.
Das waren alles Freunde. Pitt und Konni waren zwei der Besten. Etliche der Kids waren richtige Cracks. Nils traf sich gerne und oft mit seinen Freunden. Sie fuhren Skateboard, sie besuchten Konzerte. Manchmal trafen sie sich in der Stadt, aber Nils nahm schon lange nicht mehr an Wettkämpfen teil. Er war einfach zu gut. Seine geheimen Kräfte erlaubten ihm Sprünge, an die andere nicht einmal im Traum zu denken wagten. Nils war für sie der Obercrack. Die kleinen Skaterkids himmelten ihn an und versuchten ihm nachzueifern.
Heute verabschiedete sich Nils schon bald und rollte durch den offenen Seiteneingang ins Zentrum. Das Rollerskaten war hier erlaubt und Nils kurvte flott in die große Halle, als ihm von links plötzlich drei Mädchen in die Quere kamen.
Nils machte eine Notbremsung, das Board flog ein Stück durch die Luft. Er prallte mit einem der Mädchen zusammen und riss sie ein Stück mit, wobei er sich alle Mühe geben musste, um nicht hinzufallen.
Er hatte die Arme spontan um das Mädchen geschlungen und drehte sich durch den Schwung zweimal um die eigene Achse. „Puh.“ Er hielt sie auf Armeslänge von sich weg. „Dass ist ja grade noch mal gut gegangen.“
„Mann, hast du immer so ein Tempo?“
Nils grinste und ließ das Mädchen los. „Ich bin Nils und wie heißt du?“ „Helen.“
Da wurde Nils von hinten angestoßen. „Kannst du nich’n bisschen aufpassen, Mann?“
Nils drehte sich um. Das Mädchen war blond und gut gebaut und sie hatte wohl ein ziemlich loses Mundwerk.
Er grinste. „Hey. Ich bin Nils, und wer seid ihr?“ „Das sind Cindy und Lara“, meinte Helen.“
Nils grinste wieder. „Waffenstillstand, meine Damen? Kommt, ich lade euch auf einen Beruhigungs-Drink ein. Na, kommt schon“, bekräftigte er, holte sein Board und hängte sich bei Cindy ein. Die war hier wohl die Wortführerin.
Nils führte die Mädchen zu Aysas Imbiss und fragte, „ich hab euch hier noch nie gesehen, neu hier?“ Die Mädchen nickten. „Dann lasst euch mal von Aysas Säften verführen. Ich empfehle Banane, Schoko, Kiwi, Ananas oder Apfel-Melone. Alles frisch gepresst und alkoholfrei. Wirklich! Ihr seid eingeladen.
Er sah, wie Helen aufatmete. Cindy hingegen meinte. „Also los, Mädels. Nehmen wir den Raser mal auseinander.“ Sie lachte frech.
Nils bestellte bei Amira, die tagsüber bei Aysa kellnerte und sah Helen an. „Also erzählt mal.“
Helen gefiel Nils von den Mädchen am besten. Sie hatte einen weichen vollen Mund und große Augen. Die dunklen Haare hatten einen leichten Goldton und hingen glatt herunter. Helen war grazil und schien fast ein wenig zerbrechlich, aber es war alles da. Sie hatte schon einen Busen und sie hatte kleine schlanke Hände. Nichts war irgendwie geziert. Sie bewegte sich mit kraftvoller Leichtigkeit. Sie musste Sport machen. Irgendwas in der Art. Nils sah das auf den ersten Blick.
Cindy hingegen war wirklich die Wortführerin. Sie plapperte wie ein Wasserfall. Nils fand schnell heraus, dass die drei ziemlich wenig Taschengeld hatten.
Er brauchte sich da nicht zurückzuhalten. Er war nicht verschwenderisch, aber wenn’s der Zufall wollte, dann konnte Nils die Sau rauslassen. Er hatte genug Geld.
Er nahm Vorlieb mit einem Gemüsedrink, etwas, was Aysa wirklich gut konnte, und er bestellte sich auch was zum Essen. Aysa, die Inhaberin des Imbisses war eine alte Freundin von Papa. Sie kannte Nils seit seiner Geburt und sie kannte seine Vorlieben. Nils nahm selten das, was auf der Speisekarte stand.
Auch Amira (die Kellnerin) kannte ihn seit vielen Jahren. „Was soll’s heute sein?“ Nils sah sie mit schrägem Kopf an. „Rinderhack mit Langkornreis und Mohrrübengemüse, mit Feta überbacken. Geht das?“ Amira lachte. „Das ist neu. Hast du ja noch nie gehabt. Klar geht das.“ Zu den Mädchen gewandt, meinte sie. „Wollt ihr auch was?“
Nils sah Helen an. Er spürte, dass sie für ein Essen kein Geld hatte, dann sah er zu den andern Mädchen. „Is’ wirklich gut, was ich mir bestelle. Naja, glaub’ ich. Soll ich mal eine große Portion kommen lassen und ihr kostet mal davon? Ganz unverbindlich? Ist das OK?“
Er sah, dass Helen beschämt war und er berührte leicht ihren Arm. „Ist schon in Ordnung. Ich gehör’ hier zur Familie. Ich zahl hier nix. Ihr macht mich also nicht arm.“ Das war gelogen, aber Nils hatte damit keine Probleme.
Amira hatte sich schon umgedreht und war gegangen. Zehn Minuten später kam sie mit einer großen Schüssel, mit vier Tellern, Löffeln und Gabeln und verteilte sie vor den Mädchen. „Is’ schon gut. Heute seid ihr eingeladen. Das nächste mal müsst ihr aber zahlen, wie alle anderen auch.“ Nils verzog den Mund zu einem Lächeln.
Cindy langte richtig zu. Sie war ein Vollweib. Die Mädchen waren alle im Alter von Nils, irgendwo zwischen dreizehn und vierzehn, schätzte Nils und Cindy zog die beiden anderen richtig mit. Wenn die drei noch öfters ins Zentrum kamen, dann konnte das ja noch lustig werden.
Er gab den Mädchen ein paar Tipps, um sich in dem großen Haus zurechtzufinden, dann musste er los. „Hab heute Mittag noch Training, sehn wir uns wieder?“
Während Cindy plapperte, sah Nils zu Helen. Ihre Augen sagten ihm, dass sie ihn wiedersehen würde.
„Ich bin jeden Tag hier. Wenn ihr mich sucht, könnt ihr Amira oder Aysa nach mir fragen. Vielleicht sollten wir mal zusammen zu einer Probe gehen oder zu einer der Tanzveranstaltungen.“ Er ließ das offen. Er sah das kleine Feuer in Helens Augen.
