Читать книгу Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Hans Zippert - Страница 5

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2010

Februar

Unterwegs von Frankfurt nach Hamburg, aber eigentlich unterwegs in fremden Schränken: »Hallo, Frau Berger. Ja, ich sitze im Zug. Wie bitte, was suchen Sie? Also, links neben meinem Schreibtisch, da ist doch der Schrank, nein, nicht der, mit den Hängeregistraturen, genau, daneben, jaja, die Tür klemmt ein bisschen, Sie müssen erst drücken und dann ziehen, was?, nach links und da steht ganz oben, in der ersten oder zweiten Reihe ein Ordner mit einem blauen Rücken, nein, nein, nicht der mit den Pachteinnahmen, der ist unbeschriftet, also, genau, ja, schlagen Sie den mal auf, ganz vorne müsste der Vorgang sein, ja, hab ich vorgestern noch angelegt. Wie? Die Quittung? Ist in der Klarsichthülle dahinter.« Mindestens ein Schrankreiseführer sitzt in jedem Großraumabteil, das gehört zum Serviceangebot der Bahn. Da weiß man dann die Vorteile eines unbeschrankten Bahnübergangs zu schätzen.

Auf dem Rückweg wird es nicht besser. Während der ganzen Fahrt starrt mich ein älterer Herr ungeniert grinsend an. Er fragt mich: »Harndrang unter Kontrolle?« Und er verspricht: »Weniger müssen müssen. Auch unterwegs.« Was geht den Typ das an? Er ist zwar nur auf einem Plakat, aber dafür umso aufdringlicher. Eine eklatante Verletzung der Menschenwürde. Warum muss das Mittel gegen das Müssen ausgerechnet »Prostagutt« heißen? Erwartet uns demnächst ein Potenzmittel namens »Fickoflott«? Der Harndrangkontrolleur kann sein Wasser für sich behalten, aber nicht seine Werbebotschaft. Er sagt: »Nutzen Sie die doppelte Pflanzenkraft von Prostagutt forte.« Was ist denn doppelte Pflanzenkraft? Wurden etwa zwei Pflanzen zur Herstellung dieses dämonischen Präparats verwendet? Wegen der ständigen Verspätungen der Bahn wird allerdings auch Prostagutt bald an seine Grenzen stoßen und dem Harndrang eines Großraumwagens voller Schrankreiseführer nicht mehr gewachsen sein. Spätestens dann wird man uns mit Werbung für Inkontinenzwindeln malträtieren.

Autosuggestionsprobleme

Man kann sich auch bahnfrei bewegen. Meine erste Fahrt in einem Auto, an die ich mich wirklich erinnern kann, fand etwa im Alter von sechs Jahren statt. Ich hatte keinen Führerschein, fuhr aber einen Bus der Firma Pahlmeyer & Studier. Man muss der Genauigkeit halber hinzufügen, dass ich nicht in dem Bus saß, sondern ihn von außen mit den Fingern steuerte. Der Bus war ein schön bemaltes Plastikmodell im Maßstab 1:87. Das Vorbild verkehrte vom Zentralen Bielefelder Busbahnhof nach Kirchdornberg. Ich fuhr damit zweimal in der Woche zu meiner Großmutter und hatte mir alle Geräusche, die der Bus unterwegs machte, genau eingeprägt. Ich konnte die gesamte zwanzigminütige Fahrstrecke wiedergeben. Dabei erzeugte ich einen tiefen, halb singenden, halb brummenden Ton – das war der Busmotor –, bei jedem Schalten heulte ich einmal kurz auf, bevor ich wieder gleichmäßiger vor mich hin brummte. Ich zog den Bus über die geometrischen Muster des Orientteppichs im elterlichen Wohnzimmer und brummte und heulte vor mich hin. Zwar bewegte ich den Bus von außen, saß aber gleichzeitig eigentlich auch drin und fuhr. Ich hatte eine gespaltene Fahrerpersönlichkeit. Auch das Zischen der druckluftbetriebenen Türen beherrschte ich und konnte alle Stationen durchsagen: »Nächste Betheleck« oder »Tierpark Olderdissen«. Das machten Busfahrer damals noch selber, wobei sie auf zusätzliche Informationen wie »Ausstieg in Fahrtrichtung rechts« oder »Umsteigen zu den Straßenbahnen Richtung Schildesche, Baumheide und Sieker« verzichteten. Erwachsene beobachteten mein Treiben lächelnd, aber eher uninteressiert, heute hätte man mich wegen motorischer Störungen längst zum Kinderpsychologen gebracht: »Ihr Sohn hat omnibuspotente Wahnvorstellungen, er leidet an einem Omnibuskomplex, er will seinen Vater töten, um mit seiner Mutter Bus zu fahren.« Damals machte man sich über ein dauerbrummendes Kind nicht so viele Gedanken, die Erwachsenen redeten einfach lauter, dann hörten sie mich nicht.

