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15. Januar – 15. April 1999
ОглавлениеLasciate ogni speranza, voi, qu’entrate…
(Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.)
Dante, Göttliche Komödie
Die Schule liegt in einer Sackgasse. Ein Verkehrsschild am Beginn
weist sie als Fußgängerzone aus. Zuerst kommt das Feuerwehrgerätehaus,
dann das Bürgerhaus mit einer jugoslawischen Gaststätte, danach
eine Turnhalle und ein etwas verwahrloster Parkplatz. An der
Zufahrt zum Parkplatz steht ein Altkleidersammelbehälter, daneben
ein Altschuhsammelbehälter. Rechts steht eine Grundschule und
schließlich ganz hinten die Gesamtschule. Der Parkplatz ist schlecht
beleuchtet. Morgens liegen oft Bierdosen herum. Das Gelände ist
auch ein gern genutzter Hundekotplatz.
Einem Feng-Shui-Anhänger fiele das Betreten der Schule schwer: Im
Windfang des Eingangsbereichs befinden sich die Schülertoiletten.
Jeder, der die Schule betritt, muss daran vorbei, durch den ewig müffelnden
Windfang hindurch. Bautechnisch hingegen ist das eine geniale
Lösung: Für innen und außen gibt es eine einzige, von beiden
Seiten gut erreichbare Toilette.
Wen dies weniger stört, der muss sich mit der Frage auseinander setzen,
ob er eine Schule oder einen Recyclinghof betritt. Eine gelbe Tonne
neben dem Briefkasten am Eingang ist noch zu verkraften. Im
Toilettenwindfang stehen links und rechts, neben der Jungen- und der
Mädchen-Toilette, jeweils zwei weitere Mülltonnen; macht zusammen fünf.
Wer diese Schwelle überwunden hat, betritt die Eingangshalle, in der
sich sieben Abfallbehälter unterschiedlichster Bauart befinden. Trotz
oder vielleicht gerade wegen der großen Auswahl an Abfallbehältern
werden zusammengeknüllte Bäckereitüten, Schokoriegelverpackungen
und Getränkedosen aber mit Vorliebe auf dem Fußboden abgelegt.
Ein Pflanzenfriedhof lockert dieses Ambiente auf. Zwei Dutzend
dürre Fici Benjamini, abgesägte Yucca-Stämme oder beschädigte Philodendren
zieren den Bereich. Diese Anhäufung unterschiedlichster
Pflanzen vor dem Eingang zum Lehrerzimmer wird als „Dschungel“
bezeichnet; eine Kränkung für die Regionen der Erde, wo es ihn
(noch) gibt.
Die Wände der Eingangshalle sind von Schülerinnen und Schülern bemalt
worden: Fantasy-Gemälde, ein überdimensionales impressionistisches
Bild auf der Tür zum Lehrerzimmer, die Betonsäulen altdeutsch
rustikal mit Fachwerk übermalt. Jedes Werk für sich betrachtet beeindruckend.
Ein Vorgeschmack auf fehlende pädagogische Koordination?
Der Neue ist davon überzeugt, dass Räume erzieherische Wirkung
haben. Verwahrloste, ungepflegte Schulkasernen sind lernhemmend
und aggressionsfördernd.
Der Eingangsbereich hat durchaus Charme. In der Mitte befindet sich eine
nicht allzu große Aula, die sich vorzüglich für Veranstaltungen eignet,
auf der linken Seite, hinter einer Glaswand, eine kleine Bücherei,
daneben eine mit Teppichboden ausgelegte Sitzlandschaft. Überhaupt
befinden sich im Erd- und Obergeschoss in mehreren Nischen
liebevoll gestaltete Sitzecken, Produkte des Werkunterrichts. An der
zentralen Wand im Eingangsbereich, ebenfalls im Fachwerkstil bemalt,
hängen große Fotos aller Klassen. Davor blanke Holzbänke und
-würfel, eine bei den Schülerinnen und Schülern beliebte Sitzgelegenheit.
Kaum eine andere dem Neuen bekannte Schule hat solche
schönen Sitzecken in den Fluren. In den Pausen sind sie leider nicht
zu benutzen, da die Schüler das Gebäude verlassen müssen. So hat es
die Gesamtkonferenz beschlossen.
Eine letzte Mülltonne steht vor dem Eingang zum Verwaltungsflur.
Vorherrschende Farbe dort, wie überall in der Schule, ein aggressives
grünliches Gelb der Blechwände. Es wird aber von einer Unzahl A0-
Fotopostern vergangener Sport- und pädagogischer Tage, von Auslandsfahrten,
Kunstprojekten und Kollegiumsausflügen gemildert.
Über den Postfächern der Lehrerinnen und Lehrer hängen Girlanden
aus Endlos-Lochpapier. Darauf stehen – in Fraktur – pädagogische
Leitsätze und Zielvorstellungen.
Vor der Tür zum Schulleiterzimmer hängen modische Kreuze, wohl
im Religionsunterricht gefertigt, im Nikki-de-Saint-Phalle-Stil, Pop-
Kreuze, naiv bemalte Holzlatten. Darunter stehen eine große blaue
Holzbank, deren Farbe sich mit dem unentschiedenen Gelb der
Wände beißt, und hölzerne Sitzwürfel, gruppiert um einen zu hohen
Tisch, einem Kastenmodell des Schülercafés unter einer Glasplatte.
Auf der blauen Bank ist eine hölzerne Gliederpuppe festgeschraubt.
Sie jagt dem Neuen, der in den ersten Wochen sein Büro erst spät
abends bei Notbeleuchtung verlässt, jedes Mal einen gehörigen
Schrecken ein. Er lässt sie vom Hausmeister wegschaffen. Damit handelt
er sich eine erste Rüge des Personalrats ein.
Seit wann diese Ausstellungsstücke im Verwaltungsflur präsentiert
werden, ist nicht zu klären. Die Antworten variieren zwischen ewig
und bestimmt länger als drei Jahre.
Die beiden freien Wände im Schulleiterzimmer werden von Fototapeten
geschmückt, Naturlandschaften. Davor stehen Verwandte der
Pflanzen aus dem Eingangsbereich. Auf der Tür zum Sekretariat klebt
die Fototapete einer rosafarbenen Bauernhaustür.
Der raumhohe Kaktus, den der neue Nutzer des Schulleiterbüros als
einzigen Zimmerschmuck vorerst überleben lässt, zeigt sich undankbar.
Er kippt eines Tages über den Schreibtisch und jagt seine haarscharfen
Nadeln in die Hände und Unterarme des Neuen.
In den Verwaltungsräumen setzt sich die Recyclinghofidee fort. Alle
Zimmer haben einen oder mehrere mit blauen Abfallsäcken ausgestopfte
50-Liter-Papierkörbe.
Nachtrag: Der Neue ersetzt die 50-Liter-Papierkörbe durch normale
Büropapierkörbe. Die Zahl der Mülltonnen wird erheblich reduziert.
Dennoch wird die Schule bald als eine der saubersten im
Kreisgebiet gelobt werden.
Der Schreibtisch
Über Tage hinweg ist der Neue damit beschäftigt, die Hinterlassenschaft
des Vorgängers aus dem Schreibtisch zu räumen: Hustenbonbons,
Tempotaschentücher, vertrocknete Folienstifte, hunderte Kulis
und Bleistifte. In den Schränken ruhen vergilbte Publikationsverzeichnisse
und Broschüren. Der Neue wünscht sich einen Erlass, der
Ruheständlern auferlegt, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Herr
Dahlheimer, der Vorgänger, wird in seiner Abschiedsrede behaupten,
er hätte einen aufgeräumten Schreibtisch hinterlassen.
Der Vorgänger
Herr Dahlheimer war überraschend vorzeitig pensioniert worden. Es
hatte Auseinandersetzungen gegeben, so war zu hören, u. a. mit der
Stellvertreterin, dem Personalratsvorsitzenden und dem Schulelternbeiratsvorsitzenden.
Die Steuergruppe für das Schulprogramm war
von der Gesamtkonferenz aufgelöst worden. Dalheimer war Befürworter
der Förderstufe gewesen. Das Kollegium war dagegen. Es hatte eine,
auch öffentlich geführte, erregte Auseinandersetzung darüber gegeben.
Er hatte sein altes Klavier an die Schule verkauft. Auf Schulrechnung
soll ein Klavierstimmer dann das alte und das neue private gestimmt
haben. Als der Neue das Beschriftungsgerät sucht, bekommt er den
Tipp, er solle den Vorgänger anrufen. Der Hausmeister erzählt, dass er
eines Tages Gartenmüll in mehreren Abfallbehältern der Schule gefunden
habe und die Nachbarn verdächtigte. Kleinlaut habe der Vorgänger
zugegeben, dass er von ihm stamme. Auch private Wäsche
habe er in der schuleigenen Waschmaschine gewaschen. Der damalige
Hausmeister habe seine Wohnung renoviert.
Die Abschiedsfeier
Zur Abschiedsfeier hatte er das gesamte Kollegium geladen. Gekommen
war ein knappes Drittel. Der Schulrat schützte einen anderen
Termin vor, so dass der Neue dem alten Direktor die Entlassungsurkunde
überreichen musste. Der Vorgänger hielt sich selbst eine
Laudatio. Darin kam von Plato bis Pestalozzi vor, was bei solchen
Gelegenheiten vorzukommen pflegt. Ein schon früher pensioniertes
Mitglied der Schulleitung redete von seinen Schwierigkeiten, eine
Rede zu halten. Der Neue las ein Gedicht von Eugen Roth.
Zu dem Zeitpunkt, für den das Büffet angekündigt war, erschienen
Freunde aus dem örtlichen Karnevalsverein und sangen ein nicht
enden wollendes Bänkellied auf ihren Vereinskollegen. Der Neue
nahm beim Büffet schon für die Vorspeise einen großen Teller.
Die Schulleitung
Aus der Schule waren Hilferufe gekommen. Der Neue war vom Schulamt
zum Halbjahr an die Schule geschickt worden. Nicht nur der
Schulleiter war pensioniert worden, der pädagogische Leiter ebenso,
ein Jahr zuvor der Leiter des Haupt- und Realschulzweiges.