Nils zahlte heute nicht. Er würde Aysa das Geld später geben, dann schnappte er sich sein Board und rollte davon.
Sonst rannte er immer die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Heute nahm er den Aufzug und dachte nach. Diese Helen hatte es ihm wirklich angetan.
3.
Man schrieb das Jahr 2030. Nils war jetzt dreizehneinhalb und es würde bald Sommerferien geben.
Seine Mutter war hier die Chefin des Zentrums. Papa war oft unterwegs. Mal in dem Werk in Sachsen-Anhalt, mal in Frankreich, in den USA, in Mexiko oder in Südamerika. Sie hatten da Nahrungsmittelfabriken, eine Fastfoodkette und sie waren an diversen Solarparks beteiligt. In Berlin hatte die Familie ganze Straßenzüge aufgekauft, und dann gab es da noch dieses Weltkulturerbe, diese Ausgrabung in Peru, wo die Familie mit unglaublichem Gewinn beteiligt war. Es gab genug Geld, und Nils hatte ziemlich freie Hand.
Nun ja, nicht ganz. Seine Mutter achtete schon darauf, dass sie regelmäßig Kontakt hielten, und dass er seine Aufgaben auch ordentlich erledigte. Nicht nur seine Schulaufgaben. Alle seine Aufgaben, und dazu gehörte auch Maßhalten und sich immer wieder zu „erden“. Nils hatte bereits die Fähigkeiten eines Alphatiers, aber er hatte gelernt, bescheiden zu sein. „Wir haben eine Vision“, pflegte Mama zu sagen, „das hat uns groß gemacht, aber wir müssen nicht auffallen. Wir sind der Diener unserer Freunde. Zeigen wir ihnen, dass wir alle Teil einer großen Familie sind.“
Mit Papa war Nils stets über einen eigenartigen Energiestrom verbunden. Er konnte sich mit Papa über große Distanzen verständigen, ganz ohne Telefon. Papa war schon oft zu ihm gesprungen, wenn Nils Probleme hatte und Papa brauchte. Die Fähigkeiten der Familie erlaubten das. Sie konnten alle durch den Raum gehen, wie durch eine unsichtbare Wand. Nur Mama konnte das nicht und Papas andere Frau, dort in Südamerika, die konnte das auch nicht. Aber alle Kinder von Papa konnten das und auch alle Kinder von Papas ältestem Sohn Para, der dort in Peru dieses riesige Gestüt hatte, die konnten das auch.
Nils war oft dort. Er traf sich mit seinen Geschwistern und sie übten an den gemeinsamen Kräften, die ihre Familie so einzigartig machten. Manchmal in den großen Ferien, manchmal am Wochende, manchmal an Weihnachten. Sie alle nutzten diese Kraft, unerkannt durch den Raum zu gehen. Im Zentrum gab es einen Raum, wo sie jederzeit unerkannt hinspringen konnten, ganz ohne Ausweis oder Einreisekontrollen. Auch bei „Mama“ in Peru und bei Para gab es so einen Raum. Nils wusste, dass Papa viele solcher Räume hatte, in verschiedenen Ländern. Er konnte sich unerkannt quer über die Erdkugel bewegen und nutzte diese Fähigkeit zu seinem Vorteil aus.
In einer Stunde würde Nils zu seinem Kickboxen-Training aufbrechen. Auch das fiel ihm kinderleicht. An der Kraft musste er noch trainieren. Mit einem Erwachsenen konnte er sich von der Kraft her nicht messen, aber seine Schnelligkeit und Wendigkeit waren immens. Wenn er Schwung holte, dann konnte er das ausgleichen, was er an Kraft noch nicht besass. Er war zielsicher und konnte seine Tritte, Faustschläge oder Kopfhiebe tödlich einsetzen, wenn er wollte. Das war natürlich verboten.
Roman, der Eigentümer der Schule, war ein alter Freund von Papa. Er achtete darauf, dass seine Kids fair kämpften. Er überließ es seinen Trainern, die Kids zu unterrichten, aber manchmal saß er in der Ecke und schaute zu. Manchmal holte er sich den einen oder anderen der Kids, korrigierte, gab Anleitungen oder schalt sie aus, wenn sie Mist gebaut hatten. Diese Sportart war wirklich gefährlich für einen Gegner. Sie hatten gelernt, die wichtigen Zentren der Körper zu treffen, Schlagadern, Milz und all die Punkte, die auch bei der Akkupunktur bekannt waren, um zu stimulieren oder um den Körper außer Funktion zu setzen. Mit zwei gezielten Tritten konnte Nils einen Gegner lähmen, wenn er wollte.
Sie lernten aber auch den eigenen Verstand zu kontrollieren und sich ihren Geist und Körper zu unterwerfen. Sie konnten Schmerzen wegstecken und sie trainierten bestimmte Muskelgruppen immer wieder und immer wieder, die zum Schutz der verletzlichen Innereien notwendig waren.
Zum Training gehörten auch stets Ruhe- und Atemübungen, autogenes Training und Stimmbildung.
Nils machte das Training nun schon seit fünf Jahren. Am Anfang hatte er diese Übungen zur Stimmbildung nicht ernst genommen. Sie mussten singen. Sie mussten dabei eine aufrechte Haltung einnehmen. Sie mussten tiefe Töne, Mitteltöne und Obertöne bewusst erzeugen. Am Anfang taten die ganz hohen Kopftöne ziemlich weh. Dann begriff Nils. Lunge, Zwerchfell, Kehlkopf, Bauch, Becken und Nackenmuskulatur wurden durch das Singen gestärkt. Die Sauerstoffversorgung des Blutes war immens. Er hatte inzwischen eine Kraft entwickelt, die ohne diese Übungen nicht halb soviel Wert gehabt hätte. Außerdem blieb der Kopf jetzt frei.
Roman hatte das eingeführt. Es gehörte nicht zum üblichen Training des Kickboxens. Es war das Besondere ihrer Schule. Manche neuen Schüler lachten zu Beginn verächtlich. Aber sie lernten schnell, dass Atemübungen die Kraft potenzieren und die Wirkung eines Schlages in einem Bruchteil einer Sekunde zu einer tödlichen Waffe werden lässt.
Roman hatte auch andere Disziplinen eingeführt. Wer sich auf der Strasse behaupten wollte, der musste in diesen Disziplinen ziemlich fit sein.