Den Bus selbst zu bewegen, wurde mir bald zu umständlich, und ich wandte mich dem Modelleisenbahnbau zu. Konstruktion, Verkabelung und Montage einer Bahnlandschaft interessierten mich nicht sonderlich, ich wollte eigentlich nur die Züge beim Fahren beobachten. Besonders liebte ich den dunkelroten Triebwagen oder Schienenbus, aus dessen Fenstern ein gleißend helles Licht flutete. Ich saß abends im dunklen Zimmer und sah dem Triebwagen zu, wie er seine Runden drehte. Strahlend glitt er durch die Pappmacheelandschaften, das Licht aus seinen Fenstern erleuchtete den Bahnhof Zindelstein und die verfallene Villa, von der ich einige Teile verloren hatte und sie deshalb als Bauruine verwendete. Ich konnte Stunden bewegungslos dasitzen und auf den Zug starren. Es war eine Art Meditation, eine Selbstfindung auf Schienen, natürlich nur im Maßstab HO. Wie hätte der Psychologe das wohl beurteilt? Litt ich an Zuganbindungsängsten? War ich etwa Triebwagengesteuert? Die Erfahrung muss mich jedenfalls nachhaltig geprägt haben, denn mein erstes eigenes Auto hatte die gleiche Farbe wie der Märklin-Triebwagen, die Innenraumbeleuchtung ließ jedoch zu wünschen übrig. Es war ein Ford 12m Turnier mit Lenkradschaltung, wobei ich bis heute nicht weiß, was 12m heißen sollte: 12 Meter Wendekreis oder 12 Meter lange Bremsspur? Ich besaß den Wagen zwei Jahre lang. In dieser Zeit war er höchstens drei Monate fahrbereit. Vor allem im Winter versagte er seinen Dienst. Der Wagen sah aber auch sehr gut aus, wenn er nur auf einem Parkplatz stand. Dann verbrauchte er kaum Benzin, sonst gerne mehr als 12 Liter. Deshalb wahrscheinlich 12m. Ich saß nachts oft am Fenster und schaute dem Wagen beim Parken zu. Ich sah, wie er nass und wieder trocken wurde und ich sah, wie er komplett unter Schneemassen verschwand. In einer kalten Winternacht zog ich mir einen Pullover über den Schlafanzug, stieg barfuß in meine Gummistiefel, entfernte den Schnee vom Türgriff, setzte mich in den Wagen und drehte zum Spaß den Zündschlüssel um. Der Wagen sprang zu meiner Überraschung sofort an. Ich schob den Schnee von der Windschutzscheibe und fuhr los, weil man nie wissen konnte, wann mir der Wagen wieder erlauben würde, ihn zu bewegen. Ich kam fast bis Wuppertal, musste dann aber umdrehen, weil ich mich nicht traute, mit Gummistiefeln und Schlafanzug zu tanken.

Vielleicht hatte ich dem Wagen mit dem Anblick auch zu viel zugemutet, jedenfalls sprang er danach nie wieder an, und ich verkaufte ihn schweren Herzens.

