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Kapitel 1

Wien

»Die üblichen Spinner«, sagte jemand hinter ihnen. »Die hätten damals auch gegen die Erfindung des Rads protestiert.«

Jamie blieb abrupt stehen. Chris verlor um ein Haar das labile Gleichgewicht auf den High Heels. Ihr Kommentar war noch nicht spruchreif, da lagen sich die beiden Männer lachend in den Armen.

»Nick, Gosh! Alter Schwede! Was hast du hier verloren?«

»Ich bin auch Mediziner, schon vergessen?«, lachte der Fremde.

Nicks Begleiterin, ebenso verwundert über die ungestüme Begrüßung, wechselte einen amüsierten Blick mit ihr. Die Männer schien nicht im geringsten zu stören, dass sich das Volk am Eingang zum Billrothhaus am Schottentor zu stauen begann. Die Transparente rückten näher, die Schlachtrufe der Demonstranten wurden lauter:

»Gentechnik Nein!«, »Pfuscht nicht an unseren Genen herum!«, »Spielt nicht Gott!«

Eine Gruppe junger Leute, die sich vom Fußballstadion hierher verirrt haben mussten, begann dröhnend auf ihren Tröten zu blasen. Kontraproduktiv, dachte sie. Niemand verstand mehr, was die aufgebrachte Menge skandierte.

Die beiden Männer hatten vergessen, was um sie herum geschah. Nicks Begleiterin, ungefähr in ihrem Alter, groß und doch zierlich, als schwebte sie, prominente Nase im Gesicht aus ›Tausendundeine Nacht‹, zog sie ungeniert aus mit ihren dunklen Augen. Ohne von ihr abzulassen, klopfte sie Nick auf die Schulter.

»Willst du uns nicht vorstellen?«

Jamie kehrte in die Gegenwart zurück.

»Ich denke, das sollten wir besser drinnen im Foyer tun.«

Seine Bemerkung brach den Bann.

»Ausgezeichnete Idee«, sagte sie aufatmend wie nach einer unblutig endenden Festnahme.

Über dem Eingang prangte ein Transparent, das die Kongressteilnehmer mit goldenen Lettern in der internationalen Sprache der Wissenschaft willkommen hieß: Welcome to the 1st Vienna Congress on Medical Genetics. Einige Demonstranten verstanden das als Einladung, worauf die Wiener Polizei bewies, dass auch sie im Zeitalter der Globalisierung angekommen war und die ungebetenen Gäste mit roher Gewalt zurückdrängte.

Namensschild am Jackett, Sektglas in der Hand, stellte Nick sich und seine Begleiterin vor. Dr. Niklaus von Matt, stand auf seinem Schild. Ein Mediziner wie ihr Ehemann Jamie, was sonst.

»Diese bezaubernde Dame ist Dr. Mona Saatchi, die wichtigste Stütze meiner Klinik«, sagte er stolz, als hätte er sie erschaffen.

Sein Gesicht strahlte dabei noch heller, der Mund lächelte sein ansteckendes Lächeln. Er würde das freundliche Gesicht selbst dann nicht verlieren, wenn sich sein Fallschirm nicht öffnete, schätzte sie.

»Mona ist ein Geschenk des Himmels«, fügte er hinzu. »Manchmal zweifle ich, ob es mich noch braucht im OP.«

»Habe ich mich auch schon gefragt«, grinste Mona. »Dr. Christiane Roberts«, las sie laut von ihrem Namensschild.

Sie gab ihr die Hand und hielt sie fest, bis Jamie einfiel, auch sprechen zu können.

»Das ist Chris, meine bessere Hälfte.«

»Jamie Roberts, der Einsiedler, hat geheiratet!«, platzte Nick heraus. »Nicht zu fassen.« Zu ihr gewandt, murmelte er. »Wie konnten Sie nur auf den hereinfallen?«

»Er kocht sehr gut.«

»Das erklärt natürlich alles.«

Das verbale Techtelmechtel endete abrupt mit dem Aufruf an die verehrten Referenten, sich bitte in der kleinen Bibliothek zur Besprechung einzufinden.

»Das gilt wohl auch für mich«, seufzte Jamie. »Darf ich euch allein lassen?«

»Gerne«, antwortete Mona etwas zu schnell.

Zu dritt suchten sie freie Plätze in den vorderen Reihen des Festsaals. Hin- und hergerissen zwischen Fluchtreflex und dem Verlangen, mehr über die freche Mona zu erfahren, setzte Chris sich neben sie.

»Doktor von Matt!«

Nick, noch im Gang stehend, drehte sich überrascht um.

»Ja – kennen wir uns?«

»Und ob!«

Im nächsten Atemzug hatte der Unbekannte Nick im Würgegriff. Seine Pistole zielte auf die Schläfe des Arztes.

»Sie tun jetzt genau, was ich sage«, zischte ihm der Angreifer ins Ohr.

Allmählich begriffen die Umstehenden, was sich abspielte. Mona sprang entsetzt auf.

»Ruhig bleiben. Setzen Sie sich«, befahl Chris.

Sie gehorchte mechanisch, mit offenem Mund auf die Waffe starrend, als wäre die auf sie gerichtet. Wie durch eine Explosion in Zeitlupe stoben die Teilnehmer auseinander. Einzelne Schreckensrufe, gefolgt von spitzen Schreien trieben auch die weiter entfernt Sitzenden von den Stühlen. Im Nu gab es kein Durchkommen mehr am Ausgang. Ein Schuss peitschte durch den Saal. Jede Bewegung erstarrte. Totenstille.

»Niemand verlässt den Saal!«, rief der Unbekannte. »Alle mal herhören. Dr. von Matt hat euch etwas zu berichten.«

Während sie die Polizei heimlich auf dem Handy alarmierte, wie viele andere wohl auch, beobachtete Chris, wie der Angreifer Nick nach vorn vor ein Mikrofon zerrte.

»Einschalten!«, befahl er.

Zwei Uniformierte tauchten auf der Galerie auf. Ein weiterer Schuss vertrieb sie augenblicklich. Chris identifizierte sich leise als Kommissarin des deutschen Bundeskriminalamts, schilderte kurz die Lage und ließ die Leitung offen, damit die Kollegen in der Wiener Einsatzzentrale mithörten, was im Billrothhaus vor sich ging. Eingreifen kam nicht infrage. Der Unbekannte schien zu allem entschlossen. In seinem Magazin befanden sich noch sechs weitere Patronen, falls sie sich nicht täuschte – und ihre Glock lag im Hotelsafe. Mona regte sich nicht mehr. Zur Salzsäule erstarrt, als hätte sie aufgehört zu atmen, fixierte sie die Waffe an Nicks Schläfe.

Eine Rückkoppelung gab das Zeichen, dass das Mikrofon eingeschaltet war.

»Wer sind Sie – was wollen Sie?«, fragte Nick scheinbar ruhig.

»Schnauze!«

Kein Wiener.

»Das Fernsehen soll das aufzeichnen. Ich will, dass dies in alle Welt verbreitet wird, um die Leute zu warnen. Dr. von Matt wird hier und jetzt seine Seele erleichtern und beichten. In zwanzig Minuten will ich einen Kameramann des ORF sehen.«

Chris gelang es, ein Foto zu schießen. Der Geiselnehmer befand sich allerdings zu weit weg für eine gute Aufnahme. Vielleicht könnten die Wiener Techniker trotzdem ein Porträt herausarbeiten, um ihn zu identifizieren.

»Kennen Sie den Mann?«, fragte sie Mona.

Die Scheintote reagierte nicht. Alle Augen richteten sich auf den Herrn im Maßanzug, der sich dem Geiselnehmer zu nähern wagte. Sie verstand nicht, was er sagte. Die Antwort tönte umso deutlicher aus den Lautsprechern:

»Achtzehn Minuten!«

Der Anzugtyp, einer der Organisatoren, wie sie vermutete, wich zurück, Telefon am Ohr. Das rote Gesicht glänzte vom Schweiß. Am Ausgang des Festsaals entstand Bewegung.

