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Kapitel 1

Berlin

Was lag in diesen Augen? Jedenfalls nicht, was er erwartete. Kein Schmerz, eher Neugier. Eine Art Vorfreude auf das, was kommen würde, als wäre die Vergangenheit schon tot und begraben. Der Blick erinnerte an Kinderaugen vor der ersten Jungle Cruise im Magic Kingdom. Im Grunde genommen war alles gesagt, aber eine letzte Frage hatte er noch:

»Angst?«

»Was für eine gottverdammt überflüssige Frage, Mann! Ich scheiß mir in die Hose.«

Er konzentrierte sich auf die Augen. Seine Mundwinkel zuckten unmerklich. Die Hand hob sich wie von selbst, als wären nicht zehn Jahre vergangen seit dem letzten Mal. Dann drückte er ab.

Das Geräusch vernahm er kaum. Ein Stein, der auf nassen Boden klatscht, nicht mehr. Der Schalldämpfer schluckte die Schockwelle. Erstaunlich wenig Blut trat aus dem dritten Auge genau zwischen den Brauen. Er fing den toten Körper auf und bettete ihn sanft auf das feuchte Gras. Ein Kopfschuss war immer ein Risiko, aber dieser saß perfekt. Menschen erschießen will gelernt sein, wie Radfahren. Und genau so verlernst du es nie, dachte er. Amateure, die ein halbes Magazin leerten, um ihr Ziel zu treffen, fuhren mit Stützrädern wie kleine Kinder. Man sollte sie auch erschießen. Alle.

Er zupfte das Jackett des Toten zurecht, legte das Medaillon gut sichtbar auf die Brust und faltete seine Hände. Sie waren allein in der roten Stunde am frühen Morgen. Er brauchte sich nicht umzusehen. Die Anwesenheit eines andern Menschen spürte er auch so. Ohne diese Fähigkeit hätte er selbst längst ins Gras gebissen, oder Dreck gefressen in der verfluchten Steinwüste damals bei 40° im Schatten. Trotz der Brise hielt sich der Geruch des Schießpulvers in der Nase wie bei einem Spürhund. Das Gras verdorrte vor seinen Augen. Der nahe Feldweg verwandelte sich in ein ausgetrocknetes Bachbett, die halb verfallene Hauswand, ein rot glühender Fels, vor ihm im Staub der Gefallene. Wieder ein Held. Jemand trug die Verantwortung. Diesmal würde er sie finden und zur Rechenschaft ziehen.

Es raschelte in seinem linken Ohr, mit dem er so gut hörte wie ein Wüstenfuchs seit dem Loch im andern Trommelfell. Ein letzter Blick auf den Leichnam, dann zog er sich auf den Beobachtungsposten zurück, geräuschlos wie der Geist des Toten. Er verschmolz mit der Umgebung. Reglos im Dunkel zwischen Blättern, blieb er so gut wie unsichtbar, vom ungeübten Auge nicht zu entdecken. Auch nicht von Hundenasen, denn die Brise wehte vom Tatort über den Weg zu ihm herüber. Er vernahm das Hecheln, bevor der fette Beagle aus dem Gebüsch brach. Starr vor Schreck betrachtete der Köter den Leichnam. Der Hund vergaß für kurze Zeit, mit dem Schwanz zu wedeln. Er blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um, bevor er den ersten, zaghaften Schritt auf den Toten zu wagte.

Der Lauf der Pistole folgte ihm. Streunende Hunde gehörten nicht zum Plan. Nur Zentimeter trennten die Schnauze vom Gesicht des Toten, eine Haaresbreite den Abzug vom Druckpunkt. Das dumme Vieh war im Begriff, die Totenruhe zu stören. Es war imstande, das Bild zu verändern. Der verdammte Köter zerstörte die Message! Das musste er verhindern. Es ging nicht anders. Sorry, Schlappohr.

Ein kurzer Pfiff rettete dem Beagle das Leben. Der Finger am Abzug entspannte sich. Ein dürres altes Männchen mit weißem Schnurrbart und Baskenmütze näherte sich. Der Alte rief den Hund zu sich. Der verweigerte den Gehorsam, blieb neben dem Toten sitzen und bellte zurück.

»Emma, Fuß! Was fällt dir ein? Eine Schande, was die Schweine alles liegen lassen heutzutage.«

Händeringend trat er auf die widerspenstige Emma zu, um sie an die Leine zu nehmen. Der Mann im Versteck lebte schon lang genug in Deutschland, um jedes Wort zu verstehen. Der Alte reagierte nicht wie in seinem Plan vorgesehen. Als er erkannte, was im Gras lag, stieß er einen Schreckensruf aus, packte den Hund und rannte davon. Der Köter stellte jedenfalls keine Gefahr mehr dar.

Er ließ die Waffe sinken, um sie gleich wieder mit einem unterdrückten Fluch hochzureißen. Emma kehrte zurück. Das Männchen folgte ihr halb hüpfend, halb hinkend. Eine junge Frau im Trainingsanzug, Stirnband ums blonde Haar, Telefon in der Hand, begleitete ihn. Der Beobachter im Gebüsch entspannte sich. Die Frau passte genau in seinen Plan. Sie reagierte besonnen, betrachtete das Arrangement aus sicherer Entfernung und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Gleichzeitig gelang es ihr, den Alten und Emma zu beruhigen. Endlich tat sie das, worauf er wartete: Sie telefonierte. Der Auftrag war erledigt. Statt sich abzusetzen, harrte er mit den beiden bei der Leiche aus, bis sich ein Streifenwagen näherte.

Von nun an verlief alles nach Plan. Geräuschlos die Fußabdrücke verwischend, zog er sich aus dem Gebüsch zurück, ohne den Tatort aus den Augen zu lassen. Bis die Beamten daran dachten, die Umgebung abzusuchen, war er längst untergetaucht. Unsichtbar unter all den andern Unsichtbaren in Berlin.

Hauptkommissar Lukas Mertens knallte die Tür des Chefs hinter sich zu. Er hatte schon schlimmere Tage erlebt aber nicht viele. Er brauchte dringend seinen Adidas zum Dreinschlagen, doch das ging nicht. Er war im Dienst. Also setzte er das Gesicht Marke grimmiger Boxer auf und hoffte, jemand möge ihm auf die Latschen treten.

Niemand eilte ihm entgegen, freudestrahlend, als interessierte es irgendein Schwein, was er zu sagen hatte. Ausgerechnet der Niemand musste ihm hier auf dem Flur begegnen, wo er ihn nicht ignorieren konnte wie im Büro. Der kleine Praktikant – Referendar, wie der Chef großspurig betonte – war schuld an seiner üblen Laune. Übler noch als sonst beim Betreten des Landeskriminalamts im Morgengrauen. »Kümmern Sie sich um den Referendar Seidel. Er ist begierig, von Ihnen zu lernen«, wollte ihm der Chef einreden. Vom Hauptkommissar zum Babysitter: geile Karriere. Der Junge war so grün hinter den Ohren, dass er ihn dauernd wässern wollte. Das ganze verdammte Strafgesetzbuch kannte er auswendig, aber Polizeiarbeit verwechselte er mit Fernsehkrimis. Zwei Wochen lang hatte er Niemand erfolgreich ignoriert, bis der Chef glaubte, das Problem nicht länger übersehen zu können. Mertens stellte den Schuh quer, um dem Referendar Gelegenheit für einen Fehltritt zu geben. Niemand blieb eine Handbreit davor stehen und rief:

»Herr Hauptkommissar, wir haben eine Leiche!«

»Was zum Teufel glauben Sie, wo wir hier sind, im Fundbüro?«

Die Frage stoppte wenigstens das Grinsen.

»Wir befinden uns in der Mordkommission, Herr Hauptkommissar.«

Wieder so eine Unart. Er konnte Leute nicht ausstehen, die stets in ganzen Sätzen antworteten. Hielten sich wohl für etwas Besseres, die arroganten akademischen Herrschaften.

»Mordkommission, Sie sagen es. Und womit beschäftigt sich eine Mordkommission?«

»Die Mordkommission beschäftigt sich mit Kapitalverbrechen.«

»Und?«

»Leichen«, flüsterte Niemand betroffen.

Jetzt verzog er die Mundwinkel. »Geht doch. Sehen Sie, Sie können ja auch normal reden.«

Das Gesicht des Jungen stimmte ihn versöhnlich.

»Also, was ist denn so besonders an dieser Leiche?«

»Sie ist neu. Heute Morgen um 8:10 Uhr, als Sie beim Chef …«

»Ich weiß, wo ich war!«

Niemand trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Um 8:10 Uhr traf die Meldung einer Polizeistreife ein. Leichenfund beim alten Asylheim. Ein Mann, circa vierzig Jahre alt, schwarze Hautfarbe.«

»Schwarz? Gute Nacht!«

Mord aus Rassenhass gehörte nicht zu seinen Favoriten. Niemand fuhr zögernd weiter:

»Das Opfer ist offenbar durch einen einzigen Schuss in die Stirn aus nächster Nähe getötet worden. Spurensicherung und Rechtsmedizin sind unterwegs.«

»Das sollten wir uns nicht entgehen lassen«, brummte er.

»Wir?«

»Wir beide. Kommen Sie. Das wird ein Fest: Ihre erste Leiche.«

Die Leiche lag im Gras neben dem Feldweg hinter dem verfallenen Gemäuer des alten Asylheims, wie Niemand berichtet hatte. Das wenige Blut überraschte Mertens nicht, wohl aber die Präzision des Schusses. Das Loch in der Stirn sah aus wie aufgemalt. Noch seltsamer erschienen ihm Kleidung und Lage des Toten.

»Er sieht aus wie aufgebahrt«, flüsterte ihm der blasse Referendar ins Ohr und beschrieb damit die Lage ziemlich genau.

»Er kann Sie nicht hören«, gab Mertens ebenso leise zurück.

Der Tote trug seinen besten Anzug, wie es schien, Hose frisch gebügelt, Jackett sorgfältig zurecht gezupft, die Hände wie zum Gebet gefaltet, als wollte ihm der Mörder so die letzte Ehre erweisen.

»Schlechtes Gewissen oder neuartiges Ritual?«, fragte er sich laut.

»Sieht eher nach einem Gnadenschuss aus«, sagte der Pathologe.

»Wie pervers ist das denn!«, platzte Niemand heraus.

Mertens und der Rechtsmediziner wechselten einen Blick, der deutlich ausdrückte, dass beide anderes gewohnt waren.

»Seine Erste«, murmelte der Kommissar, während er an den Händen des Opfers vergeblich nach Abwehrspuren suchte. »Sonst irgendwelche Verletzungen?«

»Nicht auf den ersten Blick. Der Mann scheint ruhig auf den Schuss gewartet zu haben, ohne sich zu wehren.«

Er drehte den Kopf der Leiche zur Seite, um die klaffende Austrittswunde zu zeigen.

»Präzisionsschuss aus circa einem Meter Abstand. Der Mann war sofort tot.«

Mertens nickte. »Fundort gleich Tatort?«

»Definitiv. Die Techniker haben Patronenhülse und Projektil sichergestellt.«

Der Täter war also kaum ein professioneller Killer – oder einer, der sich sehr sicher fühlte. Der Mediziner fasste dem Toten unter die Schulter.

»Kann mir mal jemand helfen? Ich muss mir die Rückseite ansehen.«

Mertens stand wie durch ein Wunder schon bei der Chefin der Kriminaltechnik und rief Niemand zu:

»Anfassen, junger Mann!«

Die Patronenhülse im Plastikbeutel stimmte ihn nicht euphorisch: Kaliber 9 mm, Massenware, sehr verbreitet.

»Sonst gibt es keine Spuren am Tatort«, versicherte die Technikerin, »nicht einmal verwertbare Fußabdrücke außer denjenigen der Zeugen.«

Der Täter war ein verdammter Geist, der schießen konnte wie ein Profikiller. Dieser Fall gefiel ihm schon jetzt nicht mehr. Mürrisch wandte er sich an die Zeugen. Der Alte und die sportliche junge Dame beantworteten die Fragen ebenso mürrisch. Fragen, die sie alle schon beantwortet hatten. Am Ende bestätigte sich, was von Anfang an zu befürchten war: Die Zeugen hatten nur den Leichnam im Gras liegen sehen, sonst gar nichts. Nach den vorläufigen Angaben des Pathologen war der Alte mit seinem Hund nur wenige Minuten zu spät am Tatort erschienen – glücklicherweise. Sonst gäbe es hier mit Sicherheit ein bis zwei zusätzliche Kunden für die Pathologie. Er kehrte an den Tatort zurück.

»Keine äußeren Verletzungen, keine Abwehrspuren«, bestätigte der Mediziner, nachdem er auch die Rückseite der Leiche untersucht hatte. »Das Opfer muss dagestanden haben, hat seinem Mörder ruhig ins Gesicht gesehen, als es passiert ist.«

Sein Tonfall verriet eine gewisse Verblüffung, die Mertens vorbehaltlos teilte. Ging es so weiter, entwickelte sich der Mordfall bald zu einem Fall aktiver Sterbehilfe.

»Was steht auf dem Grabstein?«, fragte er.

Das Medaillon auf der Brust des Toten ähnelte einer Erkennungsmarke der Bundeswehr.

»Das ist ein sogenannter Dog tag, Herr Kommissar«, warf Niemand ein wie aus der Pistole geschossen.

»Eine Hundemarke?«

»Dog tags nennt man im angelsächsischen Sprachraum umgangssprachlich Erkennungsmarken der Streitkräfte.«

»Was Sie nicht sagen. Unser Kunde war also ein angelsächsischer Soldat?«

Referendar Seidel schluckte leer, bevor er weitersprach:

»Soldat oder Ex-Soldat der Vereinigten Staaten. Unser Toter heißt Jones, Eddie. Er ist männlich, katholisch und diente bei der US-Navy. Das sieht man am USN auf dem Dog tag.«

»Männlich, soso. Sozialversicherungsnummer?«

Zu seiner Überraschung spulte Niemand die neun Ziffern ohne Zögern ab. Mertens konnte nur den Kopf schütteln.

»Ich kann mir eben Zahlen gut merken«, verteidigte sich der Referendar kleinlaut.

»Schon gut, daran ist noch keiner gestorben. Auf alle Fälle hat uns der Mörder eine ganze Menge Arbeit erspart mit der Hundemarke, falls sie dem Toten gehört.«

Das war der Punkt, vor dem ihm graute: Ermittlungen bei den Amis. Bisher hatte er nur einmal Informationen benötigt von den guten Freunden jenseits des großen Teichs. Es war keine schöne Erinnerung. Er fragte sich noch heute, wie er damals ohne bleibenden Schaden wieder von der Decke heruntergekommen war. Wenn die Amis nichts sagen wollten, sagten sie nichts, Gerichtsbeschluss und Antragsformular hin oder her, Punkt. Vielleicht lag es auch ein wenig an seinem miserablen Englisch. Fluchen musste er jedenfalls auf Deutsch. Die Antwort war ein verständnisloses Lächeln gewesen.

Nein, er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich nochmals mit denen anzulegen. Genau in diesem Augenblick flüsterte ihm ein barmherziger Engel eine geniale Idee ins Ohr.

