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Kronleuchter in der Tiefe des Tals: Würzburg
ОглавлениеNIEMAND hat je herausgefunden, warum Heinrich von Kleist, aus Frankfurt kommend, mit seinem zehn Jahre älteren preußischen Freund Ludwig von Brockes am 9. oder 10. September 1800 in Würzburg haltmachte. Dort erlebte er einen Monat später seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag und reiste bald nach Berlin weiter, von wo er am 27. Oktober der Lieblingsschwester Ulrike schrieb. In fünf ausführlichen Briefen aus den Würzburger Wochen an Wilhelmine von Zenge, seine Verlobte, war Kleist ab und an auf ein für das erhoffte gemeinsame Leben bedeutendes Anliegen zu sprechen gekommen, das er aber »gewiss« noch nicht »mittheilen« könne. Gefallen an der Stadt mit ihrer Umgebung und den damals zwanzigtausend Einwohnern, keine geringe Zahl in einem als Staat noch nicht existierenden Deutschland von ungefähr fünfeinhalb Millionen, Gefallen an der Stadt fand Kleist erst gegen Ende des Aufenthalts. Wer je von außen auf Würzburg herabgeschaut hat, wird die wortreiche Genauigkeit seiner auf den 11. Oktober 1800 datierten Darstellung bewundern:
»Ich finde jetzt die Gegend um diese Stadt weit angenehmer, als ich sie bei meinem Einzuge fand; ja, ich möchte fast sagen, daß ich sie jetzt schön finde – und weiß nicht, ob sich die Gegend verändert hat, oder das Herz, das ihren Eindruck empfieng. (…)
Selbst von dem Berge aus, von dem ich Würzburg zuerst erblickte, gefällt es mir jetzt, u ich möchte fast sagen, dass es von dieser Seite am schönsten sei. Ich sah es letzin von diesem Berge in der Abenddämmerung, nicht ohne inniges Vergnügen. Die Höhe senkt sich allmählig herab u in der Tiefe liegt die Stadt. Von beiden Seiten hinter ihr ziehen im halben Kreise Bergketten sich heran u nähern sich freundlich, als wollten sie sich die Hände geben, wie ein paar alte Freunde nach einer lange verflossenen Beleidigung – aber der Main trit zwischen sie, wie die bittere Erinnerung, u sie wanken, u keiner wagt es, zuerst hinüber zu schreiten, u folgen beide dem langsam scheidenden Strome, wehmüthige Blicke über die Scheidewand wechselnd.
In der Tiefe, sage ich, liegt die Stadt, wie in der Mitte eines Amphitheaters. Die Terrassen der umschließenden Berge dienen statt der Logen, Wesen aller Art blickten als Zuschauer voll Freude herab u sangen u sprachen Beifall, oben in der Loge des Himmels stand Gott. Und aus dem Gewölbe des großen Schauspielhauses sank der Kronleuchter der Sonne herab u versteckte sich hinter der Erde denn es sollte ein Nachtstück aufgeführt werden.«
Ein kompaktes Gegenstück zu dieser allegorisch ausgemalten Bewegung der vom Fluss getrennten Berge, »wie ein paar alte Freunde nach einer lange verflossenen Beleidigung«, und des Tals von Würzburg als »Amphitheater eines Nachtstücks unter sinkendem Kronleuchter« lieferte vor Jahrzehnten die Tourismus-Abteilung der Stadt mit ihrer Erfolgsformel von Würzburg als »Weinfass an der Autobahn«. Kleist hingegen hatte zunächst vor allem Dunkelheit registriert: »Wir sind also aus unserem Gasthofe ausgezogen, in ein kleines, verstecktes Häuschen (…). Es ist ein Eckhaus, auf drei Seiten, ganz nahe, mit Häusern umgeben, die finster aussehen, wie die Köpfe, die sie bewohnen.« Und die dunkle Hektik des katholischen Gedränges steigerte sich für den protestantischen Besucher aus Frankfurt an der Oder zu einem Eindruck chaotischer Enge: »Das Ganze hat ein ächt katholisches Ansehn. Neun u dreißig Thürme zeigen an, daß hier ein Bischoff wohne, wie ehemals die ägyptischen Pyramiden, daß hier ein König begraben sei. Die ganze Stadt wimmelt von Heiligen, Aposteln u Engeln, u wenn man durch die Straßen geht, so glaubt man, man wandle durch den Himmel der Christen. Aber die Täuschung dauert nicht lang. Denn Heere von Pfaffen u Mönchen, buntscheckig montirt, wie die Reichstruppen, laufen uns unaufhörlich entgegen u erinnern uns an die gemeinste Erde. Den Lauf der Straßen hat der regelloseste Zufall gebildet. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Würzburg durch nichts, von der Anlage des gemeinsten Dorfes.«
