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Die Welt war eine andere

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Es scheinen Welten dazwischen zu liegen, zwischen dem Erscheinen der ersten Auflage unseres Buchs im Februar 2020 und dem Nachdenken über eine Neuauflage für den Herbst 2021. Was wir Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, im noch sehr jungen 2020 anboten, waren zwei Themen, die uns besonders am Herzen liegen: Bildung im Gespräch mit Alfred North Whitehead (1861–1947), unserem »Lieblingsphilosophen«.

Warum wir mit einem toten Philosophen sprechen? Noch dazu mit einem wenig bekannten? Weil Whitehead zeitlos ist; weil er eine Philosophie von allem und jedem entworfen hat, die immer noch gilt und immer mehr gilt, je komplexer unsere Welt wird; weil er nie nach einfachen Lösungen gesucht hat; weil wir ihm eine Stimme geben wollten; weil wir ihn gern gekannt hätten; weil wir diese »Weil-Liste« noch sehr lange fortsetzen könnten …

Wir fingen also an, mit Whitehead zu reden, zunächst über das Thema Zeit1 – naheliegend, mussten wir doch der Zeit und dem ewigen Vergehen ein Schnippchen schlagen, um White-head wieder auferstehen zu lassen. Nun ist das Phänomen Zeit in vielerlei Hinsicht so zeitlos, dass sich bei einem Philosophen, der sich mit allem und jedem befasste und sich noch dazu mit moderner Physik – die seither nicht wesentlich moderner geworden ist – hervorragend auskannte, sicher etwas zeitlos Modernes zur Zeit finden ließ.

Wie aber sieht das bei konkreten, aktuellen Themen aus? Denn das ist es, worum es Whitehead immer ging: das Konkrete, das Individuelle, das Lebendige. Hat Whitehead zu aktuellen Themen des 21. Jahrhunderts wirklich noch etwas zu sagen? Unbedingt, meinen wir! Also redeten wir: miteinander, mit Wilhelm Vossenkuhl und mit Alfred North Whitehead über Bildung, ein Thema, das uns aus vielerlei Gründen unter den Nägeln brannte. Was wir in Whiteheads Schriften zur Bildung2 fanden, las sich erstaunlich aktuell, als hätte er Pisa-Studien und Bologna-Reformen vorhergesehen.

Was er geschrieben hat, passte – jedenfalls zur Zeit vor März 2020. Dann begann unsere Welt eine andere zu werden. Es gibt nun eine Welt vor Corona, und es wird – so hoffen wir – eine Welt nach Corona geben. Dummerweise befinden wir uns derzeit in einer Welt mit Corona. Was gilt in dieser Welt (noch)? Was nicht (mehr)? Von heute auf morgen wurde aus dem hoch aktuellen Thema Bildung ein höchst aktuelles – ausgelöst durch die Schließung sämtlicher Bildungseinrichtungen im März 2020. Statt Präsenzunterricht gab es Distanzunterricht für alle, für den Erstklässler ebenso wie für die Informatikstudentin im letzten Semester. Und mit dem Distanzunterricht gelangte ein Thema, das bislang nur eins von vielen war, wenn es um Bildung ging, auf die Pole Position: die Digitalisierung der Bildung.

Hätten wir da nicht passen müssen? Auf welcher Basis sollte Whitehead, ein Vertreter einer durch und durch analogen Welt, die gerade mal Telefon und Radio kannte, da mitreden können? Ob wir einfach so tun, als sei Corona nur ein Intermezzo, nach dem wir die Dinge wieder so sehen können wie davor? Nach dem wir Bücher wieder so lesen können wie davor? Also für eine Neuauflage nichts verändern und auf Beständigkeit hoffen? Das wäre schön – und einfach. Aber so ist die Welt nicht! Nichts, was in der Welt geschieht – und es geschieht ständig etwas –, bleibt ohne Folgen: Das ist die eigentliche Kernaussage von Whiteheads »Philosophie von allem und jedem«. Kurz, eine neue Auflage unseres Buches muss aktuelle Erfahrungen aufgreifen, sonst dürften wir uns gar nicht anmaßen, im Sinne Whiteheads sprechen zu wollen. Muss also ein zusätzlicher Dialog mit Whitehead über Homeschooling, Digitalisierung etc. pp. her? Aber wohin damit? Vornedran, hintendran, mittenrein? Egal wo, es wäre Flickwerk geworden und hätte die ursprünglichen Dialoge entstellt und entwertet. Denn – das sehen wir immer noch so – sie sind zeitlos, also »corona-unabhängig«. Wir haben uns daher dafür entscheiden, sie einzubetten in ein neues Vor- und Nachwort.

Aufgreifen wollten wir auch die unterschiedlichen Reaktionen auf die erste Auflage: »Ja, schon irgendwie gut, aber doch längst Mainstream, eben das gute alte humanistische Bildungsideal.« Aber auch: »Das sollte Pflichtlektüre für alle Lehrerinnen und Lehrer werden.« Oder »Oh, hätte ich Alfred White-head nur schon zu meiner Schulzeit gekannt! Ich hätte ihn mit Freuden zitiert!«3

Ja, was denn nun? »Längst Mainstream!« oder »Warum nicht so?« Oder gar beides? Haben wir es womöglich mit Wissen über das Wie und Warum von Bildung zu tun, das wenigstens hundert Jahre alt, im Jahr 2020 durchaus Allgemeingut, aber immer noch nicht umgesetzt ist? Schon der erste Teil der Frage bringt neue Fragen: Ist das, was wir zusammen mit Whitehead in unserem Buch vertreten, denn wirklich Allgemeingut? Gilt es unabhängig vom philosophischen Hintergrund und vom humanistischen Menschenbild? Ist es mehr als ein schönes Ideal? Wie viel Realität steckt darin?

An dieser Stelle sind wir Whitehead tatsächlich ein Stück voraus, denn wir haben etwas, das es zu seiner Zeit so noch nicht gab: die Bildungsforschung. Eine vergleichsweise junge Disziplin, die aber bereits eine unüberblickbare Menge an Einzelstudien hervorgebracht hat – leider nur zu oft mit widersprüchlichen Ergebnissen. Je nach Fragestellung und Stichprobe lässt sich scheinbar fast jede Aussage zur Bildung rechtfertigen. So sieht das offenbar auch John Hattie4.

Wie Bildung gelingt

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