Читать книгу Tanausú - Harald Braem - Страница 9

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«Wir rufen die anderen Stämme zusammen», sagte Adargoma.

«Madango war nicht nur unser Anführer, sondern Herrscher über Benahoare. Ohne König ist nun die Insel, unser Volk voll von Trauer. Horch, der Guayote hat uns verstanden.»

In der Tat setzte in diesem Moment ein Geheul ringsum ein, das aus vielen hundert Kehlen zu kommen schien. Die Hunde reagierten auf das Signal, schienen die Botschaft, die sich von Berg zu Berg über die ganze Insel fortpflanzte, zu verstehen und gaben sie auf ihre Weise weiter.

Eine volle Stunde oder länger dröhnten die Trommeln, ging der Klagegesang, wurde immer wieder das Muschelhorn in die vier Richtungen des Himmels geblasen. Dann brach der Lärm abrupt ab. Alle hoben lauschend die Köpfe. Es war plötzlich sehr still ringsum, nur die Zikaden schrillten noch, und ein paar Hunde konnten sich absolut nicht beruhigen. Die Menschen des Stammes, selbst die Kinder, hielten wie erstarrt inne.

Von ferne, irgendwo aus der Richtung der Cumbre, vielleicht vom Vulkanberg Nambroque, klang ein dumpfes, unterirdisches Grollen. Leise und drohend hörte sich dieser Ton an, ein bebendes Anschwellen, das allmählich wieder verebbte. War das die Stimme des Guayote, erwachte er langsam aus seinem Schlaf?

Auch dieses Geräusch hatte Bencomo noch nie in seinem Leben gehört. Unwillkürlich musste er an die Geschichten der Alten denken, an ihre Berichte über fürchterliche Vulkanausbrüche, die tagelang anhielten und das Fundament der Erde zum Beben brachten. Seine Eltern hatten davon erzählt, dass in der Nacht die Insel taghell erleuchtet gewesen wäre vom riesigen, aus dem Berg schießenden Feuer. Dazu kamen Rauch und Schwefeldämpfe, die die Luft zum Atmen nahmen. So hatte der Guayote seinen Auftritt angekündigt. Danach war Ascheregen über das Land gefallen und hatte weite Gebiete bedeckt. Der Schlund des Vulkans aber spie weiter seine Feuersäule hoch in den Himmel, glühende Lava quoll aus dem Schlund, ergoss sich in breiten, rotkochenden Bahnen die Hänge hinab bis zum Meer. Und viele Tage hatten die Wälder gebrannt, bis von ihnen nur noch tote, schwarze Baumstümpfe und ein weißer Ascheteppich übriggeblieben waren.

Plötzlich merkte Bencomo, dass das leise Grollen aufgehört hatte. Es war viel stiller als zuvor, noch immer saß der Stamm wie erstarrt da. Dann kam Bewegung bei den Frauen auf, sie wichen zurück und bildeten eine Öffnung zum Kreis. Durch diese Gasse schritt Tamogante, die uralte Heilfrau. Sie war in bemalte Ziegenfelle gehüllt, getrocknete Eidechsenschwänze baumelten am Gürtel ihres Gewandes, und über der Brust klirrte eine Kette aus durchbohrten Knochen, Muscheln und Eberzähnen. Sechs Harimaguadas begleiteten sie, junge, in helle Kleider gehüllte Mädchen, die Gefäße und andere heilige Gerätschaften mit sich trugen. Die erste setzte eine mit Milch gefüllte Schale im Kreis ab, die zweite legte einen gehörnten Ziegenschädel daneben, die anderen hockten sich neben das Feuer.

Tamogante ging ihrem Alter entsprechend langsam, jede Bewegung schien bedacht und von einer bestimmten Bedeutung zu sein. Am Feuer angekommen, löste sie einen Beutel von ihrem Gürtel, öffnete die Verschnürung, hob ihn hoch und warf den Inhalt in die Flammen. Das Pulver zischte und prasselte und stob in der Dunkelheit hoch wie eine Staubwolke aus glimmenden Sternen. Die Medizinfrau breitete beide Arme aus und begann mit klarer Stimme zu singen.

«Du siehst uns hier versammelt, Guayote», sang sie, «weil wir in großer Trauer um unseren König sind. Alt ist er geworden in Zeiten des Friedens, obgleich seine Jugend im Zeichen des Kampfes stand. Blut hat er gegeben für Benahoare, Narben blieben zurück, von seinen Feinden verursacht, die übers Meer zu uns kamen. Weise war er, ein gütiger Herrscher, unter dessen Schutz unser Stamm blühte und sich vermehrte. Aber nicht nur bei uns galt sein Wort als Gesetz, sondern auch bei den Stämmen im Norden, Süden, Osten und Westen und im großen Krater, in dem Tanausú am Heiligen Berg Idafe wacht. Dein Name sei gepriesen für alle Zeiten, Madango …»

Die Heilfrau begann mit kleinen Schritten das Feuer zu umkreisen. Nach und nach wurde ihr Tanz schneller. Sie hatte noch immer die Arme ausgebreitet und beugte dabei wiegend ihren Oberkörper vor, als wolle sie den Flug eines Geiers nachahmen.

Dabei sang sie: «Du bist von uns gegangen, Madango, liegst an der Schwelle zum Schattenreich, und dein Geist fordert, eingelassen zu werden bei dir, Guayote. Gib den Weg frei, großer Dämon, damit er zu unseren Ahnen kann und mit ihnen sprechen. Sieh, all unsere Gedanken begleiten ihn zu dir, sei ihm wohlgesonnen. Wir haben deine Stimme gehört, Guayote. Sie ist mächtig und zürnend, aber zürne nicht uns, denn du bekommst heute ein Geschenk dargebracht. Nimm es wohlwollend an und prüfe unsere Herzen dabei. Sie sind rein, weil wir dich verehren und dich niemals belügen können …»

Bei den letzten Worten ihres Gesangs waren zwei Krieger aufgesprungen. Ihre Gesichter waren völlig weiß bemalt, ebenso ihr Oberkörper und die Arme. Sie nahmen eine Jungziege in Empfang, die am Strick durch die Menge herangezogen wurde. Das Tier blökte verängstigt und sträubte sich, es spürte, dass es als Opfer bestimmt war.

Tamogante nahm die Ziege am Strick und führte sie dreimal um das Feuer herum. Sie sang: «Sieh dieses Tier, große Erdmutter Tara, höre, wie es nach seiner Mutter ruft, und bist du nicht die Mutter allen Lebens auf Erden? Wie unser König Madango ist diese Ziege ein Kind deines Schoßes, es weidete auf den Ebenen, die deine Haut sind, kletterte über die Felsen deiner Knochen und fraß das Gras, das dein Haar ist. Ich führe es nun um das Feuer, das Guayote gehört, und er riecht das Fleisch des Tieres. Vergib uns, dass wir es töten, denn es muss in dieser Stunde zu Guayote, damit er sieht: Es ist das Geschenk, das Madango auf seinem Weg ins Schattenreich begleiten soll. Nimm dieses Opfer gnädig an, Dämon aus dem Vulkan. Sei zufrieden damit und verschone unsere Dörfer vor deinem Feuer.»

Mit diesen Worten nahm sie das Messer aus ihrem Gürtel und stieß die scharfe Obsidianklinge tief in die Kehle des Tieres. Als sie das Messer herauszog, spritzte das Blut in dickem Strahl zischend ins Feuer. Das Tier knickte auf die Vorderfüße und fiel zuckend zur Seite. Die beiden weißbemalten Krieger griffen zu, packten den Kadaver und warfen ihn in die Flammen.

«Uuuiiii», heulte der Stamm auf, zugleich setzten erneut die Trommeln ein. Einen wilden Wirbel spielten sie, peitschten das Blut in den Adern. Jetzt sprang der Feycan in den Kreis. Der Richter war nicht wiederzuerkennen, kaum wie eine menschliche Gestalt sah er aus. Sein Körper war über und über mit Tierfellen behängt, über dem Kopf trug er eine lederne Haube, die mit gebleichten Tierschädeln und Federn besteckt war. Seine Füße stampften die Erde, sein Oberkörper war eingeknickt, und während sein Tanz ausgedehnte Spiralen um das Feuer zog, immer wieder von zuckenden Sprüngen und seitlichen Ausfällen unterbrochen, heulte und schrie er mit der Stimme eines wilden Hundes. Der Geist des Guayote war über ihn gekommen und hatte von seinem Körper Besitz genommen.