Der Förderstufenleiter, Herr Nagel, hatte eine schwere Operation hinter
sich und zur Wiederherstellung der Gesundheit seine Arbeitszeit
reduziert. Da sein Lebenswerk, die Förderstufe, aufgelöst wird, ist ihm
nicht zu verdenken, dass er resigniert. Er taucht im Laufe des Vormittags
auf, kopiert ein paar Unterrichtsmaterialien, lässt die Fehldrucke
rund um den Kopierer liegen und verschwindet grußlos
gegen Mittag. In den Leitungsteamsitzungen diskutiert er gerne
grundsätzlich. Er ist gegen Computer in der Schule, gegen die Schaffung
einer Vertretungsreserve, für gewerkschaftliche Positionen, gegen
nachmittägliche Sitzungen des Leitungsteams. In den Gesamtkonferenzen
provoziert er den Neuen gerne.
Die Leiterin des Gymnasialzweiges, Frau Willnow, hat ebenfalls aus
Gesundheitsgründen reduziert und unterrichtet zudem mit der
Hälfte ihrer Stunden an der Oberstufenschule in der Stadtmitte. Sie
hat einige anstrengende Monate lang die Schule geführt. Den Neuen
unterstützt sie sehr.
Die Stelle des pädagogischen Leiters wird nicht wieder besetzt. Die
Landesregierung hält nichts von Gesamtschulen. Sie setzt ihnen administrativ
zu, z. B. mit der Nichtbesetzung freier pädagogischer Leiterstellen.
Die Stelle des Leiters des Haupt und Realschulzweiges wird
auf absehbare Zeit auch nicht besetzt werden, da die Schülerzahl
unterhalb der Grenze liegt, ab der die Stelle ausgeschrieben werden
muss. Somit haben nur der vier Klassen umfassende Gymnasialzweig
und die sechs Klassen umfassende Förderstufe eine hauptamtliche
Leitung, die 11 Haupt- und Realschulklassen aber nicht.
Für die Funktion der Stellvertreterin war fünf Jahre zuvor eine Lehrerin
aus dem Kollegium ausgewählt worden, Frau
Zastrow. Da sie eine Besoldungsstufe überspringen musste, ließ ihre
endgültige Ernennung auf sich warten. Die Zusammenarbeit zwischen
Dahlheimer und der Stellvertreterin muss schwierig gewesen sein.
Frau Zastrow regierte in Zeiten der Abwesenheit des Schulleiters
selbstherrlich. Sie hob seine Anweisungen auf und angeblich durchsuchte
sie seinen Schreibtisch. Dahlheimer war häufig abwesend. Er
hatte einen Schüleraustausch mit Marokko ins Leben gerufen.
Sie war vom damaligen Leiter des Schulamtes ausgesucht worden. Es
gibt den Verdacht, diese Auswahl sei geschehen, weil Dahlheimer von
einem Dezernenten ausgewählt worden war, den der Schulamtsleiter
wiederum nicht sehr mochte. Ein Mitspracherecht bei der Besetzung
der Stellvertreterstelle hat ein Schulleiter nicht.
Über Frau Zastrows Amtsführung gibt es widersprüchliche Meinungen.
Dass die Chemie in der Schulleitung nicht gestimmt habe, wie
Herr Schwegler, der Koordinator, sagt, sei eine wohl wollende Umschreibung.
Jetzt endlich, seit der Ankunft des Neuen, werde in den
Leitungsteamsitzungen nicht mehr gebrüllt.
Über Frau Zastrow ist nachzulesen, dass sie sich beim Schulamt über
die Sekretärin beschwerte, weil die aus ihrer Ananasdose genascht
hätte. Die Zusammenarbeit war für die Sekretärin so belastend, dass
sie kreisrunden Haarausfall, eine Stresskrankheit, bekam. Frau Zastrow
soll einmal im Sekretariat auf dem Boden gelegen und geschrieen
haben, so dass man den Notarzt rufen musste. Sie habe gerne Stellen
gezeigt, wo sie Abhörwanzen vermutete.
Zwei Jahre nach ihrer Zwischenbeförderung stand die Ernennung
bevor. Dahlheimer äußerte sich nicht eindeutig zur Frage der
Bewährung. Seine laue Beurteilung löste im Schulamt Erstaunen aus.
Jahrelang hatte er Klage über sie geführt. Jetzt konnte er sich Frau
Zastrow als Stellvertreterin vorstellen. Es gibt Vermutungen, dass sie
inzwischen zu viel von ihm wusste, als dass er ihre Nichtbewährung
hätte vorschlagen können. Schließlich schob er eine negative Aktennotiz
nach.
Nachtrag: Mit Hilfe der Rechtsstelle der Lehrergewerkschaft wird
Frau Zastrow drei Jahre mit dem Schulamt in Fehde wegen der
ausgebliebenen Beförderung liegen.
Einmal wollte Dahlheimer ihr eine Falle stellen. Er, ein „guter zweiter
Mann“, wie Herr Schwegler sagt, hatte den Stundenplan immer selbst
gemacht. Einen Stundenplan, was meist Aufgabe der Stellvertreterin
ist, hatte Frau Zastrow nie erstellen müssen.
Vor zwei Jahren beauftragte er sie in den Sommerferien damit. Sie
packte einen Schulcomputer in ihren Wagen, kam aber ohne Plan aus
den Ferien zurück. Der Vorgänger musste in einem dreitägigen Marathon
den Plan selbst machen.
Anschließend war sie fast ein Schuljahr krank. Sie reichte wöchentlich
Atteste ein, bis Dahlheimer sie nach Monaten entnervt bat, sich
doch eine langfristige Erkrankung bescheinigen zu lassen. Im Folgenden
Jahr kam sie zurück an die Schule, aus Gesundheitsgründen mit
reduzierter Arbeitszeit, erhielt einen unterrichtsfreien Tag für Therapiestunden
und späten täglichen Unterrichtsbeginn wegen morgendlicher
gymnastischer Übungen. Außerdem hatte das Schulamt
zur Beschleunigung ihrer Gesundung verfügt, dass sie nicht mit
Schulleitungsaufgaben belastet werden dürfe. Inzwischen als behindert
eingestuft, beantragte sie eine spezielle, ihrem Rückenleiden angepasste
Arbeitsplatzausstattung. Sie erhielt sogar einen Sonderparkplatz
auf dem Schulhof, der mit einem Gitter abgetrennt wurde.
In dieser Situation, zu Beginn des 2. Schulhalbjahres, trifft der Neue
ein. Er braucht Klarheit, ob die Stellvertreterin den Stundenplan fürs
kommende Schuljahr macht. Er fragt im Februar, wie es um sie stehe.
Sie legt sich nicht fest, ist aber zu allem bereit. Es gehe ihr schon viel
besser. Aber ganz stabil sei ihre Gesundheit noch nicht. Sie könne
nicht verhindern, dass sie gelegentlich ausfalle. Aber wenn sie wieder
in der Schulleitung mitarbeite, sei klar, dass der Neue die Schule nach
außen zu vertreten habe. Da werde sie ihm nicht reinreden. Der Neue
ist überrascht, woran sie schon denkt. Er bittet sie, ihn möglichst frühzeitig
zu informieren, wie es mit ihr weitergehe.
Als der Neue Frau Zastrow einmal darauf anspricht, dass sie mit
Elternfragen rechnen müsse, weil sie äußerst rigide „blaue Briefe“ verschicke,
gleichzeitig aber häufig gefehlt habe, bittet sie ihn, ihr das
schriftlich zu geben. Der Neue betont, dass er dieses Gespräch kollegial
führe, weil er besorgte Elternanrufe gehabt habe und ihr dies
nicht verheimlichen wolle. Sie zieht daraufhin eine Statistik aus der
Tasche und liest dem Neuen vor, aus welchen Gründen sie ihren
Unterricht nicht habe halten können: Wandertag, Projekttag, und
dann sei da noch die Jugendbüchervorstellung gewesen, die er, der
Neue, angeordnet habe.
Eine weitere Kollegin trifft der Neue in der Schulleitung an: Frau Melles.
Sie erstellt aushilfsweise die Aufsichts-, Vertretungs- und Stundenpläne.
Es gibt Stimmen im Kollegium, die sagen, dass die Schule
noch nie so gute Pläne gehabt habe. Die Zusammenarbeit mit ihr ist
vom ersten Moment an hervorragend. So geht der Neue durch die
Schule, wundert sich, dass das Lehrerzimmer und die Flure voll sind,
die Klassenräume leer, obwohl seit Minuten die fünfte Stunde angefangen
hat. Da fordert Frau Melles bereits durch die Lautsprecher die
Schülerinnen und Schüler auf, in die Klassen zu gehen.
Der Status des Neuen ist brisant. Er nimmt Schulleitungsaufgaben
wahr, ohne Schulleiter zu sein, ohne eine ministerielle Beauftragung
zu haben. In ähnlichen Fällen wird der Leiter einer benachbarten Schule
dienstverpflichtet. Ihm wird nahe gelegt, unauffällig zu agieren, niemanden
im Kollegium zu verprellen, keine unpopulären Entscheidungen
zu treffen, nichts zu verändern. Er versucht, dies Frau Melles
zu erklären, die ihn des Öfteren auffordert, Missstände abzustellen.
Sie ist auch für die Organisation des Haupt- und Realschulzweiges
verantwortlich. Das ist auf Dauer nicht mit ihren Aufgaben beim
Stunden- und Vertretungsplan zu vereinbaren, daher sucht der Neue
nach weiteren Kolleginnen oder Kollegen, die in der Schulleitung
mitarbeiten könnten. Frau Melles aber möchte die Zweigleitung
behalten. Sie will sich als Stellvertreterin bewerben. Und diese Tätigkeit
ist nützlich für eine Bewerbung.
Der Neue beauftragt sie in Absprache mit dem Schulamt wesentliche
Aufgaben einer Stellvertreterin wahrzunehmen. Das führt zu Irritationen
im Kollegium, insbesondere bei den Anhängern der „teilkranken“,
von allen Schulleitungsaufgaben entbundenen Frau Zastrow.
Frau Melles gibt zu verstehen, dass sie unter keinen Umständen
gewillt sei, an der Schule zu bleiben, wenn Frau Zastrow wieder als
Stellvertreterin arbeiten werde. Die jetzige Situation sei schon belastend
genug. Das kann der Neue nur bestätigen. Ihm fällt auf, dass
Frau Zastrow die Stimme senkt, wenn er das Lehrerzimmer betritt,
dass sie ständig Notizen macht, bei Konferenzen von Anfang bis Ende
mitschreibt. Obwohl schon im Mantel, bleibt sie eine Dreiviertelstunde
im Lehrerzimmer, als der Neue mit dem Personalratsvorsitzenden
über Gott und die Welt redet. In den Pausen schielt sie ständig ins
Raucherzimmer, wo der Neue sich oft aufhält. Sein Tabakkonsum ist
gestiegen, seit er an dieser Schule ist.