Danach begann eine längere autofreie Zeit, die durch den Erwerb eines wiederum dunkelroten VW Käfers beendet wurde. Über dieses Auto gibt es nichts zu sagen, was nicht schon hundertfach gesagt wurde. Im Sommer ging die Heizung nicht aus, im Winter war sie zu schwach, den Motor hatten Scherzkekse in den Kofferraum gezwängt, so dass man seine Koffer im leeren Motorraum transportieren musste. Der Käfer war kein Wagen, der sich gerne beim Parken beobachten ließ. Der Käfer wollte bewegt werden. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht hinterm Steuer saß, das war für den Wagen verschwendete Lebenszeit. Ich nahm extra eine Arbeit in einer weit entfernten Stadt an, damit der Käfer Auslauf hatte, und besuchte Ausstellungen in fremden Bundesländern.

Dann lernte ich eine Frau kennen, die einen weißen Kadett Kombi fuhr. Wir beschlossen, fortan alles zu teilen, verkauften unsere Wagen und bestellten einen blauen Golf, den wir direkt am Werk in Wolfsburg in Empfang nahmen. Kurz darauf wurde sie schwanger. Falls es da einen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht, ob es dabei am wichtigsten ist, dass der Wagen eine blaue Farbe hat, dass man ihn sich direkt in Wolfsburg abholt oder dass man vorher einen Kadett Kombi gehabt haben muss. Heutzutage kauft man sich nach Entwicklung des ersten Ultraschallbildes sofort einen sieben- bis zwölfsitzigen Kleinbus und klebt ein Schild »Ungeborenes Baby an Bord« hintendrauf, aber damals, 1987, fuhren wir Golf. Es kam dann noch ein Kind und auch das passte in den Golf, und auf den Golf passten noch vier Fahrräder. Es war ein zuverlässiges, unauffälliges Auto, aber es hatte mich in der Gewalt. Ich konnte nicht mehr entscheiden, wann ich wohin fahren wollte. Es musste ständig etwas damit geholt oder geliefert werden. Windeln, Keuchhustenmedizin, Nasentropfen, Kind von der Krabbelstube, Kind zum Waldorfkindergarten, zur Waldorfschule, zum Flötenunterricht, zum Gitarrenunterricht, zum Chor, zum Taek-Won-Do, zum Bahnhof, zur Oma, Kindergeburtstagsgäste nach Hause, Möbelbausätze vom Möbelmarkt und wieder zurück zur Reklamation, Mineralwasserkästen und Biomöhren. Wenn ich mich an den Golf erinnere, sehe ich nur, wie ich irgendetwas in seine gierige Heckklappe stopfe oder wieder herauszerre. Eines Tages ließ sich die Fahrertür nicht mehr von innen öffnen. Der Wagen wollte mich nicht weglassen, ich sollte in ihm übernachten, bis er mich zur nächsten Lieferadresse transportieren konnte. Ich wartete das Ende des Jahrtausends ab und kaufte dann ein geckogrünes Auto aus französischer Herstellung. Inzwischen macht es keinen guten Eindruck mehr, ich habe sogar das Gefühl, der Wagen mag mich nicht, jedenfalls treibt er sich, so oft es geht, in irgendwelchen Reparaturwerkstätten herum. Mein Sohn hat letztes Jahr auf seiner ersten Fahrt als Führerscheinbesitzer die Beifahrertür eingedrückt, und auch sonst ist der Wagen reichlich heruntergekommen. Man kann das Fenster der Beifahrertür nicht mehr runterlassen. Wenn man jemand nach dem Weg fragen will, muss man aussteigen, und das macht auf viele einen bedrohlichen Eindruck.

Vor kurzem erzählte mir ein Freund, dass man beim Anblick mancher Autos sagt, hier habe jemand seinen Penis vor der Tür geparkt. Ich weiß nicht, ob diese Feststellung pauschal für jedes Auto gilt, aber es ist durchaus möglich, dass die Nachbarn von dem verbeulten Zustand des Wagens Rückschlüsse auf mein Geschlechtsorgan ziehen, die natürlich jeder Grundlage entbehren. Trotzdem ist ein verbeulter Wagen, rein sexuell betrachtet, immer noch besser als ein tiefergelegter mit abgesägtem Auspuff oder mit Hängerkupplung.