Für eine solche Ambivalenz von Impulsen der Faszination und Distanznahme als Reaktion auf eine allzu geschlossene Welt stand um 1800 das Wort »Provinz« noch nicht zur Verfügung. So gab Kleist dem Gegensatz die Form eines Übergangs vom »Himmel der Christen«, der bald in die »Anlage des gemeinsten Dorfes« umschlagen sollte. Doch zwischen diesem anfänglichen Changieren seines Erlebens und dem entschlossenen Pathos im Herauf beschwören eines »Amphitheaters« für das »Nachtstück« vor freudigen Zuschauern gegen Ende der Würzburger Zeit hatte er schon die »sehenswürdige Gallerie von Vögeln u Moosen« bestaunt, die von einem Professor Blanck »bei der hiesigen Universität« zusammengestellt worden war, und konnte sich auch im Julius-Hospital kaum satt sehen an »einem anatomischen Theater u einem medicinisch-chirurgischen Auditorium«, vor allem an dem »vergitterten Platz für die Verrückten.« Manch »Ekelhaftes, manches Lächerliche, viel Unterrichtendes u Bemitleidenswertes,« nahm er dort wahr, »ein Paar Menschen lagen übereinander, wie Klötze, ganz unempfindlich, u man sollte fast zweifeln, ob sie Menschen zu nennen wären«. Besonders ein »18jähriger Jüngling, der noch vor Kurzem blühend schön gewesen sein soll u noch Spuren davon an sich trug«, nahm Kleists Blicke in Beschlag. Nun »hieng er da über die unreinliche Öffnung, mit nackten, blassen ausgedorrten Gliedern, mit eingesenkter Brust, kraftlos niederhängendem Haupte«. Als eine Art von Diagnose wohl kam Kleist der vage Hauch jener moralischen Verurteilung in den Sinn, welche so viele Generationen über das Masturbieren verhängt hatten: »So schrecklich rächt die Natur den Frevel gegen ihren eigenen Willen!« Die drastisch kontrastierenden Bilder zu vergessen, die ihm Würzburg vor Augen brachte, scheint Kleist – auch mangels prägnanter Begriffe und Erklärungen (»eigentlich weiß ich mich nicht recht auszudrücken«) – schwergefallen zu sein. Am Ende musste er sich beinahe losreißen von jenem Tal mit seinen Verrückten, Mönchen, Pfaffen, Glocken, Türmen und dem imaginären Kronleuchter – je mehr, desto weniger er am Ende wusste, warum er je dort angelangt war.
Der gegenläufige Drang, sich in das Tal zu vertiefen, ja beinahe einzugraben, ist mir vertraut, seit ich mich an meine Gedanken erinnern kann. Mitte Juni 1948, als meine Mutter ihren Sohn in Würzburg zur Welt brachte, muss die Stadt noch wie das Ruinenfeld ausgesehen haben, das ein alliierter Bomberangriff am 16. März 1945 hinterlassen hatte – zusammen mit fünf tausend Toten und der Bereitschaft der Überlebenden zu bedingungsloser Kapitulation, um die es dieser militärischen Aktion gegangen war. Die zerstörten und noch nicht im beflissenen Nachkriegstakt wieder aufgebauten Mauern wurden in unserer Kinder-Phantasie zu einer Landschaft aus Burgen, Rittern, Schwertern und Turnieren, die wir liebten, die uns umarmte und über deren Rand wir nur manchmal am Samstag oder Sonntag entkamen. Helmstadt in Richtung Frankfurt zum Beispiel war das Dorf, wo mein Vater zur Grundschule gegangen war und wo wir Verwandte hatten, die jeden Herbst zum Schlachtfest einluden. Mutprobe und Ehre sollte es sein, zusehen und zuhören zu können, wie unter Nackenschlägen quiekend Schweine verendeten und Hühner noch rannten, deren fedrige Hälse schon umgedreht zum Boden hingen; wie Leute, die ich »Onkel« und »Tante« nannte, mit den Messern in ihren großen Händen gekonnt blutige Tierleichen in Hundefutter und die besser geformten Teile zerlegten, die in der dampfigen Küche fürs Fest am Tisch gesiedet oder gebraten wurden. Mit all ihrer fleischigen Herzlichkeit schloss die auf ihre Weise gedrängte Welt der Bauern die Gäste aus der Stadt ein, um uns dann bald vollgestopft mit Würsten und Speckschwarten wieder ins Tal zu schieben. So ging es auch in Theilheim, dem staubig leeren Dorf auf der anderen Seite des Flusses, dessen Bewohner mit Wörtern sprachen, die uns oft nicht einmal ahnen ließen, was sie eigentlich sagen wollten. Oder mit Thüngersheim, neun Kilometer flussabwärts und der Bahnlinie entlang, von wo Dietmar Prusko ins Gymnasium kam, der viel erwachsener war als wir Städter, weil er zu Hause schon mit zwölf oder dreizehn mehrere Gläser Wein trinken durfte. Statt uns zu »empfangen«, wie Kleist geschrieben hatte, wies uns die »schöne Gegend« um Würzburg immer wieder schnell ins Tal zurück.
