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Ordentlicher Tod

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In den nächsten Wochen ging ich durch die Hölle. KPD hatte seine Drohungen in die Tat umgesetzt und mich zu mehreren Fasnachtsveranstaltungen mitgeschleppt. Zum Glück war die Musik regelmäßig so laut, dass mir längere Unterhaltungen mit meinem Chef erspart blieben. Nur auf der Fahrt zu den jeweiligen Veranstaltungen konnte ich seinen Monologen nicht entgehen. »Na, wie weit sind Sie mit meiner Büttenrede?«, fragte er bei jeder Fahrt. Ohne auf eine Antwort zu warten, gab er sodann einen selbstverfassten Vierzeiler von sich, den ich den Gehörgängen meiner schlimmsten Feinde nicht wünschte und daher schleunigst wieder vergaß. Kaum hatte er im Saal eine wichtig erscheinende Person ausgemacht, wurde diese angeprostet und in ein Gespräch verwickelt. Als Zuschauer mit einer Apfelsaftschorle oder einem alkoholfreien Bier beobachtete ich diese sich wiederholenden Szenen und versuchte, anhand der Dauer des Gesprächs die Relevanz der von KPD angesprochenen Personen abzuschätzen. Alles unter einer Minute musste zur arbeitenden Bevölkerung gehören oder zu Rentnern ohne Beziehungen, die für KPD dienlich sein konnten. Ab drei Minuten aufwärts begann mein Chef, Visitenkarten zu tauschen.

Wir beide waren bei den Sitzungen die Einzigen, die unverkleidet kamen. Bei KPD fiel das wegen seiner mit Orden behangenen Uniform nicht auf, und mir war es egal. An einem Abend sprang ich im Übermut über meinen Schatten und legte mir eine dunkle Luftschlange um den Hals. Von dem angebotenen Unterhaltungsprogramm bekam KPD nicht das Geringste mit, da er sich ständig nach lohnenden Gesprächspartnern umschaute. Ich dagegen verkroch mich in eine Ecke, um in relativer Ruhe mein Bier trinken zu können. Mit der Zeit folgte ich immer interessierter dem Bühnengeschehen: Es gab einige seltsame Quatschauftritte, die trotzdem frenetisch abgefeiert wurden. Fasnachter sind halt ein eigenes Volk, dachte ich mir. Überrascht war ich von den akrobatischen Verrenkungen der Gardemädchen und anderer Tanzgruppen und der einen oder anderen gelungenen Büttenrede. Trotzdem, ein Fasnachter würde ich wohl niemals werden.

Auf der Dienststelle fragten mich Gerhard und Jutta, ob sie mir beim Schreiben der Büttenrede helfen könnten. Selbstbewusst lehnte ich ihr Angebot ab und antwortete, dass ich mit diesem Auftrag bereits so gut wie fertig sei. In Wirklichkeit hatte ich noch keinen einzigen Gedanken an diese unsägliche Order verschwendet. Die inhaltliche Anforderungsliste zu KPDs Rede lag ungelesen in meiner Tasche.

Dank Gerhard und Jutta hatte es sich herumgesprochen, dass ich mit KPD die hiesigen Fasnachtsveranstaltungen besuchen musste. Egal, wem ich begegnete, ich wurde mit einem prustenden Lachen und »Humba Humba Täterä« begrüßt. Zugegeben, ich war in letzter Zeit häufiger als normalerweise auf den Fluren der Dienststelle unterwegs. Trotz größter Raffinesse meinerseits konnte ich weder Doktor Metzger entdecken noch einen Blick in das Zelt werfen, in dem nach wie vor die Handwerker zugange waren.

»Morgen ist es so weit«, frohlockte Jutta eines Freitags. Zunächst hatte ich den Satz gar nicht auf mich bezogen und fragte sie: »Fährst du übers Wochenende weg?«

Jutta verzog den Mund. »Klar, dass du nicht mehr dran denkst.«

»Dran denken, woran?«, fragte ich perplex.

»Morgen ist die Molkereistürmung beim Getränkehändler Bruch.«

»Ach das«, antwortete ich lapidar und tat so, als handle es sich nur um eine Nebensache. In Wahrheit hatte ich es tatsächlich vergessen. »Ich bin inzwischen Experte für das Karnevalswesen, da kann mich solch eine Veranstaltung nicht beeindrucken. Allein die Anwesenheit KPDs trübt meine Vorfreude auf morgen.« Das war zwar sehr dick aufgetragen, doch meine Kollegen nahmen mir alles ab.

»Du weißt schon, dass bei der Molkereistürmung viel Prominenz anwesend sein wird«, stichelte Gerhard unverdrossen weiter. »Bei dem kleinsten Fauxpas wird dich KPD als Kanonenfutter in eine dieser Fasnachtskanonen stecken.«

Dies war in der Tat ein weiterer Knackpunkt. Mit der morgigen Veranstaltung begann für unseren Chef die heiße Phase der Karnevalssaison. Er fieberte der Ordensverleihung entgegen, die innerhalb der nächsten zehn Tage erfolgen sollte.

Am nächsten Tag holte mich KPD zu Hause ab. Um meiner Familie und mir im Haus den Gestank seines Rasierwassers zu ersparen, wartete ich in unserem Vorgarten auf ihn. Geschickt stellte ich mich seitlich neben einen Busch, sodass mich Frau Ackermann, die schlimmste Nachbarin, die man sich vorstellen kann, von ihrem Küchenfenster aus nicht sehen konnte. Der Wagen meines Chefs war noch nicht richtig zum Halten gekommen, da klopfte ich bereits an die Seitenscheibe. KPD ließ das Fenster runter und schaute mich verblüfft an.

»Nanu, sind wir zu spät dran?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich sicherheitshalber, bereute meine Antwort aber sofort, da KPD hinter dem Steuer saß. »Fahren Sie, oder soll ich den Chauffeur spielen?«

»Steigen Sie drüben ein«, befahl er streng. »Ich habe den Wagen erst seit gestern Nachmittag. Den muss ich selbst einfahren.«

Anfang vergangenen Jahres hatten meine Kollegen und ich eine Wette abgeschlossen, ob sich KPD innerhalb der kommenden zwölf Monate mehr als drei neue Dienstwagen anschaffen würde. Bereits im Juli stand der Gewinner fest. Ich stieg ein und zurrte den Gurt fest. Dann stützte ich mich mit ausgestreckten Händen am Handschuhfach ab, da nach einem Kavalierstart unweigerlich ein abruptes Bremsmanöver folgen würde.

»Lassen Sie Ihre Finger von dem Leder«, schimpfte KPD und warf mir ein Tuch zu. »Ich kann hässliche Fingerabdrücke an den Armaturen nicht ausstehen.«

Während wir uns unter permanenter Lebensgefahr dem Ludwigshafener Ortsteil Oggersheim näherten, sah mich mein Chef an. »Es ist erst 13.30 Uhr. Wie kommen Sie darauf, dass wir zu spät sind, Palzki? Zu früh will ich nicht dort sein, das sieht so peinlich und wenig professionell aus.«

»Ich dachte mir, wir stärken uns zunächst am Büfett, bevor die wichtigen Leute kommen.«

KPD konnte nicht antworten, da er verkehrstechnisch gefordert wurde. »War das eine rote Ampel?«, fragte er stattdessen, und ich wunderte mich, dass er aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit die Ampel als solche erkannt hatte. Mehrfaches Reifenquietschen von Verkehrsgegnern beantwortete seine Frage nonverbal. Mir war aufgrund seiner Fahrweise inzwischen so schlecht, dass mir ein Büfett egal war.