Gebannt starrte Bencomo auf den Geistertanz des Mannes. Der Feycan war nun kein Wesen von dieser Welt mehr, er befand sich in einem Zustand weitab vom gewohnten Leben der Menschen. Immer ekstatischer wurden seine Tanzschritte und Sprünge. Er stürzte zu Boden und wühlte mit den Händen die Erde auf, er sprang in die Luft und schien einige Augenblicke über dem Boden zu schweben. Er tanzte auf das Feuer zu und sprang durch die Flammen. Er spürte keinen Schmerz mehr und besaß plötzlich die Kraft von hundert Männern. Schrill und unheimlich war seine Stimme, seine Kehle formte Laute, die voller Schrecken und Schauer waren.

Ängstlich kauerten sich die Kinder zusammen und bargen die Köpfe zwischen den Armen. Die Erwachsenen aber, alle Frauen und Männer und auch Mazo, der voller Angst war, aber den Blick nicht abwenden konnte, sahen den Tanz des Guayote.

Stundenlang tanzte der Feycan, dann brach er zusammen und wurde von Kriegern aus dem Feuerkreis getragen. Die Heilfrau und ihre Helferinnen bemühten sich um ihn und brachten den völlig Erschöpften endlich wieder zu Sinnen.

Die ganze Nacht über tönte der Gesang, dröhnten die Stimmen, rief das Muschelhorn, um mit vielfachem Echo von den Bergen Antwort zu erhalten. Bencomo blieb im Tagoror und wachte mit den anderen Kriegern darüber, dass das Feuer nicht ausging. Auch er schlief schließlich vor Müdigkeit ein, erwachte aber bald wieder, als die Morgendämmerung kam.

Inzwischen war die Menge um den Tagoror um ein Vielfaches angewachsen. Die Stämme aus dem Norden, dem Westen und dem Kraterkessel waren eingetroffen, und noch immer kamen neue Gruppen an. Es hieß, alle Menschen der Insel seien auf den Beinen, wären aufgebrochen, um dem toten König die letzte Ehre zu erweisen. Überall auf den Bergen klangen die Muschelhörner und riefen die Stämme zusammen. Seit langer Zeit hatte das Dorf Tixarafe nicht mehr solche Menschenmassen gesehen.

Unter den Neuankömmlingen erkannte Bencomo auch Ica. Sie befand sich im Kreis ihrer Familie. Die Leute vom Aridane-Tal hatten ihr eigenes Feuer entfacht, und umringt von seinen Kriegern thronte Häuptling Mayantigo auf einem erhöhten Steinsitz. Wie die Männer aus Tixarafe und Hiscaguan waren auch sie mit weißer Trauerfarbe bemalt. Wer noch nicht Zeit dazu gefunden hatte, wurde mit Schminkpaste versorgt. An diesem Tag sollte die Sonne in kein Gesicht blicken, das nackt und ohne Zeichen der Trauer war.

Bencomo wagte nicht, sich den Leuten von Aridane zu nähern, nur Ica behielt er im Auge. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Es schien, als bemerke sie das und sah mehr als einmal verstohlen in seine Richtung.

Mazo war herangetreten und legte dem älteren Bruder die Hand auf die Schulter. «Ich habe Hunger», sagte er.

«Dann musst du ihn überwinden», antwortete Bencomo. «Du solltest dich damit abfinden, dass es nun mehrere Tage nichts mehr zu essen gibt. Wir werden fasten, so schreibt es die Sitte vor.»

Mazo verzog das Gesicht, widersprach aber nicht.

«Wo ist eigentlich der tote König?» fragte er.

«Da oben», sagte Adargoma und deutete mit der Hand auf einen Felshang oberhalb des Dorfes. «Wenn alle eingetroffen sind, morgen wahrscheinlich, ziehen wir zu ihm hinauf.»

Der Tag verging damit, dass ununterbrochen neue Besucher ankamen, sogar von Tigalate und vom Teneguía, ganz weit im Süden der Insel. Nach und nach trafen die Häuptlinge der zwölf Stämme ein. Bencomo sah sie alle aus nächster Nähe. Sie saßen mit ihren Beratern und Feycans im Tagoror, der jetzt von den Leuten des Dorfes geräumt war. Viele weitere Feuer wurden am Abend entzündet, der ganze Hang von Tixarafe war von ihrem Lichtschein erhellt. Als die Nacht anbrach, wurden erneut die Gesänge angestimmt. Aus vielen tausend Kehlen tönten die Lieder, ein monotoner Gesang, und die Trommeln schrieben den Rhythmus vor. Die Feycans tanzten dazu, überboten sich gegenseitig. Doch keiner reichte an die Ekstase der Darbietung der vergangenen Nacht heran, als der leibhaftige Guayote den Menschen von Tixarafe erschienen war.

Am Morgen des zweiten Tages wurde es nicht richtig hell. Dicke, regenschwere Quellwolken hingen am Himmel, nur spärlich blakte das Licht der Sonne hindurch. Bencomo fröstelte. Es war frisch in der Morgenkühle, taubedeckt war das Gras. Als er zu den bewaldeten Bergen blickte, die den äußeren Rand des großen Kraters umkränzten, sah er dort einen riesigen Schwarm Krähen schweben. Es schien, als würden auch sie sich versammeln, wie die Menschen. Waren das Seelenvögel, hatten die Geister der Ahnen Gestalt angenommen, um als Krähen die Zeremonien der Lebenden zu überwachen?

Als die Leute zur Felsplattform aufbrachen, auf der der Leichnam Madangos aufgebahrt lag, reihten sich Bencomo und Mazo in den Zug ein. An der Spitze ging Tamogante, begleitet von den Seherinnen und Harimaguadas der anderen Stämme. Es folgten die Feycans und die alten, ehrwürdigen Krieger, dann erst die jungen und das übrige Volk. Die Häuptlinge schritten nicht mit im Zug. Am vergangenen Abend waren sie vorausgestiegen, um die Nacht über bei ihrem toten Hochkönig Wache zu halten. Als die Menge auf der Plattform eintraf, hockten sie dort im Kreis. In ihrer Mitte war aus Kiefernstämmen und dem Holz von Drachenbäumen eine Art Thron errichtet, auf dem Madangos Körper ausgestreckt lag. Jeder der Ankömmlinge trat in den Kreis und berührte ihn. Stundenlang dauerte die Prozession, bis auch der letzte Guanche Abschied von Madango, dem großen, weisen König, genommen hatte. Als Bencomo an der Reihe war und vortrat, um den Holzstoß zu berühren, sah er, dass die Haut des Toten mit roter Farbe aufgefrischt war. Das war zu Pulver zermahlener Blutstein, wie er an manchen Stellen der Insel vorkam. Das Blut der Erde, das Blut der Erdmutter oder kurz Taras Blut nannten die Alten diesen Stoff. Er war heilig und durfte nur zu bestimmten Anlässen verwendet werden. Die Häuptlinge selbst hatten ihn im Mörser gestampft, in der Steinmühle zermahlen und das bleiche Gesicht ihres verstorbenen Herrschers damit geschminkt. In der geschlossenen rechten Hand hielt Madango einen Bumerang, der magische Bedeutung besaß, in der linken eine tönerne Tarafigur, von der nur noch der längliche Hals mit dem kleinen Kopf zu sehen war.

Bencomo sah den Leichnam fest an, kniff die Augen zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, dass sich der steife Körper etwas bewegt hatte. Und eine Vision überkam ihn: Ich nehme Abschied von einem bedeutenden Herrscher. Mit ihm geht eine Zeit unaufhaltsam zu Ende und wird niemals wiederkehren. Wie ruhig er daliegt – so ruhig, wie er regiert hat. Nach ihm wird alles verändert sein, aufgeregt und in Bewegung …

Die Vision verblasste, Bencomo trat einen Schritt beiseite, um dem ihm Nachfolgenden Platz zu machen.

«Was geschieht jetzt weiter?» flüsterte Mazo fragend.