Schon vor der Gymnasiumszeit hatten wir die Erstkommunion in schwarzen Anzügen mit Fliege gefeiert, die Mädchen weiß herausstaffiert, nach langen Wochen von Beicht- und eben Kommunionunterricht. Sogar zum Ministranten war ich für ein Jahr geworden, um in engelhaften Gewändern hinter dem Priester kniend den Moment der Wandlung einzuläuten, eine Ehre auch das, ganz anders als die Ehre des Schlachtfests, aber mit ebenso wenig Gewinn oder Freude. »Wenn der Priester dich anfasst, dann lässt du es uns wissen«, hatte der Vater wie selbstverständlich gesagt und mir die Frage im Kopf gelassen, was er denn wohl meinen mochte, die zu dem vagen Eindruck führte, es könnte zu tun haben mit jener »Unkeuschheit« aus dem sechsten Gebot des Beichtspiegels, einer von Sünden noch nicht auf füllbaren Dimension hinter sieben Siegeln für mich – und zugleich einer vielversprechenden Vorwegnahme von Sünde an sich. Nicht wenige Stunden verbrachten wir jeden Freitagnachmittag vor dem Beichtstuhl mit Reue-Gebeten und den verschiedensten schmerzhaften wie glorreichen Rosenkränzen, alles in der nach salzigem Weihwasser riechenden neuromanischen Sankt-Adalbero-Kirche, deren Stadtpfarrer schon deshalb niemanden anfasste, weil sein Leibesumfang die kurzen Arme auf Distanz von allen anderen Körpern hielt – sogar von der durch und durch schwarzhaarigen Pfarrschwester Gertrud.
Selbst Kommunionkinder spürten einen Drang im Tal der Kirchen, Türme und Glocken, den seine Gebote, Regeln und Warnungen nie ganz zurückhalten konnten. Auf bewahrt war er auch im Photo-Album der Eltern von ihren Würzburger Kriegswochenenden als Medizinstudenten mit dem Paddelboot auf dem Main. Die zukünftige Mutter, gerade aus Marburg angekommen, mit einem zugleich züchtigen und damals wohl lasziven »zweiteiligen Badeanzug«, der Vater versteckte Altwässer ansteuernd, beide mit gebräunten Gesichtern auf schwarz-weißen Photos und voll von praller Ungeduld – diesseits der Stalingrad-Angst und der Angst vor dem Ende des Kriegs, reimte ich mir später zusammen. So kannte ich die Flamme derselben Eltern, die mich zehn Jahre später am Sonntagmorgen in die Kirche schickten und nie eine Antwort auf die ebenso unschuldige wie ungeduldige Frage hatten, warum sie denn nicht auch zur Messe kämen. Schon vor der Schulzeit hatte mir die Mutter anvertraut, dass Tabletten im Rührei für besseren Schlaf sorgten an den Abenden, wo der Vater Nachtdienst in der Klinik hatte. Nichts war folgerichtig, wie die Erwachsenen gesagt hätten, nichts war folgerichtig zu Ende gedacht, verboten oder auch nur zu Ende gesagt, und um so härter pulsierte in der Enge ein unsichtbares Leben, das ein wegen seiner komplizierten Sätze sehr bewunderter Studienkollege später einmal voller Bewunderung das »unheimlich Freudianische« an der Stadt nennen würde. Sollte dies die Energie von Kleists »Nachtstück« mit dem »Kronleuchter« gewesen sein?
Männer in der Nähe der Mutter machten mich unruhig, schon lange bevor ich wusste, warum. Denn ich hing an den Lippen meines Vaters, des gutaussehenden, charismatischen Chirurgen, dessen Stimme und Worte oft so hell und so unsicher klangen, dass ich für ihn etwas mir ganz Unbekanntes beweisen zu müssen glaubte. Dies änderte sich nicht einmal, als sich die vorweggenommene vage Sünde der Kommunion-Kindheit endlich mit einer Leidenschaft füllte, die mich jede Nacht auf die andere Seite des Tals radfahren ließ zum Haus meiner Freundin, nach »Höchberg«, wie dieser Stadtteil hieß. Ihre Eltern waren schon schlafen gegangen, und wir hatten ein paar Stunden, bis die Uhr daran erinnerte, dass mein Vater angeblich in dreißig Minuten aufwachen würde. Ob uns die Eltern auf beiden Seite des Tals ihre geschlossenen Augen und auch die Furcht schenkten, welche Leidenschaft braucht? Alles wollte ich damals sein – und beweisen: ein Schriftsteller schon; immer noch ein gläubiger Katholik, aber jetzt mit Freiheiten, die mir niemand geben konnte; ein torgefährlicher Wasserballspieler, so gut es ging; vor allem Renates muskulöser Liebhaber, obwohl ich wusste, dass ich nicht der erste und vielleicht auch nicht der einzige war. Zweifel, Verbote, Strafen und die Enge unterstützten mich immer. Mit einer Ohrfeige an der Haustür begrüßt zu werden, weil »ein guter Bekannter« uns »am hellichten Tag« hatte küssen sehen, das kam mir gerade recht. Ich strafte mit Wochen begeistert eingehaltenen Schweigens zurück und habe danach mit meiner Mutter nur noch das Nötigste geredet.