Zur Schulleitung gehört auch Herr Schwegler, der Koordinator. Er hatte
eine andere Schule wegen Fehlverhaltens verlassen müssen. Der
Elternbeiratsvorsitzende nennt ihn Generalfeldmarschall. Er habe beim Schulfest
die Eltern ganz schön herumkommandiert. Schwegler erzählt gelegentlich
vom Militär, sein Ton bei Durchsagen ist schneidig. Die Schülerzeitungsredaktion
befiehlt er in den Pausen häufig in sein Zimmer. Die Tür hat
außen einen Knopf, keine Klinke. Man muss anklopfen oder, sofern
man einen passenden Schlüssel hat, aufsperren. Der Neue lässt das
ändern. Als er einmal fragt, ob Schwegler denn eine Kursliste für die
Zeitungs-AG führe, erwidert der ungerührt, der Neue habe nie erwähnt,
dass er auf Kurslisten bestünde.
Nachtrag: Die einzige Ausgabe der Schülerzeitung im laufenden
Schuljahr erscheint kurz nachdem der Neue von einer Schülerzeitungsredakteurin
interviewt worden war. Ohne das Interview.
Vom Schulamt war ihm eine Kollegin als mögliche Mitarbeiterin in
der Schulleitung genannt worden, Frau Moser. Er beauftragt sie mit
der Koordination der Schulprogrammarbeit und einem Konzept zum
Wahlunterricht. Vier Deputatstunden kann er ihr dafür anbieten. Eine
äußerst großzügige Regelung. Das ist ihr zu wenig. Sie nimmt aber an.
Eigentlich hätte sie die H- und R-Zweigleitung übernehmen sollen,
die aber Frau Melles behalten will. Die mit den beiden nicht allzu
umfangreichen pädagogischen Aufgaben betraute Kollegin Moser ist
immer ein wenig mürrisch und grüßt nie. Der Neue liest im Haushaltsplan,
dass sie ein Klavier haben möchte. Er sichert es ihr zu. Er
bekräftigt es auch dann noch, als Haushaltsfachmann Schwegler
meint, es werde schwierig mit der Finanzierung. Der Neue bittet sie
zu prüfen, ob es statt für 11.000 DM vielleicht für 8.000 ginge. Sie
schickt den Personalrat vor, der sich für den Klavierkauf einsetzt.
Der meldet auch gleich Kritik an der Beauftragung von
Schwegler mit Haushaltsangelegenheiten an.
Der Neue betont gegenüber dem stets forsch auftretenden Koordinator,
dass die Hauptverantwortung für den Haushalt bei ihm, dem
Neuen, läge. Er gibt dem Personalrat zu erkennen, dass er für alternative
Namensnennungen offen sei. Solange das aber nicht der Fall
wäre, sei er dem Koordinator für seine Mitarbeit sehr dankbar.
Raumfragen
Seit einigen Jahren gehen die Schülerzahlen der Schule zurück. Der
Schülerberg der 70er und 80er Jahre ist abgebaut, die Geburtenrate
sinkt. Die Schulform Gesamtschule ist bei der überwiegend konservativen
Bevölkerung nicht gut angesehen. Selbst sozialdemokratische
Lokalpolitiker schicken ihre Kinder lieber auf Privatschulen. Aber
auch örtliche Gegebenheiten wirken. Der Stadtteil hat keine Neubaugebiete
und die Schule liegt verkehrsungünstig.
Mehrere Klassenräume stehen leer. Sie werden umfunktioniert. Es
gibt daher einen Film- und einen Videoraum, die kleinen Lateingruppen
haben ihren Raum, es gibt das Schülercafé und den Meditationsraum
einer Religionslehrerin.
Der Neue hat sich einen Home-Room genommen, in den seine
Klassen zum Unterricht kommen. Er arbeitet nicht gern mit veralteten
Lehrbüchern und braucht daher in seinem Unterricht Sachbücher
und Lexika, Papier, Filzstifte und Scheren und viel Platz zum
Aufhängen von Wandzeitungen. Da ist ein Raum, in den die Schülerinnen
und Schüler kommen, sinnvoller, als wenn er wie ein Packesel
von Klassenraum zu Klassenraum zieht.
Dieser Raum hatte schon bei seinem Vorgänger leer gestanden.
Gelegentlich war er zum Backen von Waffeln benutzt worden. Der
Neue hatte die ersten Wochen gewartet, aber es zeichnete sich ab,
dass der Raum auch weiterhin von niemandem beansprucht wurde.
Da kommt der technische Assistent, über den die Schule an einem Tag
in der Woche verfügt, und weist ihn darauf hin, dass seit Jahren eine
ungenutzte fahrbare Videoanlage in seinem Büro stehe. Den Vorgänger
habe er schon vergeblich darauf aufmerksam gemacht. Der
Neue lässt sie in seinen Home-Room bringen. Im Lehrerzimmer hängt
er aus, dass ein zusätzlicher Recorder dort stehe. Einige Wochen
später fragt der Personalrat, ob andere Lehrer den Recorder auch
benutzen dürfen.
Technische Assistenten an Schulen sind ein Relikt aus den 70er
Jahren, der Zeit der Bildungsreformversuche. Die Stellen sind inzwischen
weitgehend abgebaut worden.
Zwei benachbarte leer stehende Klassenräume sind durch eine Schiebetür
getrennt. Er lässt den Hausmeister die schwergängige Schiebetür
öffnen. So entsteht ein Konferenzraum. Die besten auffindbaren
Tische werden in einem großen Rechteck angeordnet. Das Kollegium
nimmt den Raum nur zögerlich an. Gesamtkonferenzen im Lehrerzimmer
waren gemütlicher. Man konnte auf der Couch sitzen.
Der neue große Konferenzraum eignet sich vorzüglich für Klassenarbeiten
und Tests. Dazu muss die Konferenzbestuhlung natürlich aufgelöst
werden. Der Hausmeister muss jetzt vor jeder Konferenz umbauen.
Wenn der Neue den Umbau zu früh durchführen lässt, kommt
es vor, dass ein Lehrer kurz vor der Konferenz noch einen Test schreiben
lässt und die Tische wieder umstellt. Es dauert nicht lange bis
die Tische, wie in den Klassenräumen üblich, mit Filzstiften beschmiert
sind. Der Neue fragt sich, wo man früher Klassenarbeiten
geschrieben hat.
Das Schulverwaltungsamt überlegt, der leer stehenden Räume wegen,
ob das Medienzentrum des Landkreises in die Schule ziehen könne.
Die Leiterin des Amtes vergattert ihn zur Verschwiegenheit. Er weiß
aus seinen früheren Tätigkeiten, dass solche Anfragen oft vorübergehenden
Charakter haben. Er entschließt sich, sein Leitungsteam einzuweihen,
bittet aber um Vertraulichkeit. Einige Tage später fragt der
Personalratsvorsitzende, was es mit dem Medienzentrum auf sich
habe. Er habe gehört, der Neue betreibe den Einzug eines Medienzentrums.
Er fragt in der Schulleitungsrunde nach der undichten Stelle. Religionslehrerin
Moser gibt den Vertraulichkeitsbruch zu. Er führt ein
Gespräch mit ihr, bittet darum, dass sie ihm versichere, künftig loyaler
zu sein. Er bietet ihr in diesem Gespräch aber auch mehrfach die
weitere Zusammenarbeit an. Sie erklärt daraufhin, dass sie im nächsten
Schuljahr nicht mehr zur Verfügung stehe und schon vor einiger
Zeit das Schulamt nach einer Versetzung in eine andere Schule
befragt habe.
Er will die Sache nicht hoch hängen. Er fertigt nach Rücksprache mit
dem Juristen des Schulamtes eine Aktennotiz an, will sie eine angemessene
Zeit aufbewahren und sie dann in Absprache mit der
Kollegin vernichten. Die Kollegin Moser verweigert die Kenntnisnahme
und wirft ihm vor, nicht korrekt zu sein, weil so etwas in die
Personalakte gehöre. Sie lässt eine Rechtsanwältin intervenieren, als
der Neue dann die Aktennotiz zwecks Aufnahme in die Personalakte
ins Schulamt schickt. Das will sie jetzt doch nicht mehr. Das Amt fordert
eine schriftliche Stellungnahme vom Neuen. Er leitet diese ein
mit der Bemerkung, er freue sich, dass Frau Moser jetzt doch auf die
Aufnahme der Notiz in ihre Personalakte verzichte. Daraufhin rügt
das Amt den Neuen und verbittet sich ironische Bemerkungen. Er
solle nochmals und ausführlich Stellung nehmen.
Nach vier Wochen wird der Einzug des Medienzentrums vom Landrat
erst einmal ad acta gelegt.
Nachtrag: Das Medienzentrum kommt dann doch. Mitarbeiter des
Schulverwaltungsamtes begehen das Gebäude. Sie finden fünf Räume
im Erdgeschoss, u.a. den gerade neu eingerichteten Konferenzraum.
Die gefallen ihnen. Dem Neuen gefällt das überhaupt nicht. Mitten
im Gebäude, in Ia-Lage sozusagen, eine fremde Dienststelle mit Publikumsverkehr.
Er kann die Amtsleiterin davon überzeugen, dass sie
mit Räumen im Untergeschoss besser bedient ist. Es sind fußkalte,
etwas muffige Räume, aus denen er, sofort als er gekommen war,
Klassen ausquartiert hatte. Aber die werden ansehnlich renoviert.
Opfern muss er dafür das Fotolabor. Herr Zierhold, zuständig für
Arbeitslehre, ist darüber nicht erbaut und grummelt ein wenig. Aus
der Staubschicht, die auf den Geräten liegt, einigen mit Datum versehenen
Notizzetteln und dem Zustand der angebrochenen Chemikalien
lässt sich aber ablesen, dass das Labor seit einem Jahrzehnt
nicht mehr benutzt worden sein kann.
Nach einigen Wochen, in denen die Personalräte mit besorgten Gesichtern
herumlaufen, weil der Neue jetzt doch angeblich seinen
Willen bekommen hätte, erkennen die meisten, dass sie das Privileg
haben, sich noch Minuten vor Unterrichtsbeginn eine Videokassette
oder eine DVD ausleihen zu können. Lehrerinnen und Lehrer
anderer Schulen müssen eine Woche vorher bestellen oder selbst
zum Medienzentrum fahren.