»Niemand verlässt den Saal!«

Ein Schuss Richtung Tür versetzte auch Chris für kurze Zeit in Schockstarre. Noch fünf Schuss. Niemand unternahm einen weiteren Fluchtversuch.

»Nur der Kameramann wird eingelassen. Fünfzehn Minuten!«

In diesem Augenblick erkannte sie die Ausweglosigkeit der Lage.

»Das wird tödlich enden«, sprach sie leise ins Handy.

Die Zeit gefror. Die Stille im Saal erschwerte das Atmen.

»Fünf Minuten!«

Kurz danach verkündete eine laute, feste Stimme an der Tür:

»Der Herr vom ORF ist jetzt da.«

»Herkommen, langsam! Ich will die Hände sehen!«

Ihr geschultes Auge bemerkte die Bewegung hinter der Brüstung oben auf der Galerie und sie wusste: Ihre Bemerkung war bei den Einsatzkräften angekommen. Der Geiselnehmer konnte kein abgebrühter Profi sein, eher ein Verzweifelter, der aus seiner Sicht noch etwas richtigstellen musste. Dieser Auftritt würde sein letzter sein. Er wusste es und sie und die Kollegen des Wiener SEK auf der Galerie ebenso.

Der Kameramann brachte sich in Stellung.

»Kann‘s endlich losgehen?«

»Augenblick.«

Der Kameramann änderte die Position, um den Geiselnehmer besser ins Bild zu bekommen. Dabei verrutschte seine Weste. Chris sah das Schulterhalfter im selben Augenblick wie der Angreifer. Ihr stockte der Atem.

»Ein Bulle!«

Die Hand mit der Pistole schnellte in Richtung des falschen Kameramannes. Der dumpfe Knall aus der Waffe des Scharfschützen auf der Galerie ging beinahe unter im kollektiven Aufschrei. Der Geiselnehmer sank zu Boden. Im nächsten Atemzug umstellten Männer des Einsatzkommandos Täter und Opfer. Notarzt und Sanitäter eilten herbei.

Allmählich kehrte Leben in den Festsaal zurück. Chris sprang auf, wollte zu Nick. Mona blieb sitzen. Sie zitterte am ganzen Leibe, stand offensichtlich unter Schock. Chris ließ sich wieder in den Sessel fallen, legte den Arm um sie und zog sie sanft zu sich.

»Es ist vorbei«, flüsterte sie.

Jamie stürzte herbei.

»Mein Gott, seid ihr O. K.? Die haben uns nicht in den Saal gelassen. Was ist – wo ist Nick?«

Der Name ihres Kollegen belebte Mona. Sie erhob sich.

»Ich muss mit ihm sprechen.«

Chris hielt sie zurück. »Ich glaube, das geht jetzt nicht. Die Polizei braucht seine Zeugenaussage.«

Sie ließ sich nicht aufhalten.

»Verwirrt«, murmelte Jamie.

»Der Schock. Ich sollte sie jetzt nicht allein lassen.« Sie drückte und küsste ihn. »Die Wiener Kollegen werden auch mit mir sprechen wollen. Wir sehen uns im Hotel.«

Abends stand Chris ratlos vor dem spärlich bestückten Kleiderschrank im Hotelzimmer.

»Muss es unbedingt das nobelste Lokal sein?«, fragte sie Jamie.

Er löste den Blick vom Panorama des abendlichen Museumsquartiers.

»Vor allem soll es Wiens beste Küche bieten – und da bin ich heikel. Das weißt du.«

»Ich habe trotzdem nichts anzuziehen.«

Er lachte. »Diesen Satz wollte ich schon immer aus deinem Mund hören, Frau Hauptkommissarin.«

»Mach dich nur lustig über mich. Ich hoffe, dein Fisch wird zäh wie Leder und versalzen.«

»Ich esse doch keinen Stockfisch.«

Ihre Laune besserte sich ein wenig beim Gedanken ans Dinner mit Mona, um sogleich wieder in Verzweiflung umzuschlagen. Wie das arme Mädel aus der Vorstadt würde sie neben der schönen Orientalin wirken. Was war los mit ihr? Sie kannte sich selbst nicht mehr. Durch die Begegnung mit Mona war sie zur hohlen Tussi mutiert, nur auf ihr Äußeres bedacht und nie damit zufrieden. Immerhin ein ganz neues Gefühl. Sie wandte sich wieder dem Schrank zu.

»Also was jetzt?«

Jamies Handy unterbrach die fruchtlose Konversation. Sie griff blind in den Schrank. Das Blaue mit dem Spitzenshirt war eigentlich fürs romantische Picknick auf dem Riesenrad vorgesehen, aber warum nicht? Die Jeans wäre ohnehin deplatziert im Steirereck.

»Das war Nick«, sagte Jamie.

»Abgesagt? Gut …«

»Blödsinn. Er hat den Namen des Geiselnehmers erfahren. Ein gewisser Oskar Schäfer aus Berlin-Wittenau. Er sagt, er kenne den Mann nicht.«

»Glaubst du ihm?«

Er sah sie mit demselben betroffenen Gesichtsausdruck an wie nach ihrem ersten Kuss.

»Was denkst du denn? Nick ist mein Freund.«

Mit dem du über zehn Jahre keinen Kontakt hattest, dachte sie.

»Seltsam«, sagte sie nur und begann, sich umzuziehen.

Der Abend würde genügend Gelegenheit bieten, sich darüber zu unterhalten. Im Übrigen war sie in Wien im Urlaub. Sie wartete, bis Jamie sich ins Bad zurückzog, dann rief sie Berlin an.

Kollege Haase, rechte Hand und eine Art erweitertes Hirn für sie, antwortete sofort. Er saß wie immer auch an diesem Freitagabend an seinem Schreibtisch in Treptow – oder stand an der Kaffeemaschine.

»Ich dachte, Sie machten Urlaub.«

»Dachte ich auch bis vor ein paar Stunden. Sie haben das Theater in Wien sicher mitbekommen …«

»Die Geiselnahme am Kongress. Waren Sie da? Sind Sie …«

»Alles in Ordnung«, wehrte sie ab. »Ja, ich war dabei. Mein Mann soll ein Referat halten, aber das tut nichts zur Sache. Ich habe eine Bitte.«

Den Rest flüsterte sie hastig ins Telefon, denn Jamie kehrte vom Bad zurück. Er hörte zwar nicht, was sie sagte, durchschaute sie aber trotzdem.

»Schon wieder an der Arbeit, Frau Kommissarin?«, fragte er lächelnd. »Ich empfehle dringend, das Handy mit der Dienstwaffe im Safe einzuschließen für heute Abend.«

»Hättest du wohl gern. Ich überlege mir, ob ich die Glock nicht auch mitnehmen soll – bei dem Gesindel, das in dieser Stadt herumläuft.«

Das betroffene Gesicht!

»War ein Scherz. Das Kleid passt sowieso nicht zur Pistole.«

Der Empfang im Steirereck entsprach den Preisen auf der Karte. Seit der Tragödie im Billrothhaus gehörte Nick zum exklusiven Kreis prominenter Eintagsfliegen. Das war der Grund, weshalb es wie durch ein Wunder einen freien Tisch für sie gab.

»Sie sehen umwerfend aus«, stellte Mona zur Begrüßung fest.

Was antworten auf dieses Kompliment aus dem Mund der Frau, die alle Blicke im Lokal auf sich zog? Am besten gar nichts. Stattdessen fragte sie trotz Monas strahlender Erscheinung besorgt:

»Besser?«

»Ich versuche, den Albtraum zu verdrängen. Hauptsache, Nick ist O. K.«

Kaum hatte er sich gesetzt und am Wasserglas genippt, sagte Nick düster:

»Der Mann ist gestorben.«

Alle schwiegen betroffen, obwohl die Nachricht niemanden überraschte. Nick sprach als Erster weiter.