Auch Karateübungen gehörten zur Ausbildung. In der letzten Woche hatte Nils durch einen einzigen Schlag mit seiner Faust den großen Sandsack zum aufplatzen gebracht. Sie zerschlugen Steine und Äste.
Die Konzentration auf das Wesentliche war das Geheimnis der Schlagkraft und der Schnelligkeit.
Nils nahm an diesen Übungen dreimal in der Woche teil. Manchmal gab es an den Wochenden Wettkämpfe.
Anders als alle andern Kids, hatte Nils das besondere Talent seiner Raumdurchquerung. Seine übernatürlichen Fähigkeiten machten Nils als Kickboxer einmalig. Es konnte durch Drehbewegungen durch die Luft eine Schnelligkeit von über hundert Stundenkilometern entwickeln und er konnte Steine mit der Kraft seiner „geheimen Energie“ zerschlagen, sogar ohne sie zu berühren. Das zeigte er aber nie öffentlich. Nur Roman wusste das. Nils hatte den schwarzen Gürtel der Meisterklasse, den 1. Dan. Das war in diesem Alter ungewöhnlich. Nur einige Freunde aus dem Zentrum und Roman (der Inhaber der Schule) waren besser.
Auch Roman hatte den 1. Dan, aber er hatte verschiedene Zusatzprüfungen absolviert, die sich in dieser Sportart nicht mehr durch Ränge auszeichneten. Er war Inhaber des schwarzen Karategürtels und Judomeister. Roman war wirklich gut.
Nils trainierte regelmäßig mit den anderen braun- und Schwarzgürtlern, aber er nahm manchmal auch die Joungsters unter seine Fittiche.
Viele der Kids waren Freunde aus dem Untergrund. Auch die Freunde aus der Geheimorganisation „des Dicken“ nahmen an den Übungen teil.
Roman rekrutierte fast seine ganze Schutztruppe für das Zentrum aus dieser Sportmannschaft. Es war Pflicht, an diesen Trainingsstunden regelmäßig teilzunehmen. Manchmal machten sie das im Zentrum. Es gab da einen eigenen Raum. Heute würde Nils in die Stadt fahren, in die grosse Sporthalle im Westen der Stadt.
Er hatte sich auf sein Bett geworfen und ein wenig nachgedacht, dann war er aufgestanden, ging hinüber in Mamas Büro, sagte Hallo und wurde umarmt. „Ich geh jetzt zum Training“, meinte er. Mama sah ihn warm an und drückte ihm kurz die Hand.
Nils hatte wirklich Glück mit seiner Mutter. Sie hielt ihn zwar an „der langen Leine“, aber sie war da, wenn er sie brauchte, und sie beobachtete genau, dass er die ethischen Grundsätze der Familie auch einhielt.
4.
Als Nils in der Sportschule ankam, wurde er von Pedro und Ellen begrüßt. Pedro war schon 24, Ellen war 16.
Es gab viele Mädchen in der Kampftruppe. Wer diese Sportart beherrschte, der konnte sich auf der Strasse ganz gut behaupten. Das war auch wirklich notwendig. Die Gangs in Berlin waren brutal und gut organisiert. Viele dieser Jungs boxten, rangen, schwammen, fuhren Mountain Bike, oder wurden als Rausschmeißer eingesetzt. Es gab mehrere Prostuituiertenviertel in der Stadt. Es gab Motorradgangs, Erpressungen und die russische Mafia. Die Luden und die Drogenkartelle waren gut organisiert. Außerdem gab es Viertel mit großer Armut und Hoffnungslosigkeit. Auch dort wurde nicht lange gefackelt, wenn es Konflikte gab. Erst zuschlagen, dann denken. Nur nicht als erster auf dem Boden liegen. Dann warst du verloren.
Nur im Zentrum herrschte eine eiserne Disziplin. Krawalle wurden nicht geduldet. Das Zentrum war ein Freiraum, der von seinen Akteuren und den Nutzern beschützt wurde. Neben Jochens Kampfsportlern gab es noch Romans harte Jungs und die Boxer rund um den Türken Hakim. Da gab es inzwischen auch eine Thailändische Gang und noch andere. Sie alle verkehrten im Zentrum. Die Musiker, die Tänzer, die Actionkünstler und die Theaterleute, sie alle sahen das Zentrum als einen schützenswerten Raum. Es war das Projekt der Kids. Von den Kids für die Kids. Freizeitzentrum, Schule und Eventmittelpunkt. Viele arbeiteten freiwillig in der Verwaltung oder in einer der vielen Einrichtungen. Wer Krawall machen wollte, der erlebte im Zentrum schnell seine Grenzen kennen. Er ordete sich entweder unter, oder er ging. In der Stadt gab es genug Ausweichmöglichkeiten, wo man Ärger machen konnte. Im Zentrum gab es nicht einmal eine Polizei. Das Zentrum organisierte seinen Schutz selbst, und weil es hier seit Jahren keine Gewalt mehr gab, wurde das Zentrum auch von den Berliner Behörden großzügig unterstützt.
Nils war ein Teil dieser Familie aus mehreren zehntausend Kids, für die das Zentrum wirklich ihr Lebensmittelpunkt war. Es bot Unterhaltung, Kurzweil und eine Lebensperspektive. Ja wirklich. Schulabgänger fanden hier einen Job, oder sie wurden in Ausbildungsstellen vermittelt. Das Zentrum hatte seine eigene Jobbörse. Von Kids für Kids, und wenn das Zentrum Lehrlinge oder Arbeitskräfte vermittelte, dann konntest du als Arbeitgeber sicher sein, dass du da nicht irgendeinen Schrott bekommst. Die Mutter von Nils war eisern. Firmen, die Zusagen nicht einhalten, die wurden gnadenlos von der Liste gestrichen und geächtet. „Wer nimmt, ohne zu geben“, pflegte Nils Mutter immer wieder zu sagen, „den können wir hier nicht brauchen. Das betrifft Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Zuverlässigkeit ist ist die Basis unseres Handelns. Wir wollen Freiräume. Wir wollen ausprobieren, spielen und spinnen. Wir müssen kreativ sein dürfen, aber eine Kreativität ohne Disziplin, das gibt es nicht.“
Es gab zwei Büros von Presseagenturen, das Fernsehen hatte mehrere Studios, die Zeitungen schickten ständig ihre Vertreter. Im Zentrum geschah viel, über das man berichten konnte, und die Presse beobachtete das Geschehen schon lange. Der Ruf des Zentrums war beachtlich. Weit über die Grenzen Europas hinaus. Das akzeptierten sogar die harten Gangs. Im Zentrum ordneten sie sich ein.