Das Pressefoto
Der Dienstantritt des Neuen hat sich in der Öffentlichkeit herumgesprochen.
Der Chef des Lokalblattes sagt sich an. Er schießt ein Foto
vom Neuen am Schreibtisch, mit dem Telefonhörer in der Hand.
Leider versagt der Fotoapparat. Inzwischen sind weitere Schulleitungsmitglieder
im Zimmer. Auf dem Foto, das dann erscheint, sind
Frau Melles, Frau Willnow, Herr Schwegler und der Neue abgebildet.
Der Personalrat übt Kritik an der Veröffentlichung. Ihm gefällt nicht,
dass Herr Schwegler auf dem Foto ist.
Wissensmanagement
Lehrbücher und Lernmaterialien sind über zahlreiche Räume verteilt.
Im Nichtraucherlehrerzimmer, im Raucherlehrerzimmer, in den Regalen
der geräumigen Lehrergarderobe, in der Bücherei, im leer stehenden
Zimmer des pensionierten pädagogischen Leiters, im Kartenraum,
im Lehrbuchmagazin, im Medienraum und in einem Abstellraum
lagern mehrbändige Lexika, in Folie eingeschweißte Pakete mit
Prospekten und Broschüren, vergilbte Klassensätze von Zeitungsbeilagen,
Lehrpläne, angestaubte Aktenordner mit Unterrichtsmaterialien,
halb leere Folienmappen, Unterrichtsfilm-Kataloge eines
Jahrzehnts. In manchem Raum liegt von jedem etwas. Ein mehrbändiges
Taschenbuchlexikon etwa ist auf drei Räume verteilt.
Die Glasfronten der Bücherei sind mit Aufklebern und Plakaten zugeklebt.
Dahinter verstecken sich, streng voneinander getrennt, eine
Lehrer- (im größeren Raum) und eine Schülerbücherei (im kleineren
Raum). Erstere ist ein beeindruckendes Büchermuseum, eine Sammlung
der pädagogischen Literatur der Aufbruchszeit der 70er Jahre.
Die jüngsten Eintragungen auf den Fristzetteln datieren aus 1987.
Dazwischen Klassensätze originalverpackter Broschüren von Wirtschaftsverbänden
aus den 80er Jahren, Handreichungen aus den
Reformjahren: „Gesamtschul-Materialien“, das komplette „Curriculum Geschichte“,
im obersten Regal ein Prachtband zum Jubiläum einer
bedeutenden Firma der Region. Auf ihm hatte eine inzwischen selbst
schon erstarrte Spinne ihr Netz gewoben. Einige Klassensätze englisch-
oder französischsprachiger Lektüreheftchen sind ausweislich
der Ausleihzettel zuletzt vor 22 Jahren ausgeliehen worden. Der politisch
interessierte Eindringling greift wehmütig nach Titeln wie „Von
der SBZ zur DDR“ und Dritte-Welt-Lehrermappen der Brandt-Regierung.
Danach wäscht er sich die Hände.
Die Sammlung der Bücher und Broschüren zur Gesamtschul- und
Förderstufenentwicklung, zu innerer Differenzierung und sozialem
Lernen gereichte aber einem Universitätsinstitut zur Ehre. Dass sie
Eingang in die Unterrichtspraxis der Schule gefunden hätte, lässt sich
anhand der Fristzettel nicht verifizieren. Die Abschaffung der Förderstufe,
wie sie von den Gremien der Schule gerade beschlossen worden
war, hat sie jedenfalls nicht behindert.
Ein Team unerschrockener Mütter betreut das Lesefutter für die
Schülerinnen und Schüler. Sie leben sichtlich auf. Er sei der erste
Schulleiter, der Interesse an der Bücherei zeige.
Er halbiert den Buchbestand, in dem er alle Titel wegwerfen lässt, die
nie oder zuletzt vor zehn Jahren ausgeliehen worden waren. Nicht
alle Mütter sind restlos begeistert, aber die Rosinen im Bestand sind
jetzt leichter zu finden. Im Kollegium rege sich Unmut, meldet der
Personalrat. Man fühle sich übergangen. Der Neue fragt, wieso niemand
in den vergangenen Jahrzehnten, in denen die Bücherei zum
Spinnweben verhangenen Büchermuseum geworden war, zur Tat
geschritten sei. Nun, es habe keine Anrechnungsstunde gegeben. Es
stellt sich heraus, dass das Kollegium gar nichts gegen die Entrümpelung
hat. Man wäre nur vorher gern informiert worden, meint der
Personalrat jetzt. Der Neue hatte eine Bibliothekslehrerin
benannt und sie gebeten, die Fachsprecher aufzufordern, den jeweiligen
Sachbuchbestand kritisch durchzusehen.
Die Bücherei ist ein kalter Raum. Der Neue lässt die Umluftheizung
reparieren. Ein Reparaturtrupp rückt zwei Mal an, bleibt mehrere
Tage. Das Wunder geschieht. Der Raum ist nicht mehr kalt, sondern
einige Tage nur noch kühl und dann endlich weht ein warmes
Lüftchen, so dass die Mütter nicht mehr im Mantel arbeiten müssen
und der tägliche Einsatz eines Elektroradiators entfallen kann.
Nachtrag: Bald ist der alte Zustand wieder vorherrschend. Die Umluftheizung,
die das Lehrerzimmer und die Bibliothek heizen soll,
sei durch und durch marode, sagt der Hausmeister. Es vergehen
weitere drei Jahre, dann ist der Reparaturtrupp eine Woche im Haus,
hängt die Zwischendecken aus – „Jetzt kann der Asbeststaub ungehindert
niederkommen“, sagen Spötter – und reparieren besonders
intensiv. Die Bibliothek ist anschließend einige Tage warm, dann
aber nicht nur kühl, sondern kalt. Die Eltern leihen wieder im Mantel
Bücher aus. Für den Personalrat war das zu keiner Zeit ein Thema.
Die erste Gesamtkonferenz
Der Neue übersteht seine erste Gesamtkonferenz nicht ohne Erfolg,
was ihm Lehrer und der Elternbeiratsvorsitzende attestieren und was
er dem dezenten Auf-die-Tische-Klopfen am Schluss entnimmt. Schulleitungsmitglieder
entlasten ihn durch Wortbeiträge und Führen der
Rednerliste. Das Lampenfieber hält nicht allzu lange an.
Nur einmal fällt er aus der Rolle, als er sich für ein paar Sekunden mit
beiden Händen zu einem Geschäftsordnungsantrag meldet. Ihm fällt
glücklicherweise schnell ein, dass er selbst Konferenzleiter ist.
Buchenwald, Weimarer Klassik und die Jugendherberge
Er lässt sich von den Religionslehrern(!) auf einer Gesamtkonferenz
die Zustimmung zu einer zweitägigen Exkursion zum ehemaligen KZ
Buchenwald und anschließender Stadtführung in Weimar abringen.
Von der Übernachtung in der Jugendherberge haben Kollegen aus
den früheren Jahren Fürchterliches berichtet und wollen sich weigern,
erneut mitzufahren. Dies wird dann auf der Konferenz weniger
deutlich artikuliert; ein häufig in Schulen anzutreffendes Phänomen.
Er erreicht immerhin, dass zukünftig darüber nachgedacht wird, wie
man die Fahrt gründlich vorbereitet und wie die Religions- und
Geschichtslehrkräfte, die das Thema ein Schuljahr später als die
Religionslehrer durchnehmen, kooperieren können. Der Neue hält
wenig von der Kombination Buchenwald, wilde Übernachtung in der
Jugendherberge und einer Tour mit übermüdeten Schülerinnen und
Schülern durchs Goethe- und Schillerhaus. Er selbst hat mehrmals
noch zu DDR-Zeiten mit Schulklassen Buchenwald an einem Tag besichtigt
und in einem Eiscafé auf dem Frauenplan und auf der Rückfahrt
im Bus über die Eindrücke sprechen können.
Germanist Schwegler sieht wenig Sinn darin, Haupt- und Realschüler
ohne intensive Vorbereitung durchs Goethehaus trotten zu lassen.
Diese Bemerkung des ungeliebten Kollegen bringt dann die Mehrheit
für die Übernachtung in der Jugendherberge.
Film im Unterricht
Er würde sich überhaupt mehr Nachdenken über die Behandlung des
Nationalsozialismus wünschen. Wenige Tage nach der Konferenzentscheidung
für die Buchenwald-Exkursion in althergebrachter Weise
steht der Spielfilm „Schindlers Liste“ auf dem Programm des kompletten
Jahrgangs 9. Die Genehmigung dafür muss vor dem Dienstantritt
des Neuen erfolgt sein, denn ihn fragt niemand. In der 9.
Hauptschulklasse hält er am Vortag des Ereignisses eine Vertretungsstunde.
Die Schüler fragen, ob es stimme, dass sie am nächsten Tag
einen Film sehen würden.
Als am Vorführtag nacheinander drei Kolleginnen mitteilen, dass sie
sich den Film aus emotionalen Gründen nicht ansehen können, hat
der Neue zwar zuerst Verständnis, da ihm diese Erfahrung selbst nicht
fremd ist, macht sich aber allmählich Sorgen um eine angemessene
Aufsicht im Filmraum. Frau Melles, immer um eine organisatorisch
umsetzbare Lösung bemüht, schlägt vor, Kolleginnen oder Kollegen
aus dem nach Plan stattfindenden Unterricht im Filmraum einzuteilen
und die drei Kolleginnen in deren Unterricht zu schicken, zumindest
darüber Verhandlungen zu führen.
Als sie davon hört, dass die 9H nach dem Film ohne Aussprache nach
Hause gehen soll, schickt sie eine der Organisatorinnen des Filmtages
zur Nachbesprechung in die Klasse.
Der Neue formuliert in Gedanken ein Rundschreiben, in dem er
darum bitten will, dass einem Antrag auf fächer- oder klassenübergreifende
Vorhaben das Protokoll der Vorbesprechung beigefügt werden
soll.
„Schindlers Liste“ ist für öffentliche Kinos ab 16 Jahren frei gegeben.
Die 9H hat das Durchschnittsalter 14.Auf der Kassette des FWU, des
Institutes für Unterrichtsfilme, steht allerdings, dass der Film ab 14
eingesetzt werden könne, wenn im Unterricht darauf vorbereitet
worden sei.