»Ich weiß, ihr fragt euch, wieso der Mann ausgerechnet mich angegriffen hat«, seufzte er. »Ich kann nur wiederholen, was ich Jamie schon gesagt habe. Ich kenne – kannte den Mann nicht, habe ihn nie gesehen, nie von ihm gehört. Das Ganze ist ein verdammtes Rätsel.«

Es klang überzeugend. Chris war geneigt, ihm die Ahnungslosigkeit abzukaufen. Andererseits musste der arme Kerl einen guten Grund gehabt haben, Nick vor versammelten Kollegen anzugreifen. Mit Verwirrung allein war sein Auftritt in Festsaal kaum zu erklären. Der Täter konnte kein gewöhnlicher Spinner gewesen sein wie die grölenden Demonstranten, die allein beim Wort Genetik ausflippten.

Der Chef de Service nahm die Bestellung auf, gefolgt vom begeisterten Monolog des Sommeliers über die exklusiven Tropfen, die zu den nicht weniger extravaganten Gerichten passten. Es würde wohl das teuerste Essen werden, das Nick je bezahlt hatte.

»Ich dachte, Sie trinken keinen Alkohol?«, wunderte sie sich, als Mona fröhlich mit dem Dom Pérignon Rosé Vintage ›Tête de Cuvée‹ anstieß.

»Weil ich aus dem Iran stamme?«

»Der Islam …«

Unter Freunden soll man nie über Religion und Politik sprechen. An diesen Grundsatz hatte sie sich stets gehalten, aber jetzt war es raus. Mona erledigte das Thema mit drei Wörtern:

»Nichts für mich.«

»Vorsicht«, bemerkte Nick lachend dazu. »Mona hat schon eingefleischte Eidgenossen mit ›Kafi Luz‹ unter den Tisch gesoffen.«

»Eine Trinkerin sind Sie also«, grinste Chris erleichtert.

»Nachdem auch das geklärt ist, schlage ich vor, wir gehen zum Du über.«

Nick hob sein Glas, um den Pakt zu besiegeln. Mona reichte das nicht. Sie drückte reihum jedem ein Küsschen auf die Wange. Die Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit reizte Chris. Monas Verhalten passte einfach nicht zu ihrer Vorstellung von Frauen aus dem Iran.

»Was ist ›Kafi Luz‹?«, fragte Jamie konsterniert.

Mona lachte laut heraus. »Nick übertreibt natürlich. In Wirklichkeit kann ich das Gebräu nicht ausstehen. Es ist eine volkstümliche Spezialität in Luzern, wo unsere Klinik steht.«

»Mit Kaffee hat das Gesöff nicht viel gemein«, ergänzte Nick. »Sehr wässriger Kaffee, viel Zucker und ein guter Schuss Träsch, Obstler. Gilt als Frühstück.«

Lachend sahen sie zu, wie zwei Kellner die Vorspeisen in perfekter Choreografie aufdeckten. Sie hatte die erste Gabel des Carpaccios noch nicht im Mund, als ihr Handy klingelte. Haase.

»Verzeihung, da muss ich ran.«

»Ich habe ihr geraten, das Ding im Safe einzuschließen«, entschuldigte Jamie sich achselzuckend, während sie sich entfernte.

»Dieser Oskar Schäfer hatte keinerlei Verbindung zu Dr. Niklaus von Matt oder der Klinik Seeblick in Luzern«, sagte Haase.

Sie brauchte nicht nachzuhaken. Wenn er keine Verbindung fand, gab es keine. Die Nachricht ließ die Tragödie im Billrothhaus nur noch mysteriöser erscheinen. Nachdenklich kehrte sie an den Tisch zurück.

»Ist kalt geworden«, bemerkte Jamie.

»Carpaccio muss kalt sein. Das weißt du besser als ich.«

»War ein Scherz.«

Er streckte die Hand aus.

»Was?«

»Handy.«

»Nur gegen Quittung.«

Er verlangte Notizpapier vom Kellner. One mobile Phone, stand auf dem Zettel, den er ihr unter dem Gelächter der andern hinhielt. Sie vollzog den Tausch und Ruhe kehrte ein. Eine Weile widmeten sich alle dem Gedicht auf ihrem Teller und dem gefährlich mundenden Sauvignon Blanc.

»Was wird jetzt aus dem Kongress?«, fragte Nick unvermittelt.

Jamie legte die Gabel weg, trank einen Schluck, dann antwortete er mit gespielter Enttäuschung:

»Geht leider morgen weiter wie geplant. Einzig der Festsaal wird vorläufig nicht mehr benutzt.«

»Warum leider?«, fragte Mona.

Sie kannte Jamies angeborene englische Ironie noch nicht.

»Er redet nicht gern«, sagte Chris, um sie noch etwas mehr zu verwirren.

Nick brach in Gelächter aus. »Vor allem nicht in Gegenwart schöner Frauen. Das war noch nie deine Stärke, stimmt‘s?«

Die Betroffenheit war diesmal nicht gespielt. Sie erlöste ihn, gab ihm einen Kuss und stellte fest, er habe andere Qualitäten.

Der Aufmarsch von vier Kellnern dämpfte die Heiterkeit nur unwesentlich. Die Offenbarung des Hauptgangs unter den silbernen Glocken ließ hingegen alle am Tisch in Ehrfurcht verstummen. Irrte sie, oder wischte Jamie sich heimlich eine Träne aus dem Auge nach der ersten Nase von seinem Milchferkel mit Eukalyptus? Die Tafelrunde des unfreiwillig prominenten Arztes aus der Schweiz versank in stille Andacht. Lange hörte man kaum das Besteck klappern. Erst mit der zweiten Flasche Bordeaux lösten sich die Zungen. Überrascht stellte Chris fest, dass sie Deutsch sprachen. Jamies immer noch grottenschlechte Aussprache machte sie darauf aufmerksam. Wie selbstverständlich hatten sie sich bisher aus Rücksicht auf ihn und Mona auf Englisch unterhalten.

»Wie kommt es, dass du so gut Deutsch sprichst?«, fragte sie Mona.

»Ich habe mehrere Jahre hier studiert.«

»In Wien?«

Sie nickte. »An der MedUni.«

»Wie ich«, fügte Nick lächelnd an. »Da ist sie mir aufgefallen.«

»Kein Wunder«, murmelte Chris.

»Die medizinische Universität Wien ist die größte Medical School der Welt«, dozierte Jamie.

»Danke Herr Professor.«

Obwohl sie sich brennend für die Geschichte der rätselhaften Mona interessierte, konzentrierte sie sich auf Nick. Déformation professionnelle. Er war nicht zufällig Opfer einer Geiselnahme geworden. Was sollte er beichten? Sie begann das Verhör mit einer unverfänglichen Frage.

»Wie hast du Jamie überhaupt kennengelernt?«

»Jetzt wird es delikat«, antwortete Nick nach einem tiefen Blick ins Glas. Und zu Jamie gewandt: »Was denkst du?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht wissen.«

Erst nach massivem Protest, unterstützt von Mona, erfuhr sie die erschütternde Wahrheit. Beide arbeiteten damals in Cambridge am selben Forschungsprogramm, und der gute Jamie bemerkte offenbar fast zu spät, dass Nick ein Auge auf ihn geworfen hatte.

»Ich glaubte wirklich, du wärst auch schwul«, sagte Nick lachend, »habe mir große Hoffnungen gemacht.«

Mona tätschelte ihm beruhigend die Hand. »Du Ärmster.«

Chris staunte. »Und deswegen seid ihr Freunde geworden?«

Jamies Blick wanderte weit in die Vergangenheit zurück.

»Nicht deswegen …«

»Sondern?«

Nick grinste, während Jamie verlegen die Achseln zuckte.