«Keine Ahnung», antwortete Bencomo. «Wenn ich es wüsste, wäre ich nicht ich, sondern so weise und hellsichtig wie Tamogante …»


Die Gedanken der alten Heilfrau waren nicht frei von Sorgen. Für sie und ihre Helferinnen brach eine anstrengende Zeit an. Zunächst musste der Leichnam des toten Königs zum Höhlenkloster in die Berge geschafft werden. Dafür waren vier Krieger als Träger zuständig, aber sie durften nur bis zum Vorplatz der Höhlen gehen. Das Kloster dahinter mit seinen labyrinthartigen Gängen und Kammern, die wie jBienenwaben im Fels klebten, war für sie absolut tabu. Nachdem sie umgekehrt waren, begann für Tamogante und die Harimaguadas der Prozess des Einbalsamierens. Dreißig Tage dauerte diese Arbeit, erst dann konnte die Mumie des Königs zur Grabkammer gebracht werden.

Aber dies war nicht Tamogantes einzige Aufgabe. Die Insel durfte keinesfalls dreißig Tage lang ohne Herrscher bleiben. Wie leicht hätte in dieser Zeit ein Konflikt zwischen den zwölf Stämmen ausbrechen können. Jeder der Häuptlinge strebte nach Anerkennung, es musste also möglichst schnell eine Entscheidung fallen und ein neuer Hochkönig gewählt werden. Zwar kürten ihn die Häuptlinge, sie mussten den besten und mutigsten aus ihren Reihen finden, um ihn auf den Thron von Benahoare zu setzen. Aber die weise Medizinfrau wusste genau, dass diese Wahl nicht problemlos vonstatten gehen würde, zu viel Ehre und Ansehen standen auf dem Spiel. Und so fiel ihr eine Schlüsselrolle zu. Sie hatte auf die Zeichen zu achten, auf eine Vision, ein Gesicht, wodurch die Götter ihre Entscheidung kundtun würden.

Da war Madangos Nachfolge als Häuptling von Hiscaguan und Tixarafe schon leichter. Tamogante lebte schon lange im Gebiet dieses Stammes, sie kannte die Krieger genau und konnte fast ihre Gedanken lesen. Sie würden sich für Atogmatoma entscheiden, der sich durch Klugheit, Besonnenheit und ein natürliches Talent für Diplomatie auszeichnete. Ja, Atogmatoma würde eine gute Wahl sein, da war sie sich sicher.

Aber schwierig war es, einen Hochkönig zu finden, der mit der Sympathie aller Stämme rechnen konnte. Mindestens drei der Häuptlinge waren über die Grenzen ihres Stammesgebietes hinaus bekannt und berühmt: der alte, listige Mayantigo aus dem Aridane-Tal, Ayucuahe, der am Vulkan Teneguía lebte, wo sich eine wundersame Heilquelle befand, und Tanausú vom Kessel des großen Kraters. Tanausú war noch jung und galt als überaus mutig. Von allen Ringkämpfern der Insel war er der erfolgreichste, sein Wort galt, er hielt zuverlässig alle Vereinbarungen ein – und was das wichtigste war: In seinem Gebiet lag der Idafe, der Heilige Berg, der als Weltensäule galt und mit seiner Spitze den Himmel stützte. Tanausú hatte sich letzthin viel Anerkennung bei der Eindämmung eines verheerenden Waldbrandes erworben, der vor zwei Jahren am Kraterrand gewütet und sich auf die Gebiete anderer Stämme auszuweiten gedroht hatte. Was gegen ihn sprach, war die Neigung, leicht in Zorn zu geraten und in seiner Wut manchmal keine Grenzen zu kennen. Viele fürchteten Tanausú deshalb. Konnte man einen solchen Mann zum Hochkönig der Insel machen? Tamogante grübelte lange hin und her. Sie gab den Mädchen ihre Anweisungen, kontrollierte sorgfältig alle Arbeitsgänge der Mumifizierung, aber ihr Geist fand keine Ruhe, kam stets wieder auf die anstehende Wahl zurück. Vielleicht waren die drei, Mayantigo, Ayucuahe und Tanausú auch zu ähnlich in ihrer Art, sich in vielem zu ebenbürtig, vielleicht musste ein ganz anderer, ein neuer Mann an diese Aufgabe herangeführt werden. Warum eigentlich nicht Atogmatoma? Gegen ihn sprach eigentlich nur, dass er wie sein Vorgänger aus Tixarafe stammte, was eine eindeutige Bevorzugung dieses Gebietes darstellte und die übrigen Stämme brüskieren konnte.

Es muss eine Lösung geben, dachte Tamogante, ich benötige unbedingt eine Vision, ein klares Zeichen, das meine Zweifel zerstreut …

«Ich habe den Bimsstein zerrieben.» Eine der Harimaguadas stand vor der Medizinfrau und hielt ihr eine Tonschale mit feinem, grauem Staub hin.

«Gut», sagte Tamogante, aus ihren Überlegungen erwachend. Sie saß auf der sonnenbeschienenen Plattform vor den Höhlen und merkte erst jetzt, dass die jungen Mädchen sie umringten. Schön sahen sie aus in ihren hellen Gewändern, wie Blumen der Berge.

«Habt ihr den Leichnam in der vorgeschriebenen Art gewaschen?»

«Ja, wie du es gesagt hast: zweimal am Tag, besonders die empfindlichen Teile, die Stelle zwischen den Fingern, die Achselhöhlen, hinter den Ohren, die Nasenlöcher, Hals und Handgelenke.»

Tamogante hatte am Tag, nachdem der tote König hierher gebracht wurde, eigenhändig mitgeholfen, die Leiche auf flachen Steinen auszustrecken und die Eingeweide zu entnehmen. Jedes Mal nach der Waschung wurde der Körper mit Ziegenbutter eingerieben und mit dem Harz des Drachenbaums, das zunächst farblos war, wenn es aus dem angeritzten Stamm trat, aber in der Luft zu einer klebrigen Masse trocknete. Blutrot wurde es, das Blut des Dragos, das unverwundbar machte und eine geheimnisvolle Kraft besaß.

«Dann bringt jetzt das Pulver aus Kiefernholz und Heidekraut und mischt es mit dem Bimsstein», sagte Tamogante. «Sind die Ziegenfelle bereitgelegt?»

«Ja», antworteten die Mädchen und beeilten sich, das Gewünschte herbeizuschaffen.

Jetzt musste in den präparierten Leichnam das Pulver eingefüllt werden. Nur so gelang es, den Prozess der Verwesung aufzuhalten. Später würden sie ihn in die Ziegenhäute wickeln und die Felle mit dem Harz des Drachenbaums verkleben. Schicht um Schicht musste das gemacht werden, fünfzehn Mal, bis die Mumie ihre neue Haut besaß und die Reise ins Schattenreich antreten konnte. Danach, am dreißigsten Tag, würde sie zur Grabkammer gebracht, wo die anderen Ahnen des Stammes ruhten. Dort, auf ein Drachenholzbrett gebunden, mit dem Kopf nach Norden, den Füßen nach Süden, würde der tote König ruhen, bis die Zeit anbrach, in der die Ahnen zu neuem Leben erwachen und zum Stamm zurückkehren würden. Aber das konnte noch lange dauern, viele hundert Jahre oder mehr, vielleicht bis zu jenem Zeitpunkt, den die Mythen den ältesten und zugleich auch den jüngsten Tag nannten.

Viel hatte Tamogante von ihren Vorgängerinnen im Amt gelernt und an die Mädchen weitergegeben. Die meisten von ihnen blieben nur zwei, drei Sommer lang bei ihr in der Lehre und gingen dann in ihre Dörfer zurück, um als Medizinfrauen zu wirken. Oder sie heirateten tüchtige Krieger und brachten ihr Wissen als nicht hoch genug einzuschätzende Mitgift in die Ehe ein.

Aber es gab auch Harimaguadas, die länger im Bergkloster blieben, manche für immer. Wie Agora, die gute Seele. Sie war nicht mehr die jüngste und besaß das zweite Gesicht: Sie konnte die Gedanken anderer Menschen lesen. In Tamogantes Abwesenheit leitete sie das Kloster, eines Tages würde sie ihre Nachfolgerin werden.