Alleine in Romans Sportschule, die insgesamt drei Niederlassungen in Berlin hatte, gab es über vierhundert Mädchen, die regelmäßig zum Training kamen. Es gab Eltern, die schickten schon ihre sechsjährigen Kinder in diese Schule. Roman galt als zuverlässig und er war kein Schläger.
Für die Kleinsten war das natürlich ein spielerisches Training. Es ging um Spaß und Körperbewegung. Nils sah manchmal zu oder mischte sich ein, ließ die Kids Überschläge machen oder Purzelbäume schlagen. Er liebte diese Kinder und ihre unnahmlichen Art, gute Laune zu verbreiten, spontan zu lachen oder loszuheulen, wenn etwas schief ging. Manchmal nahm er sie in die Arme und tröstete sie, ermunterte, oder lachte mit ihnen.
Nils hatte seine Schwester ein paar mal mitgeschleppt. Eva hatte einen Film über die Kids gemacht, der sogar im Fernsehen gezeigt worden war. Eva war in Sachen Video ein richtiger Klabautermann, eine Elfe, eine Hexenkünstlerin. Es gab viele verschiedene Bezeichnungen für Eva. Sie war im Bereich Video ein Crack.
In der Sportschule gab es mehrere Trainingsräume. Die Aufwärmübungen machten die größeren Kids in der Regel gemeinsam. Mädchen und Jungen. Es gab Trainer und Trainerinnen. Manchmal trainierten die Mädchen mit den Jungen zusammen, manchmal getrennt.
Nach der Aufwärmphase nahmen die Kids Aufstellung. Es gab bestimmte Grundstellungen, Drehbewegungen, Schläge und Sprünge, die immer wieder geübt wurden.
Manchmal hatte einer der Trainingspartner einen Stock, eine Kette oder eine gepolsterte Lederwurst in den Händen. Manchmal gab es Wurfübungen mit dem gefährlichen Dreizack oder Messerattacken (aus weichem Kunststoff), denen man ausweichen musste.
Sie trainierten wirklich jeden erdenklichen Ernstfall, sogar die Abwehr von Schusswaffen, Griffe zum Abführen eines Gegners oder zielgerichtete Schläge auf markierte Ziele.
Heute hatte Nils die sechzehnjährige Ellen als Trainingspartnerin. Ellen war gut durchtrainiert. Sie hatte mit ihren sechzehn Jahren gerade den 1. Dan gemacht und sie war ziemlich besessen von dem Sport.
„Moment“, bat Nils. „Bevor wir das Training miteinander aufnehmen, will ich dir heute mal was zeigen. Schließ die Augen, lege die Handflächen aneinander und atme tief und langsam durch. Du hast viel Kraft, aber du brauchst innere Ruhe, um sie besser zu entfalten. Lass die andern mal trainieren. Hör nicht hin. Ruhe in dir selbst. Konzentriere dich jetzt, schalte ab. Stelle dir die Drehbewegung vor, die du gleich brauchst, um den Holzstab in meinen Händen zu zerschlagen, mit dem ich gleich einen Angriff simuliere, bist du soweit?“
Ellen wusste, dass Sie Nils nicht gewachsen wäre, wenn es darauf ankommt. Er war einfach viel zu schnell. Was Nils eben von ihr verlangte, war eine sehr schwere Übung. Sie nickte und konzentrierte sich.
„OK“, fragte Nils. Sie nickte wieder.
„Gut, dann los.“ Sie nahmen Aufstellung, Nils hielt den Stab in beiden Händen, wie um ihr damit an die Kehle zu gehen, oder den Stab in eine Hand zu wechseln und mit der Spitze des Stabes zuzustechen. „Ich halte den Stab vor mein Gesicht“. Jetzt schlag zu.“
Ellen konzentrierte sich, dann kam eine schnelle Drehbewegung, ihr Arm wirbelte durch die Luft... und traf ins Leere. Nils hatte den Stab blitzschnell weggezogen. Während der Schwung ihren Oberkörper nach vorne beugte, war Nils schon hinter ihr und drückte ihr den Stab an die Kehle. „Abgeloost“, meinte er.
„OK, OK”, ergänzte er, “vielleicht war das unfair. Aber denk daran, dass der Gegner nicht immer das tut, was du erwartest. Außerdem hättest du mit diesem Schlag den Stock niemals gebrochen. Du hättest dir wehgetan. Ich nehm jetzt mal die Sandwurst und weiche nicht aus. Denk’, es ist ein Stock, dann schlag zu.“
Sie trainierten das. Immer wieder. Nils gab Tips. Er nickte. „Das wird noch viel Training. Soll ich dir zeigen, dass es geht?“ Ellen nickte, dann sah sie zu den anderen. „Hört mal kurz auf, Nils will uns was zeigen.“
Sie nahmen Aufstellung, dann explodierte Nils. Mit einer Schraube holte er Anlauf, dann ging er direkt in die Gegnerin rein, stieß einen Schrei aus und schug mit der Handkante zu. Der Stab zerspitterte in zwei Hälften und Ellen konnte trotz ihrer Kraft die Enden nicht halten, sie fielen auf den Boden und sprangen davon. Bevor Nils den Boden wieder berührte, gab er unbewußt einen Angriffsstoß mit den Füßen in Helens Bauchgegend. Sie taumelte und fiel auf den Rücken.
Nils machte einen schnellen Schritt zurück und verbeugte sich leicht. Die Hände vor der Brust berührten sich.
Die Übung gehörte eigentlich in den Bereich Karate. Sie war deshalb so schwierig, weil die Hände, welche die Hartholz-Stockenden halten, flexibel und nachgiebig sind. Es ist fast unmöglich, solch einen Stock zu zerschlagen. Der Trainer erklärte. „Leute. Ihr habt gerade gesehen, was der Schwung und die Atemübung bewirken. Ich kenne höchstens zwei oder drei, die das können. Ihr habt auch den zweiten Angriffsstoß gesehen. Das war sehr wirkungsvoll. Viel Kraft ist für diese Übung nicht unbedingt notwendig. Ihr müsst eure Kraft nur zielgerichtet und punktgenau einsetzen. Lasst euch davon jetzt aber nicht den Kopf verdrehen. Wir üben das, aber wir üben das zunächst mit anderen Mitteln. Sandwurst, Luftcatchen, Drehbewegung, Atemübungen und Angriff. Ach übrigens. Hätte Nils den Schädel von Ellen getroffen, dann wäre sie jetzt tot. Alles klar? Dann mal weiter.“
Nach dem Training, bat Ellen. „Nils. Kannst du mir ein wenig helfen? Deine Schnelligkeit, die kriege ich nie hin. Ich bin dir an Kraft weit überlegen, aber in einem offenen Kampf, in der U-Bahn - oder wo auch immer, da muss ich damit rechnen, dass der Gegner so schnell ist, wie du.“ Nils nickte. „Gut. Heut hab ich den Kopf ziemlich voll. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich mich ein wenig ablenke. Lust auf einen Waldlauf? - Dann lass uns eben noch die Klamotten aus dem Schrank holen und wir fahren in den Stadtwald.“
5.