»Lasst es raus, Jungs«, drängte Mona.

Nick seufzte. »Sagen wir es so: Ich habe aus Mitleid beide Augen zugedrückt.«

»Ich war verwirrt, verdammt«, protestierte Jamie, »hatte einfach keine Zeit, die Messreihe zu wiederholen.«

Chris fuhr auf. »Du hast Forschungsergebnisse gefälscht?«

»Richtiggestellt.«

»Man foltert die Zahlen, bis die Statistik stimmt, richtig? So einen habe ich also geheiratet!«

»Das verstehst du nicht.«

»Was gibt es denn da zu verstehen? Bist du überhaupt ein richtiger Doktor, Jamie Roberts?«

»Damals hatte ich den Titel schon.«

»Dann ist ja alles gut.«

»Ich konnte ihn einfach nicht in die Pfanne hauen, den netten Jamie«, seufzte Nick mit schmachtendem Blick.

»Ja, ja, die Liebe …«, sinnierte Mona, indem sie Chris fixierte.

Das wird heute nichts mehr, dachte sie. Sie war nicht im Dienst, konnte Nick nicht einfach vorladen, um hinter sein Geheimnis zu kommen, seine dunkle Seite, die der Geiselnehmer zweifellos gekannt hatte. Die zweitbeste Lösung war Mona, die zumindest Nicks Arbeit gut kannte. Ein Gespräch unter Frauen, getarnt als Shopping-Orgie. Was konnte schon schiefgehen?

Der Samstag verlief etwas anders, als sie sich vorgestellt hatte. Sie kehrte mit einer Einkaufstüte voll schöner und vollkommen unnützer Dinge ins Hotel zurück, ohne das Geringste über Nicks Geheimnis erfahren zu haben. Die Stimmung hellte sich etwas auf, als sie das neue Mundstück für ihr Altsaxofon aus der Tasche zog. Ganz umsonst war sie nicht kreuz und quer durch die Altstadt geirrt.

»Ein Prachtexemplar«, sagte Jamie, »aber hast du nicht schon zwei oder drei?«

Er zog sich um für den Männerabend mit seinem fast vergessenen Freund Nick.

»Dieses Teil ist speziell für einsame Stunden gedacht, melancholische Molltöne und die Bluestonleiter, wenn du verstehst, was ich meine.«

Er nahm sie in die Arme. »Ich verstehe dich sehr gut, Liebes. Noch diesen einen Abend, dann gibt es nur noch uns zwei.«

»Versprochen?«

»Bei all meinen Pfannen.«

Er würde sich noch wundern. Jedes Wort aus Nicks Mund würde sie aus ihm herausholen. Jahrelange Übung im BKA half ihr bei solchen Aktionen. Er ging. Sie stand allein im fremden Hotelzimmer vor einem leeren Abend. So durfte der Tag nicht enden. Nach kurzem Zögern rief sie Mona an.

»Lust auf einen Kaffee?«

»Langweilst du dich ohne Jamie?«

»Nein, ich will es ihm heimzahlen.«

Die Antwort sorgte für Heiterkeit am andern Ende der Leitung.

»Gut so, was die Männer können, schaffen wir auch. Ich weiß genau das Richtige für uns.«

Eine Stunde später stieg sie an der Grinzinger Schleife aus dem 38er, fast zwanzig Minuten vor der vereinbarten Zeit. Sie mischte sich unters Volk, das zum Heurigen in die Gassen strömte. Ohne Absicht schlenderte sie in eine ruhigere Gegend. Sie wollte schon umkehren, da schnellte ihr Puls schlagartig in die Höhe beim Blick in eine Nebenstraße. Mona? Die Figur stimmte, die Art, wie sie sich bewegte, nur das Kopftuch wirkte fremd. Sie glaubte, Monas Parfüm riechen zu können.

Neugierig folgte sie der Frau bis zum Friedhof. An einer Wegkreuzung unweit Gustav Mahlers Grab verlor sie sie.

»Das gibt‘s nicht«, murmelte sie verblüfft.

Der Grinzinger Friedhof war nicht gerade der Zentralfriedhof. Wahrscheinlich hatte sie sich sowieso geirrt. Auf dem Rückweg tauchte die Frau plötzlich wieder auf, als hätte sie sich hinter dem pompösen Grabmal versteckt, das einem kleinen Mausoleum glich. Chris konnte sich im letzten Moment ins Gebüsch retten. Es war Mona, die an ihr vorbei zum Ausgang eilte, kein Zweifel.

Die Inschrift auf dem weißen Marmor sagte ihr nichts. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab, als ihr ein bescheidenes Grab unmittelbar neben dem Marmortempel auffiel. Es schien zum Ensemble zu gehören, als dürfte hier der Stalljunge bei der Herrschaft ruhen. Frische Rosen schmückten dieses beinahe unsichtbare Grab. Neugierig versuchte sie, die Zeichen auf dem Grabstein zu entziffern. Sie konnte nur die Jahreszahl des Todesdatums lesen. Die Schrift mutete Arabisch an. Ein Mitglied aus Monas iranischer Familie? Nach ihrer Bemerkung zum Islam war es durchaus möglich, dass so jemand auf diesem Friedhof lag. Seltsam fand sie es trotzdem.

Fast zehn Minuten zu spät kehrte sie zum Treffpunkt zurück. Mona schloss sie freudig in die Arme und küsste sie, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.

»Ich machte mir schon große Sorgen, Chris.«

»Entschuldige, Pünktlichkeit ist nicht so mein Ding«, log sie.

Das Kopftuch war verschwunden. Die aufgekratzte, unternehmungslustige Mona vom Vorabend stand vor ihr.

»Ready? Los geht‘s! Fünf Minuten zu Fuß.«

Keine Frage, sie kannte sich aus in Grinzing. Die ›Feuerwehr‹ war ein Heuriger wie viele andere hier, nur vielleicht noch etwas populärer. Die Gäste standen jedenfalls schon am frühen Abend Schlange am Büfett. Der neue Muskateller erinnerte entfernt an den Sauvignon Blanc vom Vorabend, floss aber um einiges schneller durch die Kehle, vor allem durch Monas Kehle. Chris versuchte, mit Konversation gegenzusteuern und sie wenigstens zum Verzehr eines Weinbeißers anzuregen.

»Ihr führt also eine lukrative Klinik in Luzern«, begann sie. »Busen, Po, nehme ich an?«

Mona stellte das Glas ab. »Sehe ich aus, als hätte ich das nötig?«

»Du nicht, aber deine Patientinnen.«

Dabei betrachtete sie sich selbst mit prüfendem Blick. Mona spielte mit.

»Darf ich?«

Bevor sie begriff, was geschah, spürte sie Monas Hände auf den Brüsten. Nur für einen Augenblick, doch der genügte, um einen Schwall heißen Blutes in die Schläfen zu pumpen. Mona schüttelte nur den Kopf und stellte nüchtern fest:

»Würde ich nicht empfehlen. Die sind noch schön straff.«

»Also hör mal!«

Sie lachte hell auf. »Bleib locker, Mädchen. Auch ein Rollmops?«

Mona sprang auf, eilte ans Büfett, ohne die Antwort abzuwarten. War das ihre seltsame Art zu trauern? Versuchte sie, ihre wahren Gefühle durch exaltiertes Verhalten zu verbergen – oder wollte sie einfach ihren Fragen ausweichen?

Sie kehrte mit zwei Rollmöpsen und etwas Schwarzwurzelsalat zurück.

