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Frau Holle
ОглавлениеEs war die Geschichte einer Witwe in Nöten, die alsbald ihre Befähigung als Mutter in Frage stellte. Ihre Töchter, Mädchen an der Schwelle zur Frau, trotzten, ganz ohne Zweifel, jeder ihrer Bemühungen ihnen Vernunft einzubläuen. So dachte die Mutter. Alleine musste sie sich um die Bälger kümmern. Der Vater war nicht mehr. War gestorben und hatte sie mit den Mädchen zurückgelassen. Die Töchter, die verschiedener nicht hätten sein können, lagen sich beständig in den Haaren. Die Eine, faul und hässlich mit dem fatalen Hang zur Grausamkeit, die Andere von blendender Schönheit, ausgestattet mit der Strebsamkeit der Gerechten und dem Wesen einer Friedenstaube. Es gab nichts was sie verband.
Die Mutter, selbst nicht von reinem Charakter, war nicht in der Lage beide Töchter in gleichem Maße zu lieben. Sie bevorzugte seit jeher jene Tochter, deren Schönheit nur allzu gut verborgen war. Begründet in mütterlicher Eifersucht, geboren aus der Unzufriedenheit bei der Betrachtung des eigenen Spiegelbildes.
Als Lohn all dieser familiären Wirren erhielt die schöne Tochter den Status der Sklavin. Der Dienerin von Mutter und Schwester. Täglich wurde das bedauernswerte Geschöpf zu einem Brunnen nahe einer großen Straße geschickt um dort zu spinnen, bis ihre Hände blutig waren. Da nun aber die Handhabung von Gegenständen mit zunehmendem Feuchtigkeitsgrad der umgebenden Luft an Komplexität zunimmt, fiel die mit Blut getränkte Spindel eines Tages während des Reinigungsvorganges in den Brunnen.
Tiefe Verzweiflung, die in Tränen mündete, beutelte das Mädchen. Sie lief nach Hause um die Hilfe der Mutter zu erbitten, was sich als kapitaler Fehler erweisen sollte. Nichts als Schelte bekam sie zu hören. Die Spindel solle sie vom Grunde des Brunnens bergen. Andernfalls drohe ihr strenge Bestrafung. Folgsam und schicksalsergeben wie sie nun einmal war, begab sie sich auf schnellstem Wege zurück zum Brunnen, um die Spindel aus dem tiefen Loch zu holen. Ihr, in Fragen der Naturwissenschaften ungelenker Verstand, konnte jedoch keinen Weg ersinnen, dem gesetzten Ziel näher zu kommen. In Erkenntnis, dass es ihr nicht möglich war, das Problem mit Hilfe ihres Geistes zu lösen, blieb als Ausweg nur weibliche Intuition. Das Mädchen sprang in den Brunnen und verlor beim Aufprall die Besinnung.
Als sie die Augen wieder aufschlug und die neue Umgebung, wenn auch noch wie durch einen Schleier wahrnehmen konnte, stellte sie verwundert fest, dass sie sich auf einer Wiese befand, die von vielen tausenden Blumen geziert wurde. Zweifel an der Unversehrtheit ihres armen Kopfes kamen ihr jedoch erst, als sie eines Backofens, bevölkert von sprachbegabtem Brot, gewahr wurde. Genau genommen schrien und lamentierten die Brote. Ihnen sei zu heiß im Ofen und sie würden ach so gerne in der kühlen Wiese liegen um dort zu tun, was zufriedene Brote eben zu tun pflegten. Die angeborenen Reflexe einer künftigen, treusorgenden Mutter und die Hilfsbereitschaft eines sanften Gemütes vereinigten sich. Helfende Hände brachten den Broten die Erlösung von ihren unsäglichen Qualen.
Nach getaner Arbeit machte sich das Mädchen wieder auf den Weg ohne erkennbares Ziel. So begegnete der Abenteurerin ein Apfelbaum, der entgegen der Natur eines im Allgemeinen phonetisch zurückhaltenden Lebewesens, ebenfalls eine Bitte vorzubringen wusste. Er wolle geschüttelt werden, denn die Früchte die er trug, befänden sich bereits im Zustand fortgeschrittener Reifung. Auch diese anstrengende Aufgabe wurde von dem Mädchen ohne ein Wort der Klage verrichtet und so der Baum von seiner Last befreit.