Bevor sie in den Stadtwald kamen, gab es die erste Gelegenheit zum üben. Etwa ein dutzend Italos kamen in die Bahn. „Zeit zum kassieren“, grölten sie. „Los, los, los, Geld her.“
Sie waren bewaffnet. Italos waren immer bewaffnet.
Nils sah Ellen an. „Dann wollen wir mal.“ Er schlug dem ersten die Tasche unters Kinn, dann ließ er sie fallen und schlug mit der Hand zu. Die Fingerspitzen rammten sich dem Gegner oberhalb der Brustbeins in den Nerv. Der Gegner klappte zusammen. Mit einer Drehbewegung holte Nils erneut aus und trat dem nächsten voll in den Hals. Der verdrehte die Augen und flog in die Stuhlreihe.
Ellen hatte schon den nächsten abgegriffen. Sie schlug mit der Faust zu, mitten aufs Nasenbein. Das Blut spritzte. Jetzt zogen die Italos die Messer, und versuchten auf Nils und Ellen einzustechen. Von zwei Seiten.
Nils verdrehte dem ersten den Arm, bis der Knochen knackte. Dann wurde er von einem Messer am Oberarm getroffen.
Ellen war schlauer gewesen. Sie hatte sich geduckt und hatte dem Gegner in die Eier getreten. Er stöhnte und ließ das Messer fallen. Auch die beiden nächsten Angreifer wurden außer Gefecht gesetzt. Jetzt stand es nur noch 4 : 2. Nils grinste. Dann kreischten die Bremsen. Sie fuhren gerade in den Bahnhof ein. Inzwsichen hatte der Lokführer die U-Bahnpolizei über Funk verständigt. Die unverletzten Italos flüchteten auf den Bahnsteig und ließen ihre Kumpane im Stich.
Nils schnappte sich seine Tasche, zog Ellen aus dem Zug, lief nach vorne und sprang auf die Gleise hinunter. „Los, los, komm“, dann zog er Ellen in das Dunkel des U-Bahnschachtes. Er kannte sich hier aus. Das hatte er von seinem Vater gelernt.
Dann nahm er Ellen bei der Hand. Er blutete ziemlich stark. So konnte er nicht weiter. Die Blutspur würde sie verraten. Nils konzentrierte sich und sprang mit Ellen in die kleine Wohnung, die Papa ihm in der Nähe der Schule eingerichtet hatte, damit er „Schulweg sparen“ konnte. Er benutzte die Wohnung oft. Auch nachmittags, um mal seine Ruhe zu haben.
6.
Ellen war völlig verdattert. Von diesen Kräften hatte sie keine Ahnung gehabt. Jetzt stand sie plötzlich mit Nils in diesem Appartement. Sie hatte gespürt, wie sie quasi durch einen Tunnel geflogen war. Eine eigenartige Wärme hatte sie umfangen. Sie begann zu zittern.
„Ist schon gut“, beruhigte Nils. „Hast du schon mal ‚ne Wunde versorgt?“ Ellen nickte und Nils holte den Erstehilfekasten. Das Messer war durch die leichte Jacke gegangen, die Nils trug. Er zog sie jetzt aus. Die Wunde sah wirklich schlimm aus. Ein ekelhaft tiefer, klaffender Schnitt, der bereits angefangen hatte heftig zu bluten wie ein pulsierender Quell. Es war immer so, sobald der erste Wundschock vorbei war.
Nils zog die Kappe vom Desinfektionsspray, schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und sprühte los.
„Ooaargh“, tat das höllisch weh. Die Tränen schossen ihm aus den Augen. Jetzt fing das Blut erst richtig an zu laufen.
Ellen hatte das schon ein paar Mal gemacht. Sie hatte wirklich Übung. In der Packung gab es Wundklammern und Nadel und Faden. Sie nahm Nils die Dose aus der Hand, desifizierte sich die Hände, wischte das Blut mit einem Handtuch oberflächlich weg, und sprühte noch mal gründlich auf und in die Wunde.
Nils stöhnte und verdrehte die Augen. Jetzt kam ihm das autogene Training zugute. Er fing an zu summen, dann fiel er langsam in eine Art Trancezustand.
Ellen brachte die Wundklammern auf, legte eine dicke Schicht Mull darüber und begann den Verband darum zu wickeln. Das hätte eigentlich fachgerecht versorgt und dann vernäht werden müssen. Hoffentlich gab das keinen Wundbrand. Nils summte und sang leise vor sich hin. Er schien überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, was Ellen da machte.
Als die Pflaster den Verband endgültig fixierten, sah sich Ellen um. Das war ja eine niedliche kleine Wohnung. Dann holte sie ein Handtuch und wischte das Blut vom Parkettboden. Es hatte eine ziemliche Sauerei gegeben. Sie sah an sich herunter. Auch ihre Kleidung war voller Blut. „Scheiße.“
Nils summte immer noch. Ellen hob ihn leicht an und Nils schien in sich zusammenzusacken, dann nahm sie ihn in beide Arme und trug ihn zum Bett.
Sie legte sich dazu und nun begann sie Teil eines Prozesses zu werden, der ihr zukünftiges Leben bestimmen würde.
Um Nils und Ellen wob sich ein Feuer. Wie eine elektrostatische Entladung. Ein Ball aus feingeäderten Blitzen. Sie versuchte, den Arm herauszustrecken und aufzustehen. Es ging nicht. Sie war mit Nils in dieser Kugel gefangen.