Die alte Medizinfrau saß in der Abendsonne und lächelte still vor sich hin. Sie dachte an die vielen Jahre, die sie hier oben in der Bergeinsamkeit verbracht hatte, an die guten und auch an die schlechten Zeiten, wo es Vulkanausbrüche, Brände oder strenge Winter mit Schnee gegeben hatte, in denen die Vorräte knapp wurden und der Hunger ein ständiger Begleiter war. Als junges Mädchen war sie ins Kloster gekommen, um in die Geheimnisse des Heilens, des Orakelbefragens und Hellsehens und die Kunst des Mumifizierens eingeweiht zu werden. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie damit verbracht, die Natur zu beobachten und darauf zu warten, dass Abona entstand. Wenn das Wirken von Tara, dem weiblichen Prinzip, und von Orahan, der männlichen Kraft, zusammentreffen, dann entsteht daraus etwas Neues, dann wird Abona, das Leben, geboren. Überall war die Anwesenheit von Tara, der großen Erdmutter, zu sehen, in jedem Stein, jeder Pflanze, jedem Tier und auch im Menschen. Orahans männliche Kraft dagegen war unsichtbar, nur zu spüren, durchwehte den Himmel, lebte im Wind, trieb das Wasser von der Quelle zu Tal und ins Meer. Wirkten beide zusammen, paarten sich Tara und Orahan, dann schufen sie Abona, das Leben. Und alles, was Abona besaß, war richtig und gut.

Abonas Gegenspieler war der Guayote, der Dämon aus dem Vulkan. Vor ihm musste man sich in Acht nehmen, seine vielfältigen Erscheinungen ständig im Auge behalten, denn der Guayote war schlau und gerissen. Er konnte sich tarnen und selbst in scheinbar harmlos aussehenden Situationen auftauchen, um Unheil zu stiften. Verkleidet kam er und leise, wie ein Dieb in der Nacht, um Abona zu stören. Ewig lagen Abona und der Guayote im Kampf.

Dies besonders, das Wirken der Prinzipien und wie sie in der Natur unterschiedliche Gestalt annahmen, galt es für die Harimaguadas zu lernen. Und Tamogante hatte lange beobachtet und studiert. Würde es nach ihr jemals wieder eine so erfahrene Heilfrau geben wie sie? Tamogante lachte. Natürlich! Agora zum Beispiel und andere der Mädchen besaßen gute Ansätze, die gleichen Fähigkeiten zu entwickeln. Sie war keine Ausnahme, kein besonderes Wesen, nur ein Teil des großen, ewig währenden Spiels, das formte, wuchs und verging, wieder und immer wieder in andere Gestalten schlüpfte. Ja, sie hatte nur ihre Pflicht getan, das Kloster befand sich in gutem Zustand, eigentlich konnte sie jederzeit fortgehen, um anderen Platz zu machen, die den großen Plan fortführen würden. Nein, noch nicht ganz … Zuvor galt es noch, einen Mann zu finden, der würdig genug war, um als Hochkönig über Benahoare zu wachen.

«Ich muss hinunter ins Tal», sagte Tamogante zu Agora und den Mädchen, «die Häuptlinge sind im Tagoror von Tixarafe versammelt, um eine wichtige Entscheidung zu treffen. Wie ich die Männer kenne, reden sie schon tagelang über die Sache, ohne eine Lösung zu finden. Möglicherweise streiten sie sogar schon, weil keiner von ihnen den richtigen Weg findet.»

«Kennst du ihn denn?» fragte Agora.

«Nein», antwortete Tamogante lachend, «aber vielleicht kann ich dabei helfen, ihn zu sehen. Was würdest du an meiner Stelle tun?»

«Auch ich würde gehen», antwortete Agora, «einfach gehen, nicht suchen, mehr spüren.»

Die beiden Frauen umarmten sich herzlich.

«Genau das werde ich tun», sagte Tamogante, «und ich hoffe, es ist gut so. Nun muss ich aufbrechen, schon greifen die Schatten von den Bergen nach mir.»

Leichtfüßig, als habe ihr Körper sein hohes Alter vergessen, lief Tamogante ins Tal.


Aber sie lief nicht nach Tixarafe, sondern bog, einer plötzlichen Eingebung folgend, am alten Saumpfad nach Norden ab. Dieser Weg führte unterhalb des Kraterrandes entlang und lag noch im warmen Licht der Abendsonne. Eidechsen stoben vor ihren Füßen auf, ein neugieriger Falke folgte ihr, doch Tamogante achtete nicht darauf. Sie lief im Lauf der Kraft, mit vorgebeugtem Oberkörper und pendelnden Armen. Diese Art der Fortbewegung strengte am wenigsten an und führte rasch vorwärts. In dem Kiefernwald spürte sie die Schattenkühle nicht, dann stieg der Pfad langsam an. Unterhalb des Freundschaftsberges wich der Wald zurück und machte dorniger Buschweide Platz. Es gab viele Steine hier, ein Gewirr flechtenüberwachsener Felstrümmer, in dem man sich hoffnungslos verirren konnte, wenn man die spärlichen Zeichen am Boden nicht sah: abgeknickte Halme, trockener Ziegenkot und Hufspuren. Die Herden zogen hier entlang, und wohin ihre Wege führten, dort lag mit Sicherheit eine Wasserstelle.

Tamogante brauchte kaum auf den Boden zu achten. Ihr Körper lief automatisch, fand von selber den Weg. Jenseits der Hochweide fiel der Pfad spürbar ab und führte in jenes Tal hinein, in dem die heilige Dornbuschquelle La Zarzita lag. Die Sonne stand inzwischen dicht über dem Meer und schickte sich an, in die orange-roten Wasser einzutauchen. Sie machte die langen Schatten noch länger, hüllte die Welt zusehends in Dunkelheit ein. Tamogante beeilte sich, um mit dem Verlöschen des letzten Sonnenstrahls die kleine Höhle an der Dornbuschquelle zu erreichen. Ziegenfelle lagen hier im Versteck bereit. Tamogante hüllte sich in sie, rollte sich zusammen und schlief sofort ein, traumlos und tief.

Ein vielstimmiges Vogelgezwitscher weckte sie auf. Von Leben erfüllt war die kleine Schlucht, jeder Grashalm, jedes Blatt schien sich in der Sonne zu räkeln, und bunte Schmetterlinge tanzten über den Blumen. Es war ein wunderschöner Morgen, Tamogante liebte diese Stunde besonders. Sie streckte sich ausgiebig, schlüpfte aus den Fellen, rollte sie zusammen und trat vor die Höhle. Es waren nur wenige Schritte bis zu dem Gehölz, das eine Senke umstand. Dort im grünen Dunkel des zitternden Blattwerks murmelte die Quelle und schickte ihr Nass ins Tal hinunter. Tamogante beugte sich darüber und schöpfte mit den Händen das Wasser. Es schmeckte erfrischend kühl. Sie wusch sich das Gesicht und die Arme. Danach richtete sie sich auf und betrachtete die graue, schrundige Felswand am Rande der Quelle.

Das Gestein war über und über mit eingekerbten Zeichen verziert, wie tätowiert sah der Fels aus. Spiralformen und konzentrische Kreise bildeten das Hauptmotiv, waren vielfältig miteinander verflochten und teilweise zu endlosen Mustern graviert. Aber es gab auch konkrete Darstellungen dazwischen – den Körper der großen Erdmutter Tara mit insektenartigem Kopf, hängenden Brüsten und einem wellenliniengeschmückten Glockenrock. Links von ihr befand sich der in den Stein gehauene Altar, daneben die Darstellung eines Labyrinths und rechts davon der Kopf eines Kriegers mit Halsschmuck und weitauslaufender Federhaube. Er stellte Orahan, die männliche Schöpferkraft, dar. Zunächst ging Tamogante zum Altar und rückte die Tonfigürchen zurecht, die in den einzelnen Nischen standen. Dann kniete sie nieder. Ihre Gedanken richteten sich an die große Erdmutter, lautlos formten sich ihre Lippen zum Gebet: «An der Dornbuschquelle bin ich bei den heiligen Zeichen, spüre die Rinnen im Stein. Sagt, Abona, Tara, Orahan, haben es eure Kinder recht getan, wer ist übrig, euch zu verstehen – der Wind, die Drachen des Tages, die Geckos, die weißen Brüder der Nacht? Sagt, gibt es noch einen, der Zeichen wie diese formt, den Muldensessel, die Steine im Kreis? Wenn ich die Wurzeln esse, die Beeren, zwischen Farn niederknie und trinke – nehmt ihr dies als Opfer an? Die Sprache der Menschen ist anders geworden, ihre Handlungen auch, ihre Körper verstehen oft schon den Sinn nicht mehr. In den Dörfern löscht die Erinnerung aus. Doch ich, Pflegerin des alten Wissens, will ich jemals zurück, kann ich noch gehen?