»Zu-Hause« war ohnehin eher das Siebold Gymnasium, der wuchtig gedrungene Schulbau im selben »neoromanischen« Stil der Erstkommunion-Kirche, nach Philipp Franz von Siebold benannt, einem Würzburger Arzt und dem angeblich ersten deutschen »Japan-Forscher«. Während der Jahre vor dem Abitur wurden wir dort mit »Sie« angeredet und durften die zweimal fünfzehn Minuten Pausenzeit rauchend in der Grünanlage gegenüber dem Schulportal verbringen, nachdem wir aus einer bunkerähnlichen Versenkung des Gebäudes bei Hausmeister Leidl die übliche Flasche Kakao als »Schulspeisung« abgeholt hatten. Unsere Studienräte pochten auf ihr bayerisches Recht, den Professorentitel zu führen, und pflegten verschiedene Varianten von pädagogisch-akademischem Ehrgeiz. Professor Hans Morgenroth, der »Erdkunde«-Lehrer zum Beispiel, berichtete hartnäckig begeistert von der Bereitschaft »der Asiaten, mit einer Handvoll Reis durch den Tag zu kommen«, und erging sich auch in dunklen Andeutungen über »die Wahrheit« der damals jungen deutschen Vergangenheit, die uns zu erschließen »das Kultusministerium und die Sieger« unter Androhung der Kündigung verböten. Seine Anspielungen auf mögliche Strafen waren leider wohl eine Oktave zu dramatisch gegriffen, denn mit dem Nachhall von Treue zum Nationalsozialismus war unsere Generation noch allemal konfrontiert. Auch mit Wortsprengseln aus den zwölf Jahren vor dem Ende jener ganz anderen Welt, die so präsent wie ungreifbar blieb. »Der Führer«, sagte mein Vater manchmal, oder »Heil Hitler«, und lächelte unverbindlich, doch das kam nur in der Familie oder in der Gegenwart ganz guter Freunde vor, die meist so aussahen, als wüssten sie auch nicht recht, worauf er denn hinauswollte.
Dr. Eduard Eisenmeier (der Doktortitel teilte unsere Lehrer-Professoren scharf in zwei hierarchisch getrennte Gruppen ein) versäumte keine Gelegenheit, die Schüler mit seinen Erinnerungen an die »sudetendeutsche Sache« und die daran geknüpften politischen Anliegen vertraut zu machen, doch er gehörte auch zu den damals nicht wenigen Studienräten, deren Berufsauffassung eine Komponente von »Forschung« einschloss. Als Germanist verwies er stolz und als ob es unerlässlich wäre, auf die Buchausgabe seiner »Vollständigen Bibliographie zum Erzählwerk von Adalbert Stifter«. Anders exzentrisch sah Erwin Engel aus, der uns Französisch beibringen sollte. Sein Krawattenknoten war nicht wie bei den Kollegen eng an den Kragen des Hemds gebunden, das demonstrativ ungebügelt blieb, im Drei-Tage-Rhythmus vernachlässigt war auch sein Bart, und schon auf den ersten Schritten vom Unterricht zum Lehrerzimmer zündete er die schwarze Gauloise an, um sie aus dem Mundwinkel zu rauchen. Ein sprichwörtlicher Franzose wollte Erwin Engel sein, der Akzent seiner Fremdsprachen-Sätze klang perfekt und stach die fränkischen Töne aus, wenn er, was selten genug vorkam, ins Deutsche wechselte, um die gnadenlosen Kriterien seiner Notengebung klarzumachen. Von Paris, Charles de Gaulle oder den großen Namen der französischen Kultur war eher wenig die Rede, denn Engel ging es um das verkörperte Dasein der anderen Alltagskultur mit einer Dringlichkeit, die vom Kontrast zu allen und allem anderen lebte. Manche von uns bewunderten ihn, weil er die Enge des Tals zerbrach – so dass ihn niemand ersetzen konnte, als er auf einer Busreise nach Dijon (warum ausgerechnet Dijon, fragten wir uns) den plötzlichen Herztod starb.
Die Totenmesse wurde zur »Pflichtveranstaltung« für alle katholischen Schüler erklärt, doch niemand dachte an Erwin Engel, als die Predigt von Walter Druckenbrot, dem Priester im Lehramt, unterstellte, sein letzter Atemzug habe sich nach dem Sterbesakrament gesehnt (was damals noch Bedingung für ein kirchliches Begräbnis war). Wie die fünf regelmäßigen Gottesdienste pro Jahr an unserer staatlichen Schule, fand auch diese Messe in Stift Haug statt, einer hochstrebend frühbarocken Kirche mit grau gebliebener Fassade, deren Türme innerhalb der für Kleist so bedrängenden Architektur von Würzburg ausgerechnet in der Nähe des Bahnhofs standen. Doch während die stets gleich gut gemeinten Druckenbrot-Predigten über uns hinströmten, fielen auch schon Blicke auf ein riesiges Kreuzigungsgemälde des Venezianers Tintoretto von 1587, dessen drohende Farben und Schwindel niemandem einen Kommentar wert waren, außer der Feststellung eben, dass »die Stift Haug ihren Tintoretto hatte«.