Der Hauptsitz des Getränkehändlers befand sich an der Mannheimer Straße schräg gegenüber der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Die Straße war an dieser Stelle vierspurig ausgebaut, wobei an einem Teilstück die Straße durch die Gleise der Straßenbahn getrennt war. Direkt vor dem Getränkehändler schien es eine Baustelle zu geben. Die entsprechenden Schilder deuteten auf eine einspurige Verkehrsführung hin. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Ziel und wir standen im Stau.

»Blöde Baustelle«, schimpfte ich.

»Baustelle?«, fragte KPD. »Wie kommen Sie auf diese Idee?«

»Haben Sie die Schilder nicht gesehen? Darum stehen wir ja im Stau. Achtung, gleich müssen Sie das Reißverschlussverfahren anwenden.« Ich war mir sicher, dass KPD keine Ahnung hatte, was ich mit Reißverschlussverfahren meinte.

»Das brauchen wir nicht«, entgegnete er und brachte, was bei ihm nur sehr selten vorkam, ein kleines Lächeln zutage.

Als wir an der Stelle der Spurverengung ankamen, traute ich meinen Augen nicht. Es gab nicht das kleinste Anzeichen einer Baustelle. Mehrere Polizeibeamte hatten ein etwa 50 Meter langes Teilstück der rechten Spur abgesperrt. Eine Beamtin erkannte KPD und winkte uns in den abgesperrten Bereich.

»Das haben die Gebrüder Bruch davon, dass sie mir keinen Privatparkplatz auf ihrem Gelände eingezäunt haben.« Er sah meine Verwunderung und holte zu einer Erklärung aus. »Die beiden Chefs haben sich geweigert, mir einen eigenen Parkplatz zuzuweisen, natürlich streng von dem Rest abgeschirmt. Aus Platzgründen sei das nicht möglich, hieß es. Ja, genau, Palzki: So brutal haben mich die beiden brüskiert. Und ich darf mir meinen verständlichen Ärger nicht einmal anmerken lassen, weil ich diesen Orden brauche.« KPD sah mich streng an. »Aber wo ein Klaus P. Diefenbach ist, ist auch mindestens ein Weg. Daher habe ich mir für die Dauer meines Aufenthalts eine Spur der Straße sperren lassen. Daran sehen die anderen sofort, wie wichtig ich bin.«

Keine Antwort war in diesem Fall die beste Antwort. Vorteilhaft war der angenehm kurze Fußweg.

Das Firmengebäude nahm fast die gesamte Breite der Straßenfront ein. Auf der linken Seite stand der eingeschossige Abholmarkt, auf der rechten Seite befanden sich weitere Betriebsgebäude und ein Wohnhaus. Zentral in der Mitte gab es eine überdachte Durchfahrt, die mit einer zwei Meter hohen Wand leerer Getränkekisten versperrt war. Auf dem Vorplatz stand eine dieser Fasnachtskapellen, die man bei jedem Fasnachtsumzug in mehrfacher Ausführung sah. Neben den Personen, die ich aufgrund der einheitlichen Kostümierung eindeutig zu einem Karnevalsverein zuordnen konnte, standen 50 weitere, nur zum Teil verkleidete Menschen auf der Freifläche vor dem Gebäudekomplex herum. Schneller, als ich schauen konnte, hatte KPD eine für ihn wichtige Person erkannt und zielstrebig in ein Gespräch verwickelt. Doch auch ich wurde erkannt.

»Sie misse de Herr Palzki sei!«, sprach mich ein hagerer Mittfünfziger an, der eine Fasnachtskappe trug. »Des hot sich bei uns schnell rumgsproche, dass Herr Diefebach sein fähigschte Mitarweiter mitbringt. Des behaupt jedenfalls mein Bruder, de Jochen. Warum hänn Se sich net verkleed?«

Es war das erste Mal, dass ich dem Geschäftsführer Helmut Bruch gegenüberstand. »Das freut mich, dass Ihr Bruder mich so positiv beurteilt.« Ich reichte ihm die linke Hand, denn in der anderen hielt er ein Mikrofon. »Ich bin im Dienst, da kann ich mich nicht so einfach verkleiden.«

»Mein Bruder iwwertreibt zwar immer gern, awer iwwer Ihre Kompetenze als Bull, äh, Polizischt losst der nix kumme. Bei jeder Gelescheheit verzehlt de Jochen, wie er Ihne bei denne Ermittlungssache, wus bei uns Tote gewwe hot, so viel gholfe hot.« Er zwinkerte mir zu. »S kann gut sei, dass er Sie nochhin ausfrooge will, ob es ähn aktuelle Kriminalfall zu löse gibt, wu er widder helfe kann.« Er trat einen kleinen Schritt auf mich zu. »Passen Se awer gut uff, dass Se rechtzeitisch abhaue, wenn de Jochen afangt, Witze zu erzähle. Was Bleederes kann Ihne heit net passiere.«

»Keine Angst, ich kenne die Witze Ihres Bruders bereits. Manche sind sogar richtig gut.« Auf Anhieb konnte ich mich zwar an keinen einzigen gelungenen Witz erinnern, aber immerhin schienen Jochen Bruch meine Kompetenzen als Polizeibeamter zu imponieren.

Helmut Bruch legte nach. »Wenns nur die Witze wären. Heit kanns noch viel gfährlicher werre.« Da ich nichts sagte, sprach er weiter. »Suche Se schleunigscht des Weite, wenn de Jochen afangt zu singe! Was Brutaleres gibt es uff de ganze Welt net. Zum Glick kindigt er dess meischtens vorher a, sodass ma abhaue kann.« Er machte eine weitschweifende Armbewegung zu den vielen Leuten, deren Zahl sich in den letzten Minuten deutlich vergrößert hatte. »Wenn er heit loslegt, unn vielleicht noch iwwer des Mikrofon singt, dann sinn mer all miteinanner verlore.« Er zeigte auf die Musikkapelle. »Awer glei werds trotzdem arich laut. Die Grupp do, dess sinn die Huddelschnuddler mit ihre erschte Guggemusik. Unn dann is noch die Garde un de Elferrat vun de Rhoischanz debei. Um genau 14.11 Uhr geht’s los. Dann versucht de Sitzungspräsident vun de Rhoischanz, de Dirk Auerbach, unser Molkerei zu stirme. Molkerei desweche, weil uff dem Gelände vun unsrem Getränkehannel frieher ä Molkerei war.«

Ich bedankte mich bei dem Geschäftsführer für die Warnung und die Informationen und ging unauffällig nach hinten zu einem neben dem Zaun wachsenden Busch. Von diesem Standort aus konnte ich das Geschehen beobachten, ohne mich selbst im Trubel zu befinden. Im Durchgang sah ich auf der seitlichen Rampe direkt neben der Getränkekistenmauer Jochen Bruch und seine Frau Doris stehen. Sie diskutierten mit zwei fasnachtlich uniformierten Männern. KPD konnte ich nirgends entdecken, was mich nicht weiter beunruhigte.

Der vordere Hofbereich war inzwischen mit Menschen gefüllt, als die Huddelschnuddler mit voller Wucht begannen, meine Trommelfelle zu strapazieren. Ich konnte mit dieser Art von Musik nichts anfangen, schien aber der Einzige zu sein, der dieser Meinung war. Alle anderen sangen oder tanzten zu den Darbietungen. War ich der einzige Hörende unter lauter Tauben? Konnte Jochen Bruchs Gesang tatsächlich noch schlimmer sein?