An der Dornbuschquelle bin ich, habe Wasser getrunken und Zeichen geformt …»

Tamogante stand auf. Für einen kurzen Augenblick spürte sie das Alter ihrer Knochen, Muskeln und Sehnen. Steif waren ihre Beine, Schmerz saß in den Knien. Wie ein Tier hockte ihr das Alter im Genick und beugte ihren Körper. Sie schüttelte das unbehagliche Gefühl ab und wandte sich ganz ihrem Dienst zu. Mit geschlossenen Augen tastete sie die Figuren im Fels ab. Ihre Fingerkuppen folgten den Rillen, suchten das Muster. Es ist Musik, dachte Tamogante. Eigentlich sind diese Bilder Gesang, aber einer, der lautlos klingt und innen im Körper entsteht. Es sind die uralten Lieder der Schöpfung …

Mit einem scharfkantigen Stein kratzte sie den Boden zu ihren Füßen auf, entnahm ihm rotbraune Erde, mischte sie mit dem Wasser der Quelle und strich den Farbbrei in die Rillenbahnen. Lange dauerte diese Prozedur. Die alte Heilfrau vollzog sie in schweigsamer Andacht. Dann trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Jetzt waren sie wieder deutlich zu sehen, die alten Bilder und Muster. Die rote Erde ließ sie aufflammen und ihre innere Musik lauter werden. Es war ein Gesang, der die Geräusche von Wind, rauschendem Blattwerk und dem Sprudeln der Quelle aufnahm und überhöhte, eine Melodie, die heller als die Stimmen der Zikaden und Vogelkehlen war, dunkler als das unheimliche Grummeln der Erde und rauschender als das Brüllen des Meeres.

Haben nicht früher die Menschen diese Lieder leicht verstanden und sie mitgesungen, dachte Tamogante. Waren damals nicht immer Bittsteller hier an der Quelle und legten Opfergaben an den Altar? Gab es nicht Feste, auf denen getanzt wurde, gelacht und gemeinsam gegessen? Wieso ist dies alles vergangen, wieso bleiben die Menschen in ihren Dörfern und sind so weit weg von Tara, Orahan und Abona? Haben die Zeiten sich so sehr geändert?

Und als ob mit der Verehrung der Menschen die Kraft ausbliebe, wurden auch die Visionen und Gesichte rar. Hatten die Götter sich abgewandt, sprachen sie immer seltener und nur noch zu ganz wenigen Auserwählten?

Trauer erfasste Tamogante. Sie hatte ein Zeichen erwartet, doch das Wunder blieb aus. Voller Demut kauerte sie sich vor die Felswand, konzentrierte sich ganz auf ihr Inneres, horchte in sich hinein. Ihre Finger ertasteten die Zeichen im Fels, fuhren die Spiralen und Kreisbahnen entlang. Ganz außen rechts und links hatte sie begonnen und Bewegungen vollzogen, die aussahen, als wäre sie ein Vogel und ihre Arme Flügel. Dann wurden die Kreisbahnen immer enger und steuerten den Mitten zu. Schließlich hielt sie inne. Sie war an beiden Endpunkten angelangt. Ihr Atem stockte.

Das ist es, spürte sie, ganz deutlich spürte sie es: Was wir brauchen, ist Ruhe und Harmonie. Einen König, der für den Zustand des Gleichgewichts sorgt nach innen und außen. Nach außen? Was sollte dies bedeuten? Gab es noch etwas außerhalb der Insel, das sie nicht kannte?

Eine fremde, unheimliche Macht griff plötzlich nach ihrem Herzen, presste es und hielt es schmerzhaft umklammert. Tamogante verlor das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, spürte sie ihr Herz noch immer brennen, aber dumpfer und weniger schmerzhaft. Sie lag vor den Felsen dicht bei der Quelle, und die Sonne stand hoch am Himmel. Mühsam richtete sich die alte Heilfrau auf. Dabei entdeckte sie vor dem Altar eine kleine weiße Flaumfeder, die vorher nicht dort gelegen hatte. Mit zittrigen Fingern nestelte sie ihren Kultbeutel auf und steckte die Feder hinein.

«Beschütze mich, Tara», flüsterte sie, «gib mir Kraft, Orahan, lasst mich euer Werkzeug sein, um noch einmal Abona zu tun.»

An der Quelle trank sie vom heiligen Wasser, bedankte sich und machte sich dann auf den Rückweg. Langsam schritt sie voran, einen Fuß vor den anderen setzend. Der Lauf der Kraft wollte ihr nicht mehr gelingen. Erneut nahm sie den Saumpfad, bog aber diesmal kurz nach der Hochweide ab und stieg hinunter nach Tixarafe ins Tal.


Nachdem sich das Volk zerstreut hatte, die Stämme in ihre Gebiete abgezogen waren, blieben nur noch die Häuptlinge, die Feycans und die weisen Frauen im Tagoror zurück. Lange dauerte das Palaver, endlose Tage und Nächte. Und wie Tamogante vorausgesehen hatte, war der Ratskreis in unterschiedliche Lager zerfallen. Die Häuptlinge des Südens hatten sich auf die Seite von Ayucuahe geschlagen, die des Ostens schwankten zwischen Tanausú und Mayantigo, und für Atogmatoma sprachen nur Bediesta und Temiaba aus dem hohen Norden.

«Er wird ein würdiger Nachfolger Madangos sein», sagte Bediesta, den sie auch Felsenschulter nannten, weil seine Ausdauer im Steineheben und -werfen sprichwörtlich war. «Der Feycan von Tixarafe hat beim Tanz die Stimme des Guayote gehört, wir alle spürten die Erde beben. Warum geschah das nur bei seinem Tanz, und danach nicht mehr, als unsere Feycans an der Reihe waren? Ist dies nicht ein deutliches Zeichen, dass der Stamm von Hiscaguan und Tixarafe erneut den Hochkönig stellen soll?»

«Du sprichst für Atogmatoma, als würde er nicht nur Häuptling seines, sondern bald auch deines Stammes sein», höhnte Mayantigo aus dem Aridane-Tal. «Gibst du so rasch deinen Anspruch auf?»

«Unsinn», antwortete Bediesta, «unsere Stämme leben seit langem in Frieden, tiefe Schluchten trennen unsere Gebiete und legen auf natürliche Weise die Grenzen fest. Von was redest du also? Nein, worauf es mir ankommt ist, dass der Beste von uns auf den Thron kommt, und das ist nach meiner unumstößlichen Meinung nun einmal Atogmatoma.»

«Man könnte es durch einen Wettkampf entscheiden», sagte Mayantigo. «Ich glaube allerdings, dass viele dabei den kürzeren ziehen würden. Wann hast du das letzte Mal Steine gestemmt, Felsenschulter? Stimmt es nicht, dass es lange schon her ist, weil dich seit einiger Zeit die Gicht plagt?»

Bediesta verzog angewidert das Gesicht. Bevor er etwas antworten konnte, fiel Ugranfir, der Feycan aus dem Vulkankessel, der ein eifriger Fürsprecher Tanausús war, ein: «Alle Häuptlinge der Insel besitzen besondere Fähigkeiten, die sie auszeichnen und ehren, darüber besteht keine Frage. Ich gebe aber eines zu bedenken und wiederhole es mit großem Ernst: Nur im Krater steht der Idafe, der Heilige Berg der Guanchen, der beseelt ist und zu gewissen Zeiten mit den Menschen spricht. Wer anders als der Hüter des Berges, der mutige, furchtlose Tanausú, käme daher als König in Frage? Wenn du unbedingt einen Kampf willst, Mayantigo, dann miss dich mit ihm …»

«Ja, kämpfe mit ihm!» rief Gareagua von Tigalate. «In früheren Zeiten wurde die Wahl des Hochkönigs stets durch einen Wettkampf entschieden.»

«Es gibt Dinge, die wichtiger als Kraft und Geschicklichkeit sind», sagte Temiaba von Tagalguen, «zum Beispiel Klugheit und Gerechtigkeitssinn.»

«Willst du damit andeuten, dass wir dumm und ungerecht sind?» brauste Mayantigo auf. «Hüte deine Zunge, Mann aus dem Norden, der du ohnehin die besseren Weideflächen besitzest. Deine Ziegen und Schafe sind fett vom satten Grün deiner Berghänge, der Wind schickt dir reichlich Wolken und Regen …»

«Und Stürme im Winter, die unberechenbar sind», unterbrach Temiaba. «Nicht jeder lebt so geschützt wie dein Stamm im Aridane-Tal, das weder kalte Winter noch heiße Sommer kennt. In eurer Bucht fangen bereits die Kinder fette Fische, ohne sich anstrengen zu müssen, während das bei uns wegen der wilden See ein Wagnis darstellt. Gut Reden hast du, reicher, sorgenloser Mayantigo. Wann hat dein Stamm jemals Hunger verspürt?»