Feueralarm I
Er fragt voller Vorahnung, was dieser Ton, der gerade im Lautsprechersystem
ertönt, bedeute. Die Räumung klappt hervorragend, alle
Schülerinnen und Schüler haben den Neuen auf einen Schlag gesehen
und das Ganze lässt sich gut als seine Übung verkaufen.
Leider ist der Hausmeister, ein Traum von einem Hausmeister übrigens,
just in dieser Stunde zum Einkaufen im Baumarkt und der Neue
und die Feuerwehrleute brauchen einige Zeit, bis sie an die verschlossene
Brandmeldezentrale herankommen.
Der Neue lädt die Schülervertretung zum Gespräch und bittet um
Mithilfe bei der Suche nach dem Übeltäter. Feuerwehr und Rettungsdienst
würden Rechnungen schicken, zwei Mädchen aus der Fünf
seien durch die plötzliche Räumung so geschockt gewesen, dass sie
noch eine Stunde weinend im Sanitätsraum verbringen mussten. Eine
Klassenarbeit sei empfindlich gestört worden. Solche „Heldentaten“
sollten nicht zum Alltag in der Schule werden. Es würde sich ja wohl
in der Schülerschaft rumsprechen, wer es gewesen war.
Die SV führt in der Tat Gespräche. Drei Namen werden ihm zugetragen,
zwei Schülernamen, ein Lehrerinnenname. Einer der Schüler, ein
goldkettchenbehängter junger Mann, dem der Ruf vorausgeht, er
würde alle platt machen, die ihn scheel ansähen, schickt seine ganze
Klasse als Zeugin seiner Unschuld. Der andere ist auch unschuldig. Es
fällt dann noch der Name Zastrow. Das findet der Neue originell. Hatte
doch Frau Zastrow als Sicherheitsbeauftragte, mit Stoppuhr und ausgefülltem
Alarmprotokoll in den Händen, drei Minuten nach Auslösung
des Alarms Vollzug gemeldet. Und zufällig befindet sich der Brandmelder,
von dem der Alarm ausgelöst wurde, neben den naturwissenschaftlichen
Vorbereitungsräumen, in denen sich Frau Zastrow gerade
aufgehalten hatte.
Feueralarm II
Die benachbarte Grundschule übt Feueralarm. Aufstellplatz ist der
Hof der Gesamtschule. Es ist gerade Pause. Eine Fünftklässlerin fragt
den Neuen ernsthaft: „Sind heute Kindergartenkinder bei uns?“
Feueralarm III
Der Neue traut seinen Ohren nicht: Ein Techniker, der an der ewig
defekten Lautsprecheranlage herumwerkelt, möchte eine Hörprobe
machen. Er will einen Alarm auslösen. Allerdings bräuchte niemand
das Haus zu verlassen.
Die Garderobe
Auf den Fluren des Schulamtes erzählt man sich grinsend, dass der
Neue in der Lehrergarderobe ein Bücherregal aufstellen lassen wolle.
Man kennt dort seine Bibliophilie.
Ist besagter Raum eine Garderobe oder ein Medienlager? Wie nimmt
man ihn wahr? An dreien der vier Wände stehen Schränke, die
Lehrbücher, Lektüren, Wörterbücher und Lexika beherbergen, Wert
etwa 8.000 DM. An einer Wand steht ein Garderobenständer. Wer bei
dem Raum nicht nur an die Ablage seines Mantels und des Schirms
denkt, sieht die Aufstellung eines weiteren Bücherregals in dieser
„Garderobe“ als nicht mehr so abwegig an.
Da in dem Raum allerdings an Regentagen Lehrerinnen- und Lehrerschirme
zum Trocknen aufgespannt werden müssen, scheitert die
vorwitzige Idee.
Jeder Raum ein Buch
Der Neue, daran gewöhnt im Unterricht auf eine gut ausgestattete
Bibliothek zurückgreifen zu können, vermisst schmerzlich einen Bestand
an Literaturlexika, die von Schülerinnen und Schülern genutzt
werden können. Seiner Anregung folgend, wird ein Klassensatz bestellt.
Er schlägt der Lehrbuch-Verwalterin vor, den Satz nach Gebrauch
nicht im Lehrbuchmagazin einzuschließen, sondern in der
Schulbibliothek zur täglichen, auch spontanen Benutzung und Ausleihe,
einzustellen. Einige Tage später teilt ihm die Fachsprecherin
Deutsch, Frau Osterhoff-Schmidt, mit, die Fachkonferenz habe beschlossen,
die neuen Literaturlexika, ähnlich wie die Rechtschreib-Duden
im letzten Jahr, in je einem Exemplar in die Klassenräume zu geben.
Der Neue hatte weder eine Einladung zur Fachkonferenz bekommen
(Darum hat er alle Fachsprecher gebeten.), noch hatte er eine Einladung
am schwarzen Brett im Lehrerzimmer entdeckt. Einen Ordner
mit Fachkonferenzprotokollen gibt es auch nicht.
(Wenn er im Tagebuch „Lehrerzimmer“ schreibt, so ist er sich der
Unkorrektheit durchaus bewusst und würde lieber Lehrer/-innenzimmer
schreiben. Das ist aber unschön zu lesen. Ein großes I wie in
LehrerInnenzimmer wiederum widerstrebt ihm noch mehr.)
Fast ein normaler Tag
6.59 Uhr: Im Sekretariat klingelt das Telefon. Die Sekretärin ist im
Nebenraum, der Neue geht ran und hat den Mann der Kollegin
Osterhoff-Schmidt am Apparat, der sie für die nächsten Tage krankmeldet.
Er wollte gerade gute Besserung wünschen, da sagt der
Ehemann: „Die Situation mit Ihnen macht meine Frau krank“. Wie er
das meine, fragt der Neue. Aber mehr will der Mann nicht sagen. Für
die Erörterung der Krankheitsgründe ist der Zeitpunkt des Anrufs ja
auch sehr früh. Der Neue grübelt, was passiert sein könnte. Die
Kollegin scheint ihm eine der Engagiertesten zu sein. Die Sekretärin
weiß nur, dass sie am Vortag hereingestürmt ist und ein Versetzungsformular
verlangt hat.
8.30 Uhr: Gleich anschließend muss er im Unterricht einer Kollegin
hospitieren, die verbeamtet werden soll. Mit der Stunde könnte sie
jedes Staatsexamen glanzvoll bestehen. Sie fordert die Kinder, ohne
sie zu überfordern, analysiert einen Text, lässt ihn aber auch als
Kunstwerk auf die Klasse wirken, eine runde Sache. Das vereinfacht
das Beratungsgespräch, die übliche Gratwanderung zwischen Schulleitungs-,
Ausbildungs- und kollegialer Perspektive. Trotz der hohen
Kompetenz, der gelungenen Realisierung und des Lobes des Schulleiters:
Die Kollegin macht klar, dass sie zu einer solchen Anstrengung
so schnell nicht wieder bereit sei.
10.00 Uhr: Vor der Tür wartet schon Frau Melles mit einer Schülerin.
Das 12 Jahre alte Mädchen weigert sich, der Englischlehrerin Einblick
in ein Schreibheft zu gewähren. Im Telegrammstil erfährt er, dass ihre
Schülerakte die übliche Stärke um ein Mehrfaches überschreitet.
Der Neue lässt sie in seinem Zimmer Platz nehmen und fordert sie
auf zu erzählen, was passiert sei. Sie schweigt. Er fragt noch einmal.
Sie verschränkt die Arme, ihre Augen werden kleine Schlitze: „Sie
wiederholen sich.“ Er holt tief Luft. Im Verlauf der nächsten Stunde
gelingt es ihm, ihr zu entlocken, dass sie ihre Gedanken in einem Heft
niederzuschreiben pflegt. Dieses Heft sei privat, sie erlaube der
Lehrerin keinen Einblick. Da habe sie Recht, sagt er ihr. Aber im
Englischunterricht erwarte die Lehrerin bestimmte Materialien und
Hefte auf dem Tisch. Dieses Heft sei dann ein unterrichtsfremder
Gegenstand. Die Lehrerin sei berechtigt, ihn wegzunehmen und ihr
erst am Ende des Schultages auszuhändigen. „Dann ist mein Anorak
auch unterrichtsfremd?“
10.35 Uhr: Die Haushaltssachbearbeiterin des Schulträgers ruft an.
Irgendetwas ist immer falsch bei den Abrechnungen.
11.15 Uhr: Schülerinnen und Schüler fragen, ob der Stützkurs Mathe
heute stattfände. Er zeigt ihnen, was im Vertretungsplan steht. Ein
paar Schüler der 9H spielen auf dem Hof Fußball, obwohl sie Vertretungsunterricht
haben. Er lässt sie hereinholen.
11.20 Uhr: Der Sachbearbeiter des Schulbauamtes wartet mit Mustern
für den neuen Teppichboden auf ihn. Der Neue bittet die geschmackssichere
Frau Melles hinzu.
11.30 Uhr: Im Sekretariat steht eine weinende Mutter. Sie warte seit
10 Minuten am Parkplatz auf ihre Tochter. In letzter Zeit sei so viel
Schreckliches mit Kindern passiert. Ein paar Minuten später steht
eine weinende Tochter in der Tür. Sie sei noch in einem Laden gewesen
und habe an der Ecke und nicht auf dem Parkplatz gewartet. Ihre
Mutter sei nicht gekommen, sie habe befürchtet, dass sie einen Unfall
gehabt hätte. Mutter und Tochter wird geraten, erst einmal einen
Kaffee trinken zu gehen.
11.45 Uhr: Er isst einen Apfel und zieht sich mit dem Ordner
„Schulkonferenz“ zurück. Am frühen Abend hat er die erste Sitzung.
Gerade hat ihm Kollege Schwegler einen Zettel hereingereicht, auf
dem er seinen Rücktritt als Lehrervertreter in der „Schuko“ mitteilt.
Er moniert, dass Schulkonferenzmitglieder keinem Gremium rechenschaftspflichtig
sind. Wieso fällt ihm das gerade jetzt auf?