Nach drei Liedern hatte ich es überstanden. Über Mikrofone boten sich die beiden Geschäftsführer mit einem uniformierten Fasnachter, bei dem es sich laut Helmut Bruch um Dirk Auerbach handeln musste, ein verbales Scharmützel. Der Fasnachter drohte, die Getränkekistenmauer von der Garde einreißen zu lassen, die Getränkehändler hielten mit bissigen Kommentaren dagegen. Im Detail verstand ich wegen der schlechten Akustik die Dialoge nicht so recht, aber irgendwann traten ein paar Gardemädchen der Rheinschanze vor und warfen die Wand um. Mit lautem Getöse und Scheppern fiel das Leergut kreuz und quer durch die Gegend. Jemand rief: »Wir haben es geschafft!«

»Noch lange nicht«, schrie Jochen Bruch von seiner erhobenen Position auf der Rampe ins Mikrofon. »Erst müsst ihr unsere Aufgabe lösen.«

»Das machen wir mit links«, tönte es von unten. »Nichts ist für uns zu schwer.«

Jetzt übernahm Jochen Bruchs Bruder Helmut das Mikrofon. »Dann guckt eich mol die Wasserkischte do vorne uff de Seit a«, schrie er. »Uff ännere Seit vun jeder Kischt is ähn Deel vun ehm Bild zu sehe. Ihr misset blos des Pussel richtisch zusammesetze.«

»Und das soll alles sein?«, tönte es von Dirk Auerbach. »Dafür braucht unsere Garde keine Minute.«

Ich muss zugeben, dass ich neugierig geworden war. Dicht gedrängt stand ich mit den anderen Zuschauern im Eingangsbereich der Durchfahrt und versuchte, einen Blick auf die Garde zu erheischen, die mit den Wasserkisten ein etwa zwei bis drei Quadratmeter großes Bild zusammensetzte.

Als ich das Ergebnis sah, dachte ich nur noch an Flucht. Doch wo sollte ich so schnell ein Taxi auftreiben? In wenigen Sekunden würde KPD mir den Auftrag erteilen, das Bild zu beschlagnahmen und den Zirkus zu beenden.

»Es freut mich, dass Sie auch zur Molkereierstürmung gekommen sind«, sprach mich eine mir leider bekannte Person an: Dietmar Becker. »Herrn Diefenbach wollte ich vorhin begrüßen, doch er hat mich einfach übersehen. Mit Absicht, da bin ich mir sicher«, sagte er trotzig.

»Ich kann KPD gut verstehen«, ärgerte ich den Studenten zusätzlich. Ich hätte genauso reagiert wie mein Chef.

»Herr Diefenbach ist momentan etwas sauer auf mich«, erläuterte der Möchtegernkrimiautor. »Nur weil ich einmal einen Regionalkrimi ohne seine Mithilfe schreiben will, ist er beleidigt wie ein Kleinkind. Aber die Idee zu meinem nächsten Krimi ist einfach grandios. Finden Sie nicht auch?«

»Ordentlich gemordet«, murmelte ich ohne Regung.

»Toller Titel, nicht?«, fragte Becker mit glänzenden Augen. Er zeigte auf das von der Garde inzwischen zusammengesetzte Foto. »Der Fasnachtsorden auf dem Cover ist die Wucht! Der gefällt Ihnen bestimmt, Herr Palzki.«

Mir dagegen tränten die Augen, je länger ich auf das übergroße Buchcover starrte und den Autorennamen Dietmar Becker las. »Ich kann damit nichts anfangen.«

Becker frohlockte unbeirrt weiter. »Ich habe eine Kooperation mit den hiesigen Karnevalsvereinen und dem Großen Rat von Ludwigshafen geschlossen. In der nächsten Saison wird mein Fasnachtskrimi erscheinen mit genau diesem Titelbild. Ist das nicht der Wahnsinn?« Immer noch ließ er sich von meinen regungslosen Gesichtszügen nicht irritieren. »Ich spekuliere darauf, in der nächsten Saison einen Orden verliehen zu bekommen. Vielleicht sogar den Pfälzer Krischer? Das würde mein gesamtes Lebenswerk adeln.«

Lebenswerk, dachte ich erschüttert. An einer krankhaften Selbstüberschätzung schien es Dietmar Becker nicht zu fehlen.

»Ich werde nächste Woche eine Büttenrede halten«, sprach Becker weiter. »Darf ich Ihnen eine kleine Kostprobe darbieten?«

»Nein!«, schrie ich verzweifelt.

»Ich bin der beste Krimischreiber,

Ob mit PC oder Kugelschreiber,

Dietmar Becker heißt der neue Star,

So langsam wird das allen klar.«

Ich war sprachlos und sehnte mich nach einem Lied von Jochen Bruch.

»Ich sehe, wie begeistert Sie sind«, sagte Becker und meinte es so, wie er es sagte. Mit Ironie konnte er noch nie etwas anfangen.

»Solang ich den Schock überlebe«, meinte ich sarkastisch.

Becker verstand auch diese Anspielung nicht. »Sie müssen mich immer ärgern, Herr Palzki. Dabei weiß ich nur zu gut, dass Sie es nicht so meinen. Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich will ein paar Sätze zu dem Cover ins Mikrofon sprechen.«

Ich ließ ihn ziehen. Keine drei Sekunden später zerrte KPD, der sich von hinten angeschlichen hatte, an meinem Oberarm, »Was hat Herr Becker zu Ihnen gesagt, Palzki? Sagen Sie mir alles, zitieren Sie ihn wörtlich.« Mein Chef zitterte an beiden Händen.

»Nichts von Belang«, antwortete ich, konnte damit KPD aber nicht abwimmeln.

»Das können Sie als mein Untergebener überhaupt nicht einschätzen«, polterte er. »Hat er versucht, Sie auszufragen? Haben Sie ihm womöglich, ohne es zu bemerken, ein paar Verse Ihrer Büttenrede verraten? Michael Stein, der Sitzungspräsident der Karnevalgesellschaft Eule hat mir gesagt, dass Beckers Entwurf seiner Büttenrede grottenschlecht ist. Der hat gar keine andere Chance, als zu spionieren und bei meiner Rede abzuschreiben.«

»Ihrer Rede?«

KPD war nur für einen winzigen Moment irritiert. »Natürlich, Palzki, meine Rede. Sie haben die Ehre, für mich einen Rohentwurf erstellen zu dürfen. Ich werde das Kunstwerk anschließend mit meiner Begabung vollenden und mit meinem Namen veredeln.«

»Ich habe nichts von meinem Entwurf verraten«, sagte ich, um diesen Wahnsinn abzukürzen. »Das kann ich sogar beschwören.«

KPD blieb abwartend vor mir stehen.

»Was ist?«, fragte ich ihn nach endlosen Sekunden.

»Na los, schwören Sie!«, forderte er mich auf.

»Jetzt machen Sie sich nicht lächerlich«, antwortete ich deutlich angesäuert. »Becker hat ausschließlich von seinem Buchcover geschwärmt.«

»Noch so ein Affront«, polterte KPD weiter. »Wissen Sie, was auf dem Cover zu sehen ist?«

»Ein Orden, was sonst?«

»Es ist der Große Ankerorden«, schrie mein Chef. »Das Buch wird auf keinen Fall erscheinen. Dafür werde ich sorgen. Das wäre gelacht, wenn in unserem demokratischen Staat jeder einfach alles veröffentlichen könnte, was er möchte. Noch gibt es Gesetze!«

In diesem Augenblick begannen die Huddelschnuddler, die sich nun in der Durchfahrt platziert hatten, erneut zu spielen. Durch die beiden eng gegenüberstehenden Gebäude war der Schalldruck wesentlich höher als im Freigelände. KPD sprach weiter, und ich verstand kein einziges Wort. Neben der Kapelle waren mehrere Bierzelttische aufgestellt, an denen Wurstbrötchen und Getränke ausgegeben wurden. Den hinteren Teil der Durchfahrt, der deutlich breiter war, hatte man mit zahllosen Bierzeltgarnituren bestückt. Da diese etwas abseits der Musik standen, kämpfte ich mich, wie die meisten anderen Besucher auch, nach hinten durch.