«Beruhigt euch», versuchte eine Heilfrau aus dem Süden zu beschwichtigen. «Mit bösen Worten kommen wir einfach nicht weiter. Was wir brauchen, ist ein deutliches Zeichen, das alle verstehen.»

«Und was schlägst du vor?» fragte Ugranfir.

«Abzuwarten, was uns Tamogante zu sagen hat.»

«Wo ist sie eigentlich?» riefen mehrere durcheinander. «Wo steckt sie? Man hat sie seit dem Tag des Totentanzes nicht mehr gesehen …»

Die Heilfrau antwortete darauf nicht. Sie stand auf, trat aus dem Kreis und deutete statt dessen wortlos mit der Hand in Richtung der nördlichen Hänge. Alle sahen von dort die Gestalt einer alten Frau herankommen. Gebeugt schritt Tamogante, aber als sie näher kam, richtete sie sich auf. Stolz trat sie in den Kreis. Sie blickte sich um, als käme sie von sehr weit her und erkenne erst nach und nach die Gesichter im Tagoror. Dann ließ sie sich auf einem freien Steinsitz nieder.

Es war ruhig im Kreis, die Versammelten warteten darauf, dass sie sprach. Aber die alte Medizinfrau regte sich nicht, kein Wort kam von ihren Lippen. Sie saß starr und sah aus, als würde sie auf etwas lauschen, doch niemand außer ihr vernahm einen Ton.

Plötzlich erhob sie sich und entnahm dem Kultbeutel an ihrem Gürtel eine weiße Flaumfeder. Die hob sie hoch, hielt sie vor ihren Mund und blies sie an. Senkrecht stieg die Feder auf, wurde vom Wind erfasst und über den Köpfen der Anwesenden zum Tanzen gebracht. Es ging alles sehr schnell. Die Feder tanzte in der Luft, dann wurde sie von einem Windstoß gepackt und zu Boden getrieben. Genau vor Atogmatomas Füßen blieb sie liegen.

«Heb sie auf», sagte Tamogante.

Der zukünftige Häuptling von Tixarafe und Hochkönig der Insel starrte fassungslos auf die Feder. Zögernd bückte er sich nach ihr. Dann, als er sie in der Hand hielt, straffte sich seine Haltung merklich. Er richtete sich auf und zeigte allen die Feder. Ernst und Stolz lagen auf seinem Gesicht, als er sie sich ins Haar steckte.

«Ayiiieeeh!» schrie Bediesta gellend und sprang auf die Füße. Einige der Feycans und mehrere Häuptlinge folgten seinem Beispiel. Mayantigo, Ayucuahe, Tanausú und ihre Vertrauten blieben sitzen.

«Was ist?» fragte Tamogante. Streng blickte sie einen nach dem anderen an. Der Ausdruck ihres Gesichts duldete keinen Widerspruch. Sie war nur eine alte Frau, aber die ranghöchste aller Harimaguadas. Stets hatten sich die Häuptlinge ihrem Willen gebeugt.

Jetzt standen auch die auf, die bis zuletzt sitzen geblieben waren. Zögernd Mayantigo, widerstrebend Tanausú. Besonders ihm war anzusehen, dass er mit der Entscheidung alles andere als einverstanden war. Er stand auf, wie das Gesetz es befahl, aber er schwieg mit zusammengepresstem Mund. In diesem Kreis würde kein einziges Wort mehr über seine Lippen kommen, schwor er sich. Er schätzte zwar die alte Heilfrau, aber sein Vertrauen in Atogmatoma war nicht sonderlich groß. Diesem Schwächling von Hochkönig würde er niemals den Treueid leisten, lieber würde er den Feierlichkeiten fernbleiben.

Tanausú verneigte sich kurz vor der alten Frau. Dann schritt er stumm aus dem Kreis. Ugranfir und die Vertrauten folgten ihm. Alle bekamen das mit, aber niemand wagte über den Missklang zu sprechen. Auch Tamogante erwähnte den Vorfall später mit keinem Wort.

Sie war froh, dass das Orakel entschieden hatte, und über die Wahl Atogmatomas auch. Dennoch nagten Zweifel an ihr. Besonders eindrucksvoll war das Zeichen nun wirklich nicht zu nennen – eine weiche, schwache Flaumfeder hatte über das Schicksal der Insel entschieden …


Weit im Norden, in jenem fernen Land Spanien, bahnten sich zur gleichen Zeit Ereignisse von großer Tragweite an.

Man schrieb das Jahr des Herrn 1492. Das einst in viele Kleinstaaten zersplitterte und von langen Kämpfen gegen die Araber erschütterte Land war durch die Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragon als Staatswesen gefestigt worden, weshalb man die beiden nun die «Vereinigten Könige» nannte. Die christliche Reconquista hatte viel Land hinzugewonnen, die Mauren aus dem Süden endgültig vertrieben, ihre letzte Hochburg Granada genommen und sogar Teile von Nordafrika erobert. Das Glück war unbestreitbar den Katholischen Königen hold, es ging aufwärts mit der Krone, Spanien reifte zur Weltmacht heran.

Isabella und Ferdinand weilten in diesem schicksalsschweren Jahr 1492 in ihrer Residenz Santa Fé. Vor kurzem hatte ein merkwürdiger Mann bei ihnen um Audienz ersucht und sie auch erhalten, ein gewisser Cristoforo Colombo, der von den Spaniern seines schwer aussprechbaren Namens wegen Cristóbal Colón genannt wurde. Ein Seefahrer und Abenteurer, ein Besessener, der, von missionarischem Eifer erfüllt, davon sprach, einen neuen, bisher nie gewagten Seeweg nach Indien finden zu wollen. Und was hatte er dem erlauchten Paar alles erzählt und versprochen: dass er dank seiner Studien in Florenz beim Kosmographen Toscanelli und seinem Lehrer, dem Kardinal Pierre d’Ailly, das Imago mundi, das Bild der Erde besser als jeder andere Sterbliche kenne, genaue Karten für seine Entdeckungsreise besäße und die Weltkugel in westlicher Richtung umrunden wolle, dass es dort in jenem unbekannten Teil Indiens unglaublichen Reichtum gäbe, Schätze, wie sie das Herrscherpaar niemals zuvor gesehen habe, und dass nur er allein, Cristóbal Colón, diese waghalsige Reise zu meistern imstande sei.

Schon viele Jahre war er mit diesem Plan hausieren gegangen, aber stets vom Königshaus abgewiesen worden. Andere, wichtigere Probleme galt es zu lösen. Nun endlich hatten Isabella und Ferdinand zugestimmt und ihm die Mittel für seine Expedition bewilligt, drei Schiffe, Seeleute, Soldaten und Waffen nebst der Zusicherung, er könne sich dort, sofern er die Überfahrt schaffe, Vizekönig von Spanien nennen. Mochte der lästige Mann seinen Willen haben, vielleicht stimmten seine Berechnungen ja doch und brachten der Krone unerwarteten Gewinn …

Wenige Wochen nachdem dieser Cristóbal Colón begeistert und freudestrahlend davongelaufen war, stand schon wieder ein Bittsteller vor der Tür. Diesmal aber kein unbekannter Spinner und Träumer, sondern ein Mann, den man ernst nehmen konnte, ein berühmter, hochdekorierter Soldat: der achtbare Alonso Fernández de Lugo, der Held von Gran Canaria und Kommandant der dortigen Festung Agaete. Gobernador de la Conquista Adelantado mayor de Canarias durfte er sich nennen, seit er zum Statthalter der besetzten Kanarischen Inseln aufgestiegen war. Was wussten die Katholischen Könige über ihn? Dass er in der armen Provinz Lugo in Galicien geboren war, aber inzwischen als geachteter Bürger der Stadt Sevilla galt, dass seine militärische Laufbahn mit dem Krieg um Granada und der Einnahme der Alhambra begonnen hatte und durch die Eroberung von Gran Canaria unter dem Befehl der Generäle Juan Rejón und de Vera ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte.