Dahlem

Der Parkettboden im Flur knarrte beruhigend unter den Füßen wie im Haus ihrer Jugend im nahen Potsdam. Der Spiegel an der Garderobe, halb erblindet, wirkte wie ein Weichzeichner. Er musste gut und gerne hundert Jahre alt sein wie das Haus. Chris hörte Jamies Schritte im Obergeschoss. Sie trat näher an den Spiegel heran, bis die Nasenspitze beinahe das Glas berührte. Sah man die Veränderung in ihrem Gesicht? Sahen Ehefrauen anders aus als Singles? Vor der Heirat mit Dr. Jamie Roberts hatte sie das ernsthaft geglaubt. Sie wirkte älter, gesetzter, anders als vor der Hochzeit, fand sie. Also doch. Oder war es Wunschdenken, weil sie sich auch nach einem halben Jahr noch nicht ans neue Leben gewöhnt hatte?

Sie spielte nachdenklich mit ihrem dicken, strohblonden Zopf. Für diese Haarpracht brauchte sie einen Waffenschein wie für die Glock in ihrem Schulterhalfter. Der Zopf hatte Jamie bei der ersten Begegnung den Verstand geraubt. Sie brauchte nur das Haar hängen zu lassen wie Rapunzel, schon griff der sonst so kühle und brillante Mediziner danach wie ein Ertrinkender nach der Rettungsleine. Das Geflecht hatte magische Kräfte. Anders war seine Wirkung auf Jamie und Männer im Allgemeinen nicht zu erklären. Wie sonst könnte ein mit rationalem Verstand gesegneter Mann, selbst ein zu allem entschlossener Engländer, sich auf eine Beziehung zu einer Kommissarin beim Bundeskriminalamt, Abteilung SO für schwere und organisierte Kriminalität, einlassen? Fortgeschrittener Masochismus wäre eine Erklärung. Nicht bei Jamie. Nein, es war der magische Zopf. Selbst Frauen waren nicht sicher vor dieser gemeinen Waffe. Jedenfalls hatte sie schon mehrfach verstörende Signale empfangen.

Eigentlich ganz niedlich, dachte sie über das Bild im Spiegel. Andererseits – sie war jetzt Mrs. Roberts, nicht mehr Fräulein Hegel, Da passte ein Adjektiv wie niedlich schlecht dazu. Sie musste sich verändern, den alten Zopf abschneiden.

Jamie kam die Treppe herunter. Er warf ihr einen gequälten Blick zu.

»Ich weiß nicht, Darling«, seufzte er mit Sorgenfalten auf der Stirn.

»Kannst du Gedanken lesen?«

»Excuse me?«

»Nichts«, lachte sie. »Gefällt dir das Haus nicht?«

Es war die Mutter aller rhetorischen Fragen. Die Bezeichnung Haus wurde dem Bauwerk aus der Jahrhundertwende an ruhiger Wohnlage in Dahlem in keiner Weise gerecht. Sie befanden sich in einer Villa: Zimmer, in denen man atmen konnte, mit hohen Decken, entsprechend großen Fenstern, durch die viel Licht herein flutete. Und der romantisch wuchernde Garten mit dem Pavillon unter der alten Buche – sie konnte nicht erwarten, hier einzuziehen. Solcher Luxus wäre unerschwinglich für sie beide ohne ihre guten Beziehungen zum pommerschen Uradel. Ein Kollege aus Schwerin, Hauptkommissar Alexander von Kleist, vermietete das Bijou zum Schnäppchenpreis: 1’200 Euro statt 5’000 oder mehr. Der Mann hieß tatsächlich so. Blutsverwandt mit dem Autor des ›Michael Kohlhaas‹, wäre auch er verarmt ohne die reiche Tante, die ihm das Haus vererbt hatte – wie das Geld für seine Armani-Anzüge. Kleist zog es nicht nach Dahlem, also würde das Ehepaar Roberts-Hegel hier einziehen, so wahr sie Chris hieß und Mörder jagte. In Jamies Gesicht las sie etwas anderes. Er ließ sich Zeit mit der Beantwortung ihrer Frage.

»Ja – nein – doch – das ist es nicht«, stammelte er schließlich.

Sie wartete.

»Es ist etwas groß für uns zwei, findest du nicht?«

Es war ihm peinlich. Sie wartete weiter.

»Also – die Wohnung in Berlin ist doch auch sehr romantisch und außerdem mitten in der Stadt.«

Sie begann, ihren Zopf zu zwirbeln und fragte: »Zwei Zimmer für 1’500 Euro findest du romantisch?«

Er zuckte verlegen mit den Achseln. Sie griff ihm unter den Arm und dirigierte ihn ans Fenster zum Park, wie sie den Wildwuchs hinter dem Haus nannte.

»Sieh mal, da könntest du deinen Kräutergarten pflanzen.«

Er blickte lange schweigend hinaus, als suchte er den sonnigsten Fleck für sein Gemüse. Dann nickte er und murmelte:

»Zitronenmelisse hat sich schon angesiedelt.«

Sie belohnte die Beobachtung mit einem leidenschaftlichen Kuss. Der Widerstand war noch nicht gebrochen aber so gut wie. Er ging zurück in den Flur.

»Ich sehe mich mal hier unten um.«

»Tu das, die Küche ist im Westflügel«, rief sie ihm nach.

Ihre erste gemeinsame Wohnung in Berlin war ein teurer Witz, eine Notlösung, nichts weiter. Der einzige Vorteil: Sie gelangten beide in zwanzig Minuten zu Fuß an den Arbeitsplatz. Falls man das als Vorteil bezeichnen wollte. Daraus würde nun eine halbe Stunde Autofahrt oder eine Stunde radeln nach ihren Ermittlungen. So what? Hier stimmte alles. Die Lage, das Gebäude, der Park mit dem Gartenhäuschen, das zu allerlei Zeitvertreib einlud: perfekt. Ihr Herz aber hatte sie im Dachgeschoss verloren. Es war ein Saal mit riesigem ovalem Oberlicht. Atelier, Labor und Musikzimmer gleichermaßen oder einfach ein Ort zum Träumen. Sie brauchte sich nur auf den Boden zu legen und befand sich im Himmel. Dieses Zimmer allein machte den Umzug aus Kreuzberg unumgänglich.

Ein lauter Ruf riss sie jäh aus ihrem Tagtraum. Nach wenigen Sätzen stand sie im Westflügel. Jamie kehrte ihr den Rücken zu. In tiefe Kontemplation versunken, ließ er seinen Blick durch die Halle von der Größe ihrer Berliner Wohnung schweifen.

»Good Lord, hast du schon so eine Küche gesehen?«

»Nein«, gab sie zu.

Er wagte kaum laut zu sprechen, so sehr ergriffen ihn Atmosphäre und Großzügigkeit dieses kulinarischen Tempels. Kein Zweifel: Diese Küche war sein Dachgeschoss, und er war ihr mit Haut und Haar verfallen. Andächtig strich er mit der flachen Hand über das alte Holz des Tisches, an dem zwanzig Leute bequem Platz fanden.

»Wir könnten Gäste einladen, Schaukochen veranstalten, einen Dinner Club für Musikfreunde gründen. Vielleicht einmal im Monat, was meinst du?«

Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie betrachtete sich nicht als Misanthrop, aber jeden Monat Parties mit zehn oder zwanzig Gästen? Ein Dutzend Einwände lagen ihr auf der Zunge, bis sie sich daran erinnerte, dass sie beide sowieso keine Zeit für solche Späße übrig hatten. Sie schenkte ihm daher ein süßes Lächeln und fragte nur:

»Dann ziehen wir also ein?«

»Keine Frage.«

»Eines musst du mir allerdings versprechen«, fügte sie mit ernster Miene hinzu. »Ich beharre auf dem Vetorecht bei der Gästeliste.«

»Selbstverständlich, ich auch.«

Ihr Telefon summte, eine unterdrückte Nummer.

»Ja bitte?«

»Dr. Christiane Roberts?«

»Am Apparat.«

»Tag Frau Kommissarin. Ich bin Staatsanwältin Klara Winter, SO, Treptow. Wir sind für Montag verabredet.«

»So steht‘s in meinem Kalender«, antwortete Chris kühl.

Sie kannte die Chefin am neuen Arbeitsplatz am Treptower Park noch nicht, wusste jedoch genau, worauf dies hinauslief. Arbeitsbeginn Montag 8:00 Uhr, hieß es in der Vereinbarung. Auch ein Witz.

»Wir haben ein Problem«, begann die Staatsanwältin wie erwartet. »Leichenfund am alten Asylheim, und uns sind zwei Leute für längere Zeit ausgefallen.«

»Ist das nicht ein Fall fürs LKA?«

»Das Opfer ist Staatsbürger der USA, Ex-Soldat der US-Navy, um genau zu sein.«

Die Staatsanwältin schwieg, als reichte diese Erklärung.

»Und?«

»Haben Sie mich nicht verstanden?«, platzte die Staatsanwältin heraus. »Ein Soldat der US-Navy ist in Berlin erschossen worden!«

»Sagten Sie nicht Ex-Soldat?«

»Soldat, Ex-Soldat, was spielt das für eine Rolle? Der Fall braucht äußerstes Fingerspitzengefühl, gerade jetzt, wo die Beziehungen zu den USA nicht die besten sind, wie Sie wohl wissen. Nein, das ist kein Fall für das LKA. Die wären heillos überfordert. Wir müssen auf Bundesebene ermitteln. Um es kurz zu machen: Sie übernehmen den Fall. Nehmen Sie umgehend Kontakt auf mit Hauptkommissar …«

»Augenblick«, unterbrach Chris. »Ich habe mich auf Montag eingestellt. Zurzeit bin ich nicht in Berlin.«

Die Bemerkung dämpfte den Eifer der Staatsanwältin nur für eine Sekunde. »Wann können Sie beim LKA sein?«

Chris unternahm einen letzten Versuch: »Ich bin nicht gerade berühmt für mein diplomatisches Fingerspitzengefühl, wie Sie sicher aus meiner Akte entnommen haben.«

»Damit müssen wir leben. Also wann?«

»Vielleicht schaffe ich es heute noch«, brummte sie mit einem wehmütigen Blick auf Jamie, der in der Küche hantierte, als erwarte er die Gäste in einer Stunde.

»Hauptkommissar Mertens heißt der Kontakt«, sagte die Staatsanwältin und legte auf.

Die Stimme jagte Chris kalte Schauer über den Rücken. Willkommen beim BKA Berlin. Jamie maß den zweiten Einbauschrank aus. Er hatte nichts vom Gespräch mitbekommen.

»Tut mir leid, mein Schatz. Ich muss dringend nach Berlin und brauche den Wagen.«

Er war noch nicht zufrieden mit der Planung seiner Laborküche, schüttelte den Kopf und murmelte undeutlich, ohne sie anzusehen. Sie warf ihm einen Handkuss zu und eilte hinaus.

Sie befand sich schon am Stadtring, als er anrief.

»Das Auto ist weg. Wo bist du?«

Seine Stimme klang verzweifelt.

»Ich musste dringend nach Berlin, hab ich dir doch erklärt.«

»Aber – wie komme ich jetzt hier weg?«

Bei der Vorstellung seines betroffenen Gesichtsausdrucks verspürte sie große Lust, ihn noch einmal zu heiraten.

»Ruf ein Taxi, du Ärmster. Ich muss Schluss machen, bis später.«

Berlin

Im Schritttempo näherte sich Chris dem Tatort. Das Sträßchen hinter dem Asylheim war ein Rad- und Wanderweg, besonders beliebt am Freitagnachmittag, wie ihr zahlreiche Mittelfinger bestätigten. Das LKA hatte den Tatort freigegeben, nachdem Spuren und Beweisstücke gesichert worden waren. Trotzdem bestand sie darauf, Hauptkommissar Mertens hier zu treffen. Berichte und Fotos in den Akten ersetzten keine Tatortbegehung.

Die ersten Tropfen fielen, als sie aussteigen wollte. Kaum war die Tür offen, begann es kräftig zu regnen. Es sah nicht nach einem kurzen Platzregen aus. Sie hievte den gelben Koffer vom Rücksitz nach vorn. Er enthielt das wichtigste Zubehör für kriminaltechnische Untersuchungen und begleitete sie seit dem ersten Tag an der Front. Mühsam zwängte sie sich in den weißen Einwegoverall. Ein junger Mann empfing sie, Erstsemester an der Uni und Mobbingopfer, nach dem blassen Gesicht zu urteilen. Sein Schirm reichte für vier seinesgleichen. Sie musste Staatsanwältin Winter recht geben: Das LKA war heillos überfordert, wenn es Schüler wie den als Kommissare beschäftigte.

»Sie haben sich reichlich Zeit gelassen«, knurrte eine Stimme hinter dem Studenten.

Sie atmete auf, denn der Mittfünfziger, der jetzt auf sie zutrat, hatte den Stimmbruch schon hinter sich.

»Chris Roberts, BKA«, stellte sie sich vor. »Sie sind HK Mertens, nehme ich an?«

Die ausgestreckte Hand griff ins Leere. Statt sie zu grüßen, schüttelte er das Wasser vom Schlapphut und brummte weiter:

»Ich verstehe nicht, was das hier soll. Steht doch alles im Bericht.«

Bevor sie den Mund öffnete, schaltete sich das Erstsemester ein:

»Sie konnten den Bericht ja noch nicht lesen, Dr. Roberts. Wenn ich kurz zusammenfassen darf …«

Mertens rollte die Augen, ließ ihn jedoch weitersprechen. Ihre Achtung vor dem jungen Mann stieg mit jedem Satz. Kurz und präzise beschrieb er den Tathergang, soweit man ihn bisher rekonstruiert hatte, fasste die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und der KT zusammen und zeigte ihr den genauen Fundort von Eddie Jones Leiche.

»Noch Fragen?«, grinste Mertens.

»Wer ist der junge Mann?«

»Niemand.«

Der Student wagte keinen Widerspruch. Erst als sie ihn auffordernd anblickte, sagte er unsicher:

»Mein Name ist Horst Seidel, Referendar und Praktikant im ersten Jahr.«

Sie schüttelte ihm die Hand. »Gut gemacht, Referendar Seidel.«

»Hotte«, murmelte er verschämt mit leuchtenden Augen, als hätte sie ihn zum Abschlussball eingeladen.

»Wie weit wurde die Umgebung abgesucht? Das Asylheim? Gibt es weitere Zeugen?«

Sie richtete die Fragen direkt an den Referendar, der offenbar Mertens wandelndes Gedächtnis darstellte. Der Kommissar fuhr dazwischen:

»Hören Sie, Frau … Ich habe einen wichtigen Termin. Herr Seidel wird Sie über alles Weitere informieren. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.«

Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Nach zwei Schritten blieb er stehen, kehrte zurück und fragte sie leise:

»Brauchen Sie Unterstützung?«

»Immer«, antwortete sie verwundert.

Sein Blick streifte den Referendar, der etwas abseitsstand.

»Er kennt sich bestens aus mit dem Fall.«

»Sie wollen mir Niemand überlassen?«

Er ignorierte den absichtlichen Fallfehler und präzisierte:

»Sie könnten ihn ausleihen – natürlich nur für diesen Fall.«

»Natürlich.« Nach kurzem Zögern fragte sie: »Stimmt etwas nicht mit dem jungen Mann?«

Kommissar Mertens zuckte die Achseln. »Er schreibt lauter Einsen.«

Ein Genie! Sie begann zu verstehen. Da prallte Intellekt auf jahrzehntelange Praxis, eine explosive Mischung. Sie erinnerte sich an die angespannte Personalsituation am Treptower Park und lächelte Referendar Seidel zu, um etwas Farbe in sein Gesicht zu zaubern.

»Sie meinen das ernst, nicht wahr?«, fragte sie zur Sicherheit.