12.05 Uhr: Ein Mathematiklehrer aus der Förderstufe steckt den Kopf
zur Tür herein: „Wir haben heute Mathekoordination, ob deswegen
der Mathematikunterricht in der sechsten Stunde ausfallen darf?“
12.15 Uhr: In der Post eine Anfrage: „Ich möchte meinen Sohn für die
5. Klasse anmelden. Da wir einer Freikirche angehören, möchte ich
wissen, ob die Religionslehrer Ihrer Schule im Sinne unserer Kirche
rechtgläubig sind oder ob sie Bultmann und Konsorten anhängen?“
13.10 Uhr: Im Sekretariat liegt schon den ganzen Morgen ein Paket
mit Videofilmen. Frau Leiss-Büchter hat die Sekretärin beauftragt, es zu
adressieren, freizumachen und zur Post zu bringen. Er lässt das Paket
Frau Leiss-Büchter zurückgeben.
Einige Tage später spricht ihn eine Schülerin an. Frau Leiss-Büchter habe
gesagt, er hätte das Zeigen von Videofilmen im Unterricht verboten.
14.15 Uhr: Die Kripo teilt mit, dass der Schuppen, der vor ein paar
Tagen unweit der Schule abgebrannt ist, mit einem Bunsenbrenner
angesteckt worden wäre.
Die neue Großsporthalle
Der Bürgermeister schwärmt von der Sporthalle, die er bauen will.
Sie soll die alte Schulturnhalle ersetzen. Der Schulträger, der Landkreis,
kauft sich durch finanzielle Beteiligung von seiner Verpflichtung
frei, die Schulturnhalle selbst zu bauen.
Auf die Schule kommen einige Probleme zu: „Ein Jahr Bauzeit“,
schätzt der Bürgermeister optimistisch. Der Schulhof der benachbarten
Grundschule wird kleiner, da dort der Eingang für Schülerinnen
und Schüler sein wird. Der Haupteingang der Halle, mit Foyer,
Garderobe und Cafeteria bleibt Großveranstaltungen vorbehalten.
Die Grundschuleltern treten eine Protestlawine los, die der Bürgermeister
geschickt auffängt. Es ist Wahlkampfzeit.
Über Umwege erreicht den Neuen die Behauptung, seine Elternvertreter
seien nicht zu einer Präsentation der (fertigen!) Baupläne
von ihm eingeladen worden. Der Landrat entschuldigt dies vor Eltern
damit, dass der Neue noch nicht alle Regeln kenne. Der Neue schreibt
dem Landrat, ob er wisse, dass sein Schulbauamt zu besagtem Termin
nicht den Schulleiter eingeladen habe, sondern nur den Hausmeister
informiert hatte.
Nachtrag: Das Amt ruft ein paar Monate lang den Neuen an, wenn
es um Termine geht, und verfällt dann wieder in alte Gewohnheiten.
Der Unterrichtsbeginn
Mit der Begründung, dass es wegen der Busfahrpläne nötig sei, war
kurz vor dem Dienstantritt des Neuen entschieden worden, den
Unterricht fünf Minuten früher beginnen zu lassen. Der Gong wurde
umgestellt. Aber das hat wenig Einfluss auf das Zeitgefühl der
Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer. Am Unterrichtsbeginn
ändert sich wenig. Und wenn sich der Schulleiter während
des Gongs im Lehrerzimmer blicken lässt, beeindruckt auch das nur
wenige.
Als Frau Melles ihn fragt, ob die ersten und die letzten Stunden des
Vormittags auch zu vertreten seien und er dies grundsätzlich bejaht,
kommen Rückfragen aus dem Kollegium. Bisher sei das anders gewesen.
Es gäbe da sicher auch einen Gesamtkonferenzbeschluss.
Pausen
Es ist in der 5-Minuten-Pause zwischen dritter und vierter Stunde unüblich
voll im Lehrerzimmer. Die Uhr ist stehen geblieben, der Gong
ausgefallen. Der Neue empfiehlt den Kolleginnen und Kollegen,
selbst auf die Uhr zu achten und Mehrarbeit zu vermeiden. Den nächsten
Pausengong simuliert er zur Belustigung aller über den Lautsprecher.
Zwei Kolleginnen, die neu an die Schule versetzt wurden, beklagen
die kurzen Pausen. Dem Neuen wäre eine Verlängerung recht. Auch
ihm fehlt oft die Zeit, um in der Pause im Lehrerzimmer Gespräche
zu führen. Als er die Verlängerungsabsicht dem Schülerrat vorträgt,
erfährt er Widerstand: „Da müssten wir ja länger in der Schule bleiben.“
Er bittet die Klassensprecherinnen und -sprecher, in ihren
Klassen zu beraten und abzustimmen. Er hört nichts mehr davon.
Kein Lehrer beantragt eine Verlängerung. Man will sich nicht unbeliebt
machen, denn der Unterricht endet schon um 13 Uhr. Um 13.05
Uhr sind in der Regel noch drei Personen im Haus: Der Hausmeister,
die Sekretärin und der Neue.(Vielleicht noch Frau Rohn, die zu Hause
für die Firma ihres Mannes die Buchhaltung machen muss.)
Als er dem Personalratsvorsitzenden Hecht die Idee vorträgt, meint
der, dann müsse man ja wohl morgens früher mit der Schule beginnen.
Dem Neuen fällt das Wort des früheren Kultusministers vom
„Fluchtinstinkt“ der Lehrerinnen und Lehrer ein.
Mediation I
Er wird damit konfrontiert, dass über ein Drittel des Kollegiums an
zwei Freitagen (und Samstagen) an einer Streitschlichterfortbildung
teilnehmen will. Er hat Bedenken. Der Unterrichtsausfall durch
Dauererkrankungen, akute Erkrankungen und die häufige Abwesenheit
der beiden in der Lehrerausbildung tätigen Kollegen, ist beträchtlich.
Auch hat er immer gedacht, Streitschlichter sollten Schülerinnen
und Schüler sein. Die Fortbildung war aber langfristig geplant und die
Finanzierung ist gesichert. Religionslehrerin Moser, die das Projekt
vorbereitet hat, unterstellt ihm, dass er gegen das ganze Projekt wäre.
Er weist darauf hin, dass er an einer Handreichung zur Gewaltprävention
mitgearbeitet hat.
Aus der Not wird eine Tugend. Für alle, die nicht an der Fortbildung
teilnehmen, ist Projekttag, das erspart ein Dutzend einzelner Vertretungsstunden.
Religionslehrerin Leiss-Büchter, die nur dienstags und
freitags in der Schule ist, kriegt das nicht mit, obwohl es im Lehrerzimmer
am Montag ausgehängt worden war. Sie sieht sich außer
Stande, am Freitag drei Projektstunden zu improvisieren. Der Neue
übernimmt ihren Part.
Hinterher erfährt er, dass die Streitschlichterinnen den unterrichtsfreien
Fortbildungstag dazu genutzt haben, den Konflikt zwischen
Frau Moser und dem (abwesenden) Neuen zu thematisieren. Der
Neue ist so naiv gewesen anzunehmen, dass Mediation bedeute, Streit
zwischen zwei Personen zu schlichten und sich nicht über Abwesende
auszulassen. Er hält drei Vertretungsstunden und die Vertretenen
sitzen in einer Bildungsstätte und reden mit einer
Referentin, die für diesen Tag 700,-- DM erhält, über ihn. Er ruft den
zuständigen Pädagogen im Lehrerfortbildungsinstitut an. Das ist heikel.
Die Quelle wird unschwer herauszukriegen sein, wenn er sein
Wissen nicht für sich behält. Er ruft dennoch an und äußert seinen
Unmut über diese Art der Lehrerfortbildung. Das sei ja unglaublich,
sagt der Fortbildner. Er meint damit, dass jemand aus der Runde
geplaudert hat. Die Teilnehmer an psychosozialen Fortbildungen verpflichteten
sich nämlich zum Stillschweigen über ihre Fallanalysen.
Konferenzbeginn
Die Konferenz der Fachsprecher wird vom Koordinator, der sie einberufen
soll, auf 14 Uhr festgesetzt. Es gibt Unmut wegen des frühen
Beginns. Der Neue lässt die Speisekarte eines Pizzalieferdienstes aushängen.
Die Lieferung ist um 13 Uhr in der Schule. Jetzt hätten die
Kolleginnen und Kollegen am liebsten um 13.30 Uhr angefangen.
Schulmanagement
Die Stundenanrechnung für Schulleitungsaufgaben ist in der Sekundarstufe
nicht ganz so miserabel wie in der Grundschule. Anrechnungsstunden
für Schulleitungsaufgaben hängen von der Schülerzahl
ab. Der Neue ist genau genommen nur an drei Schultagen Schulleiter,
an zwei Tagen normaler, unterrichtender Lehrer. Dieser Berechnungsschlüssel
wird den Aufgaben nicht gerecht.
Das Anforderungsprofil für Schulleiter wird immer anspruchsvoller.
Die Fachliteratur entwirft das Bild eines Managers mit komplexen
Führungsqualifikationen. Welcher Manager muss während 40% seiner
Arbeitszeit die Führungsaufgabe unterbrechen, um in der Produktion
zu arbeiten?
Nachtrag: Der Neue unterrichtet im folgenden Schuljahr noch
mehr als vorgeschrieben. Es besteht ein Defizit in einem Fach, da
springt er ein. Er übernimmt auch eine Klassenführung.
Er unterrichtet gerne. Zudem sieht er darin keine Störung seiner
eigentlichen Tätigkeit, sondern eine Möglichkeit, sich für Momente
den Verwaltungsaufgaben zu entziehen. Schwierig ist es, pünktlich in
der Klasse zu sein, da oft ein Anruf dazwischen kommt oder ein
Kollege noch eine Frage hat. Auch der Wechsel von Unterricht zum
Schreibtisch, vom Schreibtisch zum Unterricht, wie er an manchen
Tagen vorkommt, ist wenig produktiv.
Fast ein normaler Tag II
7.35 Uhr: Auch Stundenplanerinnen werden einmal krank. Im Laufe
des Vormittags trudeln weitere Krankmeldungen ein. Von Frau
Zastrow, die gestern ihren unterrichtsfreien Therapietag hatte und
heute ebenfalls nicht kommen kann, von einer Kollegin, die sich erst
einen Tag krankgemeldet hat und nun für den Rest der Woche ausfällt.
Der Neue pendelt zwischen seinem Schreibtisch und dem
Stundenplanzimmer. Mehrmals aktualisiert er die ausgehängten Vertretungspläne.
Alle haben ihm geraten, zu delegieren. Nur, an wen?