Seit auf Gran Canaria Ordnung herrschte und die unterworfenen Guanchen keinen Aufstand mehr wagten, verwaltete Alonso de Lugo die Ländereien, die man ihm bei der Verteilung des Landes zugesprochen hatte. Das Königspaar wusste nur zu gut: Dieses ruhige Leben konnte einen Mann, der von frühester Jugend an den Umgang mit Waffen gewöhnt war, nicht lange befriedigen. In seinem Schloss hatte er immer wieder darüber nachgegrübelt, wie man die letzten beiden noch freien Kanaren-Inseln, La Palma und Teneriffa, erobern und der Krone unterstellen konnte. Diese Inseln und ihre Eingeborenen waren gefürchtet, weil sie sich jeglichem Zugriff entzogen. Alle Invasionsversuche waren bisher an dem heftigen Widerstand der Wilden gescheitert und hatten nur Verluste an Geld und Menschenleben eingebracht.

Aber in de Lugo brannte der Ehrgeiz, die rebellischen Inseln forderten ihn regelrecht heraus, sie stellten für einen Haudegen und Strategen wie ihn die richtige Aufgabe dar. Also brach er nach Santa Fé auf, um die Krone zu bitten, ihm den Oberbefehl für das geplante Unternehmen zu erteilen.

Alonso Fernández de Lugo war eine stattliche Erscheinung, stets in feinste Stoffe nach der neuesten Mode gekleidet und elegant in seinem Auftreten. Bei seinen Freunden galt er als Draufgänger, bei seinen Feinden als skrupelloser Frauenheld, Spieler und Intrigant. Auch die Königin musste zugeben, dass sein Charme, seine hochgewachsene Gestalt, das dichte schwarze Haar und die dunklen, feurigen Augen nicht ohne Wirkung auf sie blieben. Besonders als er nun seinen Hut zog und mit Grandezza einen solchen Bogen zur Seidenschärpe damit beschrieb, dass die federgeschmückte Krempe fast den Boden berührte. Bei der Verbeugung mit dem angedeuteten Kniefall klirrte sein Degen hell gegen die Marmorkacheln.

Ferdinand spürte Isabellas gesteigerte Aufmerksamkeit sofort, ließ sich aber nichts anmerken. Ohnehin schätzte er seine Gemahlin nicht sonderlich, hatte sie nie geliebt, sondern lediglich dem Druck beider Familien und der Berater am Hofe nachgegeben und der nützlichen Zweckheirat zugestimmt. Was dieser tapfere Soldat aber zu berichten wusste, interessierte auch ihn.

Gleich nach der Zeremonie der langatmigen Begrüßungsfloskeln stellte er seine Fragen.

«So, La Palma wollt Ihr für die Krone erobern», sagte er, während seine Finger spielerisch durch den Bart strichen. «Eine langweilige Insel, die bloß aus feuerspeienden Bergen, Lavawildnis und undurchdringlichem Dickicht besteht. Warum gerade dieses Ödland?»

«Oh, es ist reich an Trinkwasser, Holz und Früchten», antwortete de Lugo beflissen, «die Insel könnte ein guter Stützpunkt für unsere Flotte sein, Ausgangspunkt für die weitere Eroberungspolitik der Krone, Majestät.»

«Hm, ich sehe, Ihr denkt vorausschauend und strategisch klug, aber dennoch bin ich nicht übermäßig entzückt … Sagtet Ihr Trinkwasser, Holz und Früchte? Diese Gaben der Natur mögen für anspruchslose Seeleute ja gewiss ganz nützlich sein, als erstrebenswerte Schätze für die Krone allerdings würde ich sie eher erbärmlich nennen, meint Ihr nicht?»

De Lugo konnte ein hintergründiges Grinsen nicht unterdrücken. Diesen Einwand hatte er erwartet und war gründlich darauf vorbereitet.

«Ihr habt völlig recht, Majestät, Euer sprichwörtlicher Scharfsinn hat Euch sogleich die richtige Fährte erkennen lassen», schmeichelte er. «Natürlich sind es nicht solche Dinge allein, die La Palma interessant machen …» Er beugte sich vor und senkte seine Stimme zu einem beschwörenden Raunen. «Es soll dort auch Gold geben, kostbare Edelsteine in Hülle und Fülle, dazu mancherlei andere wertvolle Raritäten im Innern der Erde …»

«Ach, wirklich?» fragte Ferdinand. Wie von de Lugo vorausgesehen, erwachte schlagartig das Interesse des Königs. «O ja», nickte de Lugo. «Gold und Silber … wenn die Berichte stimmen, liegt auf der Insel ein unermesslicher Reichtum herum, der nur darauf wartet, von uns eingesammelt zu werden.»

«Welche Berichte?»

«Es handelt sich um die mündliche Aussage des Verwandten eines Seemanns, der auf der Insel war.»

«Hm, reichlich vage, wie mir scheint.»

«Dennoch könnte es sich als lohnend erweisen, den Sachverhalt an Ort und Stelle zu überprüfen, zumal, wie bereits schon erwähnt, die Insel einen ausgezeichneten Stützpunkt für unsere Flotte darstellt …»

Der König nickte nachdenklich. Nach einer Weile des Schweigens räusperte er sich: «Geht nicht die Kunde von La Palma, dass die primitiven, gottlosen Wilden auf dieser Insel besonders kampflustig und gefährlich seien?»

«Wenn Ihr erlaubt, Majestät: nicht gefährlicher als die Mauren von Granada.»

«Aha, so schätzt Ihr die Lage ein … Andere vor Euch waren allerdings auch so optimistisch wie Ihr. Rüstete Peraza in Gomera nicht eine Expedition mit zweihundert spanischen Schützen aus, um La Palma zu besetzen – es müssen wohl gut vierzig Jahre her sein –, und ging das Heer damals nicht auf klägliche Weise zu Grunde?»

«Das stimmt, Majestät», antwortete de Lugo. «Soweit ich informiert bin, schien die Sache gut vorbereitet, wurde aber schlecht durchgeführt. Perazas Sohn, der das Kommando hatte, war noch jung und im Kriegshandwerk wenig erfahren. Das muss wohl der Grund sein, warum er mit fast all seinen Leuten umkam.»

«Oh, da tut Ihr dem jungen Helden herbes Unrecht an», unterbrach Isabella. «Nachträglich schmälert Ihr das Ansehen seiner Familie und werft Schande auf die Ehre des Guillén Peraza! Wisst Ihr nicht, wie sein Totengesang lautete, der damals gesungen wurde und bis heute ein bekanntes, gern gehörtes Gedicht in der feinen Gesellschaft ist? Es ist ein Lied, das zu Herzen geht und die Seele anrührt.»

Und zu de Lugos größter Verwunderung rezitierte sie auswendig den Text:

«Weint, ihr Damen,

wenn ihr den Herrn verehrt.

Guillén Peraza blieb auf La Palma,

die welke Blume

seines Antlitzes.

Du bist nicht La Palma,

die Siegespalme,

bist Ginster,

Zypresse

trauriger Gestalt;

du bist Unglück,

böses Unglück.

Traurige Vulkane sollen

dein Land zerstören,

nicht Freude, sondern

Leid sollst du sehen,

der Sand bedecke

deine Blumen.

Guillén Peraza!

Guillén Peraza!

Wo ist dein Schild?

Wo ist deine Lanze?

Alles beendet

das böse Schicksal.»

Nachdem sie geendet hatte, neigte de Lugo sein Haupt. Voll Bewunderung rief er aus: «Verzeiht meine Kühnheit, erlauchte Majestät. Diese tiefsinnigen Worte ergreifen selbst das Herz eines so rauen Kriegers wie mich, so dass ich auszusprechen wage: Ihr seid nicht nur die anmutigste und schönste Blume des Reiches, sondern, wie ich staunend feststellen muss, auch über die Maßen gebildet! Ja, Ihr habt ganz recht mit dem, was Ihr sagt, meine verehrungswürdige Herrin: Die Seele berührt dieses Lied! Und doch soll kein Schatten der Besorgnis auf Euch fallen, denn ich kann Euch, was die Insel und die geplante Landung angeht, voll und ganz beruhigen. Mir und den Leuten in meiner Obhut wird ein solches Schicksal, wie es das Lied mit erschreckenden Bildern beschreibt, nicht zuteil werden. Gut durchdacht ist der Plan, bestens vorbereitet das Unternehmen, wir alle besitzen von Gran Canaria her reichlich Erfahrung im Umgang mit diesen verderbten Wilden. Lasst mich der Vulkan sein, der strafend über das Land fällt, die Lava, die seine Blumen bedeckt, und Rache will ich nehmen für Guillén Peraza!»