Nach über dreißig Jahren Erfahrung als Fahrerlaubnis- und Wagenbesitzer komme ich langsam zu der Erkenntnis, dass man einem Auto nur sehr selten seinen Willen aufzwingen kann. Jedenfalls mir gelingt das nicht. Mir fehlt wohl die Fähigkeit zur Autosuggestion. Und wenn man selber am Steuer sitzt, kann man dem Wagen außerdem nicht beim Fahren zuschauen. Das ist ein entscheidender Nachteil. Vielleicht kaufe ich mir als nächstes wieder einen Triebwagen. Oder ein Auto, das sich von außen mit den Fingern dirigieren lässt. Ich kann jetzt auch viel tiefer brummen und beim Schalten würde ich besonders eindrucksvoll aufheulen.

Auf dem Friedhof

Nach langer Zeit mal wieder die Abkürzung über den Friedhof genommen und dabei etwas Merkwürdiges entdeckt. Überall auf dem Gelände stehen Gestelle, an denen ca. siebzig Gießkannen hängen, und jede Gießkanne ist mit einem eigenen Schloss gesichert. Was steckt hinter diesem Sicherheitswahn? Als ich das meinem Schwiegervater erzählte, sagte er den rätselhaften Satz: »Kein Wunder, es wird nirgendwo soviel geklaut wie auf dem Friedhof.« Ich habe lange darüber nachgedacht und kann mir das nur so erklären: Nachts kommen die Toten aus ihren Gräbern und holen sich die Gießkannen. Deshalb werden die alle angekettet. Wenn das so ist, dann werde ich in meinem Testament verfügen, dass ich mit mindestens einer Gießkanne bestattet werden möchte. Besser gleich mit drei. Gießkannen scheint man ja da unten am nötigsten zu brauchen. Gehörte wahrscheinlich auch zur Standardgrabbeigabe der ägyptischen Pharaonen. Dabei heißt es immer, man könne sowieso nichts mitnehmen und das letzte Hemd habe keine Taschen. Wäre aber besser, wenn es welche hätte, um eine Gießkanne mit in die Grube zu nehmen. Ich kann mir nur nicht vorstellen, was man im Grab damit macht, wässert man die Radieschen, die man von unten betrachtet?


Ich nehme eher an, es ist eine Vorbereitung auf das Jüngste Gericht. Das kündigt sich ja durch Trompeten an. Die Trompeten rufen zum Jüngsten Gericht, und die Toten üben schon mal auf Gießkannen, die verrotten nicht so schnell wie echte Trompeten. Das wird ein beeindruckendes Schauspiel, wenn das Ende der Welt dereinst bevorsteht und die Toten aus den Gräbern kommen, um auf grünen, blauen und gelben Plastikgießkannen zum Jüngsten Gericht zu blasen. Das klingt auch viel apokalyptischer als wenn sie Trompete spielen würden. Es kann aber wahrscheinlich erst zur Apokalypse geblasen werden, wenn die Toten eine bestimmte Anzahl von Gießkannen unter die Erde gebracht haben.

Und deshalb ist es wichtig, dass wir die Gießkannen auf dem Friedhof gut anketten.

Nachtrag: Die ganze Angelegenheit gestaltet sich übrigens noch viel komplizierter, wenn nicht grauenvoller. Als ich den Friedhof ein weiteres Mal inspizieren wollte, war er geschlossen und am Tor hing eine Mitteilung der Friedhofsverwaltung: »Leider werden immer wieder Gießkannen und andere Gegenstände hinter den Grabmalen gelagert, obwohl zu diesem Zweck Gießkannenständer an den Zapfstellen bereit stehen. Bedauerlicherweise kommt es deswegen zu teilweise schweren Verletzungen unserer Friedhofsmitarbeiter…«

Schlimm! Die Toten legen die Gießkannen also mit Absicht hinter die Grabmale, in der Hoffnung, dass Friedhofsmitarbeiter dadurch zu Tode kommen und das apokalyptische Blasorchester verstärken.