»Todernst.«

»O. K., Deal, aber er bleibt auf Ihrer Gehaltsliste und ich unterschreibe kein einziges Formular.«

»Deal.«

Diesmal schlug Mertens ein. Blieb nur noch übrig, Seidel zu überzeugen. Sie spürte keinen Widerstand. Im Gegenteil: Der arme Kerl war froh, seinem Tyrannen zu entrinnen, obwohl, oder besser, weil er ihre problematischen Charakterzüge noch nicht kannte. Mertens seinerseits fuhr mit einem Lächeln davon. Er war nicht nur den heiklen Fall los, sondern auch den neunmalklugen Praktikanten. Besser ging es nicht, sagte sein Gesicht. Ihr sollte es recht sein. Einen ergebenen Sklaven konnte sie gut gebrauchen. Notfalls würde sie ihn mit dem Zopf ruhigstellen.

»Also Herr Seidel«, sagte sie mit einem letzten Blick auf Mertens Wagen.

Der junge Mann sprang ihr fast ins Gesicht. »Dr. Roberts?«

»Vergessen Sie den Doktor. Sie Seidel, ich Chef, O . K.?«

Die Antwort war ein Gurgeln, aber er nickte eifrig.

»Also, Seidel«, begann sie nochmals, »sind alle Bewohner des Asylheims befragt worden?«

»Das Gebäude ist eine Ruine. Es gibt keine ständigen Bewohner, nur Obdachlose, die hier gelegentlich übernachten und ein paar Junkies, die sich manchmal auf dem Hof auf der andern Seite treffen.«

»War einer von denen anwesend zum Tatzeitpunkt?«

Seidel verneinte. »Allerdings …«

»Was?«

»Ein Obdachloser hat ausgesagt, es hätte in der Nacht vor der Tat eine wilde Party stattgefunden.«

»Eine wilde Party, soso – und?«

Seidel sah sie ängstlich an.

»Nichts«, sagte er leise, »Hauptkommissar Mertens meinte, es lohne sich nicht, dem nachzugehen.«

»Sie sind anderer Meinung?«

Er nickte stumm, offensichtlich überwältigt vom Umstand, nach seiner Meinung gefragt zu werden.

»Ich auch«, sagte sie. »Wir machen Folgendes: Wir klappern jetzt die Umgebung ab und sammeln Hinweise auf die Teilnehmer der Party. Sobald wir Namen haben, gehen Sie jedem Einzelnen nach und bestellen die Person zur Befragung aufs Präsidium am Treptower Park, verstanden?«

Sie gab ihm ihr Kärtchen mit den Koordinaten und fügte hinzu:

»Noch etwas: Wir benötigen Kopien aller Akten beim BKA, und lassen Sie sämtliche Asservate an die Kriminaltechnik in Wiesbaden schicken.«

Sie schrieb ihm die Adresse ihrer Freundin Caro Lenz, Leiterin der KTU, auf die Rückseite. Seine Wangen glühten, während er die Aufträge notierte. Es gab ihr ein gutes Gefühl.

Sie war ausgelaugt, als sie den Wagen beim BKA in Treptow parkte. Das Ergebnis der stundenlangen Suche nach Namen fiel ernüchternd aus. Drogenabhängige, die ihren eigenen Namen nicht kannten, Alkoholiker, die beim Stichwort Polizei sofort einschliefen, und unterernährte Hunde bevölkerten die Ruine des Asylheims. Ganze zwei Hinweise blieben übrig, die ihr Juniorpartner jetzt verfolgte. Als genügte das nicht, um ihre Laune zu verderben an diesem Freitagnachmittag, hielt der Regen hartnäckig an bis fast vor die Bürotür. Berlin mit nassen Straßen am Start ins Wochenende: nicht zu vergleichen mit Wiesbaden und Kloppenheim, wo sie früher gewohnt hatte. Staus wie eben auf der Brücke gab es dort nur an Ostern. Sie hatte es nicht anders gewollt.

Es war ihr Vorschlag gewesen, den Arbeitsplatz in die Zentrale am Treptower Park zu verlegen, um hier mit Jamie zusammenzuziehen. Das Zentrum für regenerative Therapien in Berlin, BCRT, hatte ihn vom Imperial College in London abgeworben – mit einem Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Der Abschied von den Kollegen in Wiesbaden war ihr etwas leichter gefallen, nachdem sich ihr Partner Sven nach Hamburg abgesetzt hatte. Die Liebe: Es gab endlich eine Frau, die sich nicht nur für seinen Porsche Spyder interessierte.

Als Erstes fielen ihr die allgegenwärtigen Überwachungskameras auf, die hier jeden Pfosten schmückten, nicht nur jeden Zweiten wie in Wiesbaden. Beim Anblick rümpfte sie die Nase. Sie hatte sich den Einzug anders vorgestellt oder gar nicht, jedenfalls nicht so deprimierend. Der Eindruck besserte sich kaum, als sie das Büro betrat. Die Luft roch nach Schimmelpilz. Die nackten Möbel und leeren Schränke verbreiteten Endzeitstimmung. Dazu passte die vergilbte Reproduktion von Munchs ›Schrei‹ an der Wand. Auf dem Aktenschrank neben dem Pult stand ein Gemüse, das früher vielleicht einmal grün gewesen war. Die vertrockneten Blätter hätten wohl auch einem Gärtner Rätsel aufgegeben. Sie war allein und froh darüber. So brauchte sie die vernichtenden Kommentare nicht stumm zu schlucken. Eine Reihe Fenster wie in einem alten Schulhaus zeigte direkt auf das Backsteingebäude des Terrorismus-Abwehrzentrums, an das sie sich lieber nicht erinnerte. Kurbeln für die Rollläden gab es nicht. Automatische Jalousien: Der Architekt musste ein Sadist sein. Die geistige Mängelliste quoll über. Sie hätte ihr Saxofon mitbringen sollen, um die negativen Schwingungen zu kompensieren. Sinnlos, sich zu ärgern, sie würde ohnehin nicht viel Zeit in dieser Hightech-Folterkammer verbringen. Dafür gab es jetzt den Sklaven Seidel.

Die Tür schwang auf.

»Da sind sie ja. Ich habe Sie heute nicht mehr erwartet.«

Die Frau, die ihr gegenüberstand, mochte zehn oder fünfzehn Jahre älter sein, hatte sich aber gut gehalten. Glattes Gesicht, ein wenig straff vielleicht, kurzes, braunes Haar, dunkelgrauer Zweiteiler mit Nadelstreifen, sonst war nichts auszusetzen an der Erscheinung, die so gar nicht zur eiskalten Stimme passen wollte. Chris kompensierte ihr ernstes Gesicht mit einem freundlichen Lächeln.

»Staatsanwältin Winter, nehme ich an. Chris Roberts, freut mich.«

Klara Winter trug keinen Ehering mehr. Der Abdruck war aber deutlich zu sehen. Solche Sachen fielen ihr jetzt auf. Daher rührte vielleicht die Unterkühlung. Es bestand also Hoffnung auf Besserung. Die Zeit heilt Wunden, sagt man. Die Staatsanwältin hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf. Sie fragte nur:

»Wo stehen wir?«

»Die Akten sind unterwegs hierher. Die Beweisstücke werden zur KTU nach Wiesbaden geschickt. Ich rechne spätestens Dienstag mit Ergebnissen.«

»Hat das LKA nicht schon alles untersucht?«

Chris schüttelte den Kopf. »Die haben alle Arbeiten eingestellt, als sie hörten, dass wir den Fall übernehmen.«

»Kann ich verstehen«, murmelte die Staatsanwältin, »heikel, sehr heikel.«

»Immerhin wissen wir, dass Eddie Jones den Dienst bei der US-Navy vor zehn Jahren quittiert und seither in Deutschland gelebt hat«, sagte Chris. »Es gibt keine lebenden Verwandten mehr. Seine letzte Adresse ist ein Wohnblock in Marzahn. Wir werden die Nachbarn am Montagmorgen befragen.«

»Wir?«

»Referendar Seidel und ich. Kommissar Mertens überlässt ihn uns für die Dauer der Ermittlungen. Er kann ihn nicht leiden.«

»Sind ja gute Voraussetzungen. Ein Student?«

»Referendar mit ausgezeichneten Zensuren. Ich glaube, wir können ihn gut gebrauchen bei unserer Personalknappheit.«

Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf in gespielter Verzweiflung. »Können Sie sich vorstellen, welcher Papierkram da auf Sie wartet?«

»Kein Formular, das ist der Deal.«

»Aber – ein blutiger Anfänger?«

»Das wird sich schnell ändern.«

Wieder schüttelte Winter den Kopf. Sie starrte ihr eine Weile abwesend auf die Bluse, dann wandte sie sich ab mit der Bemerkung:

»Ich will den jungen Mann sehen, sobald er auftaucht. Haben wir uns verstanden?«

Weg war sie, ohne die Antwort abzuwarten. Das Handy summte: Referendar Seidel.

»Chef, ich habe die Leute aufgespürt, die von der Party, wissen Sie.«

»Ja, ich kann mich erinnern. So lautet Ihr Auftrag.«

Seidel zögerte. »Das – ist das Problem. Namen und Adresse habe ich, aber da ist niemand zu Hause.«

Er überholte sich selbst beim Sprechen, damit sie nicht unterbrach.

»Es fand wohl eine Art Polterabend im alten Asylheim statt. Der Bräutigam ist in den Flitterwochen auf Mallorca. Der Aufenthalt des zweiten Mannes ist unbekannt. Ich habe versucht, das Hotel ausfindig zu machen über das Reisebüro, aber die haben schon geschlossen.«

»Vergessen Sie nicht zu atmen«, unterbrach sie besorgt.

Er nahm die Aufforderung ernst. »Ich atme ganz normal, Chef.«

»Da bin ich ja beruhigt, Seidel, gute Arbeit. Aber jetzt schalten Sie einen Gang runter. Es ist Wochenende und die Zeugen laufen uns schon nicht weg, falls es überhaupt Zeugen sind, was ich im Übrigen stark bezweifle.«

Das stimmte ihn nachdenklich. Es entstand eine kurze Pause, bevor er zaghaft fragte:

»Chef, sind Sie im Büro?«

»Sieht so aus.«

»Gut, ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen mit den Akten.«

Sie sah auf die Uhr: Feierabend, Wochenende. Der junge Mann hatte kein Privatleben. »Ideale Voraussetzung für diesen Job«, murmelte sie beim Auflegen.

Es klopfte.

»Herein«, sagte sie verwundert, als niemand ins Zimmer stürzte.

Die Tür ging auf. Zuerst erschien ein kleiner Kaktus. Ihm folgte ein Mann am Stock mit schütterem, grauem Haar, dessen Bauch vom Mangel an Bewegung zeugte. Er stellte den Topf auf den Schreibtisch und streckte ihr strahlend die Hand entgegen.

»Tach Frau Kommissar. Jens Haase, Faktotum im Innendienst mit steifem Bein und Mädchen für alles in diesem Irrenhaus.«

»Alles klar«, lachte sie und erwiderte den kräftigen Händedruck. »Für mich?«, fragte sie mit einem Blick auf den grünen Zwerg.

Er nickte. »Auf die Schnelle konnte ich nichts anderes finden. Wir haben Sie erst am Montag erwartet.«

»Der ist niedlich, danke.«

Sie betrachtete die Pflanze genauer. Im Moment, als sie den gelben Punkt bemerkte, klarte es draußen auf. Die letzten Strahlen der Abendsonne brachen durch die Regenwolken. Warmes Licht verwandelte das Büro in einen halbwegs erträglichen Arbeitsplatz.

»Er bekommt eine Blüte«, sagte sie lächelnd.

»Unmöglisch, der hat noch nie jeblüht.«

»Da, sehen Sie.«

Es wurde wieder düster im Raum. Die Rollläden, diese Intelligenzbestien, reagierten auf das Sonnenlicht. Ihr Gesicht war eine einzige Anklage. Jens Haase begriff sofort.

»Das haben wir gleich, warten Sie.«

Er humpelte davon. Nach kurzer Zeit kehrte er mit schwarzem Klebeband und Werkzeug zurück.

»Ich kann es leider nicht selbst tun. Das Bein, wissen Sie. Aber ich sage Ihnen, wie‘s geht. Es ist ganz einfach.«

Er versprach nicht zu viel. Mit wenigen Handgriffen gelang es ihr, den Sensor zu verkleben. Die Rollläden fuhren hinauf und blieben oben. Sie fühlte sich schon fast zu Hause am Treptower Park. Ihr neuer Kollege grinste zufrieden. Sie nahm sich vor, Jens Haase trotz Innendienstes nie zu unterschätzen.

»Bin in der Bierstube«, meldete ihr Handy.

»Mist!« Sie hatte Jamie ganz vergessen. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte sie zu Haase. »Bleiben Sie noch eine Weile?«

»Ich bin immer da.«

Das Lachen blieb ihr im Halse stecken, denn er meinte es durchaus ernst. Noch einer ohne Privatleben. Sie begann, sich schuldig zu fühlen. Jetzt, da sie erste, zaghafte Versuche unternahm, so etwas wie eine Familie zu gründen.

»Ich bitte Sie um einen Gefallen. Noch einen«, fügte sie nach kurzem Zögern lächelnd hinzu. »Referendar Horst Seidel wird in Kürze mit den Akten eintreffen. Er soll für eine Weile hier arbeiten. Würden Sie sich bitte um den Jungen kümmern? Staatsanwältin Winter ist informiert.«

»Oh, Sie hatten schon das Vergnügen.«

»Weiß nicht, ob man es so bezeichnen kann. Sie hat wohl nicht viel Spaß im Leben.«

Haase nickte zustimmend. »Das ist offensichtlich. War sie sehr kurz angebunden?«

»Sehr.«

Seine Mundwinkel wanderten wieder nach oben. »Dann hat sie Angst.«

»Angst?«, rief Chris verblüfft aus, »wovor?«

»Vor Ihnen, Frau Kommissar.«

Er wollte die seltsame Antwort nicht begründen, dennoch sorgte sie für gute Laune, als sie das Haus verließ.

Montagmorgen. Seidel saß am Steuer des Dienstwagens. Ihr Sklave navigierte geschickt durch den Berufsverkehr, obwohl er sich seit Arbeitsbeginn am frühen Morgen mit Selbstzweifeln zerfleischte.

»Es tut mir echt leid«, wiederholte er zum dritten oder vierten Mal. »Sie müssen mir glauben, Chef. Ich habe keinen Aufwand gescheut. Die Zeugen auf Mallorca waren während des ganzen Wochenendes nicht erreichbar. Es ist zum Verzweifeln, echt jetzt.«

Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er sprach nicht nur in ganzen, korrekten, deutschen Sätzen. Auch der Genitiv war ihm nicht fremd, eine Seltenheit unter jungen Leuten. Um ihn abzulenken, wechselte sie das Thema:

»Sobald wir zurück sind, sollten Sie bei Staatsanwältin Winter vorbeischauen.«

Der Wagen drohte, auf den Bürgersteig auszubrechen, so heftig riss er am Lenkrad, als er herumfuhr, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht grau wie auf einem Schwarz-Weiß-Foto. Er korrigierte erschrocken. Der Wagen beruhigte sich.

»Was kann Frau Staatsanwältin Winter von mir wollen?«, fragte er heiser.

»Erschrecken Sie jetzt nicht wieder«, warnte sie. »Sie will Sie kennenlernen.«

»Staatsanwältin Winter will mich kennenlernen? Warum möchte sie das?«

Die Frage klang verzweifelt.