In der zweiten Reihe der Bierzeltgarnituren winkte mir ein Mann zu, den ich schon öfter in der Zeitung gesehen hatte. Es war einer der Ortsvorsteher von Ludwigshafen, nur der Name fiel mir nicht ein.

»Setzen Sie sich doch zu uns, Herr Palzki«, schrie er mir entgegen. »Ich kenne Sie von Ihrem vorletzten Fall mit den Ludwigshafener Hochstraßen, auch wenn wir uns damals nicht direkt über den Weg gelaufen sind.«

Ich setzte mich ihm gegenüber.

»Ich bin Christoph Heller«, stellte er sich vor. »Und das ist meine Frau Bettina.« Er zeigte auf die Frau gegenüber, die direkt neben mir saß.

In dem Moment, als er mir seinen Namen sagte, hatte mich meine Erinnerung wieder eingeholt. KPD hatte erst kürzlich von Heller erzählt. Er war nicht nur Ortsvorsteher, sondern auch Präsident des Großen Rates. Ohne Heller würde er den Orden nicht verliehen bekommen.

»Bettina, gehst du bitte die vorbestellten Wurstbrötchen holen?«, sagte Heller zu seiner Frau. »Für Sie auch eines?«, fragte er mit Blick in meine Richtung. Ich nickte. »Und ein zusätzliches Bier für unseren Kommissar«, ergänzte Heller.

»Nein danke, ich bin im Dienst«, wehrte ich ab, obwohl ich ziemlich Lust auf ein Bier hatte. »Brötchen ist okay, aber das kann ich mir selbst holen.«

»Heute dürfen Sie«, bestimmte der Präsident. »Wenn Ihr Chef anderer Meinung ist, kriegt er es mit mir zu tun.«

»Geht schon in Ordnung, Herr Palzki«, unterbrach Bettina Heller ihren Mann. »Wir haben vorhin eine Sammelbestellung aufgegeben, da kommt’s auf ein Brötchen und ein Bier zusätzlich nicht an.«

»Sie sind also Herr Palzki?«, sprach mich eine weitere Person der fünfköpfigen Runde an, die neben Heller saß. »Ich habe viel von Ihnen gehört. Das Meiste davon war sehr beeindruckend, nur Ihr Vorgesetzter scheint Sie nicht sonderlich zu mögen.« Er reichte mir die Hand. »Ich bin Michael Stein, der Sitzungspräsident der Karnevalgesellschaft Eule.«

Stein? Ich benötigte nur einen Augenblick, um mich an die Aussage KPDs zu erinnern, nach der Michael Stein die Büttenrede von Dietmar Becker für grauenhaft hielt. Ich nutzte mein Wissen, um bei dem sich anbahnenden Small Talk punkten zu können. »Auch von Ihnen habe ich Positives gehört. Sie bewerten Büttenreden nach Qualität, nicht wahr?«

»Ich?«, fragte der Sitzungspräsident überrascht.

Diese Rückfrage hätte ich normalerweise als Warnung erkennen müssen, doch in meinem Eifer bemerkte ich dies nicht. »Na ja, dieser sogenannte Krimiautor, der es heute geschafft hat, an dieser so schönen und musikalisch wertvollen Veranstaltung sein Buchcover zu präsentieren, soll gewisse Defizite im Schreiben von Büttenreden haben.«

»Ach, Sie meinen Dietmar Becker?« Stein lachte laut heraus. »Becker ist schon in Ordnung. Er hat uns ein äußerst akzeptables Exposé für seinen Fasnachtskrimi vorgelegt, den er demnächst schreiben will. Für meine Verhältnisse gibt es zwar zu viele Tote, aber es wird ja schließlich ein Krimi und kein Lyrikband. Mich selbst will er übrigens in die Handlung einbauen, Christoph auch.«

»Damit werden wir literarisch unsterblich«, mischte sich Heller ein.

»Aber Sie haben recht, Herr Palzki«, fuhr Michael Stein fort. »Die erste Fassung von Beckers Büttenrede ist noch etwas, ja, wie soll ich sagen …«

»Scheiße«, rutschte es mir heraus.

Stein nickte. »Ich werde Herrn Becker wohl helfen müssen«, erklärte er. »Wir wollen ihn als Krimiautor innerhalb der Fasnachtsszene aufbauen. Blöderweise hat er sich in den Kopf gesetzt, eine Büttenrede zu schreiben und diese öffentlich vorzutragen. Herr Becker mag gute Bücher schreiben, aber Büttenreden sind sicherlich nicht sein Metier. Das muss man jahrelang üben, und ohne Grundtalent klappt das schon gar nicht. Niemand würde zum Beispiel von Ihnen verlangen, Herr Palzki, eine Büttenrede zu schreiben. So etwas kann nur schiefgehen.«

»Wie bei Herrn Diefenbach«, unterbrach Christoph Heller und seufzte tief.

Jetzt wurde es spannend. Ich gierte nach weiteren Informationen, doch in dem Moment kamen Bettina Heller und Doris Bruch zu uns. Beide trugen jeweils ein Tablett, das mit Wurstbrötchen und Biergläsern bestückt war.

Reihum teilten die beiden die Brötchen und das Bier aus.

»Ich komme nachher mit Jochen dazu«, meinte Doris Bruch. »Im Moment habe ich am Ausschank noch gut zu tun.«

Nachdem wir mit einem kräftigen Prost das Bier angetrunken hatten, griffen alle Personen nach ihren Brötchen. Ich versuchte, das zu verhindern, da ich unbedingt Näheres zu KPD erfahren musste.

»Sie wollten vorhin etwas zu meinem Chef sagen?«, fragte ich Heller.

Dieser ließ seinen Blick zu den am Tisch sitzenden Personen schweifen, dann legte er das Brötchen zurück auf den Tisch. Er begann zu lachen. Alle anderen lachten mit und legten ebenfalls die Brötchen zurück.

»Ihr Chef will den Großen Ankerorden mit zwei Brillanten verliehen bekommen«, begann Heller. »Wir lassen ihm den Spaß, zumal er dafür viel Geld locker macht. Damit können wir die in der letzten Saison aufgebrauchten Rücklagen wieder auffüllen. Also eine klassische Win-win-Situation.«

Michael Stein wollte ihn unterbrechen, doch eine weitere Person, die vom Durchgang kam, unterbrach unser Gespräch. »Brauche ihr noch ä paar Worschteweck? Mer hän do ä paar zu viel.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er zu den auf dem Tisch liegenden Brötchen weitere hinzu.

»Eijo, die schaffen wir schon«, bedankte sich Christoph Heller. »Kannst du uns noch eine Runde Bier organisieren? Wir sind mitten in einer wichtigen Besprechung.« Er zwinkerte der namenlosen Person zu, die zustimmend nickte.

»Also, wo waren wir stehengeblieben?«

»Bei Herrn Diefenbach«, sagte Stein. »Wir haben uns den Spaß erlaubt, ihm zwei Aufgaben zur Bedingung zu stellen. Das haben wir gemacht, damit es nicht so aussieht, als könne sich jeder einfach einen Orden kaufen.«

»Das bleibt aber unter uns«, mahnte Heller und hielt seinen Zeigefinger vor den Mund. »Wenn das die anderen Vereine mitkriegen, ist Schluss mit lustig. Wir sind nämlich nicht bestechlich. Grundsätzlich jedenfalls nicht. Bei der Summe, die uns Herr Diefenbach bot, haben wir eine Ausnahme von unseren Prinzipien gemacht. Selbst wenn man die Kosten für die zwei echten Brillis abzieht, bleiben uns …«

»Das will ich gar nicht wissen«, fiel ich ihm schnell ins Wort. Ob es 100 oder 1000 Autofahrer waren, deren Bußgelder in die Kasse des Großen Rates flossen, war mir egal. Ich versuchte weiterzubohren. »Ich vermute, dass eine der Bedingungen ist, mit einem eigenen Fasnachtswagen am Umzug teilzunehmen.«

Die ganze Gesellschaft grinste. »Es war nicht leicht, einen freien Platz im Teilnehmerfeld des Umzugs zu ergattern.«

»Und für welches Motiv hat er sich entschieden?«, fragte ich möglichst beiläufig.