Nicht viel mehr wussten wir von der im frühen achtzehnten Jahrhundert gebauten »Residenz« der Fürstbischöfe, fünf Minuten zu Fuß von der Schulkirche entfernt, laut Brockhaus einem der bedeutendsten »Profanbauten der Auf klärung in Deutschland« und seit 1981 zur behaglichen Befriedigung vor Ort sogar als »UNESCO-Weltkulturerbe« geführt. Ähnlich ging es mit Walther von der Vogelweide, dem mittelhochdeutschen Minnesänger, Matthias Grünewald, dem genialen Maler der frühen Neuzeit in Deutschland, und Tilman Riemenschneider, dem emblematischen Bildhauer der Reformationsepoche. Bis heute sind die drei als Skulpturen auf dem Brunnen vor der Residenz vereint, da die Stadt mit historisch eher prekären Gründen ihren Ruhm für sich in Anspruch nimmt. Wissen über Vogelweide, Grünewald und Riemenschneider wurde nie zur Erfahrung. Ich musste fünfzig Jahre älter werden und auf einem anderen Kontinent leben, um das erste Mal zu fühlen, wie die Treppe zum Kaisersaal in der Residenz die Schritte beflügelt, und um mir Zeit für ihr berühmtes Deckenfresko zu nehmen. Ein anderer Venezianer, Giambattista Tiepolo, hatte es über die Jahre nach 1750 (wenige Monate nach der letzten Hexenverbrennung vor Ort) für ein Honorar gemalt, das die Steuern der Untertanen in kaum mehr erträgliche Höhen trieb. Eine Vision der damals bekannten »Vier Erdteile« erschloss das riesige Bild für die Fürstbischöfe und ihre Gäste, mit allen exotischen Phantasien aus Tiepolos Zeit und mit der gelassenen Eleganz einer Komposition, welche die fröhliche Vielfalt der Welten im geschlossenen Deckenhimmel der Provinz verdichtet.
Sudetendeutsche Sache und wissenschaftlicher Ehrgeiz, nationalsozialistischer Nachhall und schwarze Gauloises, Tintoretto und der Bahnhof, Tiepolos Erdteile und kleinteiliger Lokalstolz: So wie für die Leidenschaft und ihre Verbote wirkt das endlose Nebeneinander der Kontraste im Tal von Würzburg auch für Wissen und Kunst als Bedingung von Intensität wie Frustration. Mittelmaß und Ressentiment geben den Hintergrund für ein Leuchten der Größe ab – und manchmal absorbieren sie auch dieses Licht.
Dass mein Vater »Mainländer« war, genauer »alter Herr« der »Studentenverbindung Corps Moenania Würzburg«, hing wie ein dunkler Schatten über meinen Erwartungen an die Universität. Denn seine Mitgliedschaft schloss die nie auch nur diskutierte Gewissheit ein, dass ich ihm in einem Studentenleben aus reglementierten Trinkgelagen und »Pflichtmensuren« mit scharfen Waffen nachfolgen sollte, das mir wie der Kontrapunkt zu meinen sozialistischen und vielen anderen Pubertätsträumen vorkam. Warum unter allen Universitätsstädten im Land ausgerechnet Würzburg zu einem Ballungsort jener Extremform deutscher Geselligkeit geworden war, lässt sich nur schwer verstehen. Moenania, heißt es, wurde 1814 von vier Studenten im Geist der Aufklärung, der Offenheit (auch und gerade gegenüber jüdischen Kommilitonen), des Widerstands gegen die napoleonische Besetzung des »Vaterlands« (daher die scharfen Waffen) und der Hoffnung auf eine Reform der intellektuell dekadenten Universität gegründet. Ein Akt der Rebellion gegen den Geist des fürstbischöf lichen Kleinstaats? Über das erste kurze Jahrhundert entwickelte sich die Verbindung freilich – wie alle anderen Burschenschaften und Corps – zu einer Loge bürgerlicher Selbstzufriedenheit und Exklusivität, deren öffentliche Zeichen bis heute die bei der Mensur davongetragenen und dann sorgsam gepflegten »Schmisse« sind. Von 1941 bis Ende 1944 allerdings kehrte Moenania todesmutig und heimlich gegen das von den Nationalsozialisten 1935 verhängte Verbot schlagender Verbindungen zum Leben in der eigenen Tradition zurück, um bald nach 1948 wieder einen konservativen Elitismus zu pflegen, der in der neuen Bundesrepublik exzentrischer bleiben sollte als in Würzburg.