»Ich dachte eher an Backhendl …«

Schon stand sie wieder am Büfett. Kaum hatte sie ihr das halbe Hähnchen vorgesetzt, begann sie, den rohen Hering mit Lust zu verspeisen, als wäre er die Krönung des gestrigen Galadiners. Chris hoffte inständig, die sauren Lappen würden Monas Blutalkohol wenigstens soweit neutralisieren, dass sie ohne Rettung ins Hotel zurückfände. Allein, der Gott, der ihr stilles Gebet erhören sollte, existierte nicht. Sie bestellte noch ein Viertel. Chris konnte die Bemerkung nicht unterdrücken:

»Du tust das nicht zum ersten Mal.«

Mona sah sie mit großen, dunklen Augen an, lächelnd, mit klarem Blick, als hätte sie nur am Wasser genippt.

»Was meinst du? Eine Brust anfassen? Ich bin Ärztin.«

»Das meinte ich nicht, aber da du schon davon sprichst – ich habe immer noch nicht verstanden, was ihr da in Luzern genau treibt, du und Nick.«

»Ich habe es dir auch noch nicht erklärt«, gab sie schmunzelnd zurück. »Im Ernst, es ist ziemlich kompliziert, aber man kann es mit einem Wort umschreiben: Gentherapie. Wir helfen Patienten mit genetisch bedingten Krankheiten, gewissen Typen von Diabetes zum Beispiel.«

»Darum also das Interesse am Kongress.«

»Ja, Nick will an vorderster Front dabei sein. Er ist ein Spitzenforscher, auch wenn er sich manchmal wie ein Kindskopf aufführt.«

»Männer eben.«

»Du hast es erfasst«, lachte sie.

Die Schrammeln legten eine Pause ein. Das Reden fiel leichter.

»Glaubst du, der Vorfall im Billrothhaus könnte etwas mit eurer Klinik zu tun haben?«, fragte sie vorsichtig.

Mona zögerte lange mit der Antwort. Schließlich sagte sie abwesend:

»Die Sache geht Nick ganz schön an die Nieren.«

Chris wagte, noch einmal nachzuhaken.

»Ein enttäuschter Patient oder Verwandter vielleicht?«

Mona schüttelte entschieden den Kopf. »Patienten, die einen Kunstfehler vermuten, würden uns die Anwälte auf den Hals hetzen. Die haben gute Anwälte, das kann ich dir versichern. Unsere Therapien können sich nur die Wenigsten leisten.«

»Kann ich mir vorstellen«, murmelte sie enttäuscht.

Diese Fährte führte nirgendwohin. Daran würde auch ein weiteres Viertel Muskateller nichts ändern. Als die Musiker zurückkehrten, stand Mona auf.

»Suchen wir uns ein ruhigeres Plätzchen. Der Lärm nervt. Ich bin älter geworden.«

Sie bezahlten und verließen das Lokal.

»Ich will aber noch nicht ins Hotel zurück. Da komme ich mir vor wie ausgesetzt.«

Mona hakte sich lachend bei ihr unter. »Weiß ich doch.« Sie winkte ein Taxi herbei. »Steig ein.«

Der Fahrer, mit Anzug und Krawatte unterwegs, quittierte das Ziel mit: »Sehr wohl, Gnä‘ Frau.« So etwas erlebte man wohl nur noch in Wien.

Das Café Landtmann beim Burgtheater war eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen der dezenten Klänge aus dem Piano. Ein alter Herr, makelloses Jackett, blütenweißes Hemd und korrekte Fliege wie am ersten Arbeitstag, trat an ihren Tisch. Auf dem Namensschild stand: Herr Karl. Statt widerwillig nach ihren Wünschen zu fragen, wie Chris befürchtete, begrüßte er Mona freudig überrascht:

»Frau Dr. Saatchi, schön, Sie zu sehen. Ein Verlängerter, schwarz wie immer?«

»Selbstverständlich Herr Karl«, antwortete sie, nicht im Mindesten überrascht.

»Er vergisst keinen Gast – niemals«, erklärte Mona, nachdem auch sie ihre Melange bestellt hatte.

»Nicht zu fassen. Wann bist du das letzte Mal hier gewesen?«

Sie überlegte. »Das muss mindestens zehn Jahre her sein.«

Die Atmosphäre des Wiener Kaffeehauses umhüllte und beruhigte sie wie die schützende Gebärmutter. Jedenfalls stellte Chris sich die Zeit vor der Geburt etwa so vor. Sie saßen schweigend am Marmortisch. Monas Blick driftete ab – in die Vergangenheit?

»Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte sie, um Mona in die Gegenwart zurückzuholen.

»Und doch kommt es mir vor, als hätte ich gestern hier gesessen.«

»Hast du – hattest du Familie in Wien?«

Sie hätte die Frage besser nicht gestellt. Statt zu antworten, winkte Mona ihren Herrn Karl herbei, um zu bezahlen.

»Ich bin hundemüde, muss ins Bett«, murmelte sie.

Verwirrt folgte sie ihr zum Taxi. Bevor Mona einstieg, drehte sie sich plötzlich noch einmal um.

»Nimm mich bitte in den Arm.«

Im nächsten Atemzug kuschelte sie sich an sie wie ein Küken, das im Gefieder der Mutter Schutz sucht. Dann stieg sie ohne ein weiteres Wort ein. Chris starrte dem Wagen nach, bis sich die Rücklichter auf der Ringstraße verloren.

Simmering, las Jamie auf einem Hinweisschild. Nick fuhr schweigend weiter. Fragen nach dem Ziel beantwortete er nur mit dem Grinsen, das er noch von Cambridge her kannte.

»Liegt nicht der Flughafen in dieser Richtung? Wollen wir verreisen?«

»Wir sind gleich da.«

Die Gegend weit außerhalb der Stadt machte einen eher trostlosen Eindruck. Nick parkte bei einem Hochhaus, dem einzigen weit und breit. Die laute Inschrift zog sich über die ganze Fassade des sicher fünfzig Meter hohen Turms. Jamie rümpfte die Nase.

»Ein Hotel – hätten wir das nicht schneller in Wien haben können?«

»Abwarten.«

Minuten später standen sie auf dem Dach des Gebäudes. Nick bewunderte die Aussicht.

»Na, was sagst du?«

»Was meinst du?«

»Sieh dich um.«

»Ich sehe grüne Wiesen, winzige Autos, einen Abluftschacht und ein paar Arbeiter.«

Das Grinsen mutierte zum Gelächter, einem hinterhältigen Gelächter, wie er glaubte.

»Das sind keine Arbeiter, mein lieber Jamie.«

Fünf Schritte weiter verstand er die Antwort. Er kehrte mit einem kategorischen Nein um. »Bist du verrückt? Das mache ich nicht!«

Nick stieß ihn lachend zurück. »Du hast nie bezahlt für mein Schweigen damals. Jetzt ist Zahltag.«

Jamie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich soll mich da hinunterstürzen?«

»Nicht stürzen. Wir beide laufen jetzt ganz gemütlich diese Wand hinunter. Deine Arbeiter werden uns sichern.«

»Auf keinen Fall. Du spinnst.«

Die Crew am Rand des Abgrunds beobachtete ihr Streitgespräch mit sichtlicher Ungeduld. Je mehr Gegenargumente ihm einfielen, desto stärker reizte ihn das Abenteuer. Ein Engländer blamiert sich nicht, schon gar nicht in Österreich. So etwas gehört sich einfach nicht.

Sie traten an die Dachkante. Fünfzig Meter senkrecht hinunter. Fünfzig oder fünfhundert – was macht es für einen Unterschied?, dachte er, während er spürte, wie sich sein Skelett aufzulösen begann.

»Wer zuerst?«, fragte er.

Todesangst verlieh ihm eine gewisse Autorität.

»Du natürlich.«

Dabei wechselte Nick einen verstohlenen Blick mit dem Mann am Flaschenzug, der ihm nicht entging.

»Du solltest dich jetzt besser anschnallen.«

»Vielen Dank für den Hinweis. Wäre ich allein nie drauf gekommen.«

Reden hilft, stellte er fest. Er würde sich später nicht mehr an den Blödsinn erinnern, den er auf dem Dach des Tower Hotels von sich gab. Das volle Bewusstsein erlangte er erst wieder, als er am Seil über die Kante kippte.