Ellen seufzte. Erst dieser seltsame Sprung in dieses Appartement, dann diese Leuchtkugel. Sie verstand die Welt nicht mehr. Dann begann sie auf das leichte Gesumm zu achten, das immer noch aus Nils strömte. Er bewegte die Lippen nicht. Diese Klänge entströmten seinem Kopf, seinem Körper, sie waren einfach da, und nun wurde Ellen in diese Klänge eingewebt. Es kam ihr vor, als würde plötzlich ein dunkelhaariges Mädchen vor ihr stehen, vielleicht 20 Jahre alt, sie konnte das schlecht einschätzen. Das Mädchen breitete die Hände über die Leuchtkugel, es knisterte. Ellen wurde ganz tranig im Kopf und sie schlief ein.
Sie wusste nicht, wann sie aufwachte. Es war noch hell. Die Leuchtkugel und das Mädchen waren verschwunden. Sie sah auf ihrer Uhr, dass es neun war. Sie sah zu Nils und berührte ihn leicht am Hals, wie um seinen Puls zu fühlen.
Nils legte plötzlich die Hand um ihren Hals und zog sie leicht zu sich herunter. Ihr Kopf lag neben Nils und sie spürte seinen warmen Atem. Sie spürte auch sein „Danke“, das er unausgesprochen formulierte. Dann wanderte Nils Finger leicht über ihren Hals.
Ellen war keine Jungfrau mehr. Sie wusste, wohin das jetzt führt und sie war nicht bereit dazu. Sie richtete sich halb auf und sah Nils an.
Nils lächelte. Dann schlug er die Augen auf und sah sie direkt an. „Du kannst den Verband jetzt abnehmen.“
Ellen schüttelte den Kopf. „Wieso das? Die Wunde fängt dann sofort wieder an zu bluten.“ Nils summte und setzte sich auf.
Ellen gehorchte. Sie wusste nicht, warum sie das tat. Es war, wie eine Art innerer Antrieb. Sie tat, was Nils ihr befahl.
Der Verband war völlig durchnäßt, aber es gab keine Wunde mehr. Sie nahm die Klammern ab und sah eine 3x sechs Zentimeter lange wulstige Narbe in V-Form. Der Arm sah auf den ersten Blick aus, als habe es dort nie einen frischen Messerstich gegeben. Ellen blieb der Mund offen stehen.
Sie sah Nils an, diesen Nils, der immer noch summte. Dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie über dieses Ereignis nicht sprechen würde. Mit niemandem. Nils wusste es. Sie wusste es. Es war ein Geheimnis zwischen den beiden.
Plötzlich schlang Ellen Nils die Hände um den Hals und begann zu weinen. Der Schock saß einfach zu tief. Nils summte immer noch. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest.
„Morgen“, sagte er tröstend, „morgen können wir unseren Waldlauf machen.“
Ellen nickte und weinte immer noch. Sie war hart im nehmen, aber das war zuviel gewesen. Sie blieb über Nacht bei Nils. Es war jetzt ihr Wille. Sie merkte, dass es für Nils das erste mal war. Sie zeigte ihm ein paar Tricks. Sie zeigte ihm vor allem, dass er mit ihr behutsam sein musste.
Am nächsten Morgen wachten sie zusammen auf. Nils fragte: „sind wir noch Freunde?“
Ellen nickte. Sie war älter als Nils. In diesem Alter sind zwei Jahre sehr viel. Sie würden heute Nachmittag zusammen Waldlauf machen. Sie waren sich zu nichts verpflichtet.
Nils Handy hatte am Abend ein paar mal geklingelt. Er war nicht rangegangen.
7.
Dann gingen sie in die Schule, wie immer. Nils gab ihr ein neues T-shirt und eine Leggins, die er im Schrank fand. „Von meiner Schwester“, sagte er. Mit den blutverschmierten Sachen konnte er sie schlecht in die Schule gehen lassen.
Als Nils in die Schule kam, wurde er von Tina angemacht. „Ich hab dich gestern ein paar mal angerufen. Wo warst du?“ Nils hob entschuldigend die Hände. „Hab das Handy zum Aufladen gahabt. Sorry. Jetzt bin ich ja wieder da.“ Er grinste.
„Was’n das?“ Tina fasste in den blutigen Schlitz in der Windjacke. „Nils schaute an seinem Arm hinunter. „Ach so. Bin ich an Stacheldraht hängengeblieben. Muss ich wohl ausmustern.“
An diesem Morgen wurde überraschend eine Mathearbeit geschrieben und Nils war froh, dass er etwas abgelenkt wurde.
Nach der Schule ging er hinüber in seine kleine Wohnung, schlug sich ein Ei in die Pfanne und aß ein paar Sauergurken und Cracker dazu, dann klingelte es und Ellen holte ihn zum Training ab.
Als sie zur U-Bahn kamen, lasen sie die Schlagzeilen der Berliner Boulevarpresse. „Wieder Schlägerei in der U-Bahn. Opfer verletzt - Blutspur führt in U-Bahnschacht“. Nils zog sich eine Zeitung und las. Blutspur führt U-Bahnschacht? Das klang ja nicht gut. Sie waren der Blutspur gefolgt. Nach dreissig Metern hörte sie plötzlich auf. Sie hatten die Umgebung abgesucht, aber der Verletzte war im Nirgendwo verschwunden. Es gab in diesem Abschnitt keinen Quergang, keine Schächte von oben. Der Verletzte konnte nirgendwo hin. Er hatte sich in Luft aufgelöst. Die Zeugen in der U-Bahn hatten ihre Aussage gemacht. Vier italienische Jugendliche waren festgenommen worden, die man zusammengeschlagen in der U-Bahn aufgelesen hatte. Die Beschreibungen der Zeugen waren nichtssagend. Man würde Nils und Ellen auf diese Weise nie finden.
Nils gab Ellen die Zeitung. „Es gibt schon seltsame Dinge in der Welt“, sagte er todernst.
Ellen musste sich das Lachen mühsam verkneifen. Sie sah, dass Nils jetzt eine andere Jacke anhatte. Er war vorsichtig gewesen.
Im Grunewald begannen sie ihre Tour. Ellen staunte wieder. Sie hatte Nils gestern gesehen. Die Verletzung war wirklich heftig gewesen. Das Messer war bestimmt bis auf den Knochen gegangen und hatte den Oberarmmuskel komplett durchgetrennt. Nils lief mit einer Leichtigkeit, als hätte er nie eine Wunde gehabt. Es gab wirklich seltsame Dinge auf der Welt.