«Ihr sprecht mit dem Mut, den man von Euch gewohnt ist», mischte sich König Ferdinand wieder ein, um die Unterhaltung nicht zum Dialog zwischen diesem Soldaten und seiner Gemahlin werden zu lassen. Schließlich hatte auch er vor dem Gespräch Erkundigungen eingezogen und wollte nun mit seinem Wissen glänzen.

«Ein gewisser Hernán Martel, Guillén Perazas Stellvertreter damals, der dem Blutbad mit dem Schiff nach Gomera entkam, brachte Kunde davon, dass die Eingeborenen auf La Palma zwar kein Metall kennen würden, also auch keine entsprechenden Waffen besäßen, schon gar keine Musketen, aber im Gelände durchaus überlegen seien. Besonders eine Schlucht erwähnt sein Bericht, wo sie von den Wilden mit Steinen und Holzlanzen angegriffen wurden. Glaubt Ihr denn, dass Ihr es schaffen werdet, in diesem schwierigen Terrain zurechtzukommen? Man sagte mir, es sei für Pferde beschwerlich, und an den Transport von Geschützen sei überhaupt nicht zu denken …»

«Durchaus», antwortete de Lugo. Er blickte dem König fest ins Auge. «Eine Devise von mir lautet: niemals eine als nutzlos erkannte Taktik ein zweites Mal einsetzen. Ich darf Euch versichern, Majestät, wir haben im Krieg gegen die Guanchen auf Gran Canaria dazu gelernt und werden entsprechend ans Werk gehen. Mit Überraschung und List und, wenn es sein muss, auch mit einer Portion Diplomatie.»

«Diplomatie bei Wilden? Heißt das nicht, man streut Perlen vor die Säue?»

«Nicht, wenn es Glasperlen sind, Majestät, und man damit echte Schätze gewinnt.»

König Ferdinand schmunzelte. Solche scharfzüngigen Antworten waren nach seinem Geschmack. Langsam begann er sich für den Plan zu erwärmen.

«Aber versprecht Ihr auch, den schändlichen Tod des jungen Peraza zu rächen?» fragte Isabella bohrend. De Lugos Beteuerungen erschienen ihr noch immer zu vage, sie wollte konkrete Zusagen hören.

«Ich gelobe es feierlich», sagte de Lugo. «Die Insel und ihre Bewohner werden eine Lektion erteilt bekommen, die sie so leicht nicht vergessen. Ihren Anführer werde ich in Ketten legen lassen und Euch persönlich überbringen. Wenn Eure Majestät es wünschen, soll er als seltenes Haustier in Eurer Menagerie ausgestellt werden, damit sich Eure Gäste daran ergötzen können.»

«Wann wollt Ihr aufbrechen?» fragte Ferdinand dazwischen.

«Ich habe davon gehört, Majestät, dass Cristóbal Colón mit seinen Schiffen in Kürze ausläuft …»

Ferdinand winkte unwirsch ab. «Schweigt mir still von jenem weltfremden Fantasten. Ich möchte mich zu diesem fragwürdigen Unternehmen nicht weiter äußern. Soviel aber dennoch: Von dem werden wir wahrscheinlich lange nichts mehr hören. Dafür aber hoffentlich um so mehr Erfreuliches von Euch. Wann also wollt Ihr in See stechen?»

«Die Zustimmung Eurer Majestät macht mich überaus glücklich», sagte de Lugo, «wenn es recht ist, noch vor Ablauf des September …»

König Ferdinand machte eine zustimmende Geste. Für ihn begann die Unterhaltung allmählich an Reiz zu verlieren. Dieser Mann verlangte doch auch bloß Geld, wie alle anderen. Nun gut, er sollte es bekommen und vernünftig einsetzen, dann würde schon von selbst ein Vielfaches zurück in die Schatzkammern fließen. Vor allem aber, und daran war ihm gelegen, konnte sich der Herrschaftsbereich der Krone ausdehnen. De Lugo erschien ihm der richtige Mann für das Unternehmen.

De Lugo bemerkte in seiner Euphorie das nachlassende Interesse des Herrscherpaares an seiner Anwesenheit nicht. «Übrigens befinde ich mich im Besitz einer weiteren Trumpfkarte», wagte er zu äußern, um das Gespräch noch einmal zu beleben. «Es handelt sich um eine Frau, eine Wilde, die damals vor vierzig Jahren beim Angriff auf La Palma gefangen genommen wurde. Sie spricht die Sprache der Eingeborenen, kennt ihre Gewohnheiten genau, ebenso alle verborgenen Pfade und Wege. Sie kann uns als Kundschafterin und zum Dolmetschen dienen. Gazmira ist ihr Name …»

Ferdinand winkte müde ab. «Erspart mir weitere Einzelheiten, besprecht sie mit meinen Gefolgsleuten in Cadiz. Von ihnen wird Euch jede nur denkbare Unterstützung zuteil werden. Und nun lebt wohl und viel Glück.»

«Viel Glück», sagte auch Isabella, «und vergesst niemals das traurige Lied von Guillén Peraza.»

«Niemals, solange ich lebe», antwortete de Lugo und verneigte sich tief.

Er verließ das königliche Lager mit dem beschwingten Schritt eines Mannes, der nichts anderes kennt als den Sieg und das Wissen, dass ihm die Welt zu Füßen liegt.

Die Audienz in Santa Fé öffnete ihm in der folgenden Zeit sämtliche Türen. Außer reichlichen Geldmitteln erhielt de Lugo auch den Befehl, in Cádiz die notwendigen Schiffe auszurüsten. Als er nach Gran Canaria zurückkehrte, schlossen sich die dort wohnenden einflussreichen Spanier seiner Expedition an.

Es galt nun, die Truppen durchzuorganisieren und auf die Invasion vorzubereiten. In den letzten Septembertagen des Jahres 1492 sollten zwei große Kriegsschiffe und eine Fregatte auslaufen. Ihr Ziel: die felsigen Küsten von La Palma.


Ein Korb übervoll mit Früchten war dieser Sommer, bis an den Rand mit Erlebnissen und Bildern gefüllt, die man niemals vergessen würde. Da waren zunächst die Feierlichkeiten zu Atogmatomas doppelter Berufung: zum Häuptling des Stammes Hiscaguan und zum Hochkönig von Benahoare. Wieder einmal versammelten sich im Tagoror von Tixarafe die Würdenträger der Insel, die Feycans und Heilfrauen der Stämme. Alle erschienen prächtig geschmückt, trugen Muschelketten und Federhauben, dazu ihre Kultbeutel mit Tara-Figürchen und den geheimen Symbolen des Wissens. Es war auffallend, dass im Kreis lediglich Mayantigo und Tanausú fehlten. Beide ließen sich mit einem Vorwand entschuldigen und durch ihre Feycans vertreten. Im Grund überraschte das nach ihrem Verhalten bei Tamogantes Feder-Orakel nicht. Der Stolz der beiden Häuptlinge hatte Schaden genommen, es würde eine Zeit dauern, bis sie den neuen Herrscher anerkannten.

Bencomo, der an den Feiern teilnehmen durfte, sah die bemalten Krieger mit ihren Waffen, er sah sie trommeln, singen und tanzen und spürte, welche Kraft von den Ritualen ausging. Der Geist des großen Orahan erfüllte die Anwesenden, ließ sie über die Stammesgrenzen hinweg zu einer Gemeinschaft verschmelzen. Er sah, dass Atogmatoma einen prachtvoll gefärbten Umhang über seiner Fellkleidung trug und als Zeichen der Würde das gebogene Krummholz hielt, den großen Bumerang, der im Flug eine summende Stimme besaß und stets zum Ausgangspunkt des Wurfes zurückkehrte. Erst wenige Male hatte Bencomo einen solchen Wurf gesehen und war jedes Mal tief beeindruckt gewesen. Im Holz des Bumerangs, so sagte der Feycan, wohne Abona, das Leben. Warf er ihn nach Westen, dorthin, wo die toten Ahnen in ihren Höhlen ruhten, so trug er die Gedanken des ganzen Stammes mit sich. Kehrte er dann zurück und schwoll seine Stimme im Wind schwirrend an, so brachte er die Grüße der Ahnen an die Lebenden mit, die gesammelte Kraft aus dem jenseits, aus jener mächtigen, unbekannten Welt, übertrug sich auf den Stamm.

Tanausú

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