Auch diese Variante der historischen Ambivalenz von Gesinnungen fand einen Ort in der Würzburger Universität als ihrer weiteren Umwelt. Sie geht auf einen gegenreformatorischen Gründungsakt im späten sechzehnten Jahrhundert zurück, was wie ein Emblem zu der Tatsache passt, dass der Geist philosophischer Spekulation oder der Wagemut der Künste in Würzburg nie recht in Bewegung kamen. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der eine, 1803 an die Universität berufene bedeutende Philosoph in ihrer Geschichte, hat es dort nur drei Jahre ausgehalten und tauschte 1806 eine Verwaltungsarbeit in München gegen seine akademischen Vorlesungen ein. Vor dem Hintergrund des – wie Schellings Fall zeigt – oft aggressiven Mittelmaßes in den Geisteswissenschaften entfaltete sich in Würzburg mit seinem barocken Zentrum und Geist jedoch eine überragende Tradition naturwissenschaftlicher Forschung. Zwei Professoren der Universität sind mit dem Nobelpreis für Medizin, drei mit dem für Chemie und vier mit dem für Physik ausgezeichnet worden, unter ihnen 1901 der erste Nobelpreisträger überhaupt, Wilhelm Conrad Röntgen, für die »Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen«, wie an der Fassade seines Laborgebäudes (auf der anderen Seite des Bahnhofs) heute noch geschrieben steht.
Röntgen mag einer von jenen Einzelgängern gewesen sein, die zu Kosmopoliten werden, weil sie sich nirgends zu Hause fühlen. Er war 1845 am Niederrhein geboren, in Holland aufgewachsen und wurde auf Grund des (angeblich) unberechtigten Vorwurfs von der Schule verwiesen, die schmähliche Karikatur eines Lehrers gezeichnet zu haben. Wie Albert Einstein ein halbes Jahrhundert nach ihm, fand er Aufnahme bei der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, wurde an der Universität derselben Stadt promoviert, habilitierte sich in Straßburg und kam über die Landwirtschaftshochschule in Hohenheim nach Würzburg. Röntgen forschte allein, sah sich nie nach Assistenten um und hatte kein Interesse, seine Erfindungen zur Patentierung anzumelden. Auf dem Weg zu jener Entdeckung, welche die Medizin und das Verhältnis der Menschen zu ihren Körpern für immer verändert hat, schloss er sich im Herbst 1895 mehrere Tage in seinem Labor ein. Ein echtes Genie, ein typischer Psychopath vielleicht auch, besessen von dem Willen, über sein Sterben in der inflationären Armut des Jahres 1923 keine persönlichen Dokumente zu hinterlassen. Am Ende der Laborabsonderung von 1895 aber schien das gespenstische erste Röntgen-Bild von den Handknochen seiner Zürcher Frau auf, die glaubte, in ihnen »den eigenen Tod gesehen« zu haben.
Niemanden außer seiner Frau und einem gemeinsam adoptierten Mädchen scheint Röntgen je vermisst zu haben. In Würzburg stand ihm alle Zeit der Welt zur Verfügung für die Kontemplation über den komplizierten Apparaturen seiner Wissenschaft, die ihn 1901 zum ersten Nobelpreisträger machte, als er nach der Ablehnung eines Rufs von der damals bedeutenden Universität Leipzig auf Wunsch der bayerischen Regierung bereits von Würzburg nach München gewechselt war. Das Preisgeld der Schwedischen Akademie spendete Röntgen jedoch noch der Würzburger Universität. Ich habe Spaß an der schrägen Idee, dass so zum »Kronleuchter« über dem »Nachtstück« aus Kleists Stadtbeschreibung das Röntgen-Gerät wurde, dessen Erfindung sich als der eine Moment herausstellte, als die Welt ihre Blicke auf »die Häuser in der Tiefe« meiner Vaterstadt richtete. Als der eine Moment, wo drängende Enge und Einsamkeit zu einem Durchbruch zusammenkamen, wie er sich allein in der Provinz ereignet. Erhabene naturwissenschaftliche Entdeckungen aus Situationen der Kontemplation hat es zwischen den Kirchtürmen und den Häusern der Studentenverbindungen immer wieder gegeben. Zum letzten Mal vielleicht vor einem halben Jahrhundert, als die aus Kroatien stammende Chirurgin Sabina Cvjetko mit ihrem Mann Horst Wullstein in Würzburg Mikro-Operationen des Innenohrs entwickelte, die seither Hunderttausenden von Menschen ihr Gehör erhalten haben.