»Knie durchstrecken!«, mahnte der Herr über Leben und Tod. »Nicht bücken! Schön steif nach vorne kippen lassen.«

Der Mann sprach perfektes Englisch. Dennoch dauerte es ungewohnt lange, bis die Anweisungen Jamies Großhirn erreichten und die Muskeln die nötigen Befehle empfingen.

»Immer brav tun, was der Meister verlangt«, riet Nick.

Er spürte das schadenfrohe Grinsen förmlich im Nacken.

»Beine zusammen, strecken! So ist‘s gut.«

Er hing fast waagrecht über dem Abgrund, Gesicht nach unten.

»Jetzt machen wir den ersten Schritt.«

»Wir?«

Die verzweifelte Scherzfrage war nicht vom Schrei eines Bussards zu unterscheiden.

»Gut so, und nun lassen Sie das Seil ein wenig schleifen und machen einen Schritt mit dem andern Fuß.«

Er hatte verstanden. Es war im Grunde lächerlich einfach. Langsames Gehen auf rauem Beton, nur eben senkrecht nach unten statt geradeaus, wie normale Menschen sich bewegen.

Endlich im unteren Drittel angekommen, stellte er fest, schon seit Ewigkeiten keinen von Nicks bissigen Kommentaren mehr gehört zu haben. Der Boden rückte in Zeitlupe näher. Zum ersten Mal wagte er, den Kopf etwas anzuheben. Da stand sein sauberer Freund, winkte herauf und filmte weiter mit seinem Handy.

Es wirkte wie ein letzter, tödlicher Adrenalinschub. Er ließ dem Seil zu viel Spiel, stoppte dann abrupt. Die Füße lösten sich vom Beton. Frei hängend drehte er Kapriolen, bis er die Orientierung verlor. Nicks Gelächter verstummte erst, als er, losgelöst vom Seil, wütend auf ihn zu stürmte. Der Kampf ums Handy endete mit Jamies klarer Niederlage.

»Chris darf diesen Film niemals sehen!«, drohte er.

»Solang sie kein YouTube schaut …«

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du wirst das Video doch nicht ins Netz gestellt haben!«

»Komm runter, Alter. Ich wüsste nicht einmal, wie das geht.«

»Was hast du überhaupt hier unten zu suchen? Los, rauf aufs Dach. Ich will deinen Sturz filmen.«

Nick blickte hinauf zum Flaschenzug knapp unter den Wolken. Dann schüttelte er den Kopf.

»Niemals würde ich diese Wand hinunterlaufen. Ich bin doch nicht verrückt.«

Auf halben Weg zurück in die Stadt hatte Jamie sich einigermaßen beruhigt.

»Aber das Scheiß Video löschst du«, verlangte er kategorisch.

»Nur wenn du mir eine Kopie deines Manuskripts lieferst.«

Die seltsame Forderung überraschte ihn.

»Du brauchst doch nur am Montag meinen Vortrag am Kongress anzuhören …«

»Das reicht mir nicht«, unterbrach Nick ungeduldig ohne jede Spur von Ironie. »Ich brauche alle Details deiner Entdeckung, inklusive Quellenangaben.«

»Die Arbeit wird in wenigen Wochen in der Fachpresse erscheinen.«

»Zu spät. Ich brauche die Information jetzt.«

»Wieso?«, fragte er verunsichert.

Nick zögerte. Er bemerkte sein Befremden und entschuldigte sich.

»Die Konkurrenz auf dem Gebiet der Gentherapie ist zwar noch überschaubar, aber gnadenlos«, erklärte er beschwichtigend. »Wenn du jetzt nicht an vorderster Front dabei bist, hast du verloren.«

Jamies Bild sah nicht annähernd so schwarz-weiß aus, doch er hatte keine Lust, sich auf diese Diskussion einzulassen.

»Ich brauche jetzt einen Cognac oder zwei«, sagte er stattdessen.

In der Weinbar pendelte sich sein Adrenalinspiegel wieder auf den Normalzustand ein. Der Beweis? Er lachte über sich selbst beim Betrachten von Nicks Video.

»Nicht zu fassen, dass ich auf den Blödsinn hereingefallen bin«, sagte er.

»Ist doch ein gutes Gefühl, gib‘s zu.«

»Als wüsstest du, wovon du sprichst.«

»Was ist jetzt mit deinem Manuskript?«

Nicks lauernder Blick sprach Bände. Er benötigte seine Forschungsergebnisse wie ein Junkie die Spritze.

»Erkläre mir lieber, wozu du die Arbeit brauchst. Wohl kaum für deine Klinik, nehme ich an.«

»Das wird sich weisen. Deshalb muss ich genau wissen, woran ich bin.«

Jamie ließ den Rest des Cognacs im Gaumen kreisen, schluckte und bestellte zwei neue, bevor er sagte:

»Und ich will zuerst genau wissen, was ihr in Luzern treibt.«

Nach kurzem Zögern begann Nick auszupacken.

»Wir haben uns auf Gentherapie spezialisiert, wie du weißt. Angefangen hat es mit der Behandlung der Erbkrankheit LPDL.«

»Lipoproteinlipase-Defizienz, die Glybera-Story«, unterbrach er, nicht überrascht.

»Genau. Die hat international Schlagzeilen gemacht, weil eine Dosis des Medikaments etwa so teuer ist wie ein Mercedes CLS Coupé. Die Behandlung eines Patienten kostet über eine Million Euro.«

»Das liegt ja wohl in erster Linie am überrissenen Preis für Glybera.«

»Sicher, aber du siehst schon, worauf ich hinaus will. The winner takes it all, verstehst du?«

»Es geht also nur ums Geld?«

Nick schüttelte vehement den Kopf. »Nicht nur, aber wir wollen auch leben. Der Punkt ist ein anderer: Ich bin überzeugt, dass es mit den neuen Entwicklungen des Gene Editing möglich sein muss, solche Behandlungen viel günstiger und damit allen Patienten anzubieten. Ich halte nämlich nichts von Zweiklassenmedizin.«

Die Bemerkung reizte Jamie zum Lachen. »Das sagt der Richtige, Besitzer einer exklusiven Schweizer Privatklinik!«

»Egal ob du mir glaubst oder nicht. Du wirst mir zustimmen, dass möglichst alle Betroffenen geheilt werden sollten, wenn es eine Chance dazu gibt. Im Falle von LPDL bleibt sonst den Patienten nichts anderes übrig, als alle paar Wochen zur Blutwäsche anzutreten. Ganz zu schweigen von lebensgefährlicher Pankreatitis.«

Daran war nichts auszusetzen. Es gab zwar nur sehr wenige Menschen mit der Erbkrankheit LPDL, aber für die musste das Leben die Hölle sein.

»Weil das Protein LPL nicht richtig funktioniert«, ergänzte er wie zu sich selbst, »werden Fettmoleküle nicht abgebaut, die den Blutkreislauf verstopfen.«

»So ist es, und weißt du, weshalb die Behandlung so unverschämt teuer ist und lange dauert, abgesehen vom Preis des Medikaments?«

»Weil man Unmengen injizieren muss in der Hoffnung, dass genügend Zellen das kranke gegen das gesunde Gen austauschen. Man sollte einen Weg finden, diesen Tausch der Gene spezifischer und effizienter zu gestalten. Das ist genau das Thema meines Vortrags am Montag …«

»Eben«, warf Nick triumphierend ein.

Um den Punkt zu unterstreichen, prostete er ihm mit dem zweiten Schwenker zu.