»Das hat er uns nicht verraten«, antwortete Heller zerknirscht. »Das verstößt zwar gegen das Regelwerk, aber wir wollen möglichst wenig Aufheben um die Sache machen. Da müssen wir jetzt durch.«

»Und die zweite Bedingung?« Schade, dass ich mit dem Fasnachtswagen nicht weiterkam.

»Herr Diefenbach muss bei einer Veranstaltung öffentlich eine Büttenrede halten«, sagte Michael Stein und begann erneut zu lachen. Er wischte sich ein paar Tränen von der Wange. »Obwohl uns gar nicht nach Lachen ist, Herr Palzki.«

Ich schaute ihn fragend an.

»Er kann es nicht. Herr Diefenbach ist ebenso talentfrei wie Herr Becker. Wir haben Ihrem Chef angeboten, ihm zu helfen, doch er ist unbelehrbar.«

»Das stimmt«, bestätigte ich reflexartig.

»Er meinte, dass er einen sehr bekannten Redenschreiber beauftragt hat, ihn zu unterstützen. Diesen Schreiber hätte er genauestens gebrieft, damit die Büttenrede in seinem Sinn ausfällt. Hoffentlich geht das gut.«

Ich hätte ihm sagen können, dass die Geschichte nicht gut ausgehen wird, doch ich blieb still.

»Die Kostproben, die er uns im Vorfeld gab, waren einfach, äh, wie soll ich sagen?«

Das Wort Scheiße war mir auf der Zunge gelegen, doch dieses Mal beherrschte ich mich.

»Leider wissen wir nicht, wer der Redenschreiber von Herrn Diefenbach ist«, sprach Stein weiter.

»Do kummt die nekscht Runde Bier.« Die Person, die vorhin die Brötchen brachte, stellte ein Tablett Bier vor uns auf den Tisch. »Losts eich schmecke.«

»Ich kenne den Ghostwriter auch nicht«, log ich. »Ob es überhaupt einen gibt?«

»Hoffen wir mal«, meinte Heller. »Sonst endet die Geschichte ohne Happy End in einem Fiasko. Stellen Sie sich vor: Wir verleihen den größten jemals vergebenen Fasnachtsorden an Ihren Chef, und er blamiert die Ludwigshafener Fasnachter mit einer unlustigen und laienhaften Büttenrede. Dann können wir den Großen Rat sofort auflösen.«

Prinzipiell hatte ich nichts gegen die Fasnachter und auch nichts gegen den Großen Rat. Aber hier witterte ich die große Chance, meinen unliebsamen Chef ein für alle Mal loszuwerden. Und das einfach durch Nichtstun, beziehungsweise Nichtschreiben einer Büttenrede. Selbst wenn ich eine Rede schrieb, würde das nichts an der Katastrophe ändern.

Alle am Tisch Sitzenden bedienten sich an dem Berg Wurstbrötchen. In den nächsten Minuten aßen wir schmatzend, aber stumm vor uns hin, während so mancher Tropfen Senf auf Tisch oder Hose landete.

»Und jetzt ein ordentlicher Schluck Bier«, bestimmte der Ortsvorsteher, als er sein Brötchen bezwungen hatte. »Prost.«

Nach den allgemeinen Bekundungen, wie gut und frisch das Bier war, hatte Heller einen Einfall. »Du, Michael, gib doch Herrn Palzki eine Kostprobe einer deiner Büttenreden. Vielleicht kann er seinen Chef überreden, sich doch noch helfen zu lassen.«

Büttenrede? Kostprobe? Würde mich das ewig verfolgen? Ich versuchte, mein Leben zu retten. »Können Sie das überhaupt?«, provozierte ich Michael Stein. »Nicht, dass ich da was Falsches an Diefenbach weitergebe.«

Die Antwort war schallendes Gelächter. »Michael hält seit vielen Jahren Büttenreden«, erklärte Heller. »Er ist einer der besten, den ich kenne.«

»Danke für das Lob aus deinem Mund«, sagte Stein peinlich berührt. »Ich mache das schließlich schon ewig und vor allem gerne.« Er schaute zu mir. »Für Sie, Herr Palzki, eine kleine spontane Eingebung.«

Er stand auf.

»Ahoi, ihr Leit, ich grüß eich all vun Nah und Fern

Bin hier beim Bruch wie immer gern

Es gibt reichlisch Bier un ach Woi

Hier fühl isch mich wohl hier will isch soi

Mein Freund iss ach do, de Christoph Heller

Mit demm trink ich gern im Bruch soim Keller

Alle sinn se do die ganz Fastnachtsbagage

Manche sinn schun voll un kaum zu ertrage

Die Huddelschnuddler spiele mit großem Tamm Tamm

Isch spiel do ach mit, awwer bloß uffem Kamm

Lost uns trinke aus volle Bescher

Mir Pfälzer sinn trinkfeschde Zescher

Denn glabt mer, ess iss immer besser

Wenn de sterbschd, dann vor leere Fässer

Desweg Prost ihr Freunde alle

Lost das Ahoi zwischedursch erschalle

Un jetzt kumm isch ach zum Schluss

Weil der jo ach mol kumme muss

Uff de Bruch und uff Bier un Woi

Drei donnernde herzliche Bruch Ahoi«

Michael Stein verbeugte sich, und wir klatschten. Welch ein grandioser Unterschied zu den Reimen von KPD und Becker.

Christoph Heller hob sein Bierglas. Wir taten es ihm nach. »Prost!«

Wir schauten überrascht nach oben zu Michael Stein, der immer noch stand. Ein Röcheln kam aus seiner Kehle, seine Augen waren weit aufgerissen. Das Bierglas glitt aus seiner Hand und knallte auf den Tisch. Der Inhalt schwappte auf Hellers Jacke. Das Röcheln verstärkte sich, Stein griff mit beiden Händen an seinen Brustkorb und sackte zusammen.

Christoph Heller erkannte sofort die tragische Situation und kümmerte sich um Stein, der verkrümmt und regungslos auf dem Boden lag.

»Ich hole Hilfe«, schrie Bettina Heller und rannte zum Durchgang. Kurz darauf verstummte die Musik, und die Stimme von Heller fragte über das Mikrofon, ob Ärzte oder Sanitäter anwesend seien.

Michael Stein wurde im Nu von einem Orthopäden, zwei Zahnärzten, einer Frauenärztin, zwei Rettungssanitätern und einem alkoholisierten Bäckermeister versorgt. Mir blieb nichts zu tun, außer die gaffende Menge auf Abstand zu halten.

»Was ist passiert?«, fragte mich plötzlich KPD. Unbemerkt hatte er sich neben mich gestellt.

»Herzinfarkt«, antwortete ich. »Der Notarzt ist unterwegs.«

»Wissen Sie, wer es ist?«, fragte mein Chef neugierig. Wegen der vielen Helfer konnte man Stein nicht sehen.

»Michael Stein, der Präsident eines Karnevalvereins.«

»Stein?«, wiederholte KPD. »Der hat es gewagt, meine Reime als verbesserungswürdig zu bezeichnen.« Er schüttelte verärgert den Kopf. »Und jetzt stört er den Ablauf dieser gelungenen Veranstaltung. Ich war gerade im Gespräch mit der Oberbürgermeisterin, um ein paar zukünftige Großprojekte einzutüten. Dieser Infarkt hat mich ganz aus dem Konzept gebracht.« Er verschwand ohne eine weitere Bemerkung. Empathie war für meinen Chef seit jeher ein Fremdwort.