Moa

Schon seit meiner Kindheit fasziniert mich der Moa, ein riesiger, flugunfähiger Vogel, der auf Neuseeland lebte. Ich begeistere mich aber nicht grundsätzlich für ausgestorbene Riesentiere. Das Riesenfaultier interessiert mich zum Beispiel überhaupt nicht, denn in unserem Haushalt lebte fast zwanzig Jahre ein Exemplar, dass sich als mein Sohn ausgab. Mit Riesenfaultieren bin ich durch. Mit Moas verhält sich das schon anders. Sie wurden bis zu 3,50 Meter groß und verteidigten sich durch kraftvolle Fußtritte. Wissenschaftler der University of Adelaide fanden jetzt zweifelsfrei heraus, dass Moas überwiegend braunes Gefieder hatten, um sich zu tarnen. Das war vielleicht keine so gute Idee. Wenn sich so ein riesiger Moa hinter einem braunen Busch versteckte, dann war vor allem der Busch gut getarnt. Die Moas waren schlechte Tarner, denn sie sind ausgestorben, Büsche gibt es dagegen immer noch auf Neuseeland. Die Maoris haben die Moas ausgerottet. Maoris sind keineswegs Anhänger der Lehren von Mao tse Tung, obwohl es nicht ausgeschlossen ist, dass es maoistische Maoris gibt. Ein Erfolg versprechender neuseeländischer Romantitel wäre also »Marodierende maoistische Maoris auf Moajagd«

Selbstanzeige

Ich muss zugeben, dass mir der ständige Ankauf von CDs mit Steuersünderdaten durch die Bundesregierung immer einen Schock versetzt. Grundsätzlich befriedigt das Vorgehen meinen Gerechtigkeitssinn, denn ich persönlich habe überhaupt keine Möglichkeit, Geld an der Steuer vorbei in die Schweiz zu schaffen. Einfach mangels Geld oder weil mein Steuerberater nicht kreativ genug denkt. Trotzdem ist es so, dass auch ich das deutsche Finanzamt und damit eigentlich das deutsche Volk betrogen habe. Das lastet mir auf der Seele und deshalb will ich es hier in aller Öffentlichkeit beichten: Ich heiße Hans und bin ein Steuersünder. Es passierte im Jahr 2008. Ein Händler machte mir ein tolles Angebot. So billig bekäme ich das nie mehr und ich sei doch Journalist und könne alles absetzen. Ich bin solchen Argumenten oft sehr hilflos ausgeliefert und kaufte also die Ware. Ich ließ mir eine Quittung geben und setzte den Betrag von €2,50 in der Steuererklärung unter »Fachbücher« ab, obwohl das gar nicht stimmte. Ich wollte die Bücher eigentlich nur lesen. Es handelte sich um »Goldene Beine« von Gerd Müller und »Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters« von Friedrich Gabriel Sulzer. Gerd Müllers Buch wurde mit freundlicher Unterstützung der Mars Schokoladen GmbH geschrieben und glänzt durch fantastische Kapitelüberschriften wie »Müller und Shaw« oder »Die Vorteile des Branco Zebec«. Noch großartiger ist die Naturgeschichte des Hamsters, darin erfährt man: »So viel und so verschieden der Hamster das Fressen liebt, so wenig ist er ein Liebhaber vom Trinken. Er säuft sehr selten und nicht viel auf einmal.« Ein Hamster könnte also kaum Ratspräsident der evangelischen Kirche werden. Papst aber auch nicht, denn »zu Ende April fangen sie an, sich zu begatten«. F. G. Sulzer muss jedoch zugeben: »Die Art, wie diese Tiere ihre Liebeshandlungen verrichten ist mir nicht bekannt, da sie unter der Erde geschieht.« Wie gesagt, ich habe mich hinreißen lassen, diese faszinierenden Werke von der Steuer abzusetzen, obwohl ich wusste, dass ich sie niemals in einem Text verwenden würde, da ich weder für Hamstermagazine noch Gerdmüllerorgane schreibe.