Weiter über mögliche Verletzungen am Kopfe sinnierend, setzte das Mädchen seine Reise fort bis es schließlich an ein Häuschen gelangte und auch sogleich der reglos am offenen Fenster lümmelnden Besitzerin desselben Ansichtig wurde. Eine alte Dame, deren Zähne augenscheinlich niemals von jedweder Reinigungs-Apparatur berührt worden waren. Frau Holle nannte sie sich.
Das arme Mädchen empfand Abscheu und Angst, beim Anblick der Dame. Dem zum Trotz ließ sie sich mittels haltloser Versprechungen, nebst der Aussicht auf große Taten als Verursacherin des Wetters auf Erden davon überzeugen, den Dienst als Haushälterin der Alten anzutreten. Die alte Dame scheute sich keineswegs zu behaupten, sie würde als ihre Dienerin in der Lage sein, nur durch die Beseitigung der hygienischen Unzulänglichkeiten der hauseigenen Bettwäsche, für Schneefall auf der Erde zu sorgen. Da das Mädchen den Ausführungen nicht bis in letzte Konsequenz folgen konnte und bereits fest davon überzeugt war, den Sturz in den Brunnen mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen ihrer Wahrnehmung bezahlt zu haben, versuchte sie nicht die absurden Zusammenhänge eingehender zu betrachten.
Die Jahre flogen dahin und die gemeinsame Arbeit bereitete beiden Frauen große Freude. Eines schönen Tages wurde der Witwe ungeliebte Tochter jedoch von furchtbarem Heimweh geplagt. Tränen und Gezeter störten die Harmonie. Frau Holle, nun doch schon in die Jahre gekommen, war nicht in der Lage das jugendliche Stimmungstief ihrer Gehilfin zu begreifen. Der Wunsch nach Veränderung, Heimweh nach der Mutter, dies alles war ihr längst fremd geworden. Sie unterbreitete dem Mädchen ein Angebot, das die Bande zwischen der Alten und ihrer Dienstmagd lösen sollte. Ein magisches Portal würde sie durchschreiten müssen. Danach wäre sie von ihren Pflichten entbunden. Großer Reichtum warte hinter jenem Portal, versprach Frau Holle. Das Mädchen willigte ein, war die Freiheit doch alles was sie begehrte, um nach Hause zurückkehren zu können. Und so kam es.
Das magische Portal überschüttete die Abenteurerin just in dem Moment als sie den Bogen durchschritt mit einer erquicklichen Menge an Edelmetall und erleichterte ihr dergestalt den Abschied aus dem Reich der schmutzigen Bettwäsche sehr.
In der Heimat angekommen berichtete das Mädchen der Mutter, die beim Anblick des Goldes, wie durch ein Wunder, plötzlich alle früheren Dispute vergessen zu haben schien, ausführlich von ihren Erlebnissen in einer anderen Welt. Die berückende Einfachheit mit der die ungeliebte Tochter unverhofft wunderbare Schätze aufgetan hatte beschäftigte die Mutter unentwegt. Ausgestattet mit geistiger Regsamkeit in Fragen der Hauswirtschaft, stellte sie sich alsbald die Frage, wie der Geldsegen sich wohl vermehren ließe. Die beste Antwort, die sie ersinnen konnte lautete, auch das ehemals liebste Kind zu nötigen, sich in den Brunnen zu stürzen. Auch sie sollte beladen mit Gold aus der anderen Welt zurückkehren. Gedacht, getan, die hässliche und faule Tochter stürzte in den Brunnen und erwachte kurz darauf benommen im Lande der absurden Zusammenhänge.
Zu ihrem Unglück war diese Tochter jedoch weder hilfsbereit noch in der Lage in Harmonie mit Frau Holle zu arbeiten, sodass die kurze Anstellung bei der Alten ein gar unrühmliches Ende fand. Schon nach kurzer Zeit durfte das Mädchen den Weg in die Heimat antreten. Das magische Portal, das die beiden Welten trennte vertauschte das ersehnte Edelmetall mit klebrigem Pech. Das Missvergnügen, das sie sich eingehandelt hatte, sollte der faulen Tochter auf alle Zeiten anhaften. Fortan war sie es, die Mutter und Schwester diente.