Was wir »provinziell« finden und nennen, entsteht aus der immer wieder zu beobachtenden Form des Hin und Her zwischen hellen und dumpfen Elementen, solange sie nur in einer gemeinsamen Enge verbleiben, ohne sich aus dem Weg gehen oder gar entkommen zu können (deshalb vielleicht mussten uns die Dörfer um die Stadt immer wieder ins Tal zurückschicken). Helligkeit und Dumpfheit machen sich wechselseitig aus, nach je verschiedenen Mechanismen. Konventionen, Hierarchien, Verbote steigern nur die Leidenschaft, wie wir sie, ohne uns das immer klarzumachen, eher in der Provinz als in der Metropole erwarten, während umgekehrt mit jedem neuen Ausbruch von Leidenschaft auch deren Unterdrückung anschwillt. Dagegen wird intellektuelle Brillanz nicht notwendig vom Mittelmaß unterdrückt. Oft lässt gerade ahnungsloses Mittelmaß, dem Eifersucht allzu aufwendig wäre, den großen Intelligenzen und ihren Vorstellungen jenen Raum, den sie zur Entfaltung brauchen. Daraus kann mitten unter Provinzgestalten ein selbstzufrieden-freundlicher (und nur manchmal angestrengter) Stolz auf großartige Nachbarn entstehen.
Vom »Changieren« oder vom »Oszillieren« der Provinz habe ich gesprochen – und nicht von ihrer »Dialektik« zum Beispiel, weil sie solche Beziehungen am Leben halten, ohne die Provinz in die eine oder andere Richtung zu bewegen und zu entwickeln (was man bei »dialektischen« Dynamiken meist unterstellt). In meinen besseren Erinnerungen sieht Würzburg wie ein Tal aus Leidenschaften und den Spuren großer Intuitionen aus, das zwischen diesen Polen in bleibender Unsicherheit changiert. Doch auch eine ganz andere Bewegung, die bisher nicht zur Sprache gekommen ist, gehört zur Provinz. Denn ohne den Horizont einer viel größeren Stadt (nennen wir sie »Metropole«), deren Rang man herauf- und vor allem herunterspielt, gibt es keine Provinz, so wie auch die Metropole die Provinz als Kontrapunkt braucht, um sie selbst zu werden. Beide Seiten haben je zwei Verhältnisse zur anderen Seite, welche sich im Lauf verschiedener Lebensabschnitte immer wieder ablösen können. Überzeugt-selbstzufriedene Bewohner der Metropole und der Provinz verlassen sich gerne auf ein Horrorbild von der jeweils anderen Seite; doch ebenso existiert die aktive Frustration an der Metropole oder an der Provinz als Orten des Lebens, aus der ein Drang entspringt, auf die andere Seite zu entkommen. Im Gegensatz zur Metropole jedoch, die ihre Peripherie als eine undifferenziert homogene Provinz erlebt, liegt die Provinz meist in der Mitte zwischen einer Metropole und jenen drastischen Dörfern, die ihre Enge geschlossen halten.
Ohne großen Lokalpatriotismus in Würzburg aufgewachsen, habe ich fast das ganze Leben in Provinzstädten verbracht, mit den üblichen Einbrüchen von Sehnsucht nach einer Metropole. So wird man zum Provinztyp, ohne wirklich zu wissen, was dies bedeutet, weil sich jeder Provinzort in anderer Weise bewegt. Über eineinhalb Jahrzehnte ist Salamanca, Spaniens älteste und sprichwörtliche Universitätsstadt, genau zweihundert Kilometer westlich von Madrid und vierhundertsiebzig Kilometer östlich von Lissabon, ein scheinbar besseres Würzburg für mich gewesen. Sein Wappenspruch »Arte, Saber, y Toros« illustriert auf heute überraschende oder sogar irritierende Weise eine besondere Beziehung zwischen der Provinzwelt und dem sie umgebenden Land. Denn wie Würzburg (seine deutsche Patenstadt tatsächlich) ist Salamanca mit den jeden Morgen frisch aussehenden Sandstein-Monumenten aus der frühen Neuzeit, ist die Stadt der Konzentration von Kunst und Wissen (arte, saber) von einer Agrarlandschaft auf der kastilischen Hochebene umgeben, deren Kampfstiere (toros) bei Kennern in unvergleichlichem Ansehen stehen. Ihre Kraft kann eine Universitätsstadt nicht, sehr wohl aber ihren Ernst übernehmen. Und statt in einem Tal zu verschwinden, werden Salamancas Türme von weit her sichtbar, so dass an die Stelle von Enge mit dem Ernst auch Isolation und Abgelegenheit in einen weiten Raum treten 1969 und 1970, als ich dort zum ersten Mal lebte, dröhnten die Befehle von Francisco Francos Militärdiktatur durch die Straßen von Salamanca – und hielten Leidenschaften am Leben, die woanders nicht mehr verbindlich waren.
Dann wurde das ferienhafte Konstanz, isoliert zwischen den beiden Armen des Bodensees und dem Eingang der Schweiz, die nicht unbedingt offen sein will gegenüber dem nördlichen Nachbarland, zum Ort meiner akademischen Gesellenzeit. Mittelhoher Ministerwille hatte dort Ende der sechziger Jahre eine »Reform-Universität« eingerichtet, die zwar nie ihre süffige Selbstbeschreibung als »Klein-Harvard am Bodensee« ausfüllte, aber über den Experimentierstatus hinaus zu einer angesehenen Hochschule aufgestiegen ist. Und dies, obwohl (oder gerade weil) es Weltläufigkeit nicht geben konnte in einem Städtchen, das die Geschichte zwischen 1414 und 1418 zum letzten Mal mit dem »Konzil« zu einer gescheiterten Kirchenreform berührt hatte.