Dann begannen sie mit dem eigentlichen Training. Ausfallschritt, Luftsprünge. Tempo steigern, Schattenboxen. Nils machte ein paar mal Überschläge vor- und rückwärts, er drehte Schrauben, mitten aus dem Lauf. Er begann mit Ellen Scheingefechte. Das wars. Ellen spürte, dass dieses Training sie schnell und beweglich machen würde. Manchmal liefen sie rückwärts, in unverminderter Schnelligkeit.
Dann kam eine Kreuzung. Sie liefen wieder rückwärts, da wurde Nils plötzlich gestoppt. „Halt, halt, junger Mann, wohin so eilig?“
Sie drehten sich um. Nils fiel der Kiefer herunter. „Äh“, machte er.
Vor ihm standen Helen und eine Frau, die wohl ihre Mutter sein mochte, vom Aussehen her. Beide im Sportdress. Sie hatten wohl gerade dasselbe gemacht, wie Ellen und Nils.
Helen kicherte. „Mama“, sagte sie, „darf ich vorstellen? Das ist unser geheimnisvoller Gönner von gestern, er heißt Nils.“
„So so.“ Helens Mutter sah an Nils herunter und wieder hinauf. „Ein Sportler, wie es scheint.“ Dann forderte sie Nils auf, „dann wollen wir mal, zeigt, was ihr drauf habt.“
Sie begann zu laufen und Helen nahm Nils kurz bei der Hand. „Komm.“
Sie liefen zu viert weiter. Den ersten Kilometer liefen Nils und Ellen in schnellem Tempo mit, dann stoppten sie die beiden. „Wir haben Training, aber nicht im Dauerlauf.“ Nils drehte sich um und lief ein Stück rückwärts, dann begann er mit Helen das Training wieder aufzunehmen. „Whow“, sagte Helens Mutter. „Das müsst ihr mir zeigen.“
Nils nickte. Er lief ein Stück hinter ihr her, er fasste sie an den Hüften und drehte sie beim laufen mal nach links, mal nach rechts. Dann nahm er die Schultern und tat das gleiche. „Und jetzt alleine“, forderte er auf und nach einer Weile, „wenn Sie jetzt die Drehbewegung ausnutzen, dann können sie springen.“ Er machte das vor, indem er eine Schraube drehte.
Helens Mutter versuchte das, aber sie hatte nicht genügend Schwung. Sie stolperte und fiel hin. „Mama“, fragte Helen besorgt, „alles in Ordnung?“ Nils reichte ihr die Hand und zog sie hoch, dann lief er eine Weile neben ihr her und beobachtete ihr Sprunggelenk. Es schien alles OK.
Helen machte das schlauer. Sie begann mit leichten Übungen, ging dann ins Schattenboxen über und begann ihr Gewicht zu verlagern, dann sprang sie plötzlich in die Luft, drehte sich, kam mit beiden Beinen auf und lief weiter.
„Bravo“ meinten Ellen und Nils wie aus einem Mund.
Sie liefen noch ein Stück, dann meinte Helens Mutter. „Genug für heute. Dort vorn ist der Parkplatz. Können wir euch irgendwohin mitnehmen?“
„Nein nein“, meinte Nils „Wir haben’s nicht weit“. Sie hoben die Hand zum Gruß und liefen den nächsten Waldweg wieder hinein.
Nach einem Kilometer kam ein Übungsplatz zum Stretchen und Nils hielt an. Er machte seine Dehnungsübungen, dann schaute er sich um. „Es reicht für heute. Komm.“ Er nahm Ellen bei der Hand und sprang mit ihr in seine kleine Wohnung. Sie gingen unter die Dusche, dann gingen sie zusammen ins Bett.
Ellen, die wohl gemerkt hatte, dass Nils für dieses Mädchen etwas empfand - und dass beruhte wohl auf Gegenseitigkeit - schaute ihn an. „Du sollst wissen, dass ich dir nicht im Wege stehe.“ Sie machte eine schweifende Bewegung mit der Hand. Nils sah sie erstaunt an. „Das hast du bemerkt? Aber es ist doch noch gar nichts.“
Ellen lächelte. „Wenn ihr euch nicht zu blöd dabei anstellt, dann wird das aber nicht mehr lange dauern.“
Dann plötzlich: „Sind wir noch Freunde?“ Nils nickte. „Immer“, und Ellen begann, Nils wieder zu erregen. Sie würde mitnehmen, was sie von Nils bekommen würde.
„Ich muss heute noch lernen”, meinte Nils. “Morgen komme ich nicht zum Training. Mein Vater hat sich angekündigt. Wir haben ein paar Dinge zu besprechen. Du kannst mich jederzeit anrufen. Wir sind ja Freunde.“
8.
Zwei Tage später begann Nils mit Ellen zu trainieren. Diesmal nicht als Waldlauf. Er ging mit ihr in die Stadt und übte mit ihr, das Gedächtnis zu trainieren und sich „unsichtbar“ zu machen.
Sie verfolgten wildfremde Passanten. Nils zeigte Ellen zehn verschiedene Leute im vorbeigehen und fragte dann nach Details. Welche Farbe hatte der Rock? Waren die Haare kurz oder lang? Der Mann mit dem Bart, was hatte der in der Hand? Der Obdachlose. Wieviel Geld hatte er in seinem Hut? Nein genau. Auf den Cent genau.“ Er nickte.“ Solche Dinge werden dir nützen, deine Gegner einzuschätzen. Wie bewegen sie sich? Wie schnell sind sie? Wieviel Ausdauer haben sie? Sind sie allein oder zu Zweit?
Ellen fand das ziemlich anstrengend. Nils nickte. „Jede Übung ist am Anfang schwer. Wenn wir zusammen unterwegs sind, dann werden wir das üben. Wenn wir im Sportzentrum sind, dann werden wir das üben. Wenn du später alleine nach Hause gehst, dann wirst du das üben. Gedächtnistraining ist genauso wichtig wie Waldlauf oder unser Singen. Roman hat das in der Sportschule noch nie als Disziplin eingeführt. Einige der Sportler, die du aus der Schule kennst, die praktizieren das schon lange.“ Er nannte ein paar Namen. „Sind alle Cracks. Die Gedächtnisübungen sind eines der Geheimnisse ihrer Kampfkunst. Du wirst bald noch etwas anderes feststellen. Beim springen musst du wissen, wie du aufkommst, sonst knickst du um, so wie Helens Mutter. Sie hat diese Fähigkeit noch nicht. Das ist sehr gefährlich. In einem Kampf kann dich das dein Leben kosten oder dich am Leben erhalten.“ Er hob die Hände.