»Keine Panik, Seidel. Ich glaube, sie steht nicht auf junge Männer. Sie will nur wissen, mit wem sie‘s zu tun hat. Das ist alles.«

Es schien ihn nicht zu beruhigen.

»Sie werden doch dabei sein?«, fragte er ängstlich.

Es kostete sie einige Anstrengung, nicht zu lachen. Glücklicherweise brauchte sie nicht zu antworten, denn sie näherten sich dem Häuserblock am Ende der Quartierstraße in Marzahn, wo Eddie Jones gewohnt hatte.

»Am besten überlassen Sie mir das Reden«, sagte sie beim Aussteigen.

Der Block erinnerte an DDR Zeiten, obwohl die Häuser kaum älter als zehn, fünfzehn Jahre sein konnten. Grauer Verputz bröckelte von grauem Beton und eingeschlagene Fensterscheiben im Erdgeschoss ließen nichts Gutes erahnen. Umso erstaunter stellte sie fest, dass Mr. Jones Wohnung nicht aufgebrochen worden war und das Polizeisiegel unversehrt an der Tür klebte.

»Wo bleibt der Hausverwalter? Haben sie ihn nicht informiert, Seidel?«

»Doch, selbstverständlich habe ich ihn informiert, aber wir sind wohl etwas zu früh.«

»Besser früh als zu spät«, brummte sie und versuchte, die Tür aufzustoßen.

Sie war verschlossen, was bei Seidel hektische Aktivität auslöste. Er nestelte aufgeregt in seiner bodenlosen Aktentasche, bis er einen Schlüsselbund in einem Plastikbeutel zutage förderte.

»Ich dachte, wir könnten Mr. Jones Schlüssel heute brauchen«, sagte er verlegen. »Ich habe das Asservat deshalb zurückbehalten. Hätte ich das nicht …«

»Seidel, Seidel!«, unterbrach sie schmunzelnd. »Geben Sie schon her.«

Der Junge hatte eine große Karriere vor sich. Die Wohnung bestand im Wesentlichen aus dem Wohnzimmer mit einem Wandschrank, in dem Küche und Bad zusammen Platz gefunden hätten. Sie blieb verblüfft stehen.

»Was fällt Ihnen auf, Seidel?«

»Man sollte lüften.«

»Das auch, sonst?«

Er zuckte die Achseln und lief rot an.

»Sehen Sie Kleider, Schuhe, sonst irgendetwas, was auf den Bewohner hindeutet?«

»Stimmt, nicht einmal ein Handtuch im Bad«, gab er in ungewohnter Kürze zu.

Die Billigmöbel standen noch da, Bratpfanne und Suppentopf nebst einigen Gläsern und Besteck in der Küche ebenfalls, aber sonst erweckte die Wohnung den Eindruck, der Mieter wäre ausgezogen.

»Gibt es in den Akten einen Hinweis auf seine neue Anschrift?«

Seidel schüttelte den Kopf, sprachlos, als trüge er die Schuld an der Verwirrung. Wer hatte hier ausgeräumt? Wollte jemand Spuren beseitigen? Der Scharfschütze vielleicht? Als läse er ihre Gedanken, sagte Seidel:

»Vielleicht haben die Nachbarn etwas gesehen.«

Sie nickte. »Wir werden sie gleich fragen.«

Acht Uhr war vorbei. Der Verwalter ließ sich noch immer nicht blicken. In der Wohnung gab es nichts mehr zu sehen. Sie beschloss, mit der Befragung zu beginnen. Die Tür des Nachbars zur Linken öffnete sich, als sie auf den Flur traten. Eine alte Dame, deren sorgfältig lackierte Fingernägel wohl ihren einzigen Luxus darstellten, kam ihnen entgegen.

»Wer sind Sie, was haben Sie in Mr. Jones Wohnung zu suchen?«, fragte sie streng.

Der Ausweis beruhigte sie nur teilweise. Sie musterte den jungen Referendar misstrauisch.

»Schon wieder Polizei? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der nette Mr. Jones etwas verbrochen hat, im Gegensatz zum andern Gesindel in diesem Haus. Alles Ganoven, wenn Sie mich fragen. Aber vor Mr. Jones haben alle großen Respekt. Wissen Sie, früher …«

»Sie kennen ihn gut?«, unterbrach Chris rasch, um Seidel an einer unvorsichtigen Bemerkung zu hindern.

»Natürlich, was denken Sie denn, wir sind Nachbarn.«

»Natürlich. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

Die Frau sah sie an, als vermute sie unanständige Hintergedanken. Dann antwortete sie so, dass nur Chris es hören sollte:

»Freitagmittag vor einer Woche.«

»Seither nicht mehr?«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er müsse eine Weile weg, hat er gesagt.«

»Wohin?«

»Keine Ahnung.«

Die Frau schien Eddie Jones recht gut zu kennen. Chris stellte ihr die üblichen Fragen nach dem Befinden des Opfers in der letzten Zeit, Auffälligkeiten, Freunden, Feinden, Besuchern, Auseinandersetzungen, die sie vielleicht beobachtet hatte. Die Antwort war stets eine Variante von: Mr. Jones war ein ruhiger, anständiger Mensch. Die Nachbarin wurde misstrauisch.

»Warum stellen Sie mir all die seltsamen Fragen? Ihm ist doch nichts zugestoßen?«

Sie musste der alten Dame die Wahrheit sagen. Offenbar hatte sie die Zeitungsmeldung übersehen, oder sie las keine Zeitungen. Eine Todesnachricht zu überbringen, empfand Chris als schlimmste Pflicht in ihrem Beruf. Die Eröffnung schockierte Eddie Jones’ Nachbarin, als hätte sie ihren eigenen Sohn verloren. Die Fassungslosigkeit der alten Dame übertrug sich auf Seidel. Stumm notierte er die spärlichen Ergebnisse weiterer Befragungen, bis Chris sich schließlich nach seinem Befinden erkundigte. Er zögerte mit der Antwort, suchte nach Worten.

»Wie schaffen Sie das?«, murmelte er nach einer Weile undeutlich.

»Was meinen Sie?«

Er gestikulierte hilflos mit den Armen. »Das alles – nicht an sich heranzulassen.«

»Gar nicht«, gab sie unumwunden zu. »Man kann so etwas nicht einfach wegstecken. Es ist der Punkt, wo aus Opfern Menschen werden, Menschen mit Beziehungen zu andern Menschen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Das war ehrliche Trauer. Die Nachbarin trauert um den Toten, ein tröstlicher Gedanke, finden Sie nicht?«

Die Ankunft des Hausverwalters unterbrach sie. Außer Atem entschuldigte er sich für die Verspätung und reichte ihr eine Mappe mit Dokumenten.

»Mietvertrag, Referenzen, Adresse des Arbeitgebers, alles da, wie Sie sehen«, bemerkte er dazu.

Er sah das zerschnittene Siegel und strahlte.

»Heißt das, die Wohnung ist freigegeben?«

»Leider nein, Sie müssen sich gedulden, bis der Fall abgeschlossen ist.«

Er wich entsetzt einen Schritt zurück. »Aber – wie lang dauert das noch? Die Wohnung muss gereinigt werden, bevor die neuen Mieter einziehen.«

»Neue Mieter? Das ging aber flott.«

»Was glauben Sie, wie lang unsere Warteliste ist?«

Es gab zwar kaum bezahlbaren Wohnraum in dieser Stadt, aber Eddie Jones‘ Wandschrank konnte man auch nur mit viel gutem Willen als Wohnung bezeichnen. Sie schwieg und staunte über die nächste Bemerkung des Hausverwalters:

»Mr. Jones hat die Wohnung vorletzte Woche gekündigt. Da mussten wir natürlich handeln.«

»Wann genau war das?«

»Die Kündigung? Wir haben sie Freitag vor einer Woche erhalten.«

Zur gleichen Zeit hatte sich Eddie Jones von der Nachbarin verabschiedet nach der Räumung seiner Wohnung. Es war ein Abschied für immer, und er wusste es, wie eine Katze, die sich zum Sterben in ein dunkles Versteck verkriecht. Die Kopie der Kündigung lag bei den Dokumenten des Hausverwalters. Sie enthielt keine Begründung.

»Gab es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz?«

Der Hausverwalter zuckte die Achseln. »Mir ist nichts bekannt, aber das müssen Sie bei Siemens nachfragen. Er hat dort im Sicherheitsdienst gearbeitet. Steht alles in den Unterlagen.«

Bevor sie wieder ins Auto einstiegen, sagte sie zu Seidel:

»Melden Sie uns bei Siemens an. Wir möchten mit dem Personaldienst und den Kollegen sprechen.«

Sie selbst musste nachdenken.

Die Lagebesprechung bei Staatsanwältin Winter geriet zur Nagelprobe für den armen Seidel. Sie richtete die Fragen nur an ihn, begierig darauf, den jungen Mann bei einem Fehler zu ertappen. Ihr Verhalten erinnerte Chris fatal an den Griesgram Mertens. Seidel schwitzte Blut. Man sah es ihm an. Umso lustvoller versuchte Winter, ihn in die Enge zu treiben. Chris bereitete sich auf die Rettung in letzter Sekunde vor, doch er hielt stand, wiederholte die Fakten sachlich, auch wenn sie zum dritten Mal danach fragte. Auch ihre eigenen Recherchen bei der US-Navy gab er korrekt wieder. Sie konnte sich zurücklehnen und einmal mehr im Geiste Hauptkommissar Mertens danken.

»Wie wir wissen«, fuhr er fort, »hat Mr. Jones als SCPO der US-Navy in Afghanistan gedient. Dort ist er schwer verwundet worden. Nach einem längeren Klinikaufenthalt im Lazarett Landstuhl bei Kaiserslautern hat er vor zehn Jahren den Dienst quittiert. Seither führte er ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben in Deutschland. Er ist jedenfalls nicht aktenkundig.«

Die Staatsanwältin öffnete den Mund, doch er nahm ihre Frage vorweg:

»SCPO ist das offizielle Kürzel für Senior Chief Petty Officer, was etwa dem Stabsbootsmann der Deutschen Marine, also einem höheren Unteroffiziersrang, entspricht.«

Immer noch kein Fehler. Die Enttäuschung stand der Staatsanwältin ins Gesicht geschrieben. Mangels Alternative wandte sie sich an Chris und fuhr sie an:

»Mir scheint, wir gewinnen jedes Quiz über Mr. Jones, aber gibt es vielleicht auch einen winzigen Hinweis auf den Täter?«

»Nur Vermutungen. Wir stehen erst am Anfang.«

Winter spielte ungeduldig mit ihrem Stift und wartete. Da niemand weitersprach, platzte ihr der Kragen:

»Verdammt, wissen Sie, was da los ist? Die Presse rennt mir die Bude ein. Ein schwarzer US Soldat von einem Profikiller mitten in Berlin erschossen – ein Albtraum!«

»Vor allem für den Soldaten«, bemerkte Chris kühl.

Sie konnte es nicht lassen. Die Presse interessierte sie einen feuchten Kehricht, und an den Profikiller glaubte sie nicht. Der hätte sich nicht mit einem einzigen Schuss zufriedengegeben. Drei Schüsse in Kopf und Herz, um sicher zu gehen, das war die übliche Methode. Sie verspürte keine Lust, die Winter aufzuklären. Die Sitzung hatte schon zu viel Zeit gekostet, doch die Staatsanwältin gab noch nicht auf:

»Können wir ein rassistisches Motiv ausschließen?«

»Erst, wenn wir den Täter gefasst haben«, antwortete Chris getreu nach Lehrbuch.

»Das weiß ich auch. Vielen Dank für die Aufklärung. Ich will aber wissen, was Sie denken.«

»Eddie Jones hat seinen Abgang geplant, so viel ist bekannt. Er hat die tödliche Kugel ruhig erwartet, ohne sich zu wehren. Für mich sieht das nicht nach rassistischer Gewalttat aus.«

»Trotzdem, solang der Täter ein Phantom bleibt, müssen wir in alle Richtungen ermitteln.«

»Wir müssten«, gab Chris zu, »aber ohne Leute? Wir nehmen uns jetzt das Arbeitsumfeld des Opfers vor. Es könnte sich sehr wohl um eine Beziehungstat handeln.«

Winter verzichtete auf Einspruch und schloss die Sitzung mit dem Allgemeinplatz: »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Seidel holte tief Luft und räusperte sich umständlich, bevor er sie unter der Tür ansprach:

»Frau Dr. Winter, Sie wollten mich sprechen?«

Sie blickte ihn abwesend an. »Ich? Ach so, ja, hat sich erledigt, danke.«

Chris sah die Endorphine in seinen Augen tanzen wie Derwische.

»Haben Sie das gehört, Seidel? Sie hat Danke gesagt, Danke, unvorstellbar.«

Er nickte ergriffen mit dem Lächeln der Mona Lisa im Gesicht.

Jens Haase erwartete sie auf dem Flur, ein Bündel Akten unter dem Arm.

»Das sind Ihre Unterlagen für den Besuch bei Siemens«, sagte er.

Verblüfft nahm sie die Papiere entgegen. »Ich habe eher ein Blatt A4 erwartet, kein Buch, aber vielen Dank.«

»Das Wichtigste steht auf dem Deckblatt.«

Haase mochte nicht der Schnellste sein zu Fuß, beim Recherchieren hingegen schlug er sie um Längen. Ein süßlicher Duft nach geröstetem Getreide und Kakao strömte aus seinem Büro.

»Betreiben Sie eine Kaffeerösterei da drin?«

»Riecht gut, nicht wahr? Ich habe die neue Arabica-Mischung erst vor Kurzem entdeckt. Darf ich Ihnen ein Tässchen offerieren?«

»Schwarz ohne alles«, antwortete sie lächelnd.

Er nickte zufrieden. »Die einzige Art, diese edlen Bohnen zu genießen.«

Sie hatte den Tempel der Glückseligen am Treptower Park gefunden. Sie ließ erst ihre Nase trinken, bevor sie die Tasse zum Mund führte. Haase trank mit geschlossenen Augen in kleinen Schlucken. Plötzlich schlug er sich an die Stirn.

»Ich alter Esel!«, rief er aus, »Dr. Lenz von der KTU Wiesbaden hat angerufen. Entschuldigung, ich werde vergesslich.«

»Kaffee hilft eben nur dem Langzeitgedächtnis«, lachte sie. »Was hat Caro zu berichten?«

»Sie wollte mir nichts sagen, aber es scheint wichtig zu sein. Sie sollen sie zurückrufen.«

War die Kriminaltechnik schon fertig mit der Analyse? Ihre Freundin Caro Lenz, Chemikerin wie sie, arbeitete schnell, aber so schnell? Die ersten Worte aus dem Hörer dämpften ihre Freude sogleich:

»Wir kommen nicht weiter«, sagte Caro.

»Mal was ganz Neues. So etwas aus deinem Mund?«

»Ich hoffe, du amüsierst dich gut.«

Caro litt, wie schon früher an der Uni, wenn sie ein Problem nicht lösen konnte. In solchen seltenen Fällen war es besser, den Mund zu halten, also wartete sie auf ihre Erklärung.

»Zuerst das Offensichtliche«, begann sie mürrisch. »Der Täter hat Munition vom Kaliber 9x19 mm Parabellum benutzt. Die Tatwaffe ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Beretta M9, die offizielle Pistole der US-Navy. Soweit ist alles klar. Verwertbare Fremd-DNA gibt es keine. Fingerabdrücke auf der Patronenhülse sind durch die Hitze zerstört worden. Die Abdrücke auf der Erkennungsmarke hat der Täter wohl abgewischt.«

»Das ist Pech, aber nichts Ungewöhnliches«, bemerkte Chris.