Eine ganz andere Provinz, die kein Ort des Geistes sein will, verbirgt sich in Idar-Oberstein, wo die Liebe meines Lebens herkommt, zwischen Felsenschluchten voll von Halbedelsteinen. Die Metropole an der Peripherie gibt es im Selbstbild von Idar-Oberstein nicht. Oder ist die Stadt bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu edelsteinreich gewesen – und nun plötzlich zu arm geworden, um sich überhaupt in ein Verhältnis zu ihrer Umwelt zu setzen? Sehnsucht nach einer vagen Vergangenheit weht freundlich durch das Felsental, dessen Enge niemanden mehr bedrängt. Bilder von einer Zukunft aber, sollten sie je existiert haben, sind Idar-Oberstein verlorengegangen.
Eine abstrakte Formel oder eine schlanke Definition zur Beschreibung der Provinz wird sich jedenfalls nicht finden lassen. Dafür ist der Horizont von Phänomenen, auf die man mit dem Begriff anspielen kann, zu sehr abhängig von seinem Kontrast mit dem selbst nur in Varianten existierenden Gegenpol der großen Stadt, aber auch von regionalen oder nationalen Unterschieden (und von nur schwer fassbaren Verschiebungen in seiner Geschichte). Andererseits glauben wir alle, trotz solcher Instabilität, mit dem ambivalent starken Gefühl von »Provinz« vertraut zu sein – und es ohne Zweifel immer wieder zu erkennen. Schließung braucht der Provinzeffekt, so viel wissen wir, und die Kontrapunkte von Dörfern und von Metropolen an seiner Peripherie, um zwischen Dumpfheit und Helligkeit zu oszillieren, in Leidenschaft und Intellekt, ernst, freundlich, sehnsüchtig und oft, aber eben nicht immer, in einem Tal. Deshalb lässt sich das Nebeneinander der Fälle von Provinz wohl am besten mit einer fließenden Form des Beschreibens in den Blick bringen, das heißt entlang von Übergängen aus der Provinz zur Metropole und zurück, wie sie auch in der Geschichte und in Lebensläufen immer wieder vorgekommen sind.
Von der Provinz, wo ich aufgewachsen bin, wird das zweite Kapitel nach Paris während der sechziger Jahre gehen und dann in das Berlin der nach ihm benannten Republik, um das Kontrast-Konzept der Hauptstadt national und geschichtlich zu differenzieren. Die dritte Denkbewegung kehrt in die Provinz zurück und verfolgt die Energieaufladung von Weimar zu einem intellektuellen Zentrum Europas im späten achtzehnten Jahrhundert. Nach 1800 vollzog sich die Spätphase des klassischen Weimar gleichzeitig mit der Ausformung des Realismus in verschiedenen nationalen Literaturen, als dessen zentrales Motiv je spezifische Spannungen zwischen Hauptstadt und Provinz den bis heute gebrauchten Begriff vielleicht nachhaltiger geprägt haben als direkte Erfahrungen im Alltag. Diese literarische Aufladung der Vorstellung und des Begriffs von Provinz soll das Zentrum seiner Illustration ausmachen. Wie das fünfte Kapitel zeigen wird, haben klassische deutsche Universitätsstädte, Marburg zum Beispiel, im frühen zwanzigsten Jahrhundert weltweit geistige Energie abgestrahlt, ohne langfristig an ihrem Status festhalten zu können. Dass dies nicht möglich war, hatte zu tun mit dem Entstehen eines neuen Typs der im sechsten Kapitel herauf beschworenen Riesenstadt außerhalb Europas, welche die Metropolen des literarischen Realismus zu Museen gemacht hat. Und von der aggressiven Riesenstadt gelangt die vorerst letzte Bewegung nicht mehr an die Peripherie einer klassischen Provinz, sondern zu jener suburbanen Welt, wo eine neue Dynamik des Geistes entstanden ist.
Eher als das Phänomen in einem linearen Prozess der Geschichte oder des Erkennens zu erfassen, verlangen das Nachdenken und das Schreiben über die Provinz, dass man sich beständig reflektierend den Dimensionen ihrer Bewegung aussetzt – wie damals Heinrich von Kleist zwischen der katholischen Enge seiner ersten Würzburger Tage und dem Kronleuchter des Nachtstücks, den er später über dem Tal herabsinken sah. Vor allem aber kennt, wer eine Zeit in der Provinz gelebt hat, den nervösen Drang auszureißen – ohne erst einmal zurückzublicken. Auch dies hat Kleist am Ende seiner Würzburger Tage vorgelebt.