Der Notarztwagen kam erstaunlich schnell. Leider war Michael Stein zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Herzinfarkt, lautete schließlich die einstimmige Diagnose der anwesenden Ärzte- und Sanitäterschar. Nach einer guten halben Stunde und ein paar erfolglosen Versuchen, Michael Stein mithilfe eines Defibrillators und weiteren Reanimationsbemühungen ins Leben zurückzuholen, sowie einem konstanten Nulllinien-EKG gab der Notarzt auf.

Jochen Bruch hatte mittlerweile über Lautsprecher das Ende der Veranstaltung bekanntgegeben. Recht zügig leerte sich das Gelände, nur ein paar Dutzend Neugierige und Firmenmitarbeiter, die für das Aufräumen zuständig waren, blieben übrig.

Ich versuchte, das Erlebte gedanklich möglichst exakt nachzuvollziehen. Mein Bauchgefühl und mein Erfahrungsschatz sagten mir unisono, dass etwas nicht stimmen konnte. Ein Herzinfarkt ohne Vorwarnung mit sofort eintretendem Tod nach dem Trinken eines kleinen Schlucks Bier, konnte das sein? Auch wenn die Speiseröhre direkt neben dem Herzen verlief, konnte ich keinen unmittelbaren Zusammenhang erkennen. War es Zufall? Kam es von der Aufregung durch den kurzen Ausschnitt seiner Büttenrede? Nein, das war wenig plausibel. Michael Stein hatte solche Reden 100-fach gehalten vor 100-mal mehr Publikum. Ich beschloss, baldmöglichst einen Kardiologen zu diesem Thema zu befragen. Außerdem würde ich darauf dringen, dass er obduziert wurde. Eine dritte Sache war mir im Moment noch wichtiger: Das Bierglas, aus dem Michael Stein getrunken hatte, lag auf dem Tisch. Es war schräg auf ein Wurstbrötchen gefallen, sodass sich neben mehreren durchnässten Brötchen im Glas ein winziger Restbestand des Bieres befand. Es würde mich nicht wundern, wenn in diesem Glas die tatsächliche Ursache des Todes von Michael Stein zu finden war.

Da es niemand für nötig gehalten hatte, die zuständige Polizei zu benachrichtigen, und KPD Wichtigeres zu tun hatte, musste ich selbst tätig werden. Ich winkte Doris Bruch zu mir, die mit ein paar Mitarbeitern die Tische abräumte. »Frau Bruch, ich bräuchte eine flüssigkeitsdichte Tüte und einen kleinen Behälter, in den ich die Reste des Bieres tun kann.« Ich zeigte auf das liegende Glas.

»Da brauchen Sie sich nicht drum zu kümmern, Herr Palzki«, antwortete sie. »Ich räume das gleich weg. Danach schlagen wir die Bierzeltgarnituren ab.«

»Das muss warten«, sagte ich eindringlich. »Ich möchte das Glas mit seinem Rest Bier sichern. Und die Brötchen zur Sicherheit auch«, ergänzte ich, da ich keine Ahnung hatte, wie viel Flüssigkeit das Labor benötigte, um das von mir vermutete Gift zu finden.

Doris Bruch verstand erstaunlich schnell. »Sie vermuten, dass etwas im Bier war? Warum sollte das jemand tun?«

»Ist nur eine Vermutung«, beruhigte ich sie. »Polizeibeamte sind häufig ziemlich paranoid. Ständig vermuten sie irgendwelche Verbrechen. Ich kann Sie aber beruhigen: Nicht immer bewahrheiten sich die Eingebungen von Polizisten.«

»Da wird mein Mann nicht sehr erfreut sein«, entgegnete sie. »Wenn Jochen erfährt, dass schon wieder ein Mensch bei uns auf dem Betriebsgelände ermordet wurde …«

»Es ist ja bis jetzt nur eine Vermutung«, wiederholte ich. »Bitte behalten Sie meine These im Moment für sich. Würden Sie mir jetzt bitte geeignete Transportbehälter besorgen?«

Sie nickte. »Selbstverständlich, Herr Palzki. Das ist ja mal wieder total aufregend heute. Ich glaube aber trotzdem, dass Michael Stein an einem Herzinfarkt gestorben ist.«

Ich erwiderte nichts. Im Hintergrund sah ich, wie ein Bestattungsunternehmen auf den Hof fuhr. Der Rettungsdienst hatte seine Siebensachen längst wieder eingepackt. Ich beschloss, niemandem von meinem Verdacht zu erzählen und die Obduktion offiziell beim zuständigen Staatsanwalt zu beantragen, sobald ich zurück in Schifferstadt war. Leider gab es eine undichte Stelle. Doris Bruch hatte meinen Wunsch nach Tüte und Behälter an ihren Schwager weitergegeben. Und der wusste nichts von meiner sensiblen und diskreten Vorgehensweise.

»Herr Palzki, ich hab do ä wasserdichte Dutt un äh Tupperschissel zum Zumache, wu Se des giftische Bier neidue kenne«, schrie er mir aus zehn Metern Entfernung entgegen. »Hoffentlich finnen Se den Mörder.«

Jeder, der sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Gelände aufhielt, hatte mitgehört. Inklusive KPD. Missmutig kam er zu mir getrottet.

»Habe ich das eben richtig verstanden, Palzki?« KPD baute sich vor mir auf. »Sie denken, dass das Bier vergiftet war? Sind Sie noch zu retten? Oder wollen Sie sogar behaupten, dass dieser Stein ermordet wurde?«

»Auszuschließen ist es nicht«, antwortete ich knapp, aber bestimmt.

KPDs Gesicht lief krebsrot an. »Sind Sie jetzt komplett übergeschnappt? Sie standen doch unmittelbar daneben, als der Tote an dem Herzinfarkt gestorben ist. Warum sollte jemand den Präsidenten eines Fasnachtsvereins ermorden wollen? Das ist völlig abstrus und unglaubwürdig! Müssen Sie jedes Mal, wenn Sie mit mir unterwegs sein dürfen, für Ärger sorgen und mich mutwillig diskreditieren, Palzki?«

Mein Chef steigerte sich in seine übliche Beleidigungstirade hinein. Wie immer in solchen Fällen, ignorierte ich seine Verbalattacke und begann seelenruhig, den kleinen Bierrest in die verschließbare Kunststoffschüssel zu schütten und das Glas und die Brötchen in die Tüte zu stecken.

»Ich bin fertig«, sagte ich schließlich. »Wir können heimfahren, wenn Sie mit Ihrer Rede fertig sind.«

KPD unterbrach seinen Monolog und starrte auf die Tüte. »Was wollen Sie damit?«

»Ins Labor bringen«, antwortete ich.

KPD kämpfte mit sich selbst. »Wenn sich Ihre Vermutung als haltlos erweist, zahlen Sie die Kosten der Analyse aus eigener Tasche. Sie machen das sowieso nur, um mir diesen schönen Tag zu vermiesen.«

»Und wenn ich recht habe, werden Sie mir dankbar sein müssen, Herr Diefenbach. Stellen Sie sich vor, die Bestatter nehmen den Toten mit und entdecken Hinweise auf eine unnatürliche Todesursache.« Da der Arzt den Totenschein bereits ausgestellt hatte, dürfte das zwar ein unwahrscheinliches Szenario sein, als Druckmittel gegenüber meinem Chef war dieser Hinweis aber durchaus brauchbar.