Caro reagierte unwirsch: »Ich bin noch nicht fertig. Wie gesagt, die konventionelle Methode liefert keine Fingerabdrücke, aber wir haben ›Bullet Fingerprints‹ sichergestellt, und zwar sowohl auf dem Dog tag wie auf der Patronenhülse.«

»Was sind ›Bullet Fingerprints‹?«

Die Frage verbesserte Caros Laune augenblicklich.

»Sieh an, die allwissende Chris ist nicht auf dem neusten Stand«, lachte sie. »Zugegeben, die Methode der ›Bullet Fingerprints‹ ist neu. Wir können damit Abdrücke auf Metall sichtbar machen, selbst nachdem sie abgewischt sind. Man behandelt die Oberfläche mit einem Keramikpulver und legt eine hohe Spannung an. Das Pulver reagiert so mit feinsten Korrosionsspuren, die Finger auf dem Metall zurücklassen. Dadurch konnten wir identische Zeigefinger- und Daumenabdrücke auf der Hülse und dem Dog tag sicherstellen, die nicht vom Opfer stammen.«

Das hörte sich an wie Weihnachten, und sie gab es Caro zu verstehen.

»Schon, aber jetzt ist Ende der Fahnenstange«, klagte ihre Freundin. »Wir haben alles abgesucht. Es gibt keinen Treffer in unseren Datenbanken. Ich packe alles in eine Mail und wünsche dir viel Erfolg.«

Chris teilte Caros Pessimismus nicht. Sie waren einen enormen Schritt vorangekommen. Es gab eindeutige Fingerabdrücke des Täters, anders waren die Spuren auf der Patronenhülse kaum zu erklären, und sie wusste nun, dass der Täter die Erkennungsmarke angefasst hatte. Weshalb, blieb ein Rätsel, aber es könnte ein wichtiges Indiz sein. Die Armeepistole als Tatwaffe passte zu ihrem Verdacht, es handle sich um eine Beziehungstat unter ehemaligen Kameraden. Es lag auf der Hand, durch welche Datenbank sie die Fingerabdrücke nun schicken mussten.

»Haben Sie gute Verbindungen zur US-Navy?«, fragte sie Haase mit ironischem Unterton.

»Kann man nicht behaupten, aber mailen Sie mir die Bilder. Ich kümmere mich um den Papierkram und schicke sie ans EUCOM in Stuttgart.«

»Das wird dauern«, sagten beide gleichzeitig.

»Wir müssen aufbrechen«, mahnte Seidel.

Sie nickte, wollte ausloggen, als der Groschen fiel. Es gab möglicherweise einen schnelleren, kleinen Dienstweg: Sofie Neubauer, ihre Bekannte beim Bundesnachrichtendienst. Ein Schuss ins Blaue, aber einen Versuch wert. BND, MAD und Verfassungsschutz besaßen ihre eigenen Archive und Datenquellen. Sie traute Sofie zu, die Fingerabdrücke zu identifizieren, falls sie dort gespeichert waren. Auf dem Weg zu Siemens wuchs ihr Optimismus. Sofie würde bald zurückrufen. Sie spürte es in den Nieren.

Dagmar Krause, die Personalchefin im Siemensturm, hörte Seidels juristischem Monolog mit offenem Mund zu. Chris wähnte sich in einem alten ›Fall für Zwei‹. Sie traute nicht allen Argumenten ihres Referendars, doch seine Rede wirkte Wunder. Die Personalchefin gab die Akte Eddie Jones ohne Gerichtsbeschluss heraus. Chris überflog die jüngsten Einträge und stutzte.

»Mr. Jones hat vor einem Monat gekündigt? Was war der Grund?«

»Wir wissen es nicht. Es war sein Entschluss, völlig überraschend für Herrn Weller, den Sicherheitschef. Mit dem Personaldienst hat Mr. Jones nicht darüber gesprochen.«

»Seltsam«, murmelte Chris.

»In der Tat. Es gab nie Probleme mit Herrn Jones, wie sie der Akte entnehmen werden.«

Ein vorbildlicher Mitarbeiter kündigt von einem Tag auf den andern. Einen Monat später liegt er erschossen im Gras. Was war geschehen? Die Personalakte musste genau analysiert werden, doch Chris versprach sich nicht viel davon.

»Gab es private Kontakte zu andern Mitarbeitern?«

Dagmar Krause zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Solche Fragen stellen Sie am besten dem Sicherheitschef. Herr Weller kennt Herrn Jones, seit er bei uns angefangen hat vor sechs Jahren.«

Paul Weller empfing sie mit festem Händedruck und dem offenen Blick des ehrlichen Mannes. Er war der zweite Mensch, der sich tief betroffen zeigte vom gewaltsamen Tod des Eddie Jones.

»Eddie – ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte er. »Eddie war ein Glücksfall für uns, müssen Sie wissen. Ein ehemaliger Elitesoldat der US-Navy, Afghanistan-Veteran, anständig, verschwiegen, gute Manieren, gutes Deutsch: Was will man mehr in einem Sicherheitsdienst?«

»Gab es besonders enge Kontakte zu andern Personen in der Firma oder privat, Freunde, Feinde?«

»Eddie war ein Einzelgänger. Er trat niemandem auf die Füße, ließ aber auch niemanden an sich herankommen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Außer Alvarez, mit dem verband ihn eine alte Freundschaft. Diego Alvarez ist Ex-Soldat wie er, kämpfte auch in Afghanistan.«

Chris horchte auf. »Diesen Herrn Alvarez möchte ich zuerst sprechen.«

»Das ist leider zurzeit nicht möglich. Er befindet sich auf Heimaturlaub, wie er es nennt. Einmal im Jahr verreist er für einen Monat in die Staaten, meist über den Militärflugplatz Ramstein.«

»Wann ist er abgereist?«

»Moment.« Er beugte sich über den Einsatzplan auf seinem Schreibtisch. »Letzten Dienstag. Wir erwarten ihn am 26. zurück.«

Ihre Hoffnung schwand. War er tatsächlich am Dienstag abgeflogen, hatte Mr. Alvarez ein perfektes Alibi. Der tödliche Schuss war am darauffolgenden Freitag gefallen.

»Wie kann ich Herrn Alvarez erreichen?«

Weller grinste verlegen. »Ich führte, gar nicht. Wir kennen leider keinen Kontakt in den USA. Er besitzt zwar ein Handy, nimmt aber grundsätzlich im Urlaub keine Anrufe darauf entgegen.«

Er schrieb die Telefonnummer auf einen Zettel und schob ihn mit einer Entschuldigung über den Tisch.

Die Befragung von Wellers Leuten auf dem weitläufigen Gelände zog sich bis in den Abend hin. Seidel sank am Ende erschöpft auf den Beifahrersitz, unfähig, weiterhin den Chauffeur zu spielen. Er zog ein mit Seidenpapier umwickeltes Ding aus der Tasche, das auf den ersten Blick an gefriergetrocknetes Erbrochenes erinnerte. Er brach ein Stück ab, schob es in den Mund, lehnte sich zurück und begann glücklich darauf zu kauen. So etwas Widerliches hatte sie zuletzt an einem Tatort gesehen. Es gelang ihr nicht, den Blick abzuwenden. Die Hand mit dem Zündschlüssel rutschte ab.

»Entschuldigen Sie, möchten Sie auch ein Stück?«

Das Erbrochene schwebte unmittelbar vor ihrem Gesicht. Unfähig zu sprechen, wich sie zurück.

»Makrobiotisch«, erklärte er, »garantiert keine Chemie. Diese Riegel produziere ich selbst aus lauter natürlichen Zutaten.«

»So sehen sie auch aus«, murmelte sie undeutlich. »Natürlich, sagen Sie? Was ist denn da drin?«

»Es ist ein Geheimrezept«, sagte er stolz. »Bananen, Äpfel, Getreideflocken und vieles mehr.«

»Keine Chemie, soso. Sie essen also keine Glutaminsäure, kein Glyzin, Leuzin und keinen Methylbutylester?«

»Igitt, um Gottes willen, nein!«

»Dann dürfen Sie keine Bananen mehr verwenden, auch keine Äpfel. Die böse Chemie steckt nämlich da drin, zusammen mit etwa hundert andern Chemikalien, deren Namen Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben.«

Er hörte auf zu kauen und betrachtete den Rest des Riegels in seiner Hand wie Erbrochenes.

»Sind Sie sicher?«

»Ich bin vom Fach.«

Der Riegel verschwand in seiner Tasche. Sie konnte abfahren. Seidel blätterte stumm in seinen Notizen.

»Da kommt viel Arbeit auf uns zu«, stellte er nach einer Weile fest. »Zehn Alibis überprüfen, vier Befragungen stehen noch aus, und dieser Mr. Alvarez muss kontaktiert werden.«

»Sie sagen es, und was schließen Sie daraus?«

Er antwortete ohne Zögern: »Wir brauchen Verstärkung.«

Sie nickte, beeindruckt vom praktischen Nutzen der Fernsehkrimis.

»Mal sehen, wie die Beamtenhierarchie auf dieses Ansinnen reagiert«, murmelte sie und wollte die Freisprechanlage betätigen.

Sofie Neubauers Anruf aus der Zentrale des BND kam ihr zuvor.

»Treffer?«, fragte sie, den Puls auf 180.

»Ja, halt dich fest.«

Das Adrenalin trieb Chris den Schweiß auf die Stirn. Mit feuchten Händen lenkte sie den Wagen an den Straßenrand und hielt an.

»Es ist ein Zufallstreffer«, sagte Sofie. »Ich darf nicht verraten, woher wir die Information haben, aber die Übereinstimmung mit den Fingerabdrücken in deiner Mail beträgt nahezu hundert Prozent.«

»Irrtum ausgeschlossen?«

»Ausgeschlossen. Die Abdrücke stammen von einem ehemaligen Soldaten der US-Navy, Lieutenant David Martinez.«

»Wer sagt’s denn!«, rief sie ins Telefon. »Anschrift und Telefonnummer des Herrn Martinez kennt ihr sicher auch noch?«

»Lieutenant David Martinez ist vor zehn Jahren in der Provinz Helmand in Afghanistan gefallen.«

Eine lange Pause entstand, während Chris versuchte, die unglaubliche Information zu verarbeiten.

»Bist du noch dran?«

»Ja – ja, klar, aber das kann nicht sein.«

»Ist aber so.«

»Die Fingerabdrücke sind keine zehn Jahre alt. Die sind neu, eine, zwei Wochen vielleicht.«

»Kann nicht sein«, murmelte Sofie nun ihrerseits.

»Sag ich ja.«

Wieder entstand eine Pause, bis Sofie unterbrach:

»Ich kann nur wiederholen: Die Übereinstimmung beträgt 99%. Der Rest ist wohl dein Problem. Ich drücke dir alles, was ich an Daumen besitze.«

»Ein Mord aus dem Jenseits«, fasste Seidel wie immer korrekt zusammen.

Am nächsten Morgen standen sie vor dem Eingang zur Pathologie in der Charité. Seidel, blasser als üblich, machte keine Anstalten, auch nur einen weiteren Schritt zu tun ohne seine Beschützerin.

»Gehen Sie schon vor«, sagte Chris, als ihr Handy klingelte.

Das Schild an der Tür der Leichenhalle beschäftigte ihn so sehr, dass er ihre Aufforderung überhörte und selbst in Leichenstarre verfiel. Es war seine erste Leichenschau.

Die Winter war am Apparat.

»Damit erübrigt sich Ihr Antrag auf Verstärkung, nehme ich an«, sagte die Staatsanwältin.

»Wie muss ich das verstehen?«

»Kommen Sie! Es liegt doch auf der Hand, dass niemand von der Belegschaft als Täter infrage kommt, nachdem die Fingerabdrücke eindeutig auf David Martinez hinweisen.«

»Glauben Sie an Gespenster?«, fragte Chris gereizt. »Ich muss Sie darauf hinweisen, dass David Martinez seit zehn Jahren tot ist.«

»Dieses Rätsel müssen Sie lösen.«

Chris schnaubte innerlich. »Eben, und deshalb müssen wir alles verifizieren, was uns erzählt wird. Das braucht Zeit und Ressourcen. Wir dürfen uns in so einem heiklen Fall keine Nachlässigkeit erlauben. Das ist doch nur in Ihrem Sinn, nicht wahr?«

»Vor allem brauchen wir schnell Resultate«, brummte die Staatsanwältin. »Das Opfer war ein hoch dekorierter amerikanischer Elitesoldat, ein Navy SEAL, wie uns die zuständigen Stellen versichern. Mr. Jones soll in den USA mit allen militärischen Ehren bestattet werden. Die wollen seinen Leichnam unverzüglich.«

»Zuerst wird ihm der Pathologe die Ehre erweisen«, entgegnete Chris trocken. »War das alles?«

Sie öffnete die Tür und bedeutete Seidel, einzutreten. Er zögerte.

»Hereinspaziert, Herr Referendar«, ermunterte sie ihn. »Es wird schon nicht schlimmer sein als Ihr Riegel.«

Eddie Jones lag auf dem Stahltisch, als hätte er sich glücklich von dieser Welt verabschiedet. Der Rechtsmediziner wiederholte, was er schon am Tatort festgestellt hatte:

»Ein präziser Gnadenschuss. Der Schusskanal verläuft von der Mitte der Stirn schräg nach unten zum Cerebellum, dem Kleinhirn. Das Opfer war sofort tot. Die Waffe war nicht aufgesetzt. Aufgrund der Verletzungen gehen wir davon aus, dass der Schuss aus achtzig bis hundert Zentimeter Entfernung abgefeuert worden ist. Es braucht eine sehr ruhige und geübte Hand dazu.«

»Die SEALs sind Killermaschinen«, murmelte Seidel tonlos.

Chris musste schmunzeln. »Das erklärt ja alles.«

»Echt jetzt. Die SEALs sind die Elite der Elite. Denken Sie an Bin Laden.«

»Ich werde es mir merken«, versicherte sie.

Der Pathologe unterbrach den geistreichen Dialog:

»Möchten Sie wissen, was wir in Mr. Jones‘ Blut und Magen gefunden haben?«

»Nicht wirklich, aber Sie werden es uns trotzdem sagen.«

»So ist es. Es könnte durchaus wichtig sein. Das Opfer hat in letzter Zeit häufig Cannabis konsumiert. Sie werden es kaum glauben, aber ich habe Anzeichen von Unterernährung festgestellt. Der Mann litt an einer schweren und offenbar langwierigen Gastroenteritis.«

»Eine Magen-Darm-Infektion! Was verstehen Sie unter schwer?«

»Seine Nieren sind geschädigt. Ohne intensive Behandlung in einer Klinik wäre Mr. Jones daran gestorben.«

Die Äußerung des Pathologen stand in krassem Widerspruch zum Ausdruck des Friedens auf dem Gesicht des Toten. Tödliche Krankheit, Drogenkonsum: Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die neue Information einordnen sollte. Der Arzt war noch nicht fertig:

»Die Ursache der Infektion sind gram-negative Pathogene.«

Seidel zückte sein Smartphone.