„Ja ja. Die Sache mit dem Messer. Ich bin gut, aber ich bin auch noch nicht perfekt. Solche Dinge passieren manchmal. Man muss sie minimieren.“
Dann sah er sie an. „Sind wir noch Freunde?“ Ellen nickte. „Dann solltest du wissen, dass du immer zu mir kommen kannst, auch wenn so etwas passiert wie...“ er zeigte auf seine Schulter.
Ellen nickte noch einmal.
9.
Als Nils nach Hause kam, wartete sein Vater auf ihn.
„Ich möchte mein Gespräch von vor einer Woche fortsetzen“, begann er. „Es geht um die Ethik unseres Handelns und es geht darum, wie wir in unserer Stadt - und darüber hinaus - endlich wieder so etwas wie eine Ordnung hineinkriegen. Nicht nur im Zentrum. Überall.“
„Damals, als Théra uns bei der Millionenbeute geholfen hat, da hat sie nicht lange gefackelt. Sie hat den Kassier umgebracht. (Siehe Band 6). Man kann darüber streiten, ob das legitim war. Schließlich haben sich die Dealer anschließend gegenseitig umgebracht, bis sie schließlich alle von bezahlten Killern ins Jenseits geschickt wurden. Das ist eine eigene Welt. Es ist aber etwas komplett anderes wenn wir so etwas tun. Wir sind keine Killer, aber auch ich habe schon getötet.“
Nils nickte. Auch er hatte das schon getan.
„Warum rede ich mit dir darüber? Es ist uns ein leichtes, uns in eine giftige Spinne zu verwandeln und den Gegner auszulöschen, und mit deinen Fähigkeiten als Kickboxer kannst du fast jeden Gegner mit den bloßen Händen vernichten. Roman hat dir eingeimpft, den Gegner zu achten. Es ist eine Kampfsportart, aber es ist keine Lizenz zum Töten.“ Dann fing er an, von Théra zu erzählen.
„Auch sie hat schon mehrfach getötet. Als Familie haben wir darüber zu Gericht gesessen. Théra hat aber viel größere Fähigkeiten. Sie kann Menschen für sich gewinnen. Sie kann sie beeinflussen.“
Er sah Nils tief in die Augen. „So, wie du das gerade mit Ellen machst.“
Nils blickte erschrocken auf. „Ja Ja. ist schon gut. Ich weiß, was du vorhast. Du rekrutierst gerade ein neues Mitglied für die Truppe „des Dicken“. Ich spreche aber noch von etwas anderem: Théra hat es ein paar Mal fertig gebracht, dass ihr Massen von Menschen zu Füssen lagen. Sie gehorchten ihr. Sie kann sie immer noch steuern. Sie tut das gelegentlich. Unsere Erfolge in Südamerika wären nicht so groß, wenn sich Théra nicht immer mehr Industriekapitäne, Politiker, ihre Frauen und ihre Kinder unterthan machen würde. Es ist wirklich so. Sie beeinflusst die Meinungen der Menschen.“
„In vielen Bereichen ist uns das noch nicht gelungen. Hier in Berlin, im Regenwald des Amazonas, aber natürlich auch in Afrika oder Indonesien - überall, wo solche schrecklichen Dinge passieren, wie Verschleppung, Vertreibung, Raubrodung, Hunger und Mord. Wir können nicht überall gleichzeitig sein und wir haben nicht die Kraft vor Théra.“
Er fuhr fort: „Wir sind auch nur Menschen, aber wir sollten versuchen, hier in Berlin etwas mehr Ordnung in das Chaos zu bringen. Wir haben schließlich eine soziale Verantwortung. Ich weiß aber auch noch nicht wie die beste Lösung aussieht. Morgen abend kommt mal wieder eine Lieferung Frischfleisch aus Russland. Ein ganzer Container mit jungen Mädchen, die für den Strassenstrich bestimmt sind. Wir werden sie beobachten und wir werden der russischen Mafia einen weiteren schweren Schlag versetzen. Du weist, hier geht es um Menschenhandel und um Zwangsprostitution. Wir kämpfen allerdings nicht gegen Prostituierte, die das freiwillig und aus eigenem Antrieb machen. Auch das gibt es. Bist du dabei?“
Nils nickte. Sie waren stets erfolgreich, wenn es darum ging, diesen Ganoven das Geld oder die Ware abzunehmen. Inzwischen hatten die Gegner geheime Kommandos aufgestellt und große Summen als Belohnung ausgelobt. Sie wollten endlich diese ständigen Verluste minimieren. Drogengeld, Schmuggelware, Bestechungsgelder... immer wieder verschwanden solche Dinge auf unerklärliche und geheimnisvolle Weise. Die Bosse und ihre Hintermänner tobten. Nicht nur die Männer der russischen Mafia.
Inzwischen hatten sich sogar mehrere dieser Gangs zusammengetan. In dieser einen Sache arbeiteten sie zusammen. So langsam wurde es auch für die Familie von Nils brenzlig. Noch hatte niemand Verdacht geschöpft, aber es war nur eine Frage der Zeit, dass die Gegner sich irgendwann das Zentrum vorknöpfen würden.
Dann sagte Papa, „ich hab für morgen abend Théra dazugebeten, als Beobachterin. Und nun noch etwas anderes. Ich weiß, dass du dich mit Paras und Alanques Kindern häufig triffst. Seid ihr in dieser Methode weitergekommen, eure Energie wie ein Feld aus Beeinflussung über die Menschen zu legen?“
Nils schüttelte den Kopf. „Im Kleinen gelingt uns das gut. Im Großen müssen wir unsere Kräfte bündeln. Théras Kraft haben wir nicht. Aber solche Dinge, wie einen Hubschrauber in der Luft explodieren zu lassen, das können wir.“
Dennis nickte. „Könntest du ein Vorhängeschloß knacken oder einen LKW anhalten?“ Nils schüttelte den Kopf. „Das erste ist leicht, das Zweite ist schwer, weil ich die Technik noch nicht kenne. Dafür müssten wir schon zu dritt oder zu viert sein. Nur Théra hat diese Kraft.“
„Gut. Wir werden das morgen Nacht sehen.“
Morgen war Samstag. Nils würde einen langen Schlaf brauchen, um nachts fit zu sein. Solche Lieferungen kamen immer zwischen zwölf und drei. In seinem Alter war das die Tiefschlafphase. Er würde sich am Tag irgendwann noch einmal hinlegen müssen. Dann rief er Ellen an. „Morgen ist nich“, meinte er. „Sonntag lassen wir offen. Ich melde mich.“