»Jetzt hat es auch Dr. Roberts kapiert.«

»Schon, aber – meine Arbeit ist eine Forschungsarbeit. Es bleibt noch ein langer Weg bis zur klinischen Reife.«

Nick lachte. »Das lass mal meine Sorge sein. Also, kriege ich das Manuskript?«

Jamie zuckte die Achseln. »Meinetwegen, die Arbeit wird sowieso unter meinem Namen publiziert.«

Chris wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge, bevor das Licht den Großen Saal des Musikvereins wieder golden erstrahlen ließ. Es war weniger die Musik der Wiener Symphoniker, die sie zu Tränen rührte, als die Erinnerung an ihren verstorbenen Vater, der ihr die Liebe zur Musik vererbt und es selbst nie in dieses Haus geschafft hatte.

»Hat es dir nicht gefallen?«, fragte Jamie besorgt. »Du wirkst traurig.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe nur gerade an Papa gedacht. Schade, dass ich an kein Jenseits glaube, sonst hätte er sicher die letzten zwei Stunden mitgehört.«

»Du stellst es dir einfach vor, ohne daran zu glauben.«

Trotz der neuen Schuhe bestand sie darauf, zu Fuß ins Hotel zurückzukehren.

»Keine dreißig Minuten, wäre ja gelacht«, prahlte sie.

Sein Gesicht entsprach genau dem Gefühl in ihrem rechten großen Zeh, der sich nicht mit der eleganten Enge der High Heels abfinden wollte, die Mona ihr als Schnäppchen aufgeschwatzt hatte. Auf der Höhe der Secession, keine zehn Minuten unterwegs, setzte sie sich auf eine Treppe.

»Ich kann nicht mehr.«

Jamie hatte nichts anderes erwartet. Er nickte nur und zog das Handy hervor.

»Warte. Gib mir eine Minute.«

Sie streifte die Schuhe ab und warf ihm einen auffordernden Blick zu. Er verstand sofort. Grinsend begann er, ihren Fuß zu massieren.

»Der andere.«

Eine Gruppe junger Damen schien das außerordentlich zu amüsieren. Sie verstand kein Wort, aber die Geste war eindeutig. Die Damen streckten Jamie synchron das rechte Bein entgegen, bevor sie kichernd weiterzogen.

»Wir sollten auch besser weitergehen, sonst artet das aus«, sagte sie lachend.

Die paar Minuten bis zum Museumsquartier legte sie auf Strümpfen zurück. Das Hotel lag zwar in der Nähe, doch sie bestand auf einem Absacker. Vielleicht würde sie nach zwei, drei ›Ottakringer‹ endlich erfahren, was am Herrenabend wirklich geschehen war. Den ganzen Tag über hatte sie versucht, es ihm aus der Nase zu ziehen. Jedes Mal flüchtete er sich in medizinische Sachthemen, die er angeblich mit Nick stundenlang erörtert hatte.

Sie wusste jetzt Bescheid über das ethische Dilemma der Eingriffe in die menschlichen Gene, über die schwierige Grauzone zwischen sinnvollen Therapiezielen und verbotenen Verbesserungen am Genmaterial. Sie kannte den Unterschied zwischen somatischen und Keimbahntherapien, bei denen nicht nur die Gene der betroffenen Person verändert würden, sondern auch die des potentiellen Nachwuchses. Eingriffe in die Keimbahn waren gefährlich und verboten. Das sah sie ein, aber was zum Teufel hatten die beiden gestern getrieben? Er blieb hart. Sie würde es nie erfahren. Um ihn zu provozieren, fragte sie:

»Glaubst du, Nick könnte sich die Hände schmutzig gemacht haben mit nicht ganz koscheren Genmanipulationen? Sollte er deshalb beichten?«

Er sah sie an, als hätte sie eben die Scheidung eingereicht. Lange überlegte er sich eine Antwort, bis er endlich den Kopf schüttelte und murmelte:

»Du siehst überall nur Verbrecher, selbst im Urlaub.«

Ihr Handy kündigte neue Mail an. Kopfschüttelnd sah er ihr zu beim Lesen.

»Urlaub, Sonntag – schon vergessen?«

Sie zeigte ihm die Nachricht. »Nur Spam, siehst du?«

Er warf einen misstrauischen Blick aufs Display mit der Bemerkung:

»Ich habe irgendwo gelesen, man könne diese Dinger auch abschalten.«

Im selben Augenblick traf eine Meldung von Haase ein: Klinik Seeblick im Visier der Steuerfahndung. Sie reagierte nicht schnell genug. Er sah den Text. Seine Miene verfinsterte sich, wie sie es noch nie beobachtet hatte.

»Mir reicht‘s!«, zischte er wütend. »Kannst gerne noch weiter gegen meinen Freund ermitteln, aber allein.«

Sagte es, stand auf und verließ das Lokal ohne einen Blick zurück. Sie seufzte. Er würde jetzt etwas Zeit brauchen. Sie hatte übertrieben, nicht zum ersten Mal. Aber dieser Nick und seine Klinik …

Eine halbe Stunde verstrich, ehe sie ihm folgte. Zeit genug, um über Haases neuste, inoffizielle Ermittlungsergebnisse nachzudenken. Unsicher auf den hohen Absätzen und in Gedanken versunken, wankte sie schließlich hinaus.

Der Fahrer des Lieferwagens trat fluchend auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Frau auszuweichen, die offensichtlich blind über die Straße laufen wollte.

»Tussi, hirnamputierte!«, rief er ihr nach, Puls auf 180.

Ein Unfall fehlte ihm gerade noch, wo doch alles bisher rund gelaufen war. Die Ware im Baumarkt hatte offen herumgelegen. Jemand musste sich darum kümmern. Aber Kieberer wären jetzt nicht förderlich fürs Geschäft. Die sollen Parkpickerl kontrollieren und ihn gefälligst in Ruhe lassen, war sein Leitmotiv. Durch die Tussi landete sein Handy auf der Fußmatte. Jetzt spielte es jenseits der Mittelkonsole ›Mission: Impossible‹.

»Scheiße, das ist sicher der Lorenz«, murmelte er.

Anhalten war keine Option, außer es ging nicht anders. An einer Ampel fischte er das Telefon vom Boden und wählte den Rückruf. Sein Bruder hob sofort ab.

»Ferdl, endlich!«

»Was liegt an, Kleiner?«

»Du sollst mich nicht Kleiner nennen. Ich bin sechzehn.«

»Schon gut, also, was willst du? Ich hab‘s eilig.«

»Bier ist alle.«

»Du trinkst keinen Alkohol!«

»Nein, aber falls du heute Abend ein Sechzehner-Blech brauchst, solltest du eins mitbringen.«

»Alles klar, sonst noch was?«

»Ja, ein paar Soletti, wenn du schon dabei bist.«

»Sag mal, Kleiner!«, rief er ärgerlich, »hast du keine Beine?«

»Schon, aber ich bin seit einer Woche stier, wie du weißt.«

Er unterdrückte einen Fluch, denn beim Geräusch, das sich rasch von hinten näherte, stellten sich seine Nackenhaare auf wie bei einem Igel mit Panikattacke.

»Ich muss …«

Weiter kam er nicht. Er drückte Lorenz weg und schmiss das Handy auf den Beifahrersitz. Was zum Teufel wollten die Kieberer jetzt von ihm? Hatte ihn jemand verpfiffen? Gab es doch eine verdammte Überwachungskamera?

Sie interessierten sich nicht für ihn und die am Baumarkt gefundene Ware im Lieferwagen. Die Streife preschte vorbei und verlor sich bald in der Nacht.

Schon fast zu Hause in seinem Grätzl beim Westbahnhof, drosselte er die Geschwindigkeit. Das neue Graffiti des Kleinen leuchtete selbst im schummrigen Licht der Straßenlampe wie aus eigener Kraft. Lorenz war ein Naturtalent. Das hatten sogar die Knalltüten begriffen, die ihm beim Verticken helfen sollten. Gleich hätte er es geschafft. Beim Abbiegen in seine Straße sauste ein blauer Bentley um die Ecke, voll auf Kollisionskurs. Er konnte nichts anderes tun, als das Bremspedal durchzudrücken und laut zu fluchen. Der Bentley reagierte zum Glück ebenso schnell, scherte nach rechts aus und blieb in der Mauer stecken. Über ihm leuchtete das Graffiti wie das Altarbild in der Unbefleckten Empfängnis, wo er früher mal den Opferstock geleert hatte.