Vollendete Täuschung

Heute habe ich zum ersten Mal meine Zahnpasta bei Rewe gekauft, und ich glaube, das könnte zur Gewohnheit werden. Es macht einfach Spaß, die Tube anzuschauen, sie löst in mir ganz zahnpastauntypische Gefühle aus, Heiterkeit, Verblüffung, Staunen, ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Die Zahnpasta heißt »Rot Weiss«, und obwohl ich es inzwischen besser wissen müsste, erwarte ich jeden Abend, dass eine rotweißgestreifte Paste aus der Tube kommt. Sie ist aber nur weiß. Ein sanitäres Trompe d’œil. Das ist ganz große Kunst. Hier wird gekonnt mit den Erwartungen des Zähneputzers gespielt. Das ist wie weißes Schwarzbrot oder grüner Rotkohl. So wird Zähneputzen zu einem fast surrealen Akt, oder wäre »Rot Weiss« eher die Zahnpasta der Fluxusbewegung?

Egomanie

34% Prozent aller Bürger über vierzehn Jahren haben sich in einer Umfrage dazu bekannt, schon einmal das Internet nach dem eigenen Namen durchforstet zu haben. Ich bin auch über vierzehn und muss zugeben, dass ich das ebenfalls schon mal getan habe. Natürlich auch nur einmal. Am Tag. Öfter würde sich nicht lohnen, weil sich da nicht so viel verändert. Ich bringe es im Moment auf 30600 Treffer bei Google, was schon mal besser war. Meine Frau bringt es allerdings nur auf sieben Treffer. Sechs davon, weil sie Mitglied des Fördervereins im Gymnasium unserer Tochter ist. 30600 und 7, diese Zahlen vermitteln einem erst mal sehr anschaulich die eigene Bedeutung, die allerdings außerhalb des Internets stark abnimmt. Im Rahmen eines Beziehungsgesprächs bringt der Satz: »Wie redest du denn mit einem, der 30600 Treffer hat«, überhaupt keine Vorteile. Das macht nicht den geringsten Eindruck. Nur in Kollegenkreisen kann man einen gewissen Neid damit hervorrufen, obwohl dort das so genannte »Ego-Googeln« eigentlich verpönt ist, jedenfalls darf man es nicht zugeben. Wer Ego-googelt fühlt sich schuldig, das ist so etwas wie onanieren. Wobei es sich beim Onanieren um eine Tätigkeit mit gewissen Höhepunkten handelt, während das Selbergoogeln häufig deprimierend wirkt. Wenn man beispielsweise feststellen muss, dass seit Wochen nichts Neues über einen geschrieben wurde, außer in einem Artikel in einer Dresdner Zeitung. Ein Totalverriss einer Lesung, die ich eigentlich als ganz gelungen im Gedächtnis behalten hatte. Anscheinend war sie das aber gar nicht. Den größten Teil der Treffer machen Angebote von Buchhändlern und -Versendern aus. Es ist frappierend, wie viele Firmen es gibt, die anderen Menschen meine Bücher zuschicken wollen. Man könnte fast glauben, die wollten sie unbedingt loswerden. Auch der längst verstorbene Bischof Christian Zippert und die Dortmunder Spedition Zippert & Co mischen sich unter die Treffer für meinen Namen, dabei ist auffällig, dass es so gut wie keine Verrisse über Speditionen gibt. Man könnte ja immerhin anmerken, dass sie manchmal einen Hänger haben oder überladen wirken. Auch der Bischof wird fast ausschließlich positiv beurteilt. Das gibt mir zu denken. Wahrscheinlich sollte ich umschulen und Spediteur für theologisches Gedankengut werden.