»Ich kann im Moment kein Kapitalverbrechen brauchen«, schnauzte mich KPD an. »In wenigen Tagen steht die Verleihung des Ordens an. Falls Sie wider Erwarten recht haben sollten, Palzki, dann übergebe ich Ihnen die Ermittlungen auf dem kleinen Dienstweg. Und wehe, Sie veröffentlichen irgendwelche offiziellen Statements oder Presseerklärungen, solang die Fasnachtssaison nicht abgeschlossen ist.«

»Wir sind sowieso nicht zuständig«, beruhigte ich ihn. »Die Ludwigshafener Kollegen werden sich um das Verbrechen kümmern. Falls es eines war«, ergänzte ich schnell.

»Kollegen?«, fragte KPD mit debiler Mimik. »Wie kommen Sie auf den Blödsinn, dass die Ludwigshafener Beamten Kollegen sind? Das sind Wichtigtuer, schon immer gewesen.«

»Dann halt Konkurrenten«, verbesserte ich mich.

KPD lachte kurz auf. »Konkurrenten? Das hieße ja, dass die mir als gutem Schifferstadter Dienststellenleiter ebenbürtig wären. Nein, Konkurrenten sehen anders aus. Außerdem gibt es niemanden, der mir im Bereich der Verbrechensbekämpfung das Wasser reichen kann.«

Ich versuchte, meinen Chef weiter anzustacheln, um die Hintergründe zu seinem aktuellen Hass auf das Ludwigshafener Präsidium zu erfahren. »Haben sich die Kolleg…, äh, Konkurren…, äh, Beamten in Ludwigshafen mal wieder ungefragt in Ihre Ermittlungen eingeschaltet, Herr Diefenbach?«, flötete ich zuckersüß, um ihn weiter zu provozieren.

»Das wissen Sie doch ganz genau, Palzki. Darüber muss ich sowieso noch mit Ihnen sprechen. Das ist aber ein ernstes Thema, das besprechen wir nächste Woche in meinem Büro.«

Oh oh, ging da gerade der Schuss nach hinten los? Ich war mir allerdings keiner Schuld bewusst. »Ich bin mir keiner Schuld bewusst«, sagte ich.

Er drohte mir mit dem Zeigefinger. »Sie wissen genau, was ich meine. Als ich im vergangenen Sommer für ein paar Tage unpässlich war, haben Sie sich mit dem Präsidium gegen mich verbündet. Solch ein hinterhältiges Verhalten kann ich als guter Chef nicht dulden. Das muss ich sanktionieren.«

Ein paar Wochen unpässlich, da konnte ich nur mit dem Kopf schütteln. KPD lag nach dem Genuss von vergifteten Zucchini mehrere Wochen lang im Koma. Bis zuletzt war unklar, ob er wieder aufwachen würde, und wenn ja, in welchem geistigen Zustand. Der Ludwigshafener Polizeipräsident hatte mich daraufhin zum Interimsdienststellenleiter befördert und mir die Ermittlungen übertragen. Ohne KPDs Hilfe, eigentlich wie immer, konnte ich die Kapitalverbrechen im Umfeld des Mutterstadter Pfalzmarkts in kürzester Zeit aufklären. »Die Beförderung ging vom Polizeipräsidenten aus«, versuchte ich, mich zu verteidigen.

»Das hätten Sie niemals annehmen dürfen«, belehrte er mich. »Sie wissen ganz genau, dass Sie nicht meine Klasse haben. Sie hätten meinen Ruf nachhaltig schädigen können, wenn ich längere Zeit dienstunfähig gewesen wäre.«

Zwei Monate waren schon ziemlich lang, dachte ich. Es waren schöne Zeiten.

KPD maulte weiter: »Und dann haben Sie begonnen, die Organisation und die inneren Ablaufprozesse meiner von mir sehr gut geführten Dienststelle umzugestalten. Sie haben meine Untergebenen damit unnötig irritiert und falsche Hoffnungen aufgebaut.«

Ich war mir wiederum keiner Schuld bewusst. Gemeinsam mit meinen Kollegen hatten wir uns gegenüber den anderen Beamten bewusst empathisch verhalten und auf unnötige Bürokratie verzichtet. Alle waren zufrieden. Alle bis auf KPD, nachdem er wieder zurückgekommen war.

Mir reichte es, ich ließ meinen Chef einfach stehen und ging in Richtung Tor, um neben KPDs Wagen zu warten. Ich kam nicht weit. Während ich überlegte, ob es für mich nicht besser wäre, mit dem Taxi heimzufahren, wurde ich von Dietmar Becker angequatscht, der sich mir in den Weg stellte. Wir standen direkt neben seinem Buchcover in Übergröße. Der Möchtegernschriftsteller war nicht alleine.

»Stimmt das, was Sie meiner Frau erzählt haben?«, mischte sich Jochen Bruch ein. »Michael Stein wurde ermordet? Bei uns im Betrieb?« Der Geschäftsführer sah nicht aus, als würde er sich Sorgen um seine Existenz als Getränkehändler machen.

»Ich habe das natürlich auch vermutet«, sagte Becker angeberisch. »Die Situation sah mir nicht nach einem Herzinfarkt aus.«

»Sie waren ja gar nicht dabei«, blökte ich ihn an.

»Ich habe aber mehrere Zeugenaussagen«, giftete er retour und zeigte auf einen Notizblock in seiner Hand.

Jochen Bruch versuchte, unseren beginnenden Zwist zu beenden. »Die Initiative kam von mir, Herr Palzki. Nachdem mir Doris berichtet hat, was Sie vermuten, habe ich Herrn Becker informiert. Gemeinsam sind wir auf die Idee gekommen, Zeugen für den Mord ausfindig zu machen.«

»Aber es steht ja noch nicht einmal fest, ob tatsächlich ein Kapitalverbrechen stattgefunden hat«, unterbrach ich ihn. »Außerdem ist für solche Sachen die Polizei zuständig.«

»Die aber nichts unternimmt.« Becker grinste mich an.

»Natürlich unternimmt die was!« Meine Stimme wurde deutlich lauter. »Ich bin der wichtigste Zeuge, das reicht völlig aus. Außerdem habe ich die Beweismittel gesichert, falls Sie das nicht bemerkt haben.« Ich wedelte kurz mit der Tüte, die ich in der Hand hielt.

Der Student ließ nicht locker. »Das stimmt schon, Herr Palzki, ist aber nicht genug.«

Mein grundsätzlich friedfertiger Charakter wurde an seine pazifistischen Grenzen gebracht. »Das muss ich mir von einem schlechten Romanschreiberling nicht sagen lassen. Solche Behauptungen können Sie Ihrem kleinen Leserkreis zumuten, aber nicht mir!«

Jochen Bruch unternahm einen weiteren Versuch der Schlichtung. »Ich glaube, Sie verrennen sich da in etwas, Herr Palzki. Unsere Idee scheint mir richtig gut zu sein. Wir wollen Sie bei Ihren Ermittlungen doch bloß unterstützen. Vorausgesetzt, es war wirklich ein Verbrechen.«

»Genau«, ergänzte Becker. »Wir wollen Ihnen nur helfen.«

Die Intention der beiden war mir klar. Becker sammelte Informationen für einen neuen Regionalkrimi, und Jochen Bruch verdingte sich ein weiteres Mal als Hobbydetektiv. Oft genug hatten mich die beiden bei früheren Ermittlungen behindert.

Ich atmete durch und versuchte, mich zu beruhigen. Das Vernünftigste wäre gewesen, die beiden einfach stehen zu lassen und in Richtung Straße zu gehen. Würde ich mir damit den Vorwurf der Überheblichkeit einhandeln? Becker würde die Szene bestimmt in seinen Kriminalroman übernehmen und dabei wie jedes Mal stark übertreiben, um seinen Lesern einen weiteren frei erfundenen schlechten Charakterzug von mir zu suggerieren. »Dann zeigen Sie mir mal Ihre Notizen«, sagte ich ohne großes Interesse.