9.30 Uhr: Der Neue hört eher zufällig von einem Schüler, der sich
mehrmals geprügelt haben soll, und will ihn anhören, um ihm zum
Schutz der Mitschüler möglicherweise für den Rest des Vormittages
die Teilnahme am Unterricht zu verbieten. Er hat wenig Zeit, also
schlägt er vor, dass der Schüler sich hinsetzt und ein Protokoll anfertigt.
Der ist sichtlich verdutzt, dass er nicht gleich verdonnert wird, sondern
jemand hören bzw. lesen will, wie sich die Sache abgespielt hat.
9.45 Uhr: Der Personalrat hat sich zum gemeinsamen Gespräch angesagt
und steht vor der Tür.
11.00 Uhr: Gleich anschließend ist ein Gespräch mit der Spitze des
Schulverwaltungsamtes vorgesehen. Es geht wieder um Raumfragen.
Der Neue bittet den Personalrat gleich dazu. Dann braucht Frau
Moser es ihm nicht zuzutragen.
11.17 Uhr: Erin zieht sein Messer, als er sieht, dass Michi die gleichen
Sneakers wie er trägt. Glücklicherweise sticht er nicht zu.
Der Vertretungsplan
Der Schaukasten mit dem Vertretungsplan kommt dem Neuen wie
ein Hausaltar vor. Alle werfen einen Blick darauf, man drängelt sich
davor. Jubelschreie, wenn eine Stunde ausfällt, gespielte Empörung,
wenn nichts ausfällt. Die Namenskürzel der Lehrerinnen und Lehrer
werden entziffert. Die Bedeutung der Abkürzungen AA (Arbeitsauftrag)
oder SB (Stillbeschäftigung) wird von den Wissenden an die
Unwissenden weitergegeben. Rätselraten, ob nun der evangelische
Religionsunterricht (evRel) oder der katholische (kRel) ausfällt. Das
wird dann später dutzendfach im Sekretariat erfragt. Dann kann man
auch gleich fragen, ob Frau Abt morgen wieder da sei. („Sie steht
nicht mehr auf dem Vertretungsplan.“)
Der zweite „Altar“ steht im Lehrerzimmer. Vor dem dortigen Aushang
des Vertretungsplans geht es gedämpfter zu. Hier erfährt man auch,
wer warum abwesend ist. Den Schülern wird das verschwiegen. Die
schließen vom Fach, das vertreten wird, auf die Lehrkraft, die fehlt.
Datenschutzrechtlich, so hat der Neue gehört, sei es nicht zulässig,
öffentlich zu machen, dass jemand krank ist (Kürzel „krk“ im Aushang).
Er beschließt, das zu ignorieren.
Geschimpft wird leise. Die Vertretungsplanung verlangt höchstes
diplomatisches Geschick. Die wenigen Vollzeitlehrer trifft es öfter als
die Teilzeitlehrer. Springstunden, in denen man keinen Unterricht hat,
sind unbeliebt, weil dann eine Vertretungsstunde droht. Wenn jemand
drei Wochen fehlt, und dienstags in der 3. Stunde nur Herr Strathmann
eine Springstunde hat, wird der verständlicherweise ungehalten,
wenn er drei Wochen hintereinander vertreten muss. Auch wenn
er als Ausgleich die eine oder andere reguläre Stunde ausfallen lassen
darf. Meist lässt man es nicht so weit kommen, dass Herr Strathmann
ungehalten wird. Die Klasse wird zwischendurch auch schon einmal
vom Nachbarlehrer beaufsichtigt.
Der Neue lässt eine Liste der gehaltenen Vertretungsstunden führen,
aus der ersichtlich ist, dass Herr Strathmann keinesfalls das Rückgrat
des Vertretungsunterrichts der Schule ist. Die Gegenrechnung aufzumachen,
d.h. auch die Stunden zu zählen, die wegen Wandertag,
Betriebspraktikum, Zahnarztreihenuntersuchung oder hitzefrei ausfallen,
wie an anderen Schulen üblich, das wagt der Neue noch nicht.
In Japan, so hat er gelesen, fällt kein Unterricht aus. Ein Lehrer sei
immer da, der einspringe, ein Vertretungsplan müsse nicht extra ausgehängt
werden. Das versteht er nicht sogleich.
In dem Moment, in dem die heilige „Einfalt“ ein Lehrer, eine Klasse,
ein Thema für eine Stunde unterbrochen wird, weil ein Lehrer fehlt,
bricht das System zusammen. Der Neue beneidet Grundschulen, in
denen freie Arbeit und Wochenplan praktiziert werden. Seine Schüler
fallen dagegen in einen Lähmungszustand, wenn der reguläre Lehrer
oder die reguläre Lehrerin fehlt. Meist fällt das Lernen dann aus.
Kollegen, die Arbeitsaufträge für die Zeit ihrer Abwesenheit erteilen
und Arbeitsblätter in die Schule faxen, sind verärgert, wenn sie nicht
erledigt werden. Kollegen, die vertreten, sind nicht immer bereit oder
in der Lage, fachfremd zu unterrichten oder sind, wenn sie schon
Mehrarbeit leisten müssen, allerhöchstens bereit, Aufsicht zu führen.
Und dann sind da noch die Schüler, die an dem „Ersatzlehrer“ überhaupt
keinen Gefallen finden: „Bei dem müssen wir ja die Kommas
mitlesen!“ „Der behandelt Kapitel 14, obwohl wir schon bei Kapitel
15 sind.“ „Frau X hat das viel besser gemacht.“
Nachtrag: Die Ministerin wird das später Unterrichtsgarantie
nennen.
Der Personalrat
Der Personalrat betont, dass er „zum Wohl der Schule“ zwar jederzeit
kritische Fragen stellen müsse, aber den vom Neuen herbeigeführten
Klimawandel und die positiven Veränderungen begrüße. Der Personalratsvorsitzende
hat sich nicht gewandelt. Ein Protokoll der gemeinsamen
Sitzungen von Personalrat und Schulleitung, wie es vorgeschrieben
ist, legt er auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht vor.
Nachtrag: Nach drei Jahren legt er ein paar Mal zeitnah Protokolle
vor. Dann dauert es einmal drei Monate. Nach der Bitte, sie unverzüglich
vorzulegen, erhält er keines mehr.
Personalrätin Umstätter fragt, ob es stimme, dass der Neue alle drei
Wochen eine Gesamtkonferenz plane. Er verweist auf den von ihm
eingeführten Jahresterminplan, den alle bekommen hätten. Da könne
von Drei-Wochen-Rhythmus wohl nicht die Rede sein. Frau Umstätter
rechtfertigt sich: Sie sei von einer Kollegin gefragt worden.
Der Personalrat trägt vor, dass es Unmut über den Neuen gäbe. Er
habe die Papierschneidemaschine in den Kopierraum stellen lassen.
„Wir wollen, dass die da wieder rauskommt, uns ist es zu eng“, sagt
der Vorsitzende. Frau Haas, Mitglied des Personalrats, lässt sich vom
Personalratsvorsitzenden erläutern, worum es geht. Der Neue bittet
um Vorschläge, wie und wo das Gerät aufgestellt werden soll.
Nachtrag: Er hört nie mehr davon. Die Maschine steht auch nach
einigen Jahren noch dort.
Der Versetzungsantrag
Das Schulamt fragt, ob er von einem Versetzungsantrag der Kollegin
Osterhoff-Schmidt wisse. Begründung: Der Neue sei „unfähig“ und
„undemokratisch“, ihm fehle Führungskompetenz.
„Sie findet nicht mehr die Beachtung, die sie beim früheren Schulleiter
gehabt hat“, sagt jemand, „Sie haben der Dame nicht so viel
Zucker in den A. geblasen wie Herr Dahlheimer.“ Dem Neuen waren
schon lange der nervöse Blick und der hektische Gang von Frau
Osterhoff-Schmidt aufgefallen. Er bittet sie zum Gespräch.
Seit er, der Neue, da wäre, ginge es ihr schlecht. Er habe einen Gesprächstermin
mit ihr vergessen, er grüße nicht, er habe ihr eine
Frage auf der Gesamtkonferenz nicht zufrieden stellend beantwortet
und auch noch einen unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“
angemeldeten Beitrag erst nach Erinnerung aufgerufen. Dann
werde sie noch vom Schulleitungsmitglied Schwegler, mit dem sie
sich früher gut vertragen habe, gemobbt. Ihre Fachkompetenz werde
angezweifelt.
Der Neue macht der Kollegin in ruhigem, vielleicht zu therapeutischem
Ton klar, dass es nicht um ihn, sondern um sie gehe: Sie sei
dem Schulamt durch unfaires und unkorrektes Verhalten aufgefallen,
sie habe nicht das Gespräch mit dem Schulpersonalrat oder dem
Schulleiter gesucht.
Frau Osterhoff-Schmidt will sich an eine Nachbarschule versetzen lassen,
wohl wissend, dass diese Schule keinen Bedarf hat. Was solle er
dem Schulleiter sagen, zu dem sie versetzt werden wolle, fragt der
Neue. Dass sie den Dienstweg nicht einhalte, dass sie nicht das klärende
Gespräch suche, sondern ihren Schulleiter bei der Schulaufsicht
und dem Gesamtpersonalrat anschwärze?
Nachtrag: Frau Osterhoff-Schmidt wird zu ihrer Überraschung
doch an die Nachbarschule versetzt. Sie wird von ihrem Hund in
die Hand gebissen und laboriert über ein Jahr an einer bösen
Blutvergiftung. Sie wird Personalrätin, liiert sich mit einem Schulleitungsmitglied
und macht ihrem Schulleiter das Leben schwer.
EDV
Der Schulelternbeiratsvorsitzende erzählt zum zweiten Mal von seiner
Idee, seine Beziehungen zu Gunsten der Schule einzubringen und
dafür zu sorgen, dass die Schule zu den Pilotschulen bei der EDV-Ausstattung
gehören soll. Er ist so begeistert von seiner Idee, dass er
auch beim zweiten Mal die Bemerkung des Neuen überhört, dass die
Schule bereits Pilotschule sei.
Das Thema EDV ist in dieser Schule heikel. Herr Zierhold hat ältere
Computer aufrüsten lassen, Tische gezimmert und einen Computerraum
eingerichtet. Er drängt darauf, die Computernutzung verbindlich
in den Unterricht aller Fächer aufzunehmen. Der Neue fragt, was
denn in den vergangenen zehn Jahren auf diesem Gebiet unternommen
worden wäre. Eine Arbeitsgruppe dazu sei, bevor er kam, beschlossen
worden. Der Neue bittet Herrn Zierhold darum, zu dieser
Runde einzuladen. Wegen Ruhestandsversetzungen hat sich die
Gruppe zwischenzeitlich halbiert. Er bespricht mit Herrn Zierhold
mehrere Szenarien, wie man Informatik-Themen umsetzen könne. Er
befürchtet, dass ein Gesamtkonferenzbeschluss zum integrierten
Informatikunterricht wenig Auswirkungen auf die Praxis haben wird.