Famous last words

In diesem Monat starb, wie statistisch nicht anders zu erwarten war, Elisabeth Noelle Neumann. Ihre letzten Worte sind leider nicht überliefert, aber grundsätzlich sollte sich jeder, der im Sterben liegt, bemühen, mit einer originellen Wendung auf den Lippen zu verenden. Goethes letzte Worte waren bekanntlich: »Mehr Licht«, Oscar Wilde soll geäußert haben: »Entweder die Tapete oder ich, einer von uns beiden muss gehen«, Jesus sagte: »Es ist vollbracht«, und Hemingway sagte: »Ich glaube, ich habe den Herd angelassen.« Die letzten Worte müssen sitzen, denn man kann sie normalerweise nicht noch mal sprechen. Außer man ist der Dalai Lama. Bei der aktuellen Ausgabe handelt es sich schon um die sechzehnte Wiedergeburt, er konnte also seinen letzten Satz bereits fünfzehn Mal verändern und verfeinern. Das macht den Dalai Lama zum Letzte-Worte-Champion, zum Sterbe-Profi. Wahrscheinlich arbeitet der Dalai Lama auch gar nicht an seinen letzten Worten, weil er sich sagt, dass kann ja dann meine 25. oder 50. Jubiläumswiedergeburt übernehmen. Ich habe nun wirklich kein Recht, mich in irgendeiner Form in die Belange des geistigen Oberhaupts der Tibeter einzumischen, aber ich würde ihm diesen Satz vorschlagen: »Heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage.« Das sagte Paulchen Panther immer am Ende jeder Folge von »Der rosarote Panther«. Davor sang ein Kinderchor: »Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät?« Auch das wäre ein schöner Satz, der sich vielleicht nicht für den Dalai Lama eignet, aber Sie und ich, liebe Leser, könnten mit diesen Worten einigermaßen originell dem Tod auf die Schippe springen.

Trockenrauchgedanken

In meiner Kindheit traten Raucher vor allem auf Zugfahrten in Erscheinung. Ich erinnere mich an endlos lange Reisen von Bielefeld nach Bad Segeberg, die man immer wieder für längere Zeit unterbrechen musste, in Orten wie Löhne, Bad Oldesloe oder Altenbeken. Dort gab es dann dürftig beleuchtete, überheizte Wartesäle, in denen die Atemluft durch ein Konzentrat aus Schweiß, nassen Schirmen und Zigarettenqualm ersetzt worden war. Das erzeugte einen dichten Nebel, aus dem irgendwann ein unfreundlicher Kellner auftauchte, der einem mitteilte, man solle gefälligst etwas bestellen, anderenfalls habe man den Wartesaal unverzüglich zu verlassen. Ich musste immer heftig schlucken und bekam nur mühsam Luft, meine Mutter saß mir hilflos gegenüber und umklammerte ihre Handtasche, in der sich unser Notvorrat an Frischluft befand. In meiner Erinnerung sind diese Räume riesengroß und hoch. Dicke dunkelbraune Vorhänge hatten ungeheure Rauchmengen gespeichert, falls zufällig mal nicht genügend Raucher anwesend sein sollten. Damals waren mindestens sieben von zehn Deutschen nikotinabhängig. In den Zügen fand man oft nur noch einen Platz im Raucherabteil, was ganz besonders schrecklich war. Aber es gab einfach sehr viel mehr Raucher- als Nichtraucherabteile. Die Raucher saßen einem mit harten, abweisenden Gesichtern gegenüber, manchmal musterten sie einen abschätzig, bevor sie weitere Qualmkontingente ins Abteil bliesen. Als Nichtraucher konnte man nichts gegen sie ausrichten. Der Qualm einer Overstolz überdeckte problemlos den Geruch eines Leberwurstbrots, und auch ein gekochtes Ei konnte sich olfaktorisch nur wenige Sekunden im Vordergrund halten. Außerdem schmeckte das alles nicht, wenn neben einem zwei Leute dramatisch an ihrer Eckstein No.5 saugten.