»Endlich werden Sie vernünftig«, meinte Becker und sorgte damit bei mir für einen weiteren Aggressionsschub, den ich aber schnell unter Kontrolle brachte.

»Gemeinsam mit Jochen erstellen wir eine Liste mit Personen, die bei der Molkereistürmung anwesend waren. Die Mitarbeiter und die Leute von der Rheinschanze und den Huddelschnuddlern, die haben wir. Zumindest in der Theorie. Die genauen Personendaten können wir aber über die Vereine im Nachhinein leicht besorgen. Alles andere ist nicht so einfach. Aus dem Gedächtnis heraus haben Jochen und seine Frau Doris mir alle Personen genannt, die sie persönlich kennen. Ich selbst kannte auch einige der Gäste.« Becker zeigte mir eine recht lange Liste.

»Vollständig ist die Liste leider nicht«, sagte Jochen Bruch. »Kann sie auch nicht werden«, ergänzte er. »Wir fragen natürlich noch meinen Bruder, seine Frau und unsere Mitarbeiter. Schätzungsweise zehn bis 20 Prozent der Besucher sind uns aber unbekannt, also auch keine Stammkunden unseres Unternehmens.«

»Das ist leider nur sehr bedingt hilfreich«, attestierte ich. »Wenn das Bier vergiftet wurde, kommen wir mit dieser Liste nicht weiter. Viele der Anwesenden dürften das Opfer persönlich gekannt haben.«

»Das stimmt schon«, meinte Becker. »Aber wir sind einen Schritt weitergegangen.«

Ich blieb abwartend still, um mir keinen erneuten Vorwurf einzuhandeln.

»Wir haben uns auf die Suche nach Videoaufnahmen gemacht«, sagte Becker stolz.

»Sie haben Kameras auf dem Gelände?«, fragte ich überrascht und ärgerte mich, dass ich nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war.

»Leider nein«, verneinte Jochen Bruch. »Seit dieser blöden Sache damals haben wir nichts unternommen. Immer wieder mal haben wir es uns vorgenommen, aber umgesetzt haben wir es nicht.«

Ich begann, mich zu erinnern. Beim ersten Verbrechen auf dem Betriebsgelände vor einigen Jahren gab es mit dem Täter eine längere Verfolgungsjagd, bei der ich nicht schlecht abgeschnitten hatte, auch wenn der Mörder zunächst entkam. Große Hoffnungen hegte ich anschließend auf die Videoaufnahmen, die von einer Kamera unter dem Dach aufgezeichnet worden waren. Die Kamera war nicht wegen der Kontrolle der Mitarbeiter installiert worden, sondern wegen einiger nächtlicher Leergutdiebstähle. Aus diesem Grund wurden die Aufnahmen der Kamera nur sehr unregelmäßig überprüft. Und als wir sie benötigten, mussten wir feststellen, dass eine Taube direkt auf das Objektiv geschissen hatte.

»Welche Videoaufnahmen meinen Sie dann?«

Becker seufzte. Meine passive Aggressivität hatte mittlerweile ihre Grenze erreicht.

Jochen Bruch holte sein Handy aus der Hosentasche. »Wir haben alle Personen, die wir nach dem Abbruch des Festes erreichen konnten, befragt, ob sie Fotos oder Videos der Molkereistürmung gemacht haben. Insbesondere von der Zeit nach dem Fall der Mauer. Die Verantwortlichen der Rheinschanze und der Huddelschnuddler werden in ihren Reihen forschen und uns dann die Ergebnisse nennen. Insbesondere die Gardemädchen haben eifrig fotografiert und gefilmt. Vielleicht ist ja ein Zufallstreffer darunter.«

»Ich weiß schon, wie ich die Szene in meinem Krimi beschreiben werde«, ereiferte sich Becker. »Auf einem nichtssagenden und verwackelten Video wird man im Hintergrund erkennen, wie der Mörder das Gift in das Bierglas schüttet. Damit wird der Täter in meinem Werk überführt.«

»Habe ich schon 1000-mal in schlechten Krimis gesehen«, ärgerte ich Becker. Innerlich musste ich den beiden allerdings Respekt zollen. Ihre Idee war vom Grundsatz her gut, was ich selbstverständlich niemals zugeben würde.

»Palzki, wo bleiben Sie denn?« KPD stand auf der Straße und rief nach mir.

»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden«, befahl ich Bruch und Becker. »Ich habe in den nächsten Tagen leider viel zu tun. Falls ich mit meiner Vermutung recht habe, werde ich auf Ihr Angebot zurückkommen.«

»Welches Angebot?«, fragte Becker überrascht.

»Mir Ihre Notizen zur Verfügung zu stellen.« Ohne eine weitere Verabschiedung ging ich zu KPD.

»Was hat Ihnen Herr Becker erzählt?«, begann KPD sofort. »Erzählen Sie mir jedes Wort.«

So langsam hatte ich die Schnauze voll. Wie konnte es sein, dass ein Mensch wie KPD über solch eine lange Zeit Chef einer Dienststelle war, ohne dass eine übergeordnete Behörde, wie in unserem Fall das Polizeipräsidium, die Reißleine zog und Diefenbach an die Luft setzte. Als Chef und Polizeibeamter war er einfach untragbar. Den Tod des Fasnachters hatte er bestimmt längst wieder verdrängt.

»Er schwärmte mir von seiner Büttenrede vor«, begann ich mit meiner fiesen Stichelei.

»Und?«, fragte er sofort. »Wie finden Sie sie?«

»Stark«, antwortete ich. »Herr Becker hat ein grandioses Sprachgefühl, wie man ja auch deutlich in seinen herrlich pointierten Kriminalromanen erkennen kann. Sein Sprachduktus ist exzellent, und meiner Meinung nach wird es nicht mehr lange dauern, bis er mit Literaturpreisen überhäuft wird. Gibt es eigentlich einen Nobelpreis für Büttenreden? Herr Becker wäre ein guter Anwärter für den Preis.«

»Besser als meine Reime?« KPDs Lippen bebten.

»Tut mir leid, Herr Diefenbach. Wenn Sie Wert auf die reine Wahrheit legen, kann ich keine andere Antwort geben. Gegen Dietmar Becker anzukommen, dürfte sehr schwierig bis unmöglich sein. Ist es für Ihre Ordensverleihung unabdingbar, dass Sie die beste Büttenrede abliefern, oder tut es auch die zweitbeste?«

»Ich war in meinem ganzen Leben noch niemals Zweitbester!«, echauffierte sich KPD. »Ich stehe immer vorne, dann kommt erst ganz lange niemand und dann der Rest. Ein zweiter Platz ist unter meiner Würde und absolut nicht angemessen. Meine Reputation wäre zerstört, wenn Herr Becker eine bessere Büttenrede abliefert als ich selbst.« Er schaute mich streng an. »Wir müssen eine Schippe drauflegen, Herr Palzki. Ich hoffe, Sie sind mit Ihrem Entwurf in den nächsten Tagen fertig. Bis Donnerstag muss ich Ergebnisse haben.«

»Bis kommenden Donnerstag?«, stotterte ich ein Erstaunen, wohl wissend, dass am übernächsten Donnerstag die Fasnacht vorbei war.

KPD nickte zur Bekräftigung. »Donnerstagfrüh, um genau zu sein. Ich habe mir den Tag freigehalten. Abends sind wir ja wieder unterwegs.«

»Unterwegs?«

»Haben Sie das schon wieder vergessen, Palzki? Am Donnerstag fahren wir beide nach Ludwigshafen zur Eberthalle. Die Lukom veranstaltet ihre jährliche Altweiberfasnacht. Natürlich mit jeder Menge Prominenz.«

Ordentlich gemordet

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