»Da schau her, noch ein Fan«, murmelte er, während das Blut ins Hirn zurückströmte.

Sein Fuß zuckte über dem Gaspedal, doch dann stieg er aus. Ein alter Herr saß am Steuer des Bentley, Kopf im Airbag, Hosenträger über kariertem Hemd. Er war immerhin der Einzige im Wagen, bewegte sich aber nicht.

»Gute Nacht!«, seufzte Ferdl.

Widerwillig holte er das Handy im Lieferwagen. Er war im Begriff, die Rettung zu rufen, als die Tür des Bentley aufsprang. Ächzend befreite sich der Weißhaarige vom Sicherheitsgurt und kroch aus seiner Luxuskarosse, scheinbar unverletzt. Er begann, sich sofort wortreich bei ihm zu entschuldigen und stellte sich als Galerist Horvath vor.

»Galerie Horvath beim Theatermuseum, Sie wissen schon.«

Er wusste nicht einmal, wozu es Galeristen gab.

»Sind Sie in Ordnung, alles O. K. mit Ihrem Wagen?«

Der Alte fragte ihn! Er nickte.

»Bei Ihnen schaut’s weniger gut aus«, stellte er fest.

Horvath tat es mit einer verächtlichen Handbewegung ab.

»Blechschaden. Der Wagen musste sowieso in die Garage. Die Einspritzung, Sie wissen schon.«

Was er neuerdings alles wusste … Dem Alten war offenbar nicht zu helfen. Ferdl drehte sich um, wollte zum Lieferwagen zurück und Gummi geben, als etwas völlig Unerwartetes geschah. Horvath betrachtete das Graffiti mit offenem Mund. Andächtig wie der Pfaffe in der Prozession schritt er das Gemälde des Kleinen ab. Immer wieder blieb er stehen, als bete er am Bildstock. Er hatte nur noch Augen für das monumentale Werk an der Mauer. Klar, dass nun bei Ferdl der Automatismus einsetzte angesichts des frei zugänglichen Handschuhfachs im Bentley. Horvath war erst beim nächsten Bildstock angelangt, als er die Beute einsteckte: Pfefferspray, den man in dieser Gegend stets gut gebrauchen konnte, und fünf Hunderter, auch nicht zu verachten.

»Stimmt etwas nicht?«, rief er dem Galeristen zu mit der Miene des besorgten Samariters.

»Von wem stammt dieses Fresko?«

»Welches Fiasko?«

»Das Graffiti meine ich.«

Soweit kommt‘s noch, dass ich den Kleinen ans Messer liefere, dachte er und zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung, was ist damit?«

»Der Maler ist ein Genie.«

Horvath kehrte zum Bentley zurück, um sein Handy zu holen.

»Ich muss unbedingt ein paar Bilder schießen«, murmelte er.

»Sollten Sie nicht besser die Karambolage knipsen?«

Das Smartphone schien nicht zu funktionieren.

»Der Akku – könnten Sie mir vielleicht freundlicherweise Ihres ausleihen?«

»Für ein paar Bilder?«

Horvath lachte. »Nein, das geht jetzt wohl nicht, aber ich muss die Polizei rufen.«

Die Kieberer! Mit seinem Handy! Andererseits – sein Prepaidhandy konnte nicht einmal die Wiener Stadtpolizei zurückverfolgen. Zögernd gab er ihm das Telefon.

»Vielen Dank der Herr, sehr freundlich. Hier ist übrigens meine Karte.«

Er steckte die Visitenkarte mit Goldprägung ein, als bekäme er jeden Tag so eine.

»Meine sind leider gerade ausgegangen«, murmelte er, ungeduldig aufs Telefon wartend, um endlich abhauen zu können.

Er atmete erst richtig auf beim Betreten der alten Fabrikhalle, die ihnen als Wohnung und Lorenz als Atelier diente.

»Wo sind die Soletti?«, wunderte sich der Kleine.

So an Schaas! Vor lauter Bentley und Graffiti hatte er die Trafik völlig vergessen. Nicht verlegen, zog er einen von Horvaths Hundertern aus der Tasche. Er gab ihn dem verblüfften Kleinen mit der Bemerkung:

»Ab sofort ist hier niemand mehr stier.«

Ungläubig hielt Lorenz den Schein gegen die Lampe, zupfte und roch daran, um ihn als Blüte zu entlarven.

»Der ist garantiert echt. Worauf wartest du noch? Bringst mir zwei Blech mit.«

Die Wrestler im Fernsehen machten erst Spaß, als Lorenz mit den Bierdosen zurückkehrte. Er erzählte ihm das Wichtigste vom Bentley in der Mauer.

»Ein Genie hat er dich genannt. Wollte unbedingt Fotos vom Graffiti.«

»Ein Genie, soso … Dir ist das aber noch nie aufgefallen.«

»Lass dir nur keinen Kamm wachsen deswegen. Du solltest dir lieber Gedanken machen, wie es jetzt weitergeht, nachdem du die Schule geschmissen hast, Lorenz Gruber.«

Auf diesem Ohr war der Kleine taub. Er wandte sich nur wieder seiner Staffelei zu und fragte beiläufig:

»Wo finde ich diesen Herrn Horvath?«

»Denk nicht mal dran! Der Sack braucht nicht zu wissen, wer wir sind.«

»Er hat immerhin mein Genie erkannt. Vielleicht ist da was dran.«

Chris sah dem Lieferwagen nach, als wäre er der erste, dem sie begegnete. Auf einen Schlag vollkommen ausgenüchtert, fragte sie sich, wie der schöne Abend so schlimm enden konnte.

»Entschuldige, Papa«, murmelte sie und ging vorsichtig weiter.

Jamie hatte recht und allen Grund, sauer zu sein. Warum konnte sie nicht einfach die paar Tage in Wien genießen, BKA und Arbeit vergessen, leben? Auf dem beschwerlichen Weg ins Hotel legte sie den Plan für ihre Entschuldigung und die Versöhnung bis in alle Einzelheiten fest. Kuscheln im warmen Bett sollte der entscheidende Katalysator sein.

Jamie hielt sich indessen nicht an den Plan. Das Handy stumm geschaltet, betrat sie das Zimmer und erschrak. Er saß am Schreibtisch und arbeitete. Intensiv, wie es schien, denn er reagierte nicht. Sie war Luft. Der schöne Plan ebenfalls.

»Es tut mir leid, Liebster. Ich bin eine dumme Gans. Kommt nicht wieder vor.«

Er sah nicht von der Arbeit auf. Sie wagte nicht, ihn zu küssen, versicherte sich aber, dass keine Kopfhörer in seinen Ohren steckten. Bei seltenen Anfällen von Jugendwahn tat er das. Die Ohren waren in Ordnung, und sie blieb Luft. Sie brauchte dringend eine neue Strategie. Zum Nachdenken zog sie sich ins Bad zurück.

Das Handy begann, neben dem Waschtisch zu tanzen. Der Bildschirm leuchtete verlockend.

»Nicht jetzt!«, schnauzte sie es an und schaltete es aus, ohne hinzusehen.

»Es interessiert mich nicht – jetzt nicht«, wiederholte sie immer wieder unter der Dusche.

Kaum trocken, las sie Haases Nachricht. Es gibt eine Verbindung vom Geiselnehmer Schäfer zur Klinik Seeblick, schrieb er. Ein seltsamer Todesfall …

»Also doch«, murmelte sie beim Lesen, »armer Jamie.«

Station 9

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