Noch gibt es den vom Schulträger für das laufende Jahr avisierten
Computerraum mit stabil laufenden, einheitlichen neuen Rechnern
nicht. Bisher gibt es nur Herrn Zierholds aufgerüstete Alt-PCs und den
Raum mit den Apple-Rechnern, den Herr Dahlheimer, der Apple-Fan,
eingerichtet hatte. Diesen Raum benutzten er und ein Kollege.
Sexualkunde
Religionslehrerin Leiss-Büchter will für ihren 7. Jahrgang Pro-Familia-
Referenten einladen und fragt nach der Übernahme der Kosten. Der
Neue kalkuliert, welche finanziellen Folgen es hätte, wenn er dieser
Kollegin eine Zusage gäbe. Es scheint ein Fingerzeig Gottes zu sein,
dass just in diesem Augenblick die Biologielehrerin der Klasse das
Raucherzimmer betritt. So kann der Neue eine Kooperation zwischen
Religion und Biologie anbahnen. Er sieht auch eine Zuständigkeit bei
den Sozialkundelehrern, das behält er aber erst einmal für sich.
Vitamine
Frau Melles ist seit Tagen gedanklich bei ihrem Auswahlverfahren für
die Stellvertreterstelle an einer anderen Schule. Der Neue gibt Tipps.
Er stellt ihr am Vortag Vitaminsäfte und -pillen hin und wünscht ihr
viel Erfolg. Insgeheim hofft er auf das Gegenteil. Das weiß sie.
Nachtrag: Seine Hoffnung wurde zunächst erfüllt. Sie bekam diese
Stelle nicht.
Fast ein normaler Tag III
8.30 Uhr: Frau Melles ist heute im Auswahlverfahren. Sie hat den
Vertretungsplan vorbereitet und ausgehängt. Ein Kollege, der alle
sechs Vormittagsstunden zu unterrichten hätte, fällt zusätzlich aus.
Die Bereitschafts- und Springstundenlehrkräfte sind schon verplant.
Frau Umstätter pflegt zu fehlen, wenn sie gelesen hat, dass sie am
nächsten Tag Vertretung machen muss.
Der Neue gewöhnt sich daran, mit Krankmeldungen und Unterrichtsausfall
zu leben. Er lernt, darin keine persönlichen Angriffe zu sehen,
er lernt es auszuhalten, dass da manchmal ein, zwei Klassen unversorgt
sind, weil niemand einspringen kann. Er lernt, sich selbst nicht
dauernd als Vertretung einzusetzen, weil er am Vormittag sonst seine
Schulleiterpflichten vernachlässigen müsste.
9.00 Uhr: Der Neue geht zum Leiter der örtlichen Sparkasse. Er hat 10
Konten und drei Sparbücher vom Vorgänger übernommen. Das bereitet
ihm Unbehagen. Der Filialleiter ist auch nicht glücklich darüber.
In seiner Abwesenheit ruft das Kultusministerium an und will die
Zahl der Anmeldungen für die neuen 5. Klassen wissen.
(Die Landesregierung will kooperative Gesamtschulen – KGS –
abschaffen. Kleine Schulen wie die des Neuen allzumal. Die Schülerinnen
und Schüler sollen in das traditionelle, „bewährte“ dreigliedrige
Schulsystem zurückgeführt werden. Und zwar so konsequent,
dass auch wieder eine räumliche Trennung stattfindet, hier
das Gymnasium, dort das restliche Schulwesen.
Eine kooperative Gesamtschule ist im Grunde nichts anderes als
die drei Schulformen Hauptschule, Realschule, Mittelstufengym-
nasium unter einem Dach. Die Klammer ist eine gemeinsame
Stufe 5/6, die Förderstufe. Die KGS hat aber auch ein gemeinsames
Kollegium, eine gemeinsame Schulleitung und die Möglichkeit,
Fächer, Kurse, Arbeitsgemeinschaften und den Lehrereinsatz
schulformübergreifend zu organisieren.
Sie hatte unter den früheren sozialdemokratischen Landesregierungen
einen pädagogischen Leiter, der für die Programmarbeit der Schule
eine wichtige Rolle spielte. An der Schule des Neuen ist der
pädagogische Leiter pensioniert worden. Nach dem Wegfall der
Förderstufe fehlt damit schon ein zweites gesamtschultypisches
Element.
Dem Neuen fällt auf, dass im Kollegium und in der Schulleitungsrunde
nie jahrgangsbezogen, sondern immer in getrennten Schulformen
gedacht wird. Dem liegt allerdings kein Programm zu Grunde.
9.30 Uhr: In der Pause fragt ein Schüler den Neuen, ob in den Frikadellen,
die im Schülercafé verkauft würden, BSE drin wäre.
9.32 Uhr: Isabell will ihr Handy wiederhaben. Sie hätte vergessen, es
auszuschalten. Es sei keine Absicht gewesen.
9.35 Uhr: Der Personalrat kommt zur gemeinsamen Sitzung. (Er legt
großen Wert auf eine vormittägliche Beratungszeit.) Es geht um die
Unterrichtsversorgung, die Planung des neuen Schuljahres und ein
weiteres Mal um die Versetzungsanträge. Ob der Neue nicht noch einmal
auf die Kolleginnen zugehen könne. Der erwidert, dass er der
Kollegin Moser, die den Vertrauensbruch begangen hatte, die weitere
Zusammenarbeit angeboten habe, und der Kollegin Osterhoff-Schmidt,
die ihn gegenüber dem Schulamt als unfähig qualifiziert habe, das
Bedauern über ihren Versetzungsantrag ausgesprochen habe, da er
ihre fachliche Kompetenz schätze.
10.20 Uhr: In der 9H muss schon wieder der Besen ersetzt werden.
11.30 Uhr: Eine Mutter fragt nach der Aufnahme in die neue 5. Ihr
Kind sei ungerechter Weise von der Grundschule nur als realschulge-
eignet eingestuft worden. Es solle unbedingt ins Gymnasium, in die
G5. Der Neue sagt, da wäre eine zweijährige Förderstufe sicher hilfreich
gewesen. Jetzt entschieden die Lehrer im ersten Halbjahr der 5
über die Eignung. „Gehen Sie mir weg mit der Förderstufe“, sagt die
Mutter. Das Nachbarkind hätte dieselben Noten und sei fürs
Gymnasium empfohlen worden. Ein Gesprächsverlauf, der sich in diesen
Tagen, an denen die Anmeldungen der Grundschulkinder in den
weiter führenden Schulen laufen, wiederholt.
13.30 Uhr: Am Nachmittag sind die Lenkungskonferenzen für den
letzten Förderstufenjahrgang. Der Förderstufenleiter hat zwischen
Unterrichtsende und Konferenzbeginn noch eine Disziplinar-Klassenkonferenz
gelegt. Natürlich ist die nicht in der vorgesehenen Zeit
abzuwickeln und der Beginn der Lenkungskonferenz verzögert sich.
Der Neue, der das Konferenzzimmer pünktlich zur Lenkungskonferenz
zu betreten glaubt, platzt in die Klassenkonferenz. Schülereltern
mit hochroten Gesichtern, die Schülerin trotzig und verheult.
Sechs ratlose Lehrerinnen und Lehrer, die die Unverschämtheiten der
Tochter aufzählen. Die Stimmung schwankt zwischen Hilflosigkeit
auf beiden Seiten und aggressiven Äußerungen gegen die Schule. Man
würde ja gerne die Schule wechseln, aber keine Nachbarschule
nähme ein Kind auf, das von dieser schrecklichen Schule käme.
Der Neue schlägt vor, einmal den Schulpsychologen zu Rate zu ziehen.
Darauf war bisher niemand gekommen.
14.30 Uhr: Das Schulverwaltungsamt teilt mit, dass die zweite Sekretärin,
die mit fünf Stunden eingesetzt ist, an einer anderen Schule eine
Halbtagsstelle bekomme. Es entsteht beim Neuen und bei der ersten
Sekretärin, die wenig EDV-Kenntnisse hat, leichte Panikstimmung.
Er hat beim Dienstantritt einen Apple-Computer vorgefunden, auf
dem der Vorgänger alle wesentlichen Pläne, Daten und Statistiken
gespeichert hatte. Die zweite Sekretärin kann damit umgehen. Der
Neue hat vor vielen Jahren einmal Dateien zwischen Apple und PC
hin und her geschoben. Das klappte, wenn auch mit vielen Nachbesserungen.
Die Konvertierung der Schülerstatistiken oder die
zwanzigseitige Elternbroschüre, deren Aktualisierung überfällig ist,
gelingen dem Neuen erst mal nicht. Er befragt einen Apple-Fan. Der
erklärt, dass nichts einfacher sei. Er empfiehlt die Installation dieser
und jener Software, dann könne man auch komplizierte Formate konvertieren.
Ein anderer Apple-Anhänger sagt, am besten sollte alles neu
im PC geschrieben werden. Der Zeitaufwand bleibe gleich. Fragt sich
nur, wer das jetzt macht.
15.00 Uhr: In der Post eine Mahnung des Schulamtes. Die Statistik
über die Verwendung von Unterrichtsstunden für Seiteneinsteiger
(Sprachkurse) ist überfällig.
15.15 Uhr: Der Hausmeister hat Dienstschluss.
15.30 Uhr: DHL bringt ein Paket. Der Fahrer steht vor der inzwischen
verschlossenen Schulhaustür.
Nachtrag: DHL wird immer um diese Zeit kommen. Der Neue lässt
die Klingel am Eingang reparieren, damit die Fahrer nicht mehr
rufen müssen. Wenn die Schule schon geschlossen ist, wird eine
Lieferung von den gestressten Fahrern auch schon mal an der Tür
abgestellt und steht über Nacht dort.
16.00 Uhr: Herr Zierhold verspricht, den Hausmeister zukünftig darüber
zu informieren, wenn er spätnachmittags in der Holzwerkstatt
einen Fortbildungskurs für Lehrerinnen und Lehrer anderer Schulen
anbietet.