Die Raucher inhalierten den Sauerstoff direkt durch die Zigarette. Ihre Zigarette war eine Art Schnorchel, mit dem sie uns den Sauerstoff entzogen und als Zigarettenqualm zurückgaben. Sie wirkten wie eine andere humanoide Spezies, sie ernährten sich von gasförmigen Speisen und hatten durch das Rauchen eine besondere Form der Kiemenatmung entwickelt.

In meiner Jugend war ich umgeben von Rauchern. Alle meine Freunde rauchten aus Leibeskräften. Es sei eine Sucht, sagten sie mit ernsten Gesichtern, und ich solle mich freuen, dass ich Nichtraucher sei. Dann begannen sie, den Tabaksbeutel aus der Tasche zu ziehen und sich vergnügt eine zu drehen. Damals wurde mir endgültig klar, dass Raucher nicht nur eine andere, sondern die überlegene Art waren. Raucher hatten immer etwas zu tun. Selbstdreher natürlich am allermeisten. Sie hantierten unentwegt mit ihren Raucherutensilien, konnten peinigende Gesprächspausen mühelos überbrücken und hatten immer einen Vorwand, Frauen anzusprechen, die natürlich auch begeistert rauchten. Sie konnten überall und mit jedem ins Gespräch kommen, und ihr Kommunikationsinstrument war die Zigarette. Wenn der Gegenüber dann ausnahmsweise mal nicht rauchte, zögerten sie nicht, dem anderen sofort zu versichern, wie gut er es habe. Sie würden ja auch gerne aufhören, aber könnten leider nicht.

Die hatten ihre Sucht, ich hatte gar nichts. Ich konnte einfach nicht rauchen. Dabei wäre ich gerne Raucher geworden, aber ich schaffte es nicht. Ich hatte mir irgendwann mal ein Päckchen Camel gekauft und es versucht, war aber vor lauter Husten nicht zum Rauchen gekommen. Es wollte mir nicht in den Kopf, und in die Lungen erst recht nicht. Erfahrene Raucher versicherten mir, dass sei nur am Anfang so, spätestens nach der ersten Schachtel hätte ich mich daran gewöhnt und das Rauchen würde mir zur Selbstverständlichkeit werden. Das erschien mir blödsinnig. Wieso sollte ich eine Schachtel lang husten, mein erstes Bier hatte mir ja auch sofort geschmeckt, und die erhoffte Wirkung stellte sich schon beim zweiten ein. So gab ich das Rauchen auf, bevor ich damit angefangen hatte, was ja nun besonders albern war. Ein ganz kleiner Rest von Raucher ist aber dennoch in mir geblieben. Ich ertappe mich manchmal in Situationen, in denen ich mich cool und unbeobachtet fühle, wie ich zwei Finger zum Mund führe, meinen Lippen eine unsichtbare Zigarette entnehme und deren unsichtbaren Rauch lange und genussvoll in den Raum blase, wobei ich leicht nachdenklich, aber überlegen in unsichtbare Fernen blicke. Das passiert fast immer im Auto, während im Radio Rauchermelodien wie »Ricky don’t loose that number« von Steely Dan oder »Oye como va« von Santana laufen. Es sind höchstens zwei oder drei Züge, die ich da nehme, dann bemerke ich die Frau im Auto neben mir, die mich schon missbilligend beobachtet, und ich lasse die unsichtbare Zigarette im Fahrgastraum verschwinden. Mein Auto ist voll von diesen unsichtbaren Dingern. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie man diese Manie nennen soll, wahrscheinlich ist es so etwas wie Trockenrauchen. Und wahrscheinlich wird das auch bald verboten. Kneipen müssen extra Räume für Trockenraucher einrichten, und wenn man sich ein unsichtbares Päckchen Trockenzigaretten kauft, steht darauf: »Vorsicht! Trockenrauchen führt zum Verlust Ihrer Würde und macht Sie gesellschaftlich unmöglich.«

Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten

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