»Das ist eine Leichenhalle, junger Mann«, belehrte ihn der Pathologe, »hier wird nicht telefoniert.«

Kaum hatten sie das Haus verlassen, platzte ihr Referendar heraus:

»Ich wollte nur nachsehen, was gram-negativ bedeutet.«

»Was, Sie wissen das nicht? Warum haben Sie nicht gefragt?«

Damit ließ sie es bewenden. Sie selbst konnte sich nichts unter dem Begriff vorstellen, aber ihr privates Wikipedia hieß Jamie, war Arzt und würde sie bald erschöpfend über gram-negative Pathogene aufklären. Seidel sprach kein Wort während der Fahrt zurück zum Treptower Park. Möglicherweise bedrückten ihn ähnliche Gedanken wie sie. Eddie Jones musste unter großen Schmerzen gelitten haben. Das könnte den erhöhten Konsum von Haschisch erklären und den friedlichen Gesichtsausdruck. Der Tod als Erlöser. Wieso beendete er seine Qualen nicht selbst, wenn er keinen Ausweg mehr sah? Vielleicht war ihm der Täter nur zuvorgekommen. Hatte er sich deshalb nicht gewehrt? Die schwere Krankheit des Opfers warf ein neues Licht auf den Fall, doch Eddie Jones blieb ihr auch nach dem Bericht des Pathologen ein Rätsel.

Sie saß noch keine Minute am Schreibtisch, als Seidel auf sie zutrat und sich umständlich räusperte. Leise, als wagte er es nicht auszusprechen, sagte er:

»Chef – ich glaube, wir haben etwas übersehen.«

Weiter kam er nicht. Staatsanwältin Winter platzte herein.

»Neues vom Phantomkiller?«

Chris schüttelte den Kopf. »Nicht vom Täter aber vom Opfer.«

Das Stichwort Cannabis elektrisierte Winter.

»Drogen?«, rief sie aus. »Dem müssen Sie sofort nachgehen. Schalten Sie die Drogenfahndung ein, dann haben Sie Ihre Verstärkung.«

Sie rauschte hinaus, beflügelt von der neuen Entwicklung.

»Gut, sehr gut«, hörte Chris, bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Seidel nahm einen neuen Anlauf. Diesmal unterbrach ihn Jens Haase, der vorsichtig ins Zimmer spähte. Als er sah, dass die Luft rein war, trat er ein.

»Schlechte Nachrichten, fürchte ich«, meldete er. »Der Kollege des Opfers, Diego Alvarez, ist bis jetzt nicht aufzutreiben. Es sind jede Menge Anfragen bei Fluggesellschaften und Flughäfen am Laufen, inklusive eines offiziellen Unterstützungsantrags ans Oberkommando in Ramstein. Bisher herrscht Funkstille.«

»Was ist mit seiner Wohnung, den Nachbarn?«

»Negativ. Mr. Alvarez zieht es vor, nur eine Postfachadresse zu haben. Die Post kennt natürlich die richtige Anschrift, gibt aber nur mit gültigem Gerichtsbeschluss Auskunft. Ich habe es versucht, aber der Richter stellt sich quer, da Mr. Alvarez nicht mehr zum engen Kreis der Verdächtigen gehöre.«

»Nicht zum engen Kreis der Verdächtigen!«, brauste sie auf. »Was für ein Schwachsinn. Ich fasse es nicht. Aber danke, Herr Haase, kümmern wir uns eben selbst darum, sobald wir Zeit haben.«

»Ich könnte unsere IT einschalten.«

Die vom Bund lizenzierten Hacker, meinte er. Sie nickte ihm lächelnd zu und schwieg fürs Protokoll.

»Jetzt aber zu Ihnen, Seidel. Was haben wir übersehen?«

»Also – so absolut habe ich es nicht formuliert.« Er hüstelte verlegen, bevor er fortfuhr: »Die Krankheit unseres Opfers hat mich daran erinnert. Unter den Asservaten aus der Wohnung des Toten befindet sich eine leere Medikamentenschachtel. Falls es sich um ein rezeptpflichtiges Präparat handelt, finden wir so vielleicht den Arzt …«

»Seidel, aus Ihnen wird noch ein guter Schnüffler«, unterbrach sie schmunzelnd. »Welche Nummer ist es?«

»Zwölf.«

Das Beweisstück Nummer zwölf aus Eddie Jones‘ Abfalleimer erschien auf ihrem Bildschirm, sauber abgelichtet von allen Seiten.

»Neomycin«, las sie laut. »Es handelt sich wohl um ein Antibiotikum.«

»Ich kann das abklären«, sagte Seidel, bereit zum Sprung an den Computer.

»Nein, warten Sie, wir fragen den Fachmann.«

Sie drückte die Kurzwahltaste 1 auf ihrem Handy. Jamie antwortete nach dem ersten Klingelton:

»Dienstlich oder privat?«

»Dienstlich«, sagte sie und schaltete auf Lautsprecher. »Neomycin, sagt dir das etwas?«

»Hast du Durchfall?«, fragte er bestürzt. »War das Soufflé nicht in Ordnung? Warst du beim Arzt?«

Sie brach in Gelächter aus. »Dienstlich, sagte ich, beruhige dich. Ich möchte nur mehr über dieses Medikament erfahren.«

»Gott sei Dank. Mit Durchfall ist nämlich nicht zu spaßen. Ich kann ein Lied davon singen, wie du weißt. Neomycin ist ein weitverbreitetes Antibiotikum. Es wird üblicherweise bei Infektionen durch gram-negative Bakterien verschrieben, zum Beispiel Escherichia Coli. Allgemein wirkt es gegen aerobe Bakterien, nur in Ausnahmefällen gegen anaerobe Keime.«

»Man verschreibt es also zum Beispiel bei Gastroenteritis?«

»Ja, sicher, bei schweren Fällen.«

Sie las Dosierung und Konzentration von der Packung ab.

»Good Lord! Das ist starker Tobak. Der arme Kerl, der so etwas braucht, muss sehr krank sein. Zudem ist die Einnahme in dieser Konzentration über einen längeren Zeitraum gefährlich. Neomycin greift die Nieren an – unter anderem.«

Das passte zum Obduktionsbefund. Eddie Jones musste über längere Zeit starke Dosen des Präparats geschluckt haben. Warum war so ein schwerer Fall nicht in stationärer Behandlung?

»Danke, Dr. Roberts. Dr. Roberts möchte sich später ausführlich mit Ihnen darüber unterhalten.«

»Lassen Sie sich einen Termin geben«, lachte er. »Ich kann es kaum erwarten.«

Seidel hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er saß vor seinem Bildschirm, schnitt unmögliche Grimassen, als wäre es ein Spiegel, klimperte auf der Tastatur und stöhnte schließlich erleichtert auf.

»Brauchen Sie ein Neomycin?«, fragte sie.

Er blickte sie verwirrt an, bis er die Ironie verstand. »Ach so – nein, aber sehen Sie sich das bitte einmal an.«

Er hatte den Aufkleber der Packung im Computer bearbeitet, die fehlende Ecke digital ergänzt, sodass die Herkunft des Neomycins nun klar lesbar war:

1st Lt. Matt Fisher, MD

LRMC, Germany

»LRMC ist das Kürzel für ›Landstuhl Regional Medical Center‹«, erklärte er mit geschwellter Brust. »Es ist das größte Lazarett der US Streitkräfte außerhalb der USA.«

Sie klopfte ihm auf die Schulter, dass er zusammenzuckte wie von 10’000 Volt getroffen. Ihre Ermittlungen hatten sich eben auf das Bundesland Rheinland-Pfalz und das Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika ausgedehnt. Sie freute sich jetzt schon auf den Schlagabtausch mit der Staatsanwaltschaft.

Jamie unterhielt sich am Stehtisch vor seinem Labor mit einer jüngeren Kollegin, als Chris überraschend am BCRT auftauchte. Die kleine Schwarzhaarige war ein ausgewachsener Scherzkeks, nach Jamies fröhlichem Gesicht zu urteilen. Der Ring an ihrem Finger beruhigte Chris nur halbwegs. Jamie trug auch einen.

»Was treibt ihr eigentlich den ganzen Tag in diesem Institut?«, fragte sie misstrauisch.

»Wenn wir nicht gerade am Flirten sind, meinst du? Ich will es mal so formulieren: Womit die andern ihre Zeit verbringen, habe ich noch nicht herausgefunden. Ich selbst stecke gerade mitten in der Arbeit an regenerativen Therapien des kardiovaskulären Systems.«

»Das sieht man.«

Unverschämt grinsend blickte er dem Po der Kollegin nach und fragte:

»Möchtest du eine kompetente Führung?«

»Nein, danke, aber vielleicht ein Glas Wasser. Kann man hier irgendwo sitzen?«

Sie nahm auf seinem Schreibtisch Platz, um ihr Territorium zu markieren. Die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht. Halb neugierig, halb betroffen, fragte er:

»Dein Fall ist ein medizinisches Rätsel, nicht wahr?«

»Was bedeutet gram-negativ?«

»Bakterien nennt man gram-negativ, wenn sie sich nicht mit Triphenylmethan einfärben lassen. Das liegt am Aufbau ihrer Zellmembran, der sie zum Beispiel resistent macht gegen Penicillin. Gram-negative Bakterien zeigen allgemein eine zunehmende Resistenz gegen Antibiotika aller Art.«

»Ist das nicht beunruhigend?«

»Und wie! Die Medizin muss stets gröberes Geschütz auffahren, und manchmal hilft auch das nicht mehr, ganz zu schweigen von den Nebenwirkungen.«

»Zum Beispiel Schädigung der inneren Organe.«

»Wie bei deinem Fall? Das Neomycin?«

Sie nickte. Auch ohne über den Fall zu sprechen, wussten beide, worum es ging.

»War das Opfer, dieser US Soldat, in klinischer Behandlung?«

»Eben nicht, das ist eines der Rätsel.«

Jamies nächste Bemerkung erwischte sie kalt:

»Falls doch, müsste ich wissen, in welcher Klinik.«

»Wieso denn das?«

Er blieb die Antwort schuldig, meinte nur:

»Ohne pathologische Analyse lässt sich nicht viel sagen.«

»Im Obduktionsbefund steht nichts Genaues.«

»Das wundert mich nicht. Für solche bakteriologischen Untersuchungen braucht es Speziallabors.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel das Robert-Koch-Institut. Mein Kollege Arne Schulz arbeitet dort als Infektionsepidemiologe. Der kennt jeden Bakterienstamm.«

Sie fasste einen schnellen Entschluss. »Komm mit, es ist nicht weit zur Pathologie.«

»Was, jetzt? Da gibt‘s nur noch Tote um diese Zeit.«

»Umso besser.«

Wie erwartet, fanden sie die Räume der Rechtsmedizin in der Charité verlassen vor.

»Willst du seine Leiche stehlen?«, fragte Jamie nicht zum ersten Mal.

Das schlechte Gewissen war seinen großen Kulleraugen anzusehen. Sie hatte ein gewisses Verständnis dafür. Ihr war auch nicht ganz wohl bei der Sache. Ihr Vorhaben verstieß bestimmt gegen ein Dutzend Paragraphen, die Referendar Seidel spontan zitieren müsste: unbefugtes Betreten, Störung der Totenruhe, Leichenschändung …

»Es wird wohl nicht nötig sein, den Leichnam zu entführen«, sagte sie. »Wir beschaffen uns nur eine Probe etwas schneller, ohne Papierkram und lästige Diskussionen.«

Er zuckte resigniert mit den Schultern. »Du bist die Polizei.«

Dankbar für ihren leeren Magen, betrat sie die Leichenhalle. Der Geruch nach Tod und Formalin löste jedes Mal Würgereiz aus. Nach kurzem Suchen fand sie das Fach mit Eddie Jones Mageninhalt. Sie zeigte Jamie das Fläschchen und flüsterte:

»Genügt das?«

In diesem Augenblick ging das Licht aus. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Stahltür. Schritte entfernten sich draußen im Flur. Ihr Puls schoss an die Decke.

»Halt, aufmachen!«, rief sie aus Leibeskräften.

Zu spät. Atemlos hetzte sie in der Finsternis durch die Halle, stieß sich an Tischkanten. Eine Schale fiel scheppernd zu Boden, bevor sie endlich den Türgriff erreichte. Verschlossen. Sie rief lauter, polterte mit den Fäusten ans Metall, getrieben von der Vorstellung einer Polarnacht unter Leichen. Jamie war schon gestorben. Er rührte sich nicht. Kein Ton war von ihm zu hören. Sie tastete nach dem Lichtschalter und lauschte. Es blieb still, aber wenigstens konnten sie jetzt die zwei neuen Leichen auf den Tischen wieder sehen. Sie hämmerte weiter an die Tür. Hämmerte, lauschte, hämmerte, lauschte, bis sich endlich Schritte näherten. Das Schloss knackte. Die Tür ging auf.

»Jesus Maria!«

Die Frau mit den grünen Gummihandschuhen sprang zur Seite, blasser als die Kunden in der Halle. Chris weckte Jamie mit einem scharfen Ruf aus der Totenstarre, dann schwenkte sie ihren Ausweis und sagte zur Reinigungskraft:

»Weitermachen!«

Ihr Gemahl fand die Sprache erst im Auto wieder.

»Das nächste Mal ohne mich oder mit Formular«, brummte er. »Meine Nerven sind zu schwach für solche Übungen.«

»Das war nicht zu übersehen«, grinste sie. »Aber wir haben die Probe.«

»Dr. Schulz wird sich freuen.«

Dr. Fisher am Regional Medical Center in Landstuhl war ein viel beschäftigter Mann, telefonisch nur für eine Terminvereinbarung zu sprechen und auffallend schweigsam beim Stichwort Eddie Jones. Das Lazarett gehörte zum Territorium der Vereinigten Staaten, tabu für den deutschen Justiz- und Polizeiapparat. Eine Unverschämtheit und ein lächerlicher Anachronismus in Chris‘ Augen.

Im Gegensatz zu den Kollegen der Drogenfahndung betrachtete sie die Aktion rund ums alte Asylheim als unnötige Zeitverschwendung. Sie wartete mit Seidel ein paar Straßen weiter im Wagen, mehr mit dem Handy als mit den Vorgängen draußen beschäftigt. Das Funkgerät schwieg schon geraume Zeit. Außer einer Krähe mitten auf der Straße bewegte sich nichts. Seidel rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her.

»Worauf warten die alle?«

»Auf die Dealer«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Eine uniformierte Streife scheucht sie auf, die Fahnder in zivil verfolgen sie in ihre Löcher und fangen sie ab.«

»Raffiniert«, murmelte er. »Warum macht man es nicht immer so, wenn es so einfach ist?«

»Eine Frage des Aufwands.«

Kaum gesagt, kam Bewegung auf, als erwachte das ganze Viertel mit einem Schlag aus dem Tiefschlaf. Gestalten in Anoraks und Hosen unter der Gürtellinie rannten über die Straße, flüchteten auf Fahrrädern oder suchten Deckung in dunklen Hauseingängen, wo sie die Beamten empfingen. Kleinkriminelle, dachte Chris verächtlich, als ein BMW um die Ecke bog und direkt auf sie zuschoss, die Krähe beinah erwischte und in einer Seitenstraße verschwand. Verfolger waren keine in Sicht.

»Worauf warten Sie, Seidel? Los, hinterher!«

Über Funk gab sie Position und Fahrtrichtung durch. »Verfolgen verdächtiges Fahrzeug, silbergrauer BMW Z4, Kennzeichen Berlin SV, Rest unbekannt.«

Sie verloren das Fluchtauto aus den Augen, bevor sie das Blaulicht montiert hatte. Zum ersten Mal hörte sie einen Fluch aus Seidels Mund. Er lief rot an, nahm den Fuß vom Gas und fragte kleinlaut:

»Was nun?«

»Jetzt beruhigen wir uns, machen Meldung und drücken den Kollegen in den Streifenwagen die Daumen.«

Sie fuhren zurück zum Treptower Park. Nach und nach trafen die Anoraks zur Vernehmung ein. Die Kandidaten, Teenager mit Migrationshintergrund und ein besonders cooles Paar vornehmer deutscher Gymnasiasten, trugen wie erwartet nichts zur Lösung ihres Falles bei. Nach kurzer Befragung überließ sie die Leute der Drogenfahndung.

Eine Streife in Marzahn stoppte den Z4 in unmittelbarer Nähe eines Drogenlagers, keine fünfhundert Meter Luftlinie von Eddie Jones‘ Wohnblock entfernt. Die Drogenfahndung reagierte mit Begeisterung. Der Fahrer des BMW, ein arbeitsloser Schnösel aus gutem Haus, von Beruf Sohn, entpuppte sich als lang gesuchter Mittelsmann einer Autoschieberbande, die nebenbei Marihuana und Heroin vertrieb. Die sichergestellte Menge an Betäubungsmitteln reichte, um den jungen Herrn für mindestens fünf Jahre aus dem Verkehr zu ziehen, immerhin. Chris hörte schon die Korken knallen, aber all das interessierte sie nicht, als sie ihm gegenübersaß. Sie schob ein Foto von Eddie Jones über den Tisch.

»Kennen Sie diesen Mann?«

Er würdigte das Bild keines Blickes, fuhr stattdessen ungeniert fort, sie mit den Augen auszuziehen. Sie hielt ihm das Bild vor die Nase.

»Hier gucken, Mann auf Foto!«

»Leck mich!«

»Lassen Sie mich die Frage anders formulieren. Wann haben Sie diesem Mann zum letzten Mal Gras verkauft?«

Er starrte schweigend auf ihre Brüste.

»Körbchengröße B. Sie werden bald viel Zeit haben, davon zu träumen.«

»Leck mich!«

Sie gab vor, seine Akte zu studieren. Eine Weile herrschte eisiges Schweigen, dann schüttelte sie den Kopf und murmelte:

»Mann, Mann, da kommt ganz schön was zusammen.«

Kurz vor dem dritten »Leck mich« klappte sie die Akte zu, sah ihm in die Augen und sagte lächelnd:

»Aber wissen Sie was? Das ist alles noch gar nichts gegen eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord.«

Er sprang fluchend auf.

»Setzen!«

Seine Schimpftirade prallte an ihr ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Als er wieder auf den Stuhl sank, sprach sie ruhig weiter:

»Unsere Techniker werden Ihre Fingerabdrücke auf jeder Tüte nachweisen, die Sie diesem Mann verkauft haben. Das wissen Sie so gut wie ich. Jetzt ist dieser Mann tot, ermordet. Was glauben Sie, werden wir daraus schließen, wenn wir auch nur eine Hautschuppe von Ihnen an seiner Leiche oder Kleidung finden?«

Sie befand sich auf sehr dünnem Eis. Die Mischung aus Spekulation und Fakten war gefährlich, aber sie zeigte Wirkung. Die Zeit wurde knapp. In wenigen Minuten würden die teuren Anwälte des Herrn Papa eintreffen und ihr Spiel sofort beenden. Sie musste vorher wissen, in welcher Beziehung er zu Eddie Jones stand. Diesmal wollte er sich lang nicht beruhigen. Ungeduldig verfolgte sie den Sekundenzeiger der Wanduhr, bis er endlich schwieg.

»Wie gesagt, es sieht gar nicht gut aus für Sie. Vielleicht haben Sie ja tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun, wer weiß? Solang Sie uns allerdings nicht genau sagen können, wann und wo Sie zuletzt Kontakt mit dem Mann auf dem Foto hatten, müssen wir vom Schlimmsten ausgehen. Das verstehen Sie doch?«

Beim Stichwort Mord fiel die Maske des hartgesottenen Ganoven. Blankes Entsetzen starrte ihr entgegen. Er vergaß die Anwälte und begann zu reden. Seine Intelligenz reichte aus für die Einsicht, den Handel mit Drogen nicht weiter zu leugnen. Eddie Jones hatte ihn beim Dealen auf dem Parkplatz seines Wohnblocks erwischt und ihm selbst einen Deal angeboten. Anstatt ihn anzuzeigen oder windelweich zu klopfen, gab er sich mit einer Tüte Gras zufrieden und dem Versprechen, hin und wieder für Nachschub zu sorgen und die Kids im Block in Ruhe zu lassen.

»Und sie sind darauf eingegangen?«, fragte Chris leicht verwundert.

Er lachte bitter auf. »Wenn du so eine Klaue an der Gurgel hast, gehst du auf jeden Deal ein.«

»Er hat sie also erpresst?«

»Schwachsinn. Er hat mich nicht kalt gemacht, so sehe ich das. Der Kerl ist – war brandgefährlich. Ein falscher Blick, und du bist Geschichte.«

»Sein Tod kommt Ihnen also sehr gelegen.«

»Ich habe nichts mit seinem Tod zu tun, verfluchte Scheiße!«

Chris glaubte es ihm aufs Wort. Ein Elitesoldat wie Eddie Jones stellte solche Angeber ruhig, bevor sie »Leck mich« sagen konnten.

»Warum soll ich meine Kunden umbringen?«, fuhr er atemlos fort. »Er hat ja sogar angefangen, mich zu bezahlen.«

»Ach, das ist ja nett, und deshalb haben Sie ihm das Gras sogar ins alte Asylheim geliefert?«

Er erschrak. Es arbeitete lange hinter seiner Stirn, bis er zugab, einmal am Asylheim gewesen zu sein. Die Hautschuppen, dachte Chris erleichtert. Der Bluff wirkte. Die letzte Begegnung mit Eddie Jones fand zwei Tage vor der Tat statt. Sie saß nicht dem Täter gegenüber, so viel stand endgültig fest. Aber der Dealer hatte beobachtet, wie Eddie Jones in der Bauruine verschwand.

»Ich glaube, der hat da irgendwo im verdammten Keller gewohnt«, sagte er.

Es war seine letzte Aussage, die Chris aufnahm. Nach kurzem Disput mit Staatsanwältin Winter überstellte sie ihn an die Kollegen von der Drogenfahndung.

Eine Stunde später wusste sie, wo Eddie Jones seine letzten Tage und Nächte verbracht hatte. Das angesengte Arzneirezept und die Reste einer Packung Neomycin in der kalten Asche des Kohleofens im alten Asylheim sprachen eine deutliche Sprache. Der Name des Arztes und seine Unterschrift waren gut auf dem Rezept zu lesen: 1st Lt. Matt Fisher, MD, LRMC. Verblüfft betrachtete sie das Datum. Das Rezept war erst vor einem Monat ausgestellt worden.

Basislager

Mitternacht war vorbei. Fast alle Lichter am Ufer waren erloschen. Sein Schlauchboot, nicht mehr als ein grauer Fleck im schwarzen Fluss, trieb geräuschlos auf die Böschung zu. An der Anlegestelle herrschte beinahe totale Finsternis, ideal, um unbemerkt ins Basislager zu gelangen. Nicht zuletzt deswegen hatte er diese Wohnung vor Jahren instinktiv ausgewählt. Manche Dinge verlernt man nie. Er brauchte kein Licht. Das Nachtsichtgerät an seinem Helm machte die Nacht zum Tag. Kein Nachbar, kein zufälliger Passant würde eine verdächtige Bewegung im Basislager entdecken.

Wohnschlafzimmer und Kochnische waren bereits geräumt. Trotzdem durchstreifte er noch einmal die Zimmer, um sicher zu sein, nichts Wichtiges übersehen zu haben. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme in diesem Teil der Welt, aber Afghanistan hatte ihn gelehrt, dass jede vergessene Colaflasche den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte. Die Sporttasche stand auf dem Klosettdeckel bereit für die neue Mission. Er schob den Schrank neben der Dusche beiseite und löste das Stück Wandverkleidung, um an die Kiste mit seiner Ausrüstung zu gelangen. Die Kontrolle verlief schnell und automatisch, dank der Checkliste, die sich seit dem ersten Einsatz in sein Gehirn eingebrannt hatte.

Papiere, Bargeld: check.

Taschenlampe aufgeladen: check.

Messer, die Winkler fixed-blade, kein unzuverlässiges Stellmesser-Spielzeug für Amateure: check.

Bolzenschneider bis 1.5 cm: check.

Gerber Flik Universalwerkzeug, Verbandszeug, zwei Aderpressen, Wasser, Nachos: check.

Beretta, Schalldämpfer, 45 Schuss, M4 Karabiner, 30 Schuss mit Ersatzmagazin: check.

Die Maschinenpistole in seiner Hand lähmte ihn für einen Augenblick. Das Brummen des Humvees in den Ohren, den Staub des ausgetrockneten Flussbetts in der Nase, erwartet er jeden Moment den Blitz und den dumpfen Knall der Tellermine. Brennende Trümmer des vorderen Jeeps regnen auf die Grupe herab. Zwei Kameraden fallen. Einer hat Glück. Er verliert nur die Beine.

Seine Hand zitterte. Er ließ den Karabiner in die Tasche fallen und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Unbemerkt, wie er gekommen war, verließ er das Basislager zum letzten Mal. Er ließ das Boot eine Weile den Fluss hinunter treiben, bevor er den Motor startete. Ohne einen Blick zurück verschwand er in der Dunkelheit.

Berlin

Eine zweite, senkrechte Falte bildete sich auf Staatsanwältin Winters Stirn.

»Was versprechen Sie sich davon? Uns sind die Hände gebunden. Beim Grenzzaun des amerikanischen Lazaretts hört unsere Staatsmacht auf. Das ist Ihnen doch bewusst?«

Chris zuckte mit den Achseln. »Der Termin bei Dr. Fisher steht fest. Er hat vor einem Monat das vielleicht letzte Antibiotikarezept für unser Mordopfer ausgestellt. Grund genug, mich mit dem Herrn zu unterhalten, finden Sie nicht? Ich brauche nicht zu betonen, dass Dr. Fisher bisher die einzige Verbindung zu Eddie Jones ist, die uns vielleicht Hinweise auf den Täter liefert.«

Die Staatsanwältin wandte sich kopfschüttelnd ab. »Wenn Sie das vermasseln, kann Ihnen auch Herr Oberstaatsanwalt Dr. Richter nicht mehr helfen.«

Daher stammte also Winters latente Abneigung ihr gegenüber. Der einflussreiche Oberstaatsanwalt Dr. Richter hieß bei ihr Hendrik, seit er mehr oder weniger durch Zufall ihr Trauzeuge geworden war. Falls die Winter glaubte, sie spiele diese Karte … Sie spürte, wie die Adern an den Schläfen anschwollen, doch es blieb keine Zeit, sich angemessen zu ärgern. Jamie rief an, und er klang noch aufgeregter.

»Du musst sofort herkommen! Es ist – for God‘s sake – es ist einfach unglaublich.«

»Was ist geschehen? Bist du O. K.?«

»Du musst herkommen. Das musst du sehen!«

»Verrätst du mir wenigstens, wohin ich kommen soll?«

Aufgrund der Baustellen entschied sie sich für die S-Bahn. Es dauerte dennoch geschlagene fünfzig Minuten, bis sie das Büro im Robert-Koch-Institut betrat. Jamie und sein Kollege, der Immunologe Arne Schulz, empfingen sie mit versteinerten Gesichtern.

»Mein Gott, du siehst aus, als wäre dein Auflauf kollabiert.«

»Chris, das ist nicht lustig.«

»Können wir bitte zur Sache kommen?«, warf Dr. Schulz ein. Er wandte sich an sie. »Ihre Probe aus der Pathologie enthält gram-negative Bakterien.«

»Ich weiß.«

»Was sie allerdings nicht wissen: Es handelt sich um einen bisher unbekannten Stamm von Clostridium difficile.«

Er breitete eine Reihe Mikroskop-Aufnahmen vor ihr aus und erklärte:

»Die obere Serie zeigt die normale Reaktion von C. difficile auf verschiedene Antibiotika. Unten sehen Sie die Reaktion der Mutation aus Ihrer Probe. Fällt Ihnen etwas auf?«

Es war eine rhetorische Frage. Die Bakterien aus Eddie Jones‘ Magen reagierten auf kein einziges getestetes Antibiotikum.

»Resistent«, murmelte sie, nicht vollkommen überrascht.

Schulz nickte. »Wir wollten es genau wissen, haben sämtliche Typen von Antibiotika überprüft, stets mit dem gleichen Resultat. Die Keime in Ihrer Probe sind nicht einfach resistent. Sie sind total resistent gegen alle Antibiotika. Wir nennen solche Pathogene deshalb ›TDR‹, totally drug resistant. Diese Bakterien sind absolut tödlich wie die Pest im 14. Jahrhundert, und es gibt kein Gegenmittel – wie im 14. Jahrhundert.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Stille lastete bleischwer auf ihr. Eddie Jones als Träger einer neuen Pest, gegen die das ganze Arsenal moderner Medizin nichts ausrichten konnte.

»Wie kann so etwas entstehen«, murmelte sie schließlich tonlos, »eine solche Mutation, meine ich?«

»Bakterien sind anpassungsfähiger als der Mensch. Wir wissen heute, dass zu sorglose, häufige Behandlung mit Antibiotika resistente Keime erzeugen kann. Es sind Fälle bekannt, wo beispielsweise eine Lungenentzündung mit viel Antibiotika erfolgreich bekämpft wurde, mit dem Effekt, dass sich dadurch resistente Bakterien im Magen des Patienten ungehindert ausbreiten konnten. Wenn solche Fälle in Kliniken auftreten, gilt höchste Alarmstufe. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn sich diese Keime ausbreiten. Wir könnten nur noch zusehen, wie die Leute sterben.«

»Es gibt ernsthafte Studien der Weltgesundheitsorganisation, die bereits das Ende von Antibiotika mit allen Konsequenzen heraufbeschwören«, fügte Jamie mit Grabesstimme hinzu.

»Ist das nicht ein wenig übertrieben?«

Schulz schüttelte den Kopf. »Tatsache ist, dass kein Antibiotikum gegen solche Bakterien wirkt. ›TDR‹ Keime verhalten sich so, als wäre Penicillin nie entdeckt worden. Um ehrlich zu sein: Die Welt wartet auf einen neuen Alexander Fleming.«

»Gibt es denn keine Alternativen zu Antibiotika?«

»Bis jetzt nicht. Alle Ansätze stecken noch in den Kinderschuhen. Die Pharmaindustrie hat zu lange geschlafen. Antibiotika-Forschung lohnt sich einfach nicht.«

»Bis es zu spät ist.«

»Fünf vor zwölf ist jedenfalls vorbei«, stimmte Schulz zu mit einem Blick auf seine Versuchsreihe. »Spät, aber immerhin, hat man jetzt begonnen, sich mit der Ursache der Resistenz zu befassen. PPMOs sind eine mögliche Lösung. Das sind Peptide, die gezielt die Gene in der Bakterie stilllegen, die für die Resistenz verantwortlich sind. Antimikrobielle Peptide, AMPs, sind eine andere Variante. Die greifen die Zellmembran der resistenten Bakterien an und zerstören sie.«

»Das hört sich alles ziemlich vage an.«

»Ist es auch«, bestätigte Jamie, »leider.«

Chris schwieg, in Gedanken versunken. Ihr Fall war gerade um eine Dimension komplizierter geworden. Mit C. difficile trat ein zweiter Killer auf den Plan, still und unsichtbar, tödlicher als jeder Scharfschütze. Schulz unterbrach ihren Gedankengang:

»Sie müssen mir verraten, woher diese Keime stammen, Kommissarin. Unser Institut ist verpflichtet …«

Sie wehrte ab. »Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich könnte, glauben Sie mir. Wir tappen selbst im Dunkeln. Bis vor einer Stunde wusste ich noch nicht, dass resistente Bakterien in unserm Fall eine Rolle spielen.«

Das US-Lazarett in Landstuhl erwähnte sie nicht, obwohl es nun ganz oben auf ihrer Liste stand.

Kaiserslautern

Alois Jung setzte die Tasse wieder ab, ohne zu trinken. Der kalte Kaffee schmeckte zu sehr nach abgestandener Milch. Der Junge war immer noch nicht da.

»Ludwig, komm bitte herunter. Es ist Zeit für die Schule, und ich muss zur Arbeit.«

Es blieb ruhig, abgesehen vom morgendlichen Lärm der Nachbarskinder im Reihenhaus. Verdächtig ruhig.

»Ludwig?«

Der Junge war zehn, hochintelligent, wie die Lehrer sagten, und brauchte pausenlose Fürsorge wie ein Säugling. Manchmal zweifelte er, ob Ludwig je so etwas wie Selbstständigkeit erlangen würde. Viertel vor acht, höchste Zeit. Er nahm den Sportteil aus der Zeitung, wie an jedem Werktag, und schob ihn in die Innentasche des Arbeitskittels. Auf halbem Weg zur Treppe blieb er erschrocken stehen. Ludwig rief nach seiner Mutter. Panik lag in seiner Stimme, als fürchte er, Mama für immer zu verlieren. Er hämmerte mit den Fäusten an eine Tür. Die Rufe steigerten sich zum zornigen Geschrei. Alois schüttelte den Kopf. Der Junge konnte schnell ausfällig werden. Das würde sich wohl auch nicht so bald ändern. Seufzend stieg er die Treppe hoch.

»Ludwig, beruhige dich. Was ist los?«

Der Knabe stand vor dem Bad. Ohne ihn zu beachten, schrie er weiter nach Mama und schlug mit den Fäusten auf die Tür ein. Alois zwang sich, ruhig zu bleiben. Darin hatte er Übung nach all den Jahren.

»Ist die Mama da drin? Kati?«

Er wollte nachsehen, doch Ludwig versperrte ihm den Weg, prügelte jetzt auf ihn ein und schrie weiter.

»Ist ja gut, Ludwig«, versuchte er zu beruhigen.

Gleichzeitig begann sein Herz schneller zu schlagen. Nichts war gut, wenn Kati im Bad saß und nicht antwortete. Warum sollte sie sich einschließen? Seine Gedanken überschlugen sich. Er schob Ludwig unsanft zur Seite und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen, doch etwas blockierte sie. Er drückte kräftiger dagegen.

»Kati?«

Angst schwang jetzt in seiner Stimme mit. Er versuchte nicht, sie zu verbergen. Durch den Spalt sah er Katis Füße. Sie lag am Boden. Ihr Körper war es, der die Tür blockierte. Er sah und hörte Ludwig nicht mehr, hatte nur noch Augen für seine Frau, die krumm und reglos am Boden lag, als hätte sie ein Gaul in den Magen getreten.

»Kati, um Gottes willen …«

Seine Stimme versagte. Die Knie gaben nach. Er sank neben ihr zu Boden, bettete ihren Kopf in den Schoß und streichelte ihr Haar, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Wimmern wie aus weiter Ferne löste die Schockstarre. Sie regte sich, versuchte sich aufzurichten und zuckte mit einem spitzen Schrei zusammen. Ludwig warf sich weinend auf seine Mutter. Sie versuchte, zu sprechen, aber selbst die Bewegung der Lippen löste neue Krämpfe aus. Alois‘ Hände zitterten. Er drückte seiner Kati einen Kuss auf die fieberheiße Stirn und presste ein paar heisere Worte heraus, von denen nur »Krankenwagen« zu verstehen war. Sie schien nicht verletzt zu sein. Jedenfalls sah er kein Blut. Ihr Magen quälte sie bis zur Bewusstlosigkeit. Seine eigenen Därme begannen sich zu verknoten, während er die Treppe hinunter stolperte zum Tisch, auf dem das Handy lag.

Kati hatte das Bewusstsein wieder verloren, als er ins Bad zurückkehrte. Die zehn Minuten bis zum Eintreffen des Notarztes genügten nicht, um Ludwig zu beruhigen. Er glaubte, Mama sei gestorben und überhäufte ihn in seiner Not mit Vorwürfen und wüsten Beschimpfungen. Alois ließ es wie üblich an sich abprallen. Er hörte ohnehin nicht richtig zu. Seine Gedanken waren bei Kati.

»Ins LRMC nach Landstuhl«, wies er den Fahrer des Rettungswagens an.

Kati arbeitete dort seit Jahren als Nurse, er als Techniker. Das US-Lazarett, eine Stadt am Rande der Stadt, war ihre zweite Heimat geworden. Katis Vertrauensärztin wirkte schon beinahe so lang im Medical Center wie sie als Schwester.

Ludwig wich auf dem Weg zum Lazarett nicht von Katis Seite. Daran änderte auch die Beruhigungsspritze nichts. »Wahrscheinlich akute Darmentzündung«, war die vorläufige Diagnose, die er von den Ärzten hörte. Sie brachten seine Frau auf die Intensivstation.

»Mama braucht jetzt absolute Ruhe, damit sie schnell wieder gesund wird«, versuchte er dem Knaben zu erklären.

Ludwig hörte ihm nicht zu. Aufgeregt lief er vor der Scheibe auf und ab, die ihn vom Krankenbett trennte. Hin und wieder blieb er stehen, drückte die Nase platt und klatschte die flache Hand aufs Glas, um ihr zu zeigen, dass er für sie da war. Kati schlief im Halbdunkel, von starken Schmerzmitteln ruhiggestellt. Alois konnte sie nicht fragen, wie in aller Welt er die nächsten Stunden der Ungewissheit mit dem verängstigten Ludwig an der Seite überstehen sollte.

Landstuhl

Der Offizier in khakifarbener Uniform der US-Navy fiel niemandem auf beim Betreten des Medical Centers. Routiniert erwiderte er den Gruß eines weiblichen Sergeanten. Er kannte sich aus im Lazarett, denn kaum etwas hatte sich verändert seit seinem letzten Aufenthalt – außer dem vietnamesischen Gesicht am Empfang.

»Wo finde ich Dr. Fisher, 1st Lieutenant Matt Fisher?«

Die schlanken Finger der Soldatin huschten über die Tasten des Computers.

»Haus 12, Sir«, sagte sie mit verbindlichem Lächeln. »Wenn Sie die Straße beim Eingang links hinauffahren …«

»Danke, ich weiß Bescheid.«

Auch das war gleich geblieben. Haus 12, das Haus der Pest. Dort isolierte man die armen Teufel mit ansteckenden Krankheiten, damals wie heute. Auf dem Weg zum Haus 12 stellte er fest, dass sich doch etwas geändert hatte. Kameras überwachten jetzt rundum jeden Winkel des Geländes. Die Feststellung war ihm nur ein verächtliches Schmunzeln wert. Kein Mensch begegnete ihm auf dem Korridor. Ein Rollstuhl stand neben einer offenen Zimmertür. Eine Schwester war dabei, das Zimmer auszuräumen. Wie ein Geist stand er plötzlich hinter ihr.

»Wo finde ich das Büro von Dr. Fisher?«

Sie wirbelte herum. Ein erstickter Schrei entfuhr ihr. Schon halb abgewandt, hörte er sie stammeln:

»Das – das letzte Büro links, Sir.«

Matt Fisher saß am Schreibtisch und musterte ihn über den Rand der Brille hinweg.

»Noch nichts von Anklopfen gehört , Lieutenant?«

Er schloss die Tür und riegelte ab.

»Verdammt, was soll das?«

»Wir müssen reden.«

Fisher war aufgesprungen. Die Hände auf die Tischplatte gestützt, deckte er ihn mit giftigen Blicken ein.

»Wer sind Sie, was erlauben Sie sich?« Ohne die Antwort abzuwarten, wies er ihm die Tür. »Verschwinden Sie aus meinem Büro, sofort!«

Er trat näher an den Schreibtisch.

»Eddie Jones hat Ihnen vertraut.«

Er sah die Wahrheit in Fishers Augen. Aus seinem Mund kam eine Lüge:

»Eddie Jones – der Name sagt mir nichts. Gehen Sie jetzt.«

Wie aus dem Nichts lag plötzlich eine leere Schachtel Neomycin auf dem Schreibtisch.

»Sie haben ihm diese Scheiß Pillen verschrieben und ihn elend verrecken lassen. Eddie Jones war ein guter Mann. Warum haben sie ihm nicht geholfen?«

Fisher sank mit einem Seufzer in seinen Sessel.

»Ich werde sicher nicht mit Ihnen über meine Patienten sprechen, Lieutenant, wer immer Sie sind.«

»Eddie Jones war also Ihr Patient. Ich frage Sie noch einmal: Wieso haben Sie ihm nicht geholfen?«

Fisher schielte aufs Telefon.

»Lassen Sie das! Sie sagen mir jetzt, warum sie Eddies Behandlung abgebrochen haben.«

Fishers Augen hafteten auf der Medikamentenschachtel.

»Wieso sollte ich das tun?«

Er beugte sich vor, bis er Fishers Atem riechen konnte, und sagte ruhig:

»Weil Sie keine Schmerzen ertragen, stimmt‘s?«

Der Arzt wich erschrocken zurück. Die Erinnerung an den Patienten Jones war plötzlich wieder da.

»Ich habe die Behandlung nicht abgebrochen«, murmelte er. »Es gab keine Behandlung. Mr. Jones’ Krankheit ist unheilbar.«

»Und verdammt ansteckend«, ergänzte er wütend. »Ich will die Namen und Adressen aller andern Patienten mit Eddies Problem, die Sie im Stich gelassen haben.«

»Mir reicht‘s.«

Fisher griff zum Telefon. Er hatte ihn im Schwitzkasten, bevor seine Hand den Hörer berührte.

»Die Namen!«, zischte er ihm ins Ohr.

Ein ängstliches Stöhnen war die Antwort. Fishers Blick wanderte zu einem Schrank gegenüber dem Schreibtisch.

»Finde ich die Namen dort?«

Es klopfte. Jemand wollte eintreten. Ein Ruck ging durch den Körper des Arztes. Er bäumte sich auf, versuchte, um Hilfe zu rufen. Ein kurzer Druck mit dem Arm auf die Gurgel löste das Problem. Die andere Hand riss den Kopf des Arztes herum, bis es knackte. Dieser Quacksalber würde nie mehr einen Kameraden im Stich lassen. Jemand rief Fishers Namen, als er den toten Körper hinter dem Schreibtisch zu Boden gleiten ließ, dann war Ruhe. Er kurbelte die Jalousie herunter und begann zu suchen. Fishers Telefon schrillte. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, ebenso wenig von den lauter werdenden Stimmen auf dem Flur. Er war hier, um ein Versprechen einzulösen. Diese Ehrensache würde er mit aller Gründlichkeit zu Ende bringen, wie er es stets getan hatte.

Die Krankenblätter im Aktenschrank sprachen keine ihm bekannte Sprache. Dennoch fand er bald, wonach er suchte. Die Fälle, die ihn interessierten, lagen etwas abseits auf einem gesonderten Stapel. Fisher hatte genau gewusst, was mit seinen Patienten los war. Er nahm die Akten heraus und verschloss den Schrank wieder. Zeit für den geordneten Rückzug. Er streifte die Arbeitskleidung des Toten über und lauschte. Im Augenblick schien sich niemand für Dr. Fisher zu interessieren. Der Zeitpunkt war günstig. Schon fast an der Tür, kehrte er noch einmal zum Schreibtisch zurück. Ein Krankenblatt lag offen neben dem Telefon. Der Name der Patientin weckte alte Erinnerungen: Kati Jung-Gruber. Die Frau war erst am Vortag eingeliefert worden. Er verstand nicht viel vom medizinischen Kauderwelsch, aber genug, um die Parallelen zu Eddie zu sehen. Er packte die Akte zu den andern, wartete, bis die Schritte im Flur verhallten, und verließ das Zimmer.

Kati lag in ICU, der Intensive Care Unit, ein Umweg von wenigen Schritten. Er fand die Station verlassen vor. Nur die Patientin lag reglos im Bett. Er hätte sie nicht wiedererkannt ohne das Namensschild. Weiß wie das Laken, schien sie tief zu schlafen. Sie atmete flach aber selbstständig. Bei jedem Atemzug hörte er ein leises Rasseln. Es war sinnlos, sie aufzuwecken. In diesem Zustand würde sie keine Fragen beantworten.

Er spürte einen Luftzug im Rücken. Seine Nackenhaare sträubten sich. Jeden Muskel angespannt, drehte er sich langsam um. Ein Techniker stand unter der Tür.

»Wie geht es Kati, Doc?«, flüsterte er.

Alois Jung stand auf der ID an seiner Brusttasche, Katis Ehemann, vermutete er. Laute Rufe und das Geräusch schneller Schritte drangen vom Flur herein. Man hatte Fishers Leiche entdeckt, Grund genug, seine Rolle als Arzt noch etwas länger zu spielen.

»Schließen Sie bitte die Tür«, sagte er zum Techniker. »Ihre Frau braucht absolute Ruhe. Ihr Zustand ist unverändert aber stabil. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Sie haben gut reden, Doc.«

Der Deutsche sprach ein nahezu perfektes Englisch. Selbst der amerikanische Akzent fehlte nicht. Er trat ans Bett und begann, Katis Wangen zu streicheln.

»Zehn Jahre hast du hier gearbeitet«, murmelte er, »ohne auch nur einmal krank zu werden, und jetzt das … Wie ist so etwas möglich?«

Auf den günstigen Augenblick wartend, beobachtete der falsche Arzt die Vorgänge draußen unauffällig durch die getönte Scheibe.

»Doc – glauben Sie, Kati habe sich hier im Lazarett angesteckt?«

»Wir wissen es nicht. Die Untersuchungen laufen noch.«

Der Techniker ergriff Katis Hand.

»Das hängt sicher wieder mit dieser Schweinerei in München zusammen. Warum hast du mir nie erzählt, was damals passiert ist?«

»Was meinen Sie damit?«

»Die Münchner Klinik, wo sie vorher gearbeitet hat, da muss etwas Schlimmes geschehen sein. Sie wollte nie darüber sprechen, aber sie hat Albträume gehabt, immer wieder.«

»Die Münchner Klinik …«, wiederholte er nachdenklich.

Die Lage draußen hatte sich etwas beruhigt. Er verabschiedete sich eilends und verließ die Intensivstation. Wie erwartet, beachtete niemand den unbekannten Arzt, der mit dem Aktenbündel unter dem Arm in Riesenschritten dem Ausgang zustrebte. Auf der Höhe des Rollstuhls, der noch immer verlassen im Flur stand, änderte sich die Lage schlagartig. Ein Trupp der Security in Kampfanzügen, Karabiner im Anschlag, stürmte ins Haus. Geistesgegenwärtig ergriff er den Rollstuhl, stieß die Tür zum leeren Zimmer auf und gab vor, das Gefährt hineinzuschieben. Die Männer rannten hinter seinem Rücken vorbei. Kurz danach verließ er das Haus und das Lazarett, ohne behelligt zu werden. LRMC: check.

Der